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Björnstadt ist eine kleine Stadt mitten im Nichts der skandinavischen Wälder. Das Leben ist rau und einsam, die Menschen einte nur der gemeinsame Kampf gegen »die dort draußen« und ihre Leidenschaft für den Eishockeyclub. Zumindest bis vor zwei Jahren, als die Geschehnisse einer verhängnisvollen Nacht in einer Katastrophe mündeten. Seitdem geht ein tiefer Riss durch die Gemeinschaft. Nun finden sich alle noch einmal zum großen Finale zusammen. Und während über den Wäldern ein gewaltiger Sturm aufzieht, müssen die Menschen sich fragen, was sie zu opfern bereit sind für ihre Stadt und ihre Familien. Denn Björnstadts Zukunft hängt an einem seidenen Faden ...
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Seitenzahl: 1129
Buch
Vor zwei Jahren passierte in Björnstadt, einem kleinen Ort in den skandinavischen Wäldern, etwas, an das niemand mehr erinnert werden will und das sich doch tief ins kollektive Gedächtnis gegraben hat. Seitdem hat jeder versucht, sich davon zu lösen. Neue Freundschaften wurden geschlossen, neue Karrieren gemacht, neue Gebäude sind entstanden – doch irgendetwas an diesem einsamen, verlorenen Ort hindert die Menschen daran, ihren Frieden zu finden.
Als nun ein heftiger Sturm durch die Stadt und die anliegenden Wälder tobt, finden sich alle noch einmal zusammen, auch die, die in fremde Städte, fremde Länder geflüchtet waren. Denn angesichts der realen Zerstörung und des emotionalen Chaos kann keiner mehr weitermachen wie bisher. Alte Rivalitäten brechen wieder auf, sorgsam verborgen gehaltene Seilschaften werden enthüllt und Familienbande bis zum Zerreißen gespannt. Während ein Teil der Gemeinschaft angesichts der Notsituation enger zusammenrückt, entfremden sich andere komplett von ihr. Vor allem ein einsamer, verzweifelter Jugendlicher fühlt sich von allen verraten – und schmiedet einen Plan, der Björnstadt an den Rand des Abgrunds führen wird …
»Fredrik Backmans Art zu schreiben ist ergreifend, wunderschön, witzig, zärtlich. Beim Lesen sind mir die Tränen über die Wangen gelaufen. Ein Meisterwerk.« Sydsvenskan, Schweden
Weitere Informationen zu Fredrik Backman sowie lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Fredrik Backman
Die Gewinner
Roman
Aus dem Schwedischenvon Antje Rieck-Blankenburg
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
»Vinnarna« bei Bokförlaget Forum, Stockholm.
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Deutsche Erstausgabe Januar 2023
Copyright © der Originalausgabe 2021 by Fredrik Backman
Copyright © dieser Ausgabe 2023
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
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ISBN: 978-3-641-26628-8V002
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Für alle, die zu viel reden und zu laut johlen, die zu oft weinen und etwas in ihrem Leben mehr lieben, als sie sollten.
Alle, die Benjamin Ovich kannten, insbesondere wir, die wir ihn gut genug kannten, um ihn Benji zu nennen, wussten tief in unserem Inneren, dass es mit ihm niemals ein glückliches Ende nehmen würde.
Wir hofften es natürlich trotzdem. Gütiger Gott, wie sehr wir es hofften. Naive Träume sind die letzte Verteidigungslinie der Liebe, deshalb reden wir uns auch immer ein, dass gerade diejenigen, die wir lieben, nicht auf tragische Weise enden werden und unsere eigenen Leute diesem Schicksal entgehen mögen. Ihnen zuliebe träumen wir vom ewigen Leben, wünschen uns Superkräfte und versuchen, Zeitmaschinen zu bauen. Wir hoffen, großer Gott, wie sehr wir hoffen.
In Wahrheit enden Märchen über Jungen wie Benji jedoch kaum je damit, dass sie alte Männer werden. Ihnen sind keine langen Lebensgeschichten vergönnt, und sie sterben auch nicht friedlich im Altersheim, den Kopf auf weiche Kissen gebettet.
Jungen wie Benji sterben jung. Und sie sterben gewaltsam.
»Keep it simple.« Das ist ein gewöhnlicher Ratschlag sowohl beim Eishockey als auch sonst im Leben. Mach die Dinge nicht komplizierter, als sie sein müssen, denk nicht zu viel nach, am besten gar nicht. Dieser Rat dürfte vielleicht sogar auch für Geschichten wie diese gelten. Eigentlich müsste sie schnell erzählt sein, denn sie beginnt jetzt und endet in weniger als zwei Wochen, und was sollte innerhalb dieser Zeitspanne in zwei Eishockeystädten schon passieren? Vermutlich nicht gerade viel.
Einfach nur alles.
Das Problem beim Eishockey wie auch sonst im Leben ist nämlich, dass die unkomplizierten Momente eher selten sind. Alle anderen sind ein Kampf. Diese Geschichte beginnt eigentlich gar nicht heute, sondern sie hat schon vor zwei Jahren begonnen, als Maya Andersson von zu Hause wegzog. Sie verließ Björnstadt in südlicher Richtung über die Nachbarstadt Hed. Die beiden Kleinstädte im Wald liegen so dicht beieinander, aber so weit von allen anderen entfernt, dass es ihr vorkam, als emigriere sie. Eines Tages wird Maya davon singen, dass Menschen, die so nahe der Wildnis aufwachsen, diese wahrscheinlich auch in ihrem Inneren spüren, was sich sowohl als Übertreibung als auch als Untertreibung herausstellen wird, denn fast alles, was über uns gesagt wird, ist entweder übertrieben oder untertrieben. Aber wenn du zu Besuch hierherkommen und dich zufällig in die Kneipe »Zum Bärenpelz« verirren solltest und du keine Ohrfeige verpasst kriegst, weil du dumm genug bist, die dortige Wirtin Ramona nach ihrem Alter zu fragen oder um eine verfluchte Zitronenscheibe in deinem Drink zu bitten, erklärt sie dir vielleicht etwas Wichtiges: »Hier im Wald sind die Leute abhängiger voneinander als in den Großstädten. Hier sind die Leute miteinander verbunden, ob sie wollen oder nicht, und zwar so fest, dass, wenn sich ein Idiot zu heftig im Schlaf herumwälzt, einem anderen Idioten am anderen Ende des Ortes das Nachthemd vom Leib rutscht.«
Willst du diesen Ort verstehen? Dann musst du die Verbindungen seiner Bewohner untereinander verstehen und wie alles und alle durch unsichtbare Fäden aus Beziehungen, Loyalität und Schuld miteinander verknüpft sind: die Eishalle und die Fabrik, die Eishockeymannschaft und die Politiker, die Tabellenplatzierungen und das Geld, der Sport und die Arbeitsplätze, die Jugendfreunde und die Mannschaftskameraden, die Nachbarn sowie die Arbeitskollegen und die einzelnen Familien. All das hat uns dazu veranlasst, zusammenzuhalten, um hier draußen zu überleben, aber es hat uns auch dazu verleitet, schreckliche Verbrechen aneinander zu begehen. Ramona wird dir nicht alles erzählen, niemand wird das tun, aber willst du es trotzdem verstehen? Wirklich verstehen? Dann musst du wissen, was uns in diese Situation gebracht hat.
Im Winter vor zweieinhalb Jahren wurde Maya auf einer Party von Kevin Erdahl vergewaltigt, dem besten Eishockeyspieler, den man bis dahin je in dieser Gegend gesehen hatte. Heute spricht natürlich niemand mehr das Wort »Vergewaltigung« aus, man sagt stattdessen Dinge wie »der Skandal« oder »das, was passiert ist« oder einfach »na ja ... du weißt schon«. Alle schämen sich, aber keiner kann vergessen. Die Verkettung der Ereignisse, die auf dieser Party ihren Anfang nahmen, führte letztlich dazu, dass politische Entscheidungen getroffen und Gelder von einer Stadt in eine andere verschoben wurden. Dies wiederum zog einen von schlimmem Verrat geprägten Frühling und Sommer nach sich, dem ein Herbst voller Hass und ein Winter der Gewalt folgten. Es begann mit einer Schlägerei in der Eishalle und endete fast mit Straßenkämpfen. Die Männer in den schwarzen Jacken, von der Polizei als »Hooligans« bezeichnet, von allen in Björnstadt aber nur die »Truppe« genannt, attackierten ihre Feinde drüben in Hed, und die Männer aus Hed konterten, indem sie die Kneipe »Zum Bärenpelz« in Brand steckten. Während des nachfolgenden Rachefeldzugs verlor die Truppe einen jungen Mann, Vidar, der von allen über alles geliebt wurde, bei einem Autounfall. Dieser Unfall bildete den Höhepunkt, die letzte Konsequenz aus den jahrelang währenden Aggressionen, und danach hatte keiner mehr die Kraft weiterzukämpfen. Vidar wurde begraben, zwei Männer aus Hed landeten im Gefängnis, und zwischen den Hooligans wie auch zwischen beiden Kleinstädten wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Bis jetzt hat er einigermaßen gehalten, aber nun erscheint er mit jedem Tag brüchiger.
