Die Gleichberechtigung des Kindes - Ekkehard von Braunmühl - E-Book

Die Gleichberechtigung des Kindes E-Book

Ekkehard von Braunmühl

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Beschreibung

Durch die konsequente und nahezu rezepthaft praktikabel gemachte Abkehr von jeder Erziehungsideologie gelingt es den Autoren, die Gleichberechtigung des Kindes als realistische und längst überfällige (nur durch pädagogisches Denken verhinderte) Konsequenz aller Bemühungen um Menschenwürde und Menschenrechte darzustellen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 320

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Ekkehard v. Braunmühl | Heinrich Kupffer | Helmut Ostermeyer

Die Gleichberechtigung des Kindes

FISCHER Digital

Inhalt

VorwortERSTER TEIL Das Kind in der Familie1. Abschied vom pädagogischen Denken2. Kinderfreundlich heißt antipädagogisch3. Der pädagogische TodestriebExkurs zum »Elternführerschein«4. Politisches Familienleben5. Wie man aus dem Teufelskreis der Erziehung ausbrechen kannZWEITER TEIL Das Kind im Recht1. Recht ist unteilbar2. Der Verrat am Grundgesetz3. Der Zwiespalt im Grundgesetz4. (Elterliche) Gewalt geht vor Recht5. Vom Elternrecht zur Sorgepflicht6. Jugendhilfe und Jugendschutz7. Jugendstrafrecht8. Vom Recht des Kindes zum Recht der KindeskinderDRITTER TEIL Das Kind in der öffentlichen Erziehung1. »Erziehung« als Entrechtung2. Vorschule – Programmierung oder Lebenshilfe?3. Schule – Sachzwang oder Lernfreiheit?4. Heim – Hierarchie oder Kommunikation?NachwortAnhangGesetzestexteGesetzestexte – Alte FassungGesetzestexte – Neue Fassung

Vorwort

Dieses Buch müßte eigentlich überflüssig sein. Wir leben ja in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat. Aber es ist abzusehen, daß dieses Buch als Vorstoß ins Unerhörte aufgenommen werden wird, denn unsere Kinder, wie nahe sie auch um uns herumturnen mögen, leben irgendwo anders; jedenfalls nicht in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat.

Wir legen unsere Arbeit in dem Bewußtsein vor, daß ihre Grundidee verstanden und in absehbarer Zeit verwirklicht werden wird. Das einzige ernsthafte Hindernis könnte die Einfachheit, Klarheit und Selbstverständlichkeit dieser Idee sein, die wir gelegentlich selbst als Schnapsidee empfinden – nicht, weil sie im Rausch entstanden wäre, sondern weil man angesichts des überall tobenden Erziehungskrieges daran irre werden muß, zu glauben, sie könnte vernünftig sein; denn wäre sie vernünftig, müßte sie dann nicht längst Realität geworden sein?

Das Einfachste liegt oft am fernsten. Über die Rechte des Kindes wird seit vielen Jahren mit Inbrunst gestritten, aber immer wurde der rechtliche Aspekt von dem pädagogischen Aspekt überlagert. Die einzige Ausnahme bildet das Buch des Amerikaners Richard Farson, »Birthrights« (1974), dessen deutsche Ausgabe unter dem Titel »Menschenrechte für Kinder – Die letzte Minderheit« 1975 in München erschienen ist. Farson fordert sämtliche Menschen- und Bürgerrechte für Kinder von Anfang an und schreibt:

»Manche dieser Rechte scheinen für kleine Kinder wegen ihrer offensichtlichen Unzulänglichkeiten nicht angemessen zu sein. Doch sollten diese Rechte den kleinen Kindern nicht allein wegen ihres Alters vorenthalten werden, da man sie auch alten Menschen nicht verweigert, deren Lebensäußerungen bisweilen ebenfalls beeinträchtigt sind. Die Unfähigkeit eines Menschen, seine Rechte wahrzunehmen, sei er nun alt oder jung, sollte eigentlich zur Folge haben, daß die Gesellschaft dem Schutz dieser Rechte größere Beachtung schenkt« (S. 27). Noch prägnanter formuliert Farson seine Ablehnung des traditionellen Kinderschutzgedankens: »Wir sollten umdenken und nicht mehr die Kinder, sondern ihre Rechte schützen« (S. 115).