Kevin und seine Familie zogen fort, und sie werden auch nie wieder zurückkehren, das würde niemand zulassen. Ganz Björnstadt hat sein Bestes getan, um jegliche Erinnerungen an Kevin auszulöschen, und auch wenn es keiner zugeben würde, fiel den Leuten ein Stein vom Herzen, als Maya ebenfalls ihre Koffer packte. Sie flüchtete bis hinunter in die Hauptstadt, begann an der dortigen Musikhochschule ein Studium und wurde fast zu einem anderen Menschen, während allen, die geblieben waren, allmählich der Gesprächsstoff über den »Skandal« ausging, bis es fast so war, als hätte es ihn nie gegeben.
Benji Ovich, Kevins ehemals bester Freund, packte ebenfalls einen Koffer. Allerdings einen bedeutend kleineren als Maya, obwohl er viel weiter wegzog. Sie hatte ein Ziel, er hingegen wollte einfach nur weg. Sie suchte im Licht nach Antworten, er im Dunkel, sie in der Kunst und er auf dem Boden von Schnapsflaschen. Doch keiner von beiden wurde wirklich fündig.
In dem Ort, den sie hinter sich ließen, war Björnstadt Eishockey kurz davor, zugrunde zu gehen, und in einer Kleinstadt, die schon immer unmögliche Träume gehegt hatte, besaß kaum einer mehr die Kraft zu träumen. Peter Andersson, Mayas Vater, hörte als Sportdirektor auf und wandte sich vom Eishockey ab. Die Sponsoren zogen sich zurück, und im gemeinsamen Rathaus von Björnstadt und Hed erwog man sogar, den gesamten Klub stillzulegen und alle finanziellen Mittel und Zuwendungen stattdessen an Hed Eishockey zu transferieren. Erst in letzter Minute wurde Björnstadt Eishockey durch die Beharrlichkeit lokaler Geschäftsleute sowie frisches Geld gerettet. Den neuen ausländischen Betreibern der Fabrik diente der Klub als Mittel zum Zweck, um von der Lokalbevölkerung akzeptiert zu werden, und ein opportunistischer Politiker namens Richard Theo witterte die Chance, Wählerstimmen auf sich zu vereinen. Durch sie konnte gerade noch rechtzeitig genügend Kapital aufgetan werden, um den Untergang des Klubs zu verhindern. Zugleich wurden ehemalige Vorstandsmitglieder ausgewechselt sowie Meetings zur Neugestaltung der Grundwerte des Klubs abgehalten, und schon bald darauf präsentierte man stolz eine völlig neue »Werteordnung«. Werbebroschüren mit der Aufforderung »Björnstadt Eishockey zu sponsern, ist nicht nur ganz einfach, sondern auch richtig!« wurden verschickt. Und allen Widrigkeiten zum Trotz wendete sich das Blatt, zuerst auf dem Eis und dann auch außerhalb. Björnstadts Trainerin Elisabeth Zackell bewarb sich um einen Posten in einem größeren Klub, doch stattdessen bekam ihn der Trainer aus Hed, der daraufhin den Wald verließ und einige seiner besten Spieler mitnahm. Hed stand nun unerwartet ohne Führungsfigur da und verstrickte sich bald in ein Netz aus Intrigen und Machtkämpfen, wie es allen Klubs in einer solchen Situation zu passieren scheint. Währenddessen baute Zackell in Björnstadt eine neue Mannschaft auf, ernannte einen jungen Mann namens Bobo zu ihrem Co-Trainer und versammelte um einen Sechzehnjährigen namens Amat, den sie an die Spitze stellte, eine Räuberbande aus Spielern. Mittlerweile ist Amat achtzehn und der mit Abstand größte Star in der gesamten Region. Ein so großes Talent, dass den ganzen vergangenen Winter hindurch das Gerücht kursierte, er würde für die NHL gedraftet werden und als Profi in die USA gehen. In der gesamten zurückliegenden Saison dominierte er jedes Match, bis er sich im Frühjahr verletzte. Wäre dies nicht passiert, hätte Björnstadt die Liga angeführt und wäre aufgestiegen, davon ist die ganze Stadt überzeugt. Hätte Hed nicht im Gegenzug noch in seinen letzten Spielen auf wundersame Weise gepunktet, wären sie Letzter geworden und abgestiegen.
Was völlig undenkbar schien, als Maya und Benji die Stadt verließen, scheint zwei Jahre später auf einmal nur noch eine Frage der Zeit zu sein: Die grüne Stadt ist auf dem Weg nach oben und die rote auf dem Weg nach unten. Björnstadt scheint jeden Monat mehr Sponsoren hinzuzugewinnen, während es bei Hed immer weniger werden. Außerdem ist die Eishalle in Björnstadt frisch renoviert, während das Dach der Halle in Hed baufällig ist. Die größten Arbeitgeber in Björnstadt, die Fabrik und der Supermarkt, stellen wieder Leute ein. Der größte Arbeitgeber in Hed, das Krankenhaus, streicht hingegen jedes Jahr Stellen. Jetzt ist Björnstadt der reichere Ort, denn hier gibt es Arbeitsplätze, und wir sind die Sieger.
Willst du das alles richtig verstehen? Dann musst du vor allem verstehen, dass es um mehr geht als nur um geografische Verhältnisse. Von oben betrachtet sehen wir vermutlich aus wie zwei ganz gewöhnliche Kleinstädte im Wald – in den Augen mancher kaum mehr als Dörfer –, und das Einzige, was Björnstadt und Hed trennt, ist eine zwischen den Bäumen hindurchführende kurvenreiche Straße. Sie wirkt noch nicht einmal besonders lang, aber man lernt rasch, dass es sich um eine beträchtliche Strecke handelt, wenn man sie bei Minusgraden und Gegenwind zu Fuß in Angriff nimmt, denn hier herrschen fast immer Minusgrade und Gegenwind. Wir hassen Hed, und Hed hasst uns. Selbst wenn wir alle anderen Matches in der gesamten Saison gewinnen, aber in einem einzigen von ihnen geschlagen werden, fühlt es sich an wie ein verlorenes Jahr. Es reicht nicht aus, dass es für uns gut läuft, für sie muss es überdies ein totales Desaster werden, nur dann kann man sich richtig freuen. Björnstadt spielt in grünen Trikots mit einem Bären darauf und Hed in roten mit einem Stier. Das klingt einfach, aber die Farben zeigen, wie unmöglich es ist, zu erklären, wo die Eishockeyprobleme aufhören und alle anderen Probleme anfangen. Es gibt keinen einzigen Gartenzaun in Björnstadt, der rot gestrichen ist, und keinen einzigen in Hed, der grün gestrichen ist. Und zwar unabhängig davon, ob sich die Hauseigentümer für Eishockey interessieren oder nicht. Deshalb weiß auch keiner mehr, ob die Eishockeyklubs ihre Farben von den Zäunen haben oder umgekehrt. Ob der Hass die Klubs hervorgebracht hat oder die Klubs den Hass. Du willst also diese beiden Eishockeystädte verstehen? Dann musst du zuerst verstehen, dass es hier beim Sport um viel mehr geht als nur um Sport.
Aber willst du auch die Menschen verstehen? Wirklich verstehen? Dann musst du wissen, dass schon in Kürze eine fürchterliche Naturkatastrophe hereinbrechen und Dinge, die wir lieben, zerstören wird. Wir wohnen zwar in Eishockeystädten, aber in erster Linie sind wir Waldbewohner. Wir sind umgeben von Bäumen und Steinen und Erdreich, das schon seit Jahrtausenden Arten hervorbringt und wieder auslöscht, und wir können zwar vielleicht so tun, als wären wir groß und stark, doch gegen die Natur kommen wir nicht an.
Eines Tages zieht ein Orkan herauf, und in der darauffolgenden Nacht scheint es, als würde er sich niemals wieder legen.
Demnächst wird Maya Songs über uns singen, die wir uns der Wildnis nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich nahe fühlen. Sie wird davon singen, dass der Ort, an dem sie aufwuchs, von Tragödien geprägt ist, solchen, die uns unverschuldet heimsuchten, und jenen, an denen wir selbst schuld waren. Sie wird von diesem Herbst singen, an dem sich der Wald mit voller Kraft gegen uns wendete. Sie wird singen, dass alle Orte die Summe der Entscheidungen ihrer Bewohner sind und alles, was uns verbindet, letztlich unsere Geschichten sind. Sie wird singen:
»Diese Geschichte beginnt mit einem Orkan …«
Es ist der verheerendste in dieser Gegend seit einer ganzen Generation. Vermutlich behaupten wir das von jedem Orkan, aber dieser ist unvergleichlich.
Die Leute hatten im Vorweg prophezeit, dass in diesem Jahr vermutlich erst spät Schnee fallen, die Stürme hingegen schon früh einsetzen würden. Der August endete mit einer stickigen unheilvollen Hitze, bevor zum Monatswechsel der Herbst die Tür eintrat und die Temperaturen ins Bodenlose fielen. Die uns umgebende Natur wurde unberechenbar und aggressiv, die Hunde und Jäger spürten es zuerst, danach auch alle anderen.
Obwohl wir die Warnsignale im Voraus bemerkten, entfaltet der Orkan schließlich eine derartige Wucht, dass es uns den Atem raubt. Er verwüstet den Wald mitsamt Wurzelwerk und sorgt dafür, dass der Himmel erlischt, und er geht auf die Häuser in unseren Städten los wie ein wütender Mann, der ein Kind schlägt. Uralte Bäume knicken ein, Stämme, die einst wie unumstößliche Felsblöcke standen, geben unvermittelt nach wie Grashalme unter einer Fußsohle, und der Orkan dröhnt so laut in unseren Ohren, dass die Menschen die Bäume nur fallen sehen, ohne zu hören, wie sie bersten. Im ganzen Ort werden Wellbleche und Dachziegel aus ihren Verankerungen gerissen und durch die Luft geschleudert, messerscharfe Projektile auf der Jagd nach dem Nächstbesten, der lediglich versucht, irgendwie nach Hause zu gelangen. Der Wald stürzt auf die Straßen, bis es genauso unmöglich ist, in den Ort hineinzufahren, wie aus ihm heraus. Die nachfolgenden Stromausfälle lassen die Städte in der Nacht erblinden. Handyempfang gibt es nur stellenweise, und alle, denen es gelingt, ihre Lieben telefonisch zu erreichen, rufen dasselbe in den Hörer: Bleibt zu Hause, bleibt bloß zu Hause!
Doch ein junger Mann aus Björnstadt steuert panisch seinen Kleinwagen über Nebenstraßen, um zum Krankenhaus in Hed zu gelangen. Er hat sich weder getraut, sein Haus zu verlassen, noch, darin zu bleiben. Seine schwangere Ehefrau sitzt neben ihm auf dem Beifahrersitz, und jetzt ist es so weit, Orkan hin oder her. Er betet zu Gott wie Atheisten in Schützengräben, und sie schreit unvermittelt auf, als ein Baum schonungslos auf die Motorhaube kracht und das Stahlblech der Karosserie so abrupt nachgibt, dass sie mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe prallt. Aber niemand hört die beiden.
Willst du die Menschen verstehen, die in diesen beiden Eishockeystädten wohnen? Wirklich verstehen? Dann musst du wissen, wozu sie im schlimmsten Fall fähig sind.
***
Der Wind heult nicht über das Haus am Ortsrand von Hed hinweg, er brüllt geradezu. Die Fassade wird nach außen gesogen, und die Fußböden vibrieren so stark, dass die roten Hed-Eishockeytrikots und Wimpel, die quer über alle Straßen hängen, wild umherflattern. Alle vier Kinder im Haus werden im Nachhinein sagen, dass es sich anfühlte, als hätte das Universum beschlossen, sie zu töten. Tess ist mit ihren siebzehn Jahren die Älteste, dann folgen der fünfzehnjährige Tobias, der dreizehnjährige Ted und der siebenjährige Ture. Sie haben Angst wie alle anderen Kinder auch, sind aber wachsam und für alles gewappnet, weil sie sich in gewisser Weise von anderen Kindern unterscheiden. Ihre Mutter arbeitet als Hebamme, ihr Vater als Feuerwehrmann, und manchmal scheint es, als funktioniere diese Familie nur in Krisensituationen gut. Sobald ihnen klar geworden war, was auf sie zukommen würde, liefen die Kinder bereits draußen durch den Garten und sammelten alle losen Teile an Schaukeln und Klettergerüsten sowie die Sitzmöbel auf der Terrasse zusammen, damit sie nicht durch die Fenster hereingeschleudert werden würden, wenn der Orkan sie erfasste. Vater Johnny eilte in einen Garten etwas weiter unten in der Straße, um dort mit anzupacken. Mutter Hannah rief derweil bei all ihren gemeinsamen Bekannten an, um zu fragen, ob sie womöglich irgendetwas brauchten. Sie führte jede Menge Telefonate, weil sie alle zu kennen schien. Johnny und sie sind beide in Hed geboren und aufgewachsen, und wenn der eine bei der Feuerwehr arbeitet und die andere im Krankenhaus, gibt es am Ende niemanden mehr, der nicht wüsste, wer sie sind. Dieser Ort ist ihr Zuhause, ihre Kinder haben auf denselben Wendeplätzen zwischen den Häusern das Fahrradfahren gelernt wie sie selbst, und sie werden nach einfachen Prinzipien erzogen: Liebe deine Familie, arbeite hart, freu dich, wenn Hed Eishockey ein Match gewinnt, aber freu dich noch mehr, wenn Björnstadt Eishockey geschlagen wird. Hilf allen, die Hilfe nötig haben. Sei ein guter Nachbar und vergiss nie, wo du herkommst. Letzteres vermitteln die Eltern ihren Kindern nicht durch Worte, sondern durch Taten. Sie bringen ihnen bei, dass man zwar über alles streiten kann, aber zusammenhält, wenn es wirklich darauf ankommt, denn ein Mensch allein hat keine Chance.
Der Orkan draußen vor dem Fenster löst einen anderen Orkan hier drinnen ab. Die Eltern haben wieder einmal Streit, einen der heftigeren Sorte. Hannah ist eine kleine zierliche Frau, sie steht am Küchenfenster, beißt sich auf die Unterlippe und reibt sich ihre blauen Flecke. Sie ist mit einem Idioten verheiratet. Johnny ist groß und breitschultrig, trägt einen dichten Bart und hat starke Fäuste. Als Eishockeyspieler war er dafür berüchtigt, als Erster seine Handschuhe wegzuwerfen und sich zu prügeln, und der wilde Stier auf dem Logo von Hed Eishockey hätte genauso gut eine Karikatur seiner selbst sein können. Er ist aufbrausend und stur, altmodisch und engstirnig, kurzum einer dieser typischen ungestümen Jungs, die nie erwachsen geworden sind. Er spielte so lange Eishockey, wie der Sport ihn ließ. Anschließend wurde er Feuerwehrmann und tauschte somit nur die eine Umkleidekabine gegen eine andere aus, während sich der Wettstreit für ihn in allem fortsetzte: Wer beim Hanteltraining die schwersten Gewichte stemmen, im Wald am schnellsten rennen oder bei einer Grillparty die meisten Biere trinken konnte. Hannah wusste vom ersten Tag an, dass sein Charme ihr eines Tages gefährlich werden könnte. Schlechte Verlierer reagieren mitunter aggressiv, und leidenschaftliches Temperament kann in Gewalt umschlagen. »Lange Zündschnur, aber ordentlich Pulver im Fass, das sind die Gefährlichsten«, sagte ihr Schwiegervater immer. Im Flur steht eine Vase, die vor einiger Zeit in hundert Teile zerbrochen war und dann sorgfältig wieder zusammengeklebt wurde, damit Hannah das, für was sie stand, nie vergessen würde.
Johnny kommt aus dem Garten herein. Er linst zu ihr hinüber, um zu sehen, ob sie noch immer wütend ist. Ihre Streitereien enden immer auf diese Weise, denn sie ist mit einem Idioten verheiratet, und er hört nie auf sie, deshalb geht auch immer irgendetwas kaputt.
Sie muss oft daran denken, wie tough er sich gegenüber anderen gibt, aber wie unglaublich empfindlich und beleidigt er zuweilen reagieren kann. Wenn Hed Eishockey eine Niederlage kassiert, nimmt er es persönlich. Als die Lokalzeitung im Frühjahr schrieb, dass Björnstadt Eishockey die Moderne repräsentiere, während Hed Eishockey für alles Alte und Rückständige stehe, nahm er es ebenfalls persönlich, als hätten sie verkündet, dass sowohl sein Privatleben als auch seine Wertvorstellungen grundfalsch seien. Der Klub ist die Stadt, und die Stadt ist seine Familie, so unerschütterlich loyal ist er. Doch genau diese Loyalität bringt seine extremen Seiten zum Vorschein. Er muss ständig den starken Mann markieren, scheint vor nichts Angst zu haben und rennt immer als Erster geradewegs auf die Katastrophe zu.
Im letzten Jahr wurde das Land von verheerenden Waldbränden heimgesucht, weder Hed noch Björnstadt waren betroffen, doch nur wenige Autostunden entfernt war es besonders schlimm. Johnny, Hannah und die Kinder hatten Urlaub, der erste seit langer Zeit, und sie waren gerade in südlicher Richtung unterwegs zu einem Aqua-Park, als im Autoradio die Nachrichten liefen. Der Streit begann schon, bevor Johnnys Handy klingelte, und als letztlich der Anruf kam, wusste Hannah längst, dass er auf der Stelle umkehren würde. Die Kinder duckten sich in die Rücksitze des Minibusses. Auch sie wussten, was kommen würde: dieselben Streitereien wie immer, dieselben Beschuldigungen, dieselben geballten Fäuste. Verheiratet mit einem Idioten.