Damit wird erstmals konsequent der rechtliche Aspekt über den Kompetenzaspekt gestellt, das heißt, es werden Kindern die Menschen- und Bürgerrechte zugebilligt unabhängig davon, ob sie mit ihnen schon in jedem Falle etwas anfangen können oder nicht. Farson geht so weit, für alle Kinder das Wahlrecht zu fordern und etwa die Schulpflicht abschaffen zu wollen – Vorschläge, denen wir uns nicht anschließen, weil bestimmte Altersgrenzen, ob sie nun das Wahlrecht oder beispielsweise die Geschäftsfähigkeit betreffen, gegenüber der grundsätzlichen Gleichberechtigung des Kindes von untergeordneter Bedeutung sind (vergleichbar dem unterschiedlichen Rentenalter von Männern und Frauen als eine der grundsätzlichen Gleichberechtigung der Geschlechter untergeordnete und deshalb nicht mit ihr kollidierende Regelung). Vollends kann die Abschaffung der Schulpflicht, obwohl die heutige Schule den Tatbestand der Freiheitsberaubung erfüllt, sinnvollerweise nicht gefordert werden (hierin zum Beispiel der allgemeinen Wehrpflicht vergleichbar), ohne daß die Entbehrlichkeit dieser Regelung nachgewiesen wäre.

Farsons Buch, so nachdrücklich wir es als bisher einziges und anregungsreiches Dokument konsequent rechtlichen Denkens empfehlen, ist Zukunftsmusik. Die Gleichberechtigung des Kindes in der von uns vorgeschlagenen Form ist dagegen ein aktuelles, ja überfälliges Programm, an dessen Durchsetzung jeder verantwortungsbewußte Mensch jeglichen Alters unverzüglich mitarbeiten sollte.

Einen Einwand freilich nehmen auch wir sehr ernst und wollen ihn bereits an dieser Stelle ausräumen. Es gibt bisher nur eine kleine Minderheit von Kindern, die von Geburt an gleichberechtigt aufwachsen und das Maß an Selbstverantwortlichkeit und Mitbestimmungsfähigkeit entwickeln konnten, das allen Kindern zu ermöglichen das Ziel unseres Programms ist. Wir gehen deshalb nicht davon aus, daß die Gleichberechtigung des Kindes von morgen auf übermorgen für die heute lebenden Kinder und Jugendlichen verwirklicht werden könnte oder sollte. Entscheidend ist das von Geburt an, weshalb die Vorstellung, Kinder und Jugendliche, wie sie in der Mehrzahl heute sind, plötzlich gleichberechtigt auf die Menschheit loszulassen, absurd wäre. Es läßt sich aber sehr wohl ein absehbarer Zeitpunkt anvisieren, zu dem die notwendigen Vorbereitungen so weit abgeschlossen sind, daß das Gesetzeswerk in Kraft gesetzt werden kann – fraglos mit Übergangsregelungen und Sicherungen, die der demokratische Meinungsbildungsprozeß der nächsten Jahre erbringen wird. Wenn man erst einmal aufgehört hat zu glauben, Kinder seien »von Natur aus« unvernünftig, verantwortungslos, der Erwachsenenwelt gefährlich, wenn man statt dessen verstanden hat, daß sie unter den heutigen Bedingungen so werden, wie wir sie (oder immerhin die meisten) kennen, dann wird Familien-, Jugend- und Bildungspolitik den Erwachsenen wieder Spaß machen, das prophylaktische Denken und Handeln wird Raum gewinnen – und Raum schaffen: für einen dann erst wirklich menschenwürdigen Empfang unseres Nachwuchses.

Obwohl wir dem prophylaktischen, vorbeugenden Denken das Hauptgewicht beilegen müssen, haben wir uns auch bemüht, den heutigen Erwachsenen und Kindern aus dem Teufelskreis des Erziehungskrieges herauszuhelfen. Dies war aus sachlichen Gründen bei den drei Teilen dieses Buches in unterschiedlichem Maße möglich. Der Leser wird aber bemerken, daß die rechtliche Perspektive, die ihm die Autoren in ihren (selbständigen, gleichwohl gemeinsam verantworteten) Beiträgen vorschlagen, auch ohne oder jedenfalls schon vor den entsprechenden Gesetzesänderungen neue, zum Teil ungeahnte Möglichkeiten eröffnet und ihm freistellt, mit Kindern und Jugendlichen an seinem jeweiligen Ort unmittelbar – wir sagen das bewußt so anspruchsvoll – ein neues Leben zu beginnen. Ob man dann noch von »Erziehung« spricht (wie H. K.), oder ob man dieses Wort zum Schimpfwort umfunktioniert (wie E. v. B.), soll uns einen Streit nicht wert sein.

Wir machen den Leser noch darauf aufmerksam, daß wir ihm im Nachwort einige Fragen stellen, deren Beantwortung wichtig ist. Wir bitten ihn deshalb, mit der Lektüre möglichst bis dorthin vorzudringen, auch wenn ihn unsere Ideen und Vorschläge schon im Verlauf des Textes überzeugt haben sollten.