Mit jedem Tag, an dem Johnny wegen der Waldbrände unterwegs war, wurden die Bilder in den Fernsehnachrichten drastischer, und jeden Abend musste Hannah so tun, als sei sie keineswegs besorgt, während sich die Kinder in den Schlaf weinten, und jede Nacht brach sie einsam am Küchenfenster zusammen. Schließlich kehrte er wieder nach Hause zurück. Er war eine gute Woche weg gewesen, doch es fühlte sich an wie ein gutes halbes Jahr. Er war ausgemergelt und so voller Schmutz, dass es schien, als ließe sich dieser nie mehr ganz aus der Haut herauswaschen. Sie stand gerade in der Küche, als sie ihn an der Kreuzung aus einem Wagen steigen und das letzte Stück strauchelnd zum Haus zurücklegen sah, und es kam ihr vor, als könnte er jeden Moment zu einem Häufchen Staub zerfallen. Hannah stürzte zur Küchentür, doch die Kinder hatten ihn ebenfalls erblickt. Sie sprangen die Treppen hinunter, drängten sich an ihr vorbei und stolperten auf dem Weg hinaus übereinander. Hannah blieb an der Tür stehen und sah, wie sich alle vier in Johnnys Arme warfen und wie Äffchen an seinem massigen Körper festklammerten: Tobias und Ted an seinem Hals, Tess an seinem Rücken und der kleine Ture an seinem Arm. Obwohl ihr Vater völlig verdreckt, verschwitzt und erschöpft war, hob er alle vier hoch und trug sie ins Haus, als wögen sie nichts. In der folgenden Nacht schlief er auf einer Matratze in Tures Zimmer, und es endete damit, dass alle anderen Kinder ebenfalls ihre Matratzen in dieses Zimmer schoben. Es dauerte vier Nächte, bis Hannah ihn wieder zurückbekam. Bis sie endlich wieder seinen Körper an ihrem spüren und ihren Kopf in sein Shirt bohren konnte. Am vierten Morgen war sie so eifersüchtig auf ihre eigenen Kinder und so wütend auf sich selbst, weil sie all ihre Gefühle zurückgehalten hatte, dass sie diese verfluchte Vase zu Boden schmetterte.
Kurz darauf klebte sie das Gefäß wieder zusammen, und kein Familienmitglied wagte es, sie anzusprechen, bevor sie damit fertig war. Dann hockte sich ihr Mann wie immer neben sie auf den Fußboden und flüsterte: »Sei bitte nicht sauer auf mich, ich halt es einfach nicht aus, wenn du sauer auf mich bist.« Als sie erschöpft entgegnete: »Es war ja nicht mal dein Brand, Liebling, und es hat noch nicht mal HIER gebrannt!«, fühlten sich ihre Stimmbänder an, als könnten sie jeden Moment zerreißen. Er beugte sich sachte vor, sodass sie seinen Atem auf ihren Handflächen spürte, als er diese küsste, und dann sagte er: »Alle Brände sind meine Brände.« Wie sie diesen Idioten dafür hasste und zugleich vergötterte. »Dein Job ist es, nach Hause zu kommen. Dein einziger Job ist es, wieder nach Hause zu kommen«, erinnerte sie ihn, woraufhin er lächelnd fragte: »Bin ich denn jetzt nicht zu Hause?« Hannah boxte ihn mit aller Kraft gegen den Arm.
Sie ist schon vielen Idioten von Männern begegnet, die sich einredeten, die Ersten zu sein, die geradewegs ins Feuer springen würden, um andere zu retten, doch ihr Idiot von Mann ist ein solcher Idiot, der es auch tatsächlich tut. Deshalb fechten sie jedes Mal denselben Streit aus, wenn er losfährt, denn jedes Mal ärgert sie sich wieder aufs Neue darüber, dass sie so große Angst um ihn hat. Und immer endet es damit, dass sie irgendetwas zerschlägt. Beim letzten Mal war es eine Vase, heute sind es ihre eigenen Fingerknöchel. Als der Orkan aufzog und er augenblicklich lossprintete, um sein Handy aufzuladen und sich bereitzumachen, rammte sie ihre Faust geradewegs in die Arbeitsfläche. Jetzt massiert sie fluchend die Blutergüsse. Sie will natürlich, dass er losfährt, aber zugleich hasst sie es auch, und auf diese Weise lässt sie Dampf ab.
Er betritt die Küche, und sie spürt seinen Bart an ihrem Nacken. Er hält sich zwar für unglaublich tough und abgebrüht, aber eigentlich ist er der sensibelste Mann der Welt, deswegen schreit er auch nicht zurück, wenn sie ihn anschreit. Der Orkan peitscht gegen das Fenster, und sie wissen beide, dass sein Handy jeden Augenblick klingeln wird und er losfahren muss und sie dann wieder wütend wird. »Wenn sie eines Tages aufhört, wütend auf dich zu sein, musst du dir Sorgen machen, dann liebt sie dich nicht mehr«, sagte Johnnys Vater zu ihm, als die beiden heirateten. »Lange Zündschnur, aber ordentlich Pulver im Fass bei dieser Frau, pass bloß auf!«, schob der Vater lachend hinterher.
Hannah mag vielleicht mit einem Idioten verheiratet sein, aber sie selbst ist verflucht noch mal auch nicht ganz ohne. Ihre Launen gehen Johnny manchmal ziemlich auf die Nerven, und ihre Unordnung kann ihn geradezu wahnsinnig machen. Er bricht regelrecht in Panik aus, wenn die Dinge nicht ordnungsgemäß sortiert sind. Er muss wissen, wo alles ist, sowohl im Feuerwehrauto als auch im Kleiderschrank und in den Küchenschubladen. Und dann heiratete er ausgerechnet eine Frau, die es nicht im Geringsten störte, keinen festen Platz im Ehebett zu haben. Hannah legte sich an einem Abend auf die eine und am nächsten auf die andere Seite, wie es ihr gerade in den Sinn kam, und er wusste nicht einmal, was ihn daran am meisten frustrierte. Welches Paar hat denn keine festen Plätze im Ehebett? Außerdem betritt sie das Haus immer mit Straßenschuhen, vergisst, das Handwaschbecken hinter sich sauber zu machen, und legt die Buttermesser und Käsehobel jedes Mal an einen anderen Platz, sodass er sich vor dem Frühstück erst auf eine verdammte Schatzsuche begeben muss. Sie ist noch schlimmer als die Kinder.
Doch jetzt gleitet ihre Hand nach oben, und sie lässt ihre Finger durch seinen Bart wandern, woraufhin er die Arme um ihre Taille schließt, und in diesem Moment ist ihm eigentlich alles egal. Sie haben voneinander gelernt. Hannah hat akzeptiert, dass das Leben mit einem Feuerwehrmann einen völlig eigenen Rhythmus hat, den andere Menschen ganz und gar nicht nachvollziehen können. Sie hat zum Beispiel lernen müssen, im Dunkeln pinkeln zu gehen, denn als sie die ersten Male nachts die Deckenlampe eingeschaltet hatte, nachdem sie zusammengezogen waren, wachte er auf und glaubte, es sei die blinkende Notwarnleuchte auf der Wache. Er war unversehens aufgesprungen, hatte sich in Windeseile angezogen und war schon auf dem Weg hinaus zum Auto, als sie ihm nur mit einem Slip bekleidet hinterherlief und fragte, was zum Teufel er vorhätte. Es dauerte eine Reihe von verwirrten Nächten, bis sie akzeptierte, dass er sich dieses Verhalten nicht würde abgewöhnen können, und im Grunde genommen wollte sie es auch gar nicht.
Er ist einer von denen, die geradewegs aufs Feuer zustürmen. Ohne zu zögern, ohne Fragen zu stellen. Er rennt einfach los. Solche Menschen sind selten, doch sobald man sie erblickt, weiß man es.
***
Ana ist achtzehn Jahre alt. Sie steht am Fenster ihres Elternhauses am Ortsrand von Björnstadt und schaut hinaus. Sie humpelt leicht, weil sie sich kürzlich beim Kampfsporttraining am Knie verletzt hat, nachdem ein gleichaltriger Junge behauptet hatte, dass Mädchen keine kraftvollen Tritte ausführen könnten. Daraufhin trat sie ihm die Rippen ein und verpasste ihm mit dem Knie eine Kopfnuss, und auch wenn sein Schädel offensichtlich leer war, fühlte er sich leider ziemlich hart an. Deshalb humpelt sie jetzt. Sie hatte schon immer blitzschnelle Reflexe, aber eine langsame Auffassungsgabe und versteht sich schlecht auf Menschen, dafür aber umso besser auf die Natur. Jetzt sieht sie, wie sich die Bäume draußen vor dem Fenster im Wind biegen, hat es schon heute Morgen gesehen und bereits lange vor den meisten anderen gewusst, dass ein Orkan aufziehen wird. Kinder von Vätern, die gute Jäger sind, bekommen irgendwann ein Gespür für solche Dinge. Und einen besseren Jäger als ihren Vater gibt es in der Gegend nicht. Dieser Mann hat so viel Zeit im Wald verbracht, dass er häufig den Unterschied zwischen einem Funkgerät und einem Telefon vergisst und am Ende jedes Satzes »Kommen« sagt, wenn er zu Hause angerufen wird. Ana lernte in diesem Wald sowohl krabbeln als auch laufen, denn nur dort gab es die Möglichkeit, mit ihm zusammen zu sein. Der Wald war ihr Spielplatz und ihre Schule. Der Vater brachte ihr alles über Wildtiere bei und über die unsichtbaren Kräfte sowohl im Erdboden als auch in der Luft. Das war seine Liebesgabe an sie. Als sie noch klein war, zeigte er ihr, wie man Wild aufspürt und erlegt. Und als sie älter wurde, nahm er sie mit auf die Pirsch, wenn nach Wildunfällen jemand von der Gemeinde anrief und ihn bat, verletzte Tiere zu orten und abzuschießen. Wenn man vom Wald umgeben lebt, lernt man, diesen zu schützen, aber auch Schutz darin zu suchen. Und letztlich erfreut man sich an denselben Dingen wie die Pflanzen darin, beispielsweise an Frühling und Sonnenschein. Doch man fürchtet auch dieselben Dinge: zweifellos das Feuer, aber fast noch mehr den Orkan. Ein Orkan lässt sich nicht eindämmen oder löschen, er macht weder vor Baumstämmen halt noch vor menschlicher Haut. Ein Orkan zerschmettert, zermalmt und tötet, was er will.