 

E. v.Braunmühl

H. Kupffer

H. Ostermeyer

Ekkehard v.Braunmühl

ERSTER TEIL Das Kind in der Familie

1. Abschied vom pädagogischen Denken

Berlin, 12. November 1975. Kongreß der »Internationalen Gesellschaft für Heimerziehung«. Es geht um mehr Chancen für Problemkinder. Auf der einleitenden Podiumsdiskussion, die in Ausschnitten vom Hessischen Rundfunk am 7. Januar 1976 übertragen wurde, stellte der international bekannte Bielefelder Pädagoge Hartmut von Hentig eine abenteuerliche These auf. Er sagte:

»Wenn in dreißig bis fünfzig Jahren eine – wenn man das dann überhaupt noch tut – Geschichte der Pädagogik geschrieben wird etwa unserer Zeit, dann denke ich mir, wird da stehen: das war der Augenblick, in dem man in der Gesellschaft dazu überging, aus Schulpädagogik Sozialpädagogik zu machen, in dem man begriff, daß die Pädagogik etwas Weiteres ist als dieses. Nun wage ich zu behaupten, daß ich, obwohl Latein, Schwimmen und Kochen an einer Schule unterrichtend, also ein Schulpädagoge bin, ich heute – und jeder Lehrer ist das, wenn er seine Augen aufmacht – ein Sozialpädagoge bin. (Beifall!) Denn die Lebensprobleme der heutigen Jugend, die Lebensprobleme der Kinder, überdecken, verdrängen, ersticken ihre Lernprobleme. Und dies ist wichtig zu sagen, weil die Öffentlichkeit denkt, na hört mal, also noch nie haben wir so viel Geld für die Schmuddelkinder ausgegeben, noch nie hat es so viele Ausbildungsgänge, so viele Diplompädagogen gegeben, die dieses zünftig betreiben, wie heute, und nun seid mal zufrieden. Und genau dieses scheint mir eine der Ursachen – deshalb meine allgemeine These am Anfang – eine der Ursachen dafür zu sein, daß wir nicht sehr viel weiterkommen.«

Im Laufe der Diskussion ging die Berliner Senatorin Ilse Reichel auf diese These folgendermaßen ein: »Leider ist es eben nicht so, daß jeder Lehrer auch Sozialpädagoge ist. (Beifall!) Er sollte es sein, aber wenn wir dann sehen, wie mangelhaft die Kooperation dort, wo Sozialpädagogen und Lehrer in einem Bereich arbeiten, ist, dann kann man sich nur fragen, wie Kinder mit diesen Widersprüchen, mit denen sie leben müssen, eigentlich noch so vernünftig werden können, wie sie es geworden sind.«

Und Hentig gestand: »In der Tat ist die Situation die des Sozialpädagogen, aber nicht – leider – unsere Kompetenz nicht.«

Um die Bedeutung dieser Diskussionsausschnitte richtig würdigen zu können, muß man sich den Unterschied, den Gegensatz zwischen den Begriffen »Pädagogik« und »Sozialpädagogik« klarmachen. Verkürzt kann man etwa so sagen: Pädagogik, auch Schulpädagogik, zielt auf das unbeschädigte, das im guten Sinne normale und gesunde Kind, Sozialpädagogik dagegen hat es mit Problemkindern und -jugendlichen (auch -erwachsenen übrigens) zu tun, Sozialpädagogik hat therapeutische, wiedergutmachende Aufgaben[1][1] – und es ist klar, daß Antipädagogen nur das pädagogische, nicht das sozialpädagogische Denken bekämpfen.

Wenn nun der Pädagogikprofessor von Hentig die Pädagogik verabschiedet, eine Lanze für die Sozialpädagogik bricht und bedauert, daß die Lehrer leider nicht die erforderliche Kompetenz besitzen, wenn er aber auf der anderen Seite nichts unternimmt, aus dem Bankrott der Pädagogik Schlußfolgerungen zu ziehen (z.B. in Sachen Lehrerausbildung, etwa durch Liquidierung seines pädagogischen Fachbereichs), dann erweist sich seine These als Etikettenschwindel, als durchschaubare Verschleierung eines Rückzugsgefechtes, das nur noch sinnlose Opfer fordert. Wahrscheinlich hat deshalb Ilse Reichel die Radikalität von Hentigs These nicht verstanden, von »Kooperation« zwischen Lehrern und Sozialpädagogen gesprochen und deren Mangelhaftigkeit für die Widersprüche verantwortlich gemacht, die Hentig doch – wenigstens angeblich – durch einen völligen Übergang zur Sozialpädagogik ausräumen wollte. Bezeichnend ist Reichels verfälschende Hinzufügung: »… daß jeder Lehrer auch Sozialpädagoge ist.« Tatsache ist jedenfalls, daß in der von Hartmut von Hentig gegründeten Bielefelder Schule für das Oberstufen-Kolleg ein Rahmen-Curriculum (Lehrplan) »Pädagogik« erarbeitet und 1975 veröffentlicht wurde[2], in dem ungeniert und Hentig Lügen strafend, alte pädagogische Ideologie verkündet wird.

»Grund-Satz 1: ›Der Mensch ist als biologisches und soziales Wesen auf Erziehung angewiesen!‹« (S. 67)

»Grund-Satz 2: ›Der Mensch ist als Person oder Individuum auf Erziehung angewiesen …‹« (S. 69)

Der dritte »Grund-Satz« hat zwei Hälften: »1. Die Gesellschaft als Ganzes hat immer ein Bedürfnis, ihre Kontinuität durch Pädagogik zu sichern. 2. Unsere Gesellschaft – ihr Fortbestand und ihre Weiterentwicklung – ist undenkbar ohne spezialisierte pädagogische Anstrengungen.« (S. 72)

Bei so viel »angewiesen«, »immer« und »undenkbar» ist es dann höchstens als Koketterie zu deuten, wenn man den (wahren!) Satz liest: »Die Möglichkeit, den eigenen – auch den pädagogischen – Beruf zurückzunehmen, wenn er seine begründete Funktion nicht oder nicht mehr erfüllt, könnte eines der Entscheidungsdaten der Pädagogik überhaupt sein.« (S. 84) Die Zitate zeigen, daß ihr Autor Cord Rathert nicht die reine Schulpädagogik als Wissensvermittlung meinen kann, denn Lernprobleme und Lernhelfer wird es tatsächlich immer geben. Aber das »eigentlich Erzieherische«, das Kinderführen, die Menschenformerei und -verbesserei hat ausgespielt. Allmählich beginnt sich sogar die Erkenntnis durchzusetzen – freilich gegen den Widerstand missionarischer Führernaturen –, daß eben dieses pädagogische Denken, das bis vor wenigen Jahren unter erwachsenen Menschen unbestritten als gut, nötig und menschenfreundlich galt, selbst eine der wichtigsten Quellen (in vielen konkreten Fällen eindeutig die wichtigste) eben der Probleme und Mißstände ist, die es zu lösen und zu beheben versucht.

Unter »pädagogischem Denken« verstehen wir dabei ebenso wie Pädagogen alle Überlegungen, die von folgenden Voraussetzungen ausgehen: Wir, die Erwachsenen, die Erzieher, müssen der nachfolgenden Generation – oder im Einzelfall dem »uns anvertrauten« Kind – den Weg und das Ziel weisen, müssen Kinder aus Hilflosigkeit zur Mündigkeit führen, vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip, aus der Unreife zur Reife, wir müssen sie »sozialisieren« (d.h. aus der Selbstsucht zur Selbstzucht und Gemeinschaftsfähigkeit bringen), sie »kultivieren« (d.h. aus dem rohen Naturzustand zu Kulturwesen zivilisieren), insgesamt: Wir, die Erwachsenen, die Erzieher, müssen Kinder zu »richtigen« Menschen erst machen. Dafür brauchen wir Erziehungsziele (z.B. Gehorsam, Pünktlichkeit, Sauberkeit oder auch Toleranz, Selbständigkeit, Kreativität) und Erziehungsmittel oder -maßnahmen (z.B. Strafen, Ermahnungen, Drohungen oder auch Belohnungen, Überredungskünste, Ablenkungsmanöver). Schließlich können wir noch zwischen verschiedenen Erziehungsstilen wählen und entweder immerzu autoritär auftreten, Angst erzeugen, herumkommandieren, Gebote und Verbote mit Strafen durchsetzen, oder einen »demokratischen«, »sozial-integrativen« Stil bevorzugen und mehr mit List vorgehen, Diskussionen führen, ermuntern, loben, erklären, mit Liebesentzug strafen. – Der Vollständigkeit halber seien noch die »Laissez-faire-Erziehung« genannt (Kindern wird Hilfe auch dann verweigert, wenn sie nach ihr verlangen, die Erzieher lassen sich aus Prinzip fürchterlich auf der Nase herumtanzen) und die »Non-frustration-Pädagogik« (Kindern wird jeder Widerstand aus dem Weg geräumt, möglichst jede Frustration – Enttäuschung, jeder Schmerz – erspart). Über die antiautoritären, proletarischen, sozialistischen oder speziell religiös orientierten Erziehungskonzeptionen brauchen wir nicht zu sprechen, weil sie nur verschiedene Erziehungsziele anstreben, aber ebenfalls mit Erziehungsmitteln und -stilen »arbeiten«, ebenfalls Kinder als Zöglinge, Aufzuchtobjekte sehen.