Ana konnte das Unwetter dementsprechend bereits in den Baumwipfeln hören und auch im Brustkorb spüren, während draußen alles noch ruhig und still war. Sie füllte alle Kanister und Eimer mit Wasser, holte den Gaskocher aus dem Keller und bestückte die Stirnlampen mit neuen Batterien. Außerdem stellte sie Teelichter und Streichhölzer bereit. Dann hackte sie mehrere Stunden lang mechanisch und verbissen Holz und schleppte es danach ins Wohnzimmer. Als das Unwetter jetzt Björnstadt erreicht, schließt sie alle Türen und Fenster und spült in der Küche geräuschvoll das Geschirr. Nebenbei lässt sie die Songs ihrer besten Freundin Maya in der Stereoanlage laufen, denn deren Stimme beruhigt Ana, und alle für Ana alltäglichen Geräusche beruhigen wiederum die Hunde. Als sie klein war, beschützten die Hunde sie, doch jetzt ist es umgekehrt.
Wenn man Maya fragt, wer Ana ist, antwortet sie: »Eine Kriegerin.« Sie sagt es allerdings nicht nur, weil Ana in der Lage ist, andere zusammenzuschlagen, sondern auch, weil das Leben schon seit Anas Geburt versucht hat, sie zusammenzuschlagen, sie es jedoch nicht zugelassen hat. Ana ist unerschütterlich.
Obwohl sie gerade das letzte Schuljahr auf dem Gymnasium in Björnstadt absolviert, ist sie schon längst erwachsen, denn Töchter von Eltern, die sich auf dem Boden von Schnapsflaschen verstecken, reifen schneller. Als Ana noch klein war, hat der Vater ihr beigebracht, das Feuer im Kamin zu schüren und immer rechtzeitig etwas Brennholz nachzulegen, damit es nie ausgehen würde. Und wenn er heute seine Phasen hat, manchmal sind es nur wenige Tage, dann wieder mehrere Monate, schürt er seine Trunkenheit auf dieselbe Art und Weise. Er wird nie ausfällig, noch nicht einmal laut, er ist nur einfach niemals ganz nüchtern. Er wird den gesamten Orkan verschlafen, schnarchend in seinem Sessel im Wohnzimmer, umgeben von Anas zahlreichen Kampfsportpokalen, auf die er so stolz ist, und von all ihren Kindheitsfotos, aus denen sie äußerst sorgfältig ihre Mutter herausgeschnitten hat. Er ist zu betrunken, um das Klingeln des Telefons zu hören. Ana ist ins Spülen vertieft und dreht die Musik in der Küche lauter, die Hunde zu ihren Füßen hören es auch nicht. Das Telefon klingelt und klingelt und klingelt.
Schließlich klingelt es an der Haustür.
***
»Es ist nicht weiter schlimm, nur ein bisschen Wind«, flüstert Johnny. Hannah würde ihm nur allzu gern glauben. Anstatt Brände zu löschen, werden er und die anderen Feuerwehrleute jetzt mit Motorsägen ausrücken, um die Straßen von umgestürzten Bäumen zu befreien, damit Rettungsfahrzeuge und der Pflegedienst passieren können. »Wenn man hier als Feuerwehrmann arbeitet, ist man zu neunzig Prozent Holzfäller«, brummt er immer, doch sie weiß auch, dass er stolz darauf ist. Der Wald ist ein Teil von ihm.
Sie dreht sich um, reckt sich auf die Zehenspitzen hoch und beißt ihn spielerisch in die Wange. Augenblicklich werden seine Knie weich. Er ist zwar in fast allen Räumen, die er betritt, der Größte und Stärkste, doch unabhängig von dem, was andere glauben, weiß er, dass sie die Schnellere wäre, wenn es darum ginge, ihre Kinder aus einem brennenden Haus zu retten. Sie ist kompliziert, aufmüpfig und respektlos und wahrhaftig nicht leicht zufriedenzustellen, aber er liebt sie vor allem wegen ihres ausgeprägten und absolut kompromisslosen Beschützerinstinkts. »Wir helfen all jenen, denen wir helfen können«, flüstert sie ihm nach den schwierigsten Tagen immer ins Ohr, wenn er bei seinen Einsätzen oder sie im Krankenhaus einen Menschen verloren hat. Als Feuerwehrmann muss man darauf gefasst sein, dem Tod in allen Phasen des Lebens ins Auge zu sehen, doch bei ihrer Arbeit als Hebamme begegnet sie ihm zumeist in den schlimmsten Sekunden: den allerersten des Lebens. Wenn sie diese Worte ausspricht, gereichen sie beiden sowohl zum Trost als auch zur Erinnerung an ihre jeweiligen Pflichten. Wir helfen, wo wir können, wann immer wir können und all jenen, denen wir helfen können. Das ist eine Art Aufgabe, aber auch eine Lebenseinstellung.
Er lässt sie langsam los und wird sich wohl nie daran gewöhnen, dass ein chaotischer, streitlustiger Hitzkopf wie sie ihn noch immer aus der Fassung bringt. Dann geht er in den Flur, um nachzusehen, ob sein Handy auch wirklich lädt, und sie schaut ihm lange nach. Sie wiederum wird sich nie daran gewöhnen, dass ein nervtötender Pedant wie er sie nach zwanzig Jahren noch immer dazu bringt, ihm die Kleider vom Leib reißen zu wollen, sobald er sie nur anschaut.
Hannah hört das Handy im Flur klingeln. Es wird Zeit. Sie schließt die Augen und flucht, nimmt sich jedoch fest vor, keinen Streit anzufangen. Er verspricht ihr nie, heil wieder nach Hause zurückzukehren, denn das bringt Unglück. Stattdessen sagt er nur, dass er sie liebt, wieder und wieder, worauf sie entgegnet: »Dein Glück.« Das Handy klingelt noch immer. Sie denkt, dass er vielleicht auf der Toilette sitzt, weil er nicht rangeht, und ruft laut nach ihm, weil die Fensterscheiben bereits ohrenbetäubend im Sturm klappern. Die Kinder stehen schon aufgereiht auf der Treppe, um sich von ihm zu verabschieden.
Tess hat die Arme um ihre drei jüngeren Brüder gelegt: Tobias, Ted, Ture. Ihr Vater fand es albern, allen jeweils Namen mit demselben Anfangsbuchstaben zu geben, doch er hatte sich mit Hannah darauf geeinigt, dass sie die Namen für die Kinder aussuchen darf, wenn er dafür die Hundenamen auswählen dürfte. Allerdings schafften sie sich nie Hunde an. Sie war schon immer die bessere Verhandlerin.
Ture weint Tränen in Tess’ Pulli, doch keines seiner Geschwister ermahnt ihn aufzuhören. Als sie klein waren, weinten sie ebenfalls, man hat schließlich nicht einfach nur einen Feuerwehrmann als Familienmitglied. So funktioniert das nicht, sondern sie sind eine ganze Feuerwehrfamilie. Und als solche kann man es sich nicht leisten, zu denken »Uns passiert schon nichts«. Man muss es besser wissen. Die Übereinkunft ihrer Eltern ist folglich ganz simpel: sich nie gleichzeitig einer Gefahr auszusetzen. Ein Elternteil muss immer in der Nähe der Kinder bleiben, falls das Schlimmste eintreffen sollte.
Johnny steht mit seinem Handy im Flur und meldet sich mit lauter Stimme, dann brüllt er ins Mikrofon, aber in der Leitung ist niemand. Erst glaubt er, die falsche Taste gedrückt zu haben, doch als er die Anrufliste kontrolliert, stellt er fest, dass nach dem Telefonat mit seiner Mutter vor zehn Minuten keiner mehr angerufen hat. Es dauert noch weitere drei Klingelzeichen, bis er begreift, dass nicht sein Handy klingelt, sondern Hannahs. Sie greift verwirrt danach und starrt die Nummer auf dem Display an, bevor sie am anderen Ende die Stimme ihrer Chefin hört. Dreißig Sekunden später rennt sie los.
Willst du die Menschen verstehen? Wirklich verstehen? Dann musst du wissen, wozu sie im besten Fall fähig sind.
Benji wird von einem Knall geweckt werden. Als er sich aufsetzt, wird er erst nicht wissen, wo er sich befindet. Der Kater wird sein Einschätzungsvermögen völlig durcheinanderwirbeln, und es wird ihm vorkommen, als sei er zu groß für das Zimmer und stattdessen in einem Puppenhaus aufgewacht. Dieses Gefühl ist keineswegs neu für ihn, es befällt ihn schon seit Langem. Doch inzwischen wirkt es, als wäre er jeden Morgen, wenn er die Augen aufschlägt, aufs Neue darüber schockiert, noch immer am Leben zu sein.
Es wird der Tag nach dem Orkan sein, was er noch nicht wissen wird. Er wird nicht einmal wissen, ob er seinen letzten Traum einfach nur vergessen hat oder ob er noch immer träumt. Die langen Haare werden ihm über die Augen fallen, und sämtliche Gelenke und Sehnen in seinem Körper werden schmerzen, denn der ist noch immer mit der festen Muskulatur eines Eishockeyspielers ausgestattet, obwohl Benji mittlerweile zwanzig Jahre alt ist und schon seit fast zwei Jahren nicht mehr auf Schlittschuhen gestanden hat. Seine Lunge ist vom Rauchen zerfressen, und er ist viel zu dünn. Bei dem Versuch aufzustehen, wird er schwankend in die Knie gehen. Die leeren Flaschen vor seinem Bett werden zwischen Zigarettenpapier, Feuerzeugen und Resten leer gegessener Aluverpackungen über den Fußboden rollen, und sein Kopf wird von so heftigen Schmerzen geplagt werden, dass er auch mit den Handflächen gegen die Ohren gepresst nicht ausmachen kann, ob der Krach von draußen oder aus seinem Inneren kommt. Dann folgt ein zweiter Knall, der die Wände wackeln lässt, und Benji duckt sich instinktiv in der Befürchtung, dass die Fensterscheibe über dem Bett nachgeben und ihn unter Glassplittern begraben könnte. In der Ecke des Zimmers klingelt sein Handy. Es klingelt ununterbrochen.
Vor zwei Jahren hat er Björnstadt den Rücken gekehrt, und seitdem ist er herumgereist. Er hat den Ort verlassen, an dem er sein Leben lang gewohnt hatte, um mit Zügen, Schiffen und auch per Anhalter in Lkws in Länder zu gelangen, in denen es keine Eishockeymannschaft gab. Er hat bewusst Umwege in Kauf genommen und seinen Körper in jeder nur erdenklichen Form ruiniert, aber auch Dinge gefunden, von denen er nicht einmal wusste, dass er Sehnsucht danach gehabt hatte. Blicke und Hände und heißer Atem im Nacken. Tanzflächen ohne jegliche Fragen. Er brauchte Chaos, um sich frei zu fühlen, Einsamkeit, um seine innere Einsamkeit zu überwinden. Dabei hat er nie einen Gedanken daran verschwendet, umzukehren und nach Hause zurückzufahren. Sein Zuhause könnte indessen genauso gut ein fremder Planet sein.
Ist er glücklich? Wenn du das fragst, hast du vermutlich keine Ahnung, wer er ist. Denn auf Glück hat er nie gehofft.
Er wird am Fenster des kleinen Hotelzimmers stehen, schlaftrunken und ziemlich verkatert, und einen Blick auf die Welt draußen werfen, ohne ein Teil davon zu sein. Unten auf der Straße werden zwei Autos zusammengestoßen sein, dieses zweimalige Knallen hat ihn geweckt. Die umstehenden Passanten schreien, und Benji klingeln die Ohren. Sie klingeln und klingeln, bis er begreift, dass es sein Handy ist, das klingelt.
»Hallo?«, wird er sich mit heiserer Stimme melden, weil er schon seit vielen Stunden kein Wort mehr gesprochen hat. Und davor viel zu viele.
»Adri? Was ist passiert?«
Sie wird ihre Worte sorgfältig wählen, denn die Entfernung ist zu groß, um ihn in die Arme schließen zu können, wie es eine große Schwester bei ihrem kleinen Bruder tun möchte, wenn sie ihm Nachrichten wie diese überbringen muss. Er wird ihre Worte schweigend aufnehmen, letztlich hat er schon ein Leben lang trainiert, sich nichts anmerken zu lassen, wenn etwas in ihm erlischt.
»Tot?«, stammelt er schließlich, und die Schwester muss ihre Worte wiederholen, als wäre ihm seine eigene Sprache teilweise abhandengekommen.
Danach folgt nur ein geflüstertes »Okay«, und in der Leitung wird lediglich das kratzende Geräusch seiner Ausatmung zu hören sein, erzeugt von der kleinen Druckwelle, die entsteht, als ihm das Herz bricht.
Er wird auflegen und umgehend seinen Koffer packen, was schnell geschehen ist, da er mit leichtem Gepäck unterwegs ist, jederzeit bereit, alles hinter sich zu lassen.
»What’s going on? What time is it?«, flüstert eine andere Stimme vom Bett aus.
»I have to go«, entgegnet Benji bereits auf dem Weg hinaus, noch immer mit nacktem Oberkörper. Das großflächige Tattoo eines Bären auf seinem Arm wirkt nach Monaten in der Sonne ausgebleicht, und die vielen Narben auf seiner braun gebrannten Haut leuchten rosafarben, wie es bei Menschen, die so nahe der Wildnis leben, der Fall ist. An den Fingerknöcheln sind es mehr als im Gesicht, denn er ist besser darin, wild zu sein, als die meisten anderen.
»Go where?«
»Home.«
Die Stimme wird ihm noch etwas hinterherrufen, während Benji schon halbwegs die Treppe hinunter sein wird. Er hätte antworten und dem Mann dort oben versprechen können, ihn anzurufen, doch wenn Benji in seiner Heimatstadt etwas gelernt hat, dann, dass er niemanden mehr anlügen kann.
In dieser Nacht fegt ein Orkan über zwei Eishockeystädte hinweg und bringt Bäume und Menschen zu Fall. Morgen werden ein junger Mann und eine junge Frau – er mit einem Bären-Tattoo auf dem Arm und sie mit jeweils einem Gitarren- und einem Gewehr-Tattoo – nach Hause zurückkehren, um an einer Beerdigung teilzunehmen. So wird diesmal alles anfangen. In den Orten nahe der Wildnis sind die Menschen nicht nur durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden, sondern auch durch Widerhaken. Wenn sich ein Idiot also zu heftig im Schlaf herumwälzt, rutscht einem anderen Idioten nicht unbedingt nur das Nachthemd vom Leib. Mitunter reißt es auch uns allen das Herz aus dem Körper.
***
In Hed eilt Johnny hinter seiner Frau durchs Haus, die Treppe hinauf bis ins Schlafzimmer, wo sie ihn beim Packen ihrer Arbeitstasche kurz informiert: Ein junges Paar von einem Hof nördlich von Björnstadt erwartet das erste Kind, und als die Fruchtblase geplatzt war, fuhren die beiden unverzüglich mit dem Auto Richtung Krankenhaus in Hed los. Allerdings ohne sich darüber im Klaren zu sein, wie stark der Orkan werden würde. Anstatt die Hauptstraße zu nehmen, versuchten sie, die Strecke von Osten her über Schleichwege abzukürzen, und befanden sich gerade mitten im Wald zwischen beiden Kleinstädten, als sie einem umgestürzten Baum ausweichen mussten. Den nächsten Baum sahen sie erst fallen, kurz bevor er das Auto halb unter sich begrub. Von dort draußen im Nirgendwo konnten sie zwar beim Krankenhaus anrufen, doch im Augenblick ist gerade kein Krankenwagen in ihrer Nähe, und in der Notaufnahme weiß niemand, ob in diesem Chaos überhaupt irgendwer zu ihnen vordringen kann, jetzt, da die Waldwege unpassierbar sind. Die Frau und das Kind im Auto werden jedoch Glück im Unglück haben, denn eine der Hebammen hat heute Abend zufällig frei und wohnt außerdem nahe genug, um sich auf den Weg zu ihnen zu machen, das letzte Stück notfalls zu Fuß.
Johnny steht im Schlafzimmer und würde seine Ehefrau am liebsten fragen, ob sie noch ganz bei Trost ist, doch nach zwanzig Ehejahren weiß er bereits, wie ihre Antwort ausfallen wird. Sie dreht sich unerwartet heftig zu ihm um, wobei ihre Stirn seinen Brustkorb rammt, und er schließt sie zärtlich in die Arme, sodass sie fast in seiner Umarmung verschwindet.
»Ich liebe dich, ich liebe dich verdammt noch mal so sehr, du verfluchter Idiot«, flüstert sie.
»Dein Glück«, entgegnet er.
»In der Truhe auf dem Dachboden liegen noch weitere Decken, und die Taschenlampen sind …«
»Ich weiß, mach dir keine Sorgen um uns, aber du musst verflucht noch mal … du kannst doch verdammt noch mal nicht …«, beginnt er, und als sie ihr Gesicht in sein Shirt bohrt, spürt sie, dass er zittert.
»Du darfst nicht wütend auf mich sein, Liebling. Ich bin schließlich der Hitzkopf, und du musst jetzt der Vernünftige sein«, murmelt sie an seinem Brustkorb.
Er bemüht sich. Und wie er sich bemüht.
»Aber du musst jemanden mitnehmen. Jemand, der sich im Wald auskennt, Schatz, es wird stockdunkel sein und ... Du kannst aber nicht mitkommen, das weißt du doch. Niemals beide im selben Flugzeug und niemals beide gleichzeitig draußen in einem Orkan. Die Kinder müssen …«
»Ich weiß, ich WEISS«, flüstert er und hat sich noch nie so machtlos gefühlt. Ein entsetzliches Gefühl für einen Feuerwehrmann.