Insgesamt baut pädagogisches Denken auf der Voraussetzung auf, daß die Erwachsenen das Recht beanspruchen zu bestimmen, welche Ziele ihre Kinder erreichen sollen, und daß sie zu diesem Zwecke alle ihnen tauglich erscheinenden Mittel einsetzen dürfen, ja müssen. Vor dem pädagogischen Denken ist ein Erziehungserfolg immer dann gegeben, wenn Kinder das tun, was Erwachsene für sie geplant haben. Darüber hinaus bedeutet erfolgreiche Erziehung, daß Kinder auch Charaktereigenschaften, Vorlieben, Denkweisen und womöglich politische und religiöse Überzeugungen besitzen, die von ihren Erziehern für sie ausgesucht worden sind. Umgekehrt gilt es als erzieherischer Mißerfolg, wenn zum Beispiel ein Klosterschüler masturbiert oder wenn ein Mädchen aus einem puritanischen, sittenstrengen Elternhaus schwanger wird. (Wir gehen hier nicht darauf ein, daß dann in der Regel die Erwachsenen die Verantwortung für solche Mißerfolge höchst unlogischerweise ablehnen und auf das Kind abschieben; auf seine Bosheit oder gar auf die Vererbung.)

Nun ist sicher nicht alles, was heute oft noch undifferenziert »Erziehung« genannt wird, ein Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht, gegen die Gleichberechtigung des Kindes. Wir wollen, um möglichst wenige Mißverständnisse heraufzubeschwören, wenigstens das wichtigste Unterscheidungsmerkmal nennen. Nehmen wir an, ein Erwachsener richtet eine Bitte an ein Kind, und bei deren Erfüllung lernt das Kind irgend etwas (irgend etwas lernt jedermann jederzeit). Man mag diesen Vorgang »Erziehung« nennen, aber dann verschleiert man das rechtliche Problem, denn eine Bitte auszusprechen ist kein Unrecht. Oder umgekehrt: Man kann auch mit üblen Diktatoren gut auskommen, wenn man ihren Wünschen immer nach- oder gar zuvorkommt. Sein wahres Gesicht zeigt ein staatliches Unrechts- und Terrorsystem ebenso wie das der Erziehung erst im Falle von Weigerungen. Wir alle erfüllen uns gegenseitig häufig Wünsche, ohne daß man dies »Erziehung« nennt. Erst wenn eine Weigerung nicht folgenlos bleibt, wenn sie Sanktionen nach sich zieht (»formende«, menschenverbesserische oder einfach gewalttätige Maßnahmen), dann erkennt man den unterdrückerischen Anspruch hinter sonst harmlos wirkenden Handlungen. Einem Kind den Sinn des Zähneputzens zu erklären, kann ein freundschaftlicher Akt der Information sein. Aber sobald das Kind von seiten des Erklärenden irgendwelche Folgen erfährt, wenn es sich die Zähne nun putzt (z.B. Lob) oder nicht putzt (z.B. Tadel), erweist sich der ganze Vorgang als ein erzieherischer. Es hätte ja keinen Sinn, dagegen anzutreten, daß Kindern Informationen, Hinweise, Hilfestellungen gegeben werden. Bloß sollte man diese nur dann »Erziehung« nennen, wenn Sanktionen durch den Erwachsenen (den Stärkeren) zu erwarten sind. Nennt man es zum Beispiel einen Erziehungsvorgang, wenn ein Kind zum ersten Mal bewußt Schnee erlebt, sieht, fühlt und davon natürlich beeindruckt wird, dann kann und will niemand solche »Erziehung« abschaffen. Korrekter aber bezeichnet man ein solches Erlebnis als Erlebnis, eine Erfahrung als Erfahrung, einen Eindruck als Eindruck, das Lernen als Lernen. Denn hier ist immer das Kind das entscheidende menschliche und rechtliche Subjekt. Im Falle von Erziehung (wie sie oben definiert wurde) ist der Erzieher das Subjekt, das Kind ist Objekt, und was zwischen ihnen vorgeht, ist ein menschlicher Beziehungskonflikt, ein Machtkampf. »Erziehung ist immer auch so etwas wie eine Herrschaftsausübung.« So, als einziges ungezählter Beispiele, der Pädagogikprofessor Groothoff[3]. Wer diesen fundamentalen Unterschied (das Kind lernt von sich aus – das Kind wird erzogen) heute noch vertuschen will, gleicht den Salazars und Pinochets, die z.B. die Folter anwenden nicht etwa um ihrer Machtstellung willen, sondern zum Wohle ihres Volkes! – Schlußfolgerung: Kinder sind nicht erziehungsbedürftig, sondern sie lernen an der Wirklichkeit (wie jeder Mensch), und zwar um so lieber und besser, je weniger Erziehung ihnen die Wirklichkeit entzieht oder verfälscht.