Wenn er bei einem Alarm ausrücken muss, verkneift sie sich wegen seines dämlichen Aberglaubens jedes Mal die Aufforderung »Komm heil wieder nach Hause«. Stattdessen denkt sie sich eher irgendetwas Banales, Alltägliches aus, das am Tag darauf erledigt werden muss, damit er ihr verspricht, wieder zurückzukommen: »Vergiss nicht, dass du morgen vorhast, zum Recyclinghof zu fahren« oder »Wir müssen um zwölf Uhr bei deiner Mutter zum Mittagessen sein«. Äußerungen wie diese sind zu ihrem kleinen geheimen Ritual geworden.
Deshalb sagt auch er jetzt nicht »Komm heil wieder nach Hause«. Er versucht sie nicht einmal davon abzubringen, loszufahren, weil er weiß, was er selbst darauf entgegnet hätte. Auch wenn er ziemlich stark ist, schafft nicht einmal er es, einem Sturm wie diesem Einhalt zu gebieten. Sie hingegen ist in der Lage, schwangeren Frauen bei der Geburt zu helfen, und genau dafür wird sie jetzt gebraucht. Wir helfen, wo wir können, wann immer wir können und all jenen, denen wir helfen können. Deshalb ergreift er auf dem Weg aus dem Schlafzimmer nur ihren Arm, um ihr etwas Banales, Alltägliches zu sagen, damit sie nicht vergisst, dass es auch noch ein Morgen gibt. Aber das Einzige, was ihm einfällt, lautet:
»Morgen werde ich dich flachlegen!«
Sie lacht auf, lacht ihm geradewegs ins Gesicht, lacht ihn aus.
»Du hast sie doch nicht mehr alle.«
»Nur damit das klar ist, morgen werde ich dich flachlegen!«
Er hat Tränen in den Augen, sie ebenfalls. Beide hören draußen den Orkan heulen und wissen genau, dass es sinnlos ist, sich einzubilden, sie seien unsterblich.
»Kennst du vielleicht jemanden, der mir dabei helfen könnte, mich in diesem Teil des Waldes zurechtzufinden?«, fragt sie und ist bemüht, beherrscht zu klingen.
»Ja, ich kenne da jemanden. Ich ruf gleich dort an und sag, dass du unterwegs bist«, antwortet er und schreibt ihr mit zitternder Hand die Adresse auf.
Sie nimmt den Minibus und fährt geradewegs in die Nacht hinaus und in einen Orkan hinein, der Bäume umknickt und nach Belieben tötet. Sie verspricht ihm nicht, heil wieder nach Hause zu kommen. Und er steht zusammen mit den Kindern am Küchenfenster.
***
Es sind die Hunde, die schließlich anschlagen, weil jemand vor der Haustür steht. Höchstwahrscheinlich bellen sie eher aus einem Instinkt heraus als wegen des Klingelns. Ana geht wachsam hinaus in den Flur und schaut durchs Fenster. Wer zum Teufel ist jetzt noch draußen unterwegs? Auf der Vortreppe steht eine Frau, die Kapuze ihrer Regenjacke hochgeschlagen, den zierlichen Körper gegen den Wind gestemmt.
»Ist dein Vater zu Hause?«, ruft sie laut, als Ana die Tür aufstößt, denn der ganze Wald dröhnt, als befänden sie sich in einer Konservendose, mit der mehrere Riesen Fußball spielen.
Der Minibus der Frau steht wenige Meter entfernt auf dem Rasen und schwankt im Wind. Welch ein idiotisches Fahrzeug, wenn man schon bei diesem Orkan unterwegs sein muss, denkt Ana. Außerdem trägt die Frau eine rote Jacke. Ist sie etwa die ganze Strecke von Hed hergefahren? Hat sie nicht mehr alle Tassen im Schrank? Ana ist so in ihre Gedanken vertieft, dass sie kaum reagiert, als die Frau näher kommt und ruft: »Im Wald steckt ein Auto fest, und mein Mann meint, dass mich bei diesem Wetter nur dein Vater dort hinbringen kann!«
Sie spuckt die Worte regelrecht aus, und Ana blinzelt nur, noch immer verwirrt.
»Äh … was? Ich meine, also, warum ist bei diesem Wetter überhaupt noch ein Auto im Wald unterwegs?«
»Die Schwangere darin steht kurz vor der ENTBINDUNG! Ist dein Vater nun zu Hause oder NICHT?«, faucht die Frau ungeduldig und setzt einen Fuß in die Diele.
Ana versucht sie aufzuhalten, doch der Frau entgeht die Panik in ihrem Blick, und sie stürmt ins Haus. Auf der Arbeitsplatte in der Küche stehen leere Bierdosen und Schnapsflaschen aufgereiht, sorgfältig von der Tochter ausgespült, damit sie in der Glasmülltonne nicht anfangen zu stinken und die Tochter sich nicht vor den Nachbarn schämen muss. Im Wohnzimmer hängen die Arme ihres Vaters zu beiden Seiten leblos von den Lehnen des Sessels herunter, während sich sein Brustkorb im Rhythmus der Atemzüge eines Alkoholikers mit angegriffener Lunge schwerfällig hebt und senkt.
Die Hebamme steht unter Stress, und das Herz schlägt ihr bis zum Hals, deshalb ist sie nicht darauf vorbereitet, als es ihr geradewegs in die Hose sackt.
»Ich … verstehe. Entschuldigung … Entschuldigung, ich wollte nicht stören«, murmelt sie beschämt und dreht sich rasch wieder zur Haustür um, bevor sie hinausstürzt und in ihren Minibus steigt.
Ana zögert kurz, bevor sie ihr hinterhersprintet. Sie hämmert mit der Faust gegen die Seitenscheibe, und die Frau lässt diese zögerlich hinunter.
»Wohin müssen Sie denn?«, ruft Ana.
»Ich muss die Schwangere im Wald finden!«, ruft die Frau, während sie versucht, den Minibus zu starten. Doch die verfluchte Rostlaube gibt nur ein leises Hüsteln von sich.
»Sind Sie nicht mehr ganz richtig im Kopf? Wissen Sie eigentlich, wie gefährlich es da draußen bei diesem Wetter ist?«
»Sie bekommt jeden Moment ihr Kind, und ich bin Hebamme!«, schreit die Frau jetzt sichtlich aufgebracht zurück und hämmert auf das funktionsuntüchtige Armaturenbrett ein.
Im Nachhinein wird Ana nicht genau sagen können, was in diesem Moment in sie gefahren ist. Vielleicht war es eine Eingebung, wie man sie aus Filmen kennt, in denen sich Leute zu etwas berufen fühlen. Vor allem lag es aber wohl daran, dass diese Frau ihr genauso verrückt erschien, wie es die Leute immer von Ana behaupten.
Sie läuft zurück ins Haus, gibt den Hunden Futter und dreht die Lautstärke ihres Lieblingssongs von Maya noch etwas weiter auf. Dann kommt sie in einer viel zu großen Jacke, die ihr im Wind wie ein Mantel um die Beine flattert, und mit den Autoschlüsseln eines verrosteten Pick-ups in der Hand wieder zurück.
»Wir nehmen Papas Wagen!«, ruft sie laut.
»Dich kann ich aber nicht mitnehmen!«, brüllt die Hebamme zurück.
»Aber Ihre Karre ist scheiße!«, entgegnet Ana.
»Glaubst du nicht, dass ich das nicht selbst wüsste?«, brüllt die Frau wieder.
»Aber es ist verflucht noch mal um einiges sicherer für Sie, wenn ich dabei bin!«, schreit Ana durch das Heulen des Windes.
Die Hebamme starrt die verrückte junge Frau an. Auf eine Situation wie diese wird man während der Ausbildung wahrlich nicht vorbereitet. Schließlich flucht sie resigniert, schnappt sich ihre Tasche und folgt dem Mädchen zum Wagen seines Vaters.
»Ich heiße Hannah!«, ruft sie.
»Ana!«, schreit Ana und zeigt auf sich.
Es scheint geradezu charakteristisch zu sein, dass sich ihre Vornamen ähneln, denn Hannah wird noch viele Gelegenheiten bekommen, sowohl darüber zu fluchen als auch darüber zu lachen, wie ähnlich diese durchgeknallte Achtzehnjährige ihr selbst ist. Sie klettern auf die Vordersitze und müssen all ihre Kraft aufbieten, um die Türen zuzuziehen, während der Sturm auf die Karosserie eindrischt wie ein Hagelschauer. Dann fällt Anas Blick unversehens auf das Gewehr auf der Rückbank, und ihr Gesicht verfärbt sich dunkelrot vor Scham. Sie greift danach und bringt es ins Haus. Als sie wieder zurück ist, murmelt sie ohne jeden Augenkontakt: »Er vergisst die Knarre immer im Auto, wenn er … ach, Sie wissen schon. Ich hab es ihm schon mindestens tausendmal gesagt.«
Die Hebamme nickt peinlich berührt.