Das hier in aller Kürze dargestellte pädagogische Denken führte unter anderem zu Zigtausenden von Büchern, Dutzenden von Zeitschriften mit vielen Millionen Exemplaren und in allen Medien zu einer beispiellosen Erziehungsratschlägerei nach dem Muster: Wenn Ihr Kind nicht richtig spurt, dann machen Sie am besten das und das, und Sie werden wieder mit ihm fertig. (Das pädagogische Ideal, mit Kindern fertig zu werden, ist an sich schon entlarvend genug, aber das Brett vor Pädagogenköpfen ist offenbar sehr widerstandsfähig; so merken sie nicht, daß es ihr eigenes Ideal ist, das sie selbst so fertig macht.) Liest man erziehungswissenschaftliche oder auch allgemeinverständliche pädagogische Bücher, so wird man oft genug an Gebrauchsanleitungen für Automobile erinnert (vgl. weiter unten den Exkurs über den »Elternführerschein«): Über Kinder wird verhandelt wie über Maschinen, auf deren Eigenheiten (Öl- und Benzinsorte, technische Überprüfung, Reifendruck, Belastbarkeitsgrenzen, Einfahrregeln usw.) nur insoweit Rücksicht zu nehmen ist, als sie vorschriftsmäßig funktionieren können müssen. Oder in einem anderen Bild: Kinder gleichen dem Werkstoff eines Steinmetzen (noch heute reden Pädagogen, wenn auch etwas verschämter als zur Nazizeit, vom »Menschenmaterial« wie Ärzte vom »Krankengut«), sie werden mit harten Schlägen (Hammer und Meißel) bearbeitet und mit zärtlichem Schmirgelpapier geglättet und poliert nach dem Willen des Meisters, der allerdings auch Rücksicht nehmen muß auf den »Charakter« seines Materials, damit das Werk gelingen kann.

Nun wurden seit der Verwissenschaftlichung der Pädagogik ungeheure Fortschritte gemacht im Wissen über das Material, seine Beschaffenheit und Möglichkeiten, neue, immer feinere Werkzeuge und Bearbeitungstechniken wurden erfunden, die Zielvorstellungen wurden immer anspruchsvoller (z.B. gilt es heute in »aufgeklärten« Kreisen als unfein, den Gehorsam der Kinder mit Gewalt zu erzwingen; statt dessen sollen die Kinder zur Einsicht gebracht werden, sie sollen also – unmenschlicher geht es nicht – freiwillig gehorsam sein). Die »Endprodukte« aber, die erwachsenen Menschen unserer Gesellschaft, sind reparaturbedürftiger denn je …

Unter den vielen Gründen dafür ist einer, der, wie eingangs erwähnt, erst neuerdings Beachtung zu finden beginnt. Während es in vordemokratischer Zeit noch konsequent war, Kinder als Erziehungsobjekte zu sehen und zu behandeln, weil die Menschen bis an ihr Lebensende Objekte von Herrschaft blieben (z.B. Hunden vergleichbar, deren Erziehungsbedürftigkeit wir nicht in Frage stellen) und sich in der Regel eine andere Möglichkeit nicht vorstellen konnten, hat sich mit der nach allzu drastischen Erfahrungen schließlich (wieder-) entstandenen demokratischen Staatsform ein radikaler Wandel vollzogen, dessen Bedeutung für den Umgang zwischen den Generationen wir gerade erst zu begreifen beginnen.

In einer Gesellschaft, in der immer nur »von oben nach unten« regiert (bestimmt, geordnet, geplant, kontrolliert, gerichtet) wird, ist ein Menschentyp vorherrschend, der mit dem Gleichnis des Radfahrers treffend gekennzeichnet wird: nach oben buckelt er, nach unten tritt er, dadurch kommt er vorwärts. Spätestens seit der Zeit, die einen Hitler ermöglichte, wissen wir, daß dieser Menschentyp (der »autoritäre Charakter«) zu allen Schandtaten fähig ist, und zwar ohne vor sich selbst seine Ehre und das Gefühl zu verlieren, nur ein durchschnittlicher, pflichtbewußter Biedermann (treusorgender Familienvater, sentimentaler Tierfreund, genießerischer Kunstkenner) zu sein. Er hat die Spielregeln von Herrschaft, Unterdrückung, Fremdbestimmung verinnerlicht, es ist ihm selbstverständlich geworden, den Mächtigeren zu gehorchen, die Ohnmächtigeren zu kommandieren. Eine gewisse seelische Ausgeglichenheit wurde dadurch gewährleistet: Sogar das kleine Kind konnte seine Wut auf die mächtigen Erzieher (Peiniger) noch an seinen Puppen oder an den Beinen von Fliegen auslassen. Der in allen Kinderstuben verbreitete Spruch: »Der Klügere gibt nach«, hatte nicht etwa die Absicht, der Dummheit zum Siege zu verhelfen, sondern sollte den Schwächeren, Kleineren, Unterdrückten, den in »Leibeigenschaft« gehaltenen Kindern[4] zum Trost dienen: die Einsicht in die eigene Unterlegenheit wurde zur Tugend der Klugheit erklärt – mit dem »einsichtigen Gehorsam« heutzutage ist es nicht viel anders (den praktizieren gescheite Tierdompteure schon längst). Das Recht des Stärkeren, genauer gesagt das Faustrecht, herrschte praktisch ungebrochen, aber es wurde grundsätzlich auch von den Schwächeren akzeptiert, wie wir es von den meisten höherentwickelten Tierarten kennen. Im politischen Raum hatte Menschlichkeit noch nichts zu suchen, sie war eine Sache des privaten Bereichs oder gar der Frauen und der Kirchen.

Es bedurfte einer Reihe wahnsinniger Exzesse, um den Menschen zu zeigen, daß mit und wegen ihrer Duldung Politik unmenschlich wurde, menschenfeindlich, selbstmörderisch. Das Prinzip des Faustrechts ist zwar natürlich (der Stärkere überlebt), aber die Natur ist nicht menschlich. Von der höchst künstlichen Staatsform der Demokratie erhofft man mehr Menschlichkeit (Sozialstaat), Sicherheit (Rechtsstaat), Freiheit (freiheitlich demokratische Grundordnung). »Demokratie« bedeutet Herrschaft des Volkes, Selbstregierung, zwar aus praktischen Gründen mit Hilfe von abgeordneten Volksvertretern, aber nach den demokratischen Spielregeln müßten diese eigentlich den Staat nach dem Willen der Volksmehrheit verwalten, ein Regieren im früheren Sinn dürfte es nicht geben, ebensowenig ein oben und unten oder solche merkwürdigen Veranstaltungen wie Wahlkämpfe, Wahlschlachten. Die heute angewendeten Spielregeln passen tatsächlich nur zu einem Spiel namens »Demagokratie«: Demagogen schätzen das Volk ebenso ein wie Pädagogen die Kinder.

An dieser Stelle aber kommen wir zu dem entscheidenden Unterschied. Eine echte Demokratie kann nur funktionieren, wenn wenigstens die Mehrheit des Volkes von den vielbeschworenen »mündigen Staatsbürgern« gestellt wird, Menschen also, die tatsächlich alle jene Eigenschaften aufweisen, die in den heutigen Lern- und Lehrzielkatalogen zu finden sind. Wenn nun Demagogen der Bevölkerung diese Eigenschaften absprechen, fällt der Gegenbeweis außerordentlich schwer. (Man denke nur an die »guten« Gründe gegen die Einführung von häufigeren Volksabstimmungen – »plebiszitären Elementen« – in unserem parlamentarischen System.) Im Unterschied dazu ist die Behauptung von Pädagogen, Kinder seien prinzipiell erziehungsbedürftig, ohne Schwierigkeiten zu widerlegen: Kinder wie Erwachsene lernen an Sachen, Problemen, Erfahrungen, und wenn deren Wirklichkeit nicht durch pädagogische Manipulationen verfälscht wird, behalten sie ein starkes Lernbedürfnis, das sie selbstbestimmt und selbstverantwortlich befriedigen – nicht isoliert von ihrer Umgebung, aber im gleichberechtigten Austausch mit ihr.

Diese Fähigkeit besitzen gesunde Kinder von Anfang an. Sie wird erst eingeschränkt und oft genug vernichtet, wenn die erwachsenen Betreuungspersonen (statt unverbindliche Lerngelegenheiten zu schaffen, wie es ihre selbstverständliche Pflicht ist) ihre körperliche und seelische Übermacht dazu mißbrauchen, Kinder in die Rolle der fremdbestimmten Erziehungsobjekte zu zwingen, denen das Selbstbestimmungsrecht verweigert und über die Verantwortung beansprucht wird, die bevormundet, ge- und verführt, ge- und verleitet, kurz: erzogen werden. Eine banale Bemerkung von Hartmut v.Hentig: »Therapie des Gesunden aber macht krank«[5], läßt sich ohne Sinnentstellung zu der bedeutsamen, noch wenig verstandenen Erkenntnis umformen: Erziehung macht krank.