»Dein Vater und mein Mann haben sich übrigens vor ein paar Jahren während der Waldbrände kennengelernt. Ich nehme an, die Feuerwehrleute riefen deinen Vater an, weil sie wussten, dass er sich im Wald so gut auskennt. Und danach waren sie ein paarmal zusammen jagen. Wahrscheinlich ist dein Vater tatsächlich der einzige Mensch in Björnstadt, den mein Mann respektiert.«
Es ist ein jämmerlicher Versuch, die Stimmung aufzuheitern, sie spürt es selbst.
»Mein Vater ist vielen Leuten sympathisch, nur sich selbst am allerwenigsten«, entgegnet Ana mit einer Überzeugung, die der Hebamme Magenkrämpfe verursacht.
»Vielleicht solltest du doch besser bei ihm bleiben, Ana.«
»Und warum? Er ist eh betrunken. Er wird ja nicht mal merken, dass ich weg bin.«
»Aber mein Mann hat mir aufgetragen, ausschließlich deinem Vater zu vertrauen, wenn ich in den Wald fahre, und niemand anderem. Mir ist ehrlich gesagt nicht ganz wohl dabei, dass du …«
Ana schnaubt.
»Wenn Ihr Mann glaubt, dass sich nur Kerle im Wald zurechtfinden, ist er ein Idiot!«
Die Hebamme lächelt resigniert.
»Wenn du glaubst, dass mein Mann nur deswegen ein Idiot ist, dann kennst du dich aber nicht gerade gut aus mit Männern …«
Sie liegt Johnny schon das ganze Jahr in den Ohren, den Minibus endlich in eine anständige Werkstatt zu bringen, doch er brummelt immer nur, dass alle Feuerwehrmänner ihre Privatautos selbst reparieren können. Woraufhin sie ihm klargemacht hat, dass alle Feuerwehrmänner nur GLAUBEN, ihre Privatautos selbst reparieren zu können. Manchmal denkt sie, dass es eigentlich ganz simpel ist, verheiratet zu sein: Man muss sich nur einen Streitpunkt suchen, in dem man dem Partner definitiv überlegen ist, und ihn mindestens einmal pro Woche anbringen, bis in alle Ewigkeit.
»Und wo befindet sich der Wagen dieser Schwangeren genau?«, fragt Ana ungeduldig.
Die Hebamme zögert, seufzt und zieht schließlich eine Landkarte aus ihrer Tasche. Sie selbst hat die Hauptstraße nach Björnstadt genommen, wobei ihr Wagen als letzter durchgekommen ist. Als sie im Rückspiegel gesehen hat, wie mehrere Bäume geradewegs auf die Fahrbahn stürzten, hätte sie es eigentlich mit der Angst zu tun bekommen müssen, doch das Adrenalin hat sie unterdrückt.
Jetzt deutet sie auf die Karte und antwortet: »Er muss irgendwo hier draußen sein. Ungefähr da. Anstatt die Hauptstraße zu nehmen, haben sie versucht, über die alten Waldwege abzukürzen, aber mittlerweile sind bestimmt viele davon blockiert. Kann man überhaupt irgendwie dort hingelangen?«
»Das werden wir sehen«, erwidert Ana.
Hannah räuspert sich.
»Sorry, wenn ich frage, aber bist du eigentlich schon alt genug, um einen Führerschein zu haben?«
»Ja! Oder na ja, alt genug schon!«, antwortet Ana ausweichend und legt einen Kavalierstart hin.
»Aber du … hast einen Führerschein?«, fragt die Hebamme leicht beunruhigt, als Ana den Wagen schlitternd auf die Straße lenkt.
»Nein, also nicht direkt. Mein Vater hat mir das Fahren beigebracht. Er ist ziemlich oft betrunken und braucht dementsprechend häufig einen Chauffeur.«
Das beruhigt die Hebamme nicht gerade, genau genommen ganz und gar nicht.
Matteo ist vierzehn Jahre alt. Er ist nicht wichtig für diese Geschichte, noch nicht. Er gehört nur zu denen, die im Hintergrund vorbeilaufen, ist eines von Tausenden Gesichtern, die die Einwohnerzahl in einem Ort ausmachen. Niemand bemerkt ihn, als er im aufziehenden Orkan durch Björnstadt radelt, und dies nicht nur, weil alle damit beschäftigt sind, möglichst rasch nach Hause zu gelangen, sondern auch, weil Matteo schlicht und einfach ein unauffälliger Typ ist. Auch wenn Unsichtbarkeit eine Superkraft ist, hat er nie davon geträumt, sie zu besitzen. Stattdessen hätte er sich wohl eher übermenschliche Kräfte gewünscht, um seine Familie zu beschützen. Oder die Macht, die Vergangenheit zu verändern, um seine große Schwester zu retten. Aber er ist kein Superheld. Er ist genauso machtlos gegenüber seinem Dasein wie die Kleinstadt, in der er wohnt, gegenüber der sie umgebenden Natur.
Als der Sturm durch die Bäume peitscht und in dem kleinen Haus am Waldrand, das seine Eltern gemietet haben, unvermittelt der Strom ausfällt, ist er allein zu Hause. Seine Eltern sind ins Ausland gefahren, um seine Schwester nach Hause zu holen. Matteo kommt normalerweise gut allein zurecht, allerdings nicht, wenn es im ganzen Haus dunkel ist. Deshalb schnappt er sich sein Fahrrad und fährt los. Der trotzige Teenager in seinem Kopf weigert sich, jemanden um Hilfe zu bitten, während das verängstigte Kind in seiner Brust zugleich hofft, dass jemand seine Hilfsbedürftigkeit erkennt. Doch niemand hat Zeit für ihn.
Ein großer beleibter Mann im Anzug rauscht in entgegengesetzter Richtung an ihm vorbei. Matteo weiß nicht, wie er richtig heißt, sondern nur, dass alle ihn »Frack« nennen. Er ist der Eigentümer des großen Supermarkts und somit einer der reichsten Menschen in der ganzen Stadt. Der Mann bemerkt den Jungen, an dem er vorbeirauscht, nicht einmal, denn er hat es eilig, zu den Fahnenmasten unten vor der Eishalle zu gelangen, um die grünen Flaggen mit dem Bären darauf einzuholen, damit sie nicht vom Orkan zerfetzt werden. Bei drohender Gefahr gilt sein erster Gedanke also der Rettung von Fahnen anstelle von Menschen.
Als Matteo weiterfährt, sieht er, wie sich die Nachbarn gegenseitig dabei helfen, alle losen Gegenstände aus ihren Gärten zu entfernen. Sie räumen die auf allen Wendeplätzen aufgestellten Eishockeytore und die dazugehörigen Schläger weg. Die Jugendlichen in der Gegend spielen zu dieser Jahreszeit mit Tennisbällen auf dem Asphalt Hockey. Doch sobald Schnee fällt, verwandelt so gut wie jeder Vater sein Grundstück mittels eines Wasserschlauchs in ein Eishockeyfeld. Matteo hat schon viele Nachbarn glucksen hören: »In dieser Stadt haben wir gute Freunde und schlechte Gärten.« Weiter südlich prahlt man vielleicht mit perfekt gestutzten Rasenflächen und penibel gepflegten Beeten, aber hier gehören während der Schneeschmelze Ovale voller Kies sowie Pucks in der Blumenerde zum Status. Um zu zeigen, dass man sich in der kalten Jahreszeit den richtigen Dingen gewidmet hat.
Matteo überlegt oft, ob er sich an einem anderen Ort ebenso fremd und einsam gefühlt hätte wie hier. Ob woanders jemand mit ihm gesprochen hätte, ob er dort Freunde gehabt hätte oder sichtbarer gewesen wäre. Wo du geboren wurdest und zu wem du dort wirst, kommt einer Lotterie gleich, genauso wie das, was an einem Ort richtig und an einem anderen falsch ist. Nahezu in der ganzen Welt würde dich die Besessenheit vom Eishockey zu einem Outsider machen, zu einem Sonderling, hier jedoch nicht. Hier ist es wie mit dem Wetter. In allen gesellschaftlichen Situationen geht es beim Small Talk entweder um das eine oder das andere, in Björnstadt kann man sich weder einem Orkan entziehen noch dem Eishockey.
Draußen wird es rasch dunkel und kalt. Noch ist kein Schnee gefallen, doch der Wind frisst sich bereits durch alle Hautschichten, und da der Junge keine Handschuhe trägt, werden seine Finger taub. Er tritt in die Pedale, ohne darüber nachzudenken, wohin er fährt, nimmt eine Hand vom Lenker, um sie in der Jackentasche etwas aufzuwärmen, und ist für einen Moment unaufmerksam, sodass er das Auto in der Dunkelheit zu spät erblickt. Es kommt wie aus dem Nichts auf ihn zu, und die Lichter blenden ihn. Matteo bremst so heftig, dass sein Fahrrad in Schräglage gerät. Die Scheinwerfer machen ihn blind, und er wartet geradezu auf den Knall. Als dieser ausbleibt, glaubt er zuerst, bereits tot zu sein, bevor es ihm im letzten Augenblick gelingt, das Gewicht zu verlagern und sich samt seinem Fahrrad zur Seite zu werfen. Dabei überschlägt er sich und schürft sich Hände und Arme auf. Er schreit, doch bei dem Sturm hört ihn niemand.