Im Gegensatz zu vordemokratischen Zeiten bricht heute ein Widerspruch auf zwischen den verkündeten Erziehungszielen (z.B. Mündigkeit) und den wirklichen Erfahrungen von Kindern (z.B. bevormundet zu werden)[6]. Es ist kaum eine folgenschwerere Unterlassungssünde denkbar als die, daß diesem Widerspruch nicht vorgebeugt wurde. Man mag sich die inkonsequente Reformpädagogik im Deutschland vor 1933 vergegenwärtigen oder die Situation in den Staaten des Ostblocks: Weder eine Demokratie noch eine »Diktatur des Proletariats« kann von und mit Menschen verwirklicht werden, die am Anfang ihres Lebens, in der Zeit ihrer größten Anfälligkeit, Dressur- oder Erziehungsobjekte waren, Ohnmächtige, Rechtlose, der Willkür Stärkerer unterworfen. Unter den verschiedenen Hauptursachen für den Faschismus in Deutschland wie für die Entstehung neuer Machteliten in den »sozialistischen« Ländern kann die Vernachlässigung, ja Ächtung tiefenpsychologischen Denkens einen hervorragenden Stellenwert beanspruchen. (Tiefenpsychologisches Denken befaßt sich mit den unbewußten Gedanken, Gefühlen, Motiven und Konflikten der Menschen, die, wie man seit Sigmund Freud weiß, in einem Fundament wurzeln, das sich in den ersten Lebensjahren zum großen Teil unveränderbar, endgültig gestaltet.) Dem Tiefenpsychologen ist klar: Wer zu Beginn seines Lebens den Status eines fremdbestimmten Objektes verinnerlichen mußte, der bleibt in der Regel auch später darauf festgelegt, sich selbst beherrschen zu müssen und andere beherrschen zu wollen. Aus diesem Grunde macht auch die bestgemeinte »Erziehung zur Demokratie« in Wirklichkeit demokratieunfähig. Der scharfsichtige Journalist Anton-Andreas Guha sagt klipp und klar: »Es ist daher ein Unding, anzunehmen, daß Menschen, die als Kinder durch ›Sicheinfügen‹ genauer: durch Kapitulation vor übermächtiger Gewalt, zu Untertanen erzogen wurden, sich als Erwachsene plötzlich wie mündige, kritische Staatsbürger verhalten könnten. Die liberale Idee der Demokratie setzt aber gerade den kritisch denkenden und ›innerlich freien‹ Staatsbürger unabdingbar voraus; mit Untertanen bleibt Demokratie in der Praxis eine Fiktion, ja gefährdet, trotz eines liberalen Grundgesetzes.«[7]

Wer zu Beginn seines Lebens in Ohnmacht gehalten wird (was keinesfalls unumgänglich ist, wie wir später zeigen werden), dem wird die Frage der Macht stets ein überwertiges seelisches (d.h. oft nicht bewußtes) Problem bleiben. Die Sorge, minderwertig zu sein, und der Wunsch nach Überlegenheit sind besonders von dem Psychoanalytiker Alfred Adler erforscht worden, der zwar noch im pädagogischen Denken befangen war, aber immerhin schon 1930 zu der Schlußfolgerung gelangte, man sollte Kinder »wie Freunde und Gleichberechtigte behandeln«[8].

Die Emanzipationsversuche von Frauen und neuerdings auch von Männern[9] sind eben deshalb in der Regel so unbefriedigend. Es zeigt sich immer wieder, daß auch Frauen und Männer, die ehrlich um Herrschaftsabbau bemüht sind und die vom Gesetzgeber nach jahrzehntelangen Kämpfen annähernd verwirklichte Gleichberechtigung der Geschlechter wenigstens im persönlichen Umgang konkret realisieren wollen, zu einem sogenannten »herrschaftsfreien Dialog« kaum in der Lage sind. Die aus der Kindheit stammende Wut auf übermächtige Unterdrücker spaltet sich beim Erwachsenen in den Wunsch, sich an Schwächeren zu rächen, sie zu dominieren, und in die Angst, selbst weiterhin dominiert zu werden. Man kann schwerlich erwarten, daß die wesentlichen, unlösbar scheinenden Probleme von Liebe, Sexualität und Partnerschaft zwischen Erwachsenen durch noch so revolutionäre Systemveränderungen aus der Welt zu schaffen sind, solange ihre jeweilige individuelle, biographische Stammwurzel weiterhin mit Nahrung versorgt wird. Wer der Übermacht anderer Menschen viele Jahre lang ausgeliefert war, entwickelt zwangsläufig Rachebedürfnisse, speichert seine innere, oft unbewußte, weil aus Angst verdrängte Wut, bis er seinerseits Schwächere findet, an denen er sich schadlos halten kann. Unabhängig von überindividuellen Bedingungen (z.B. wie die Verfügungsmacht über Produktionsmittel organisiert ist) findet sich in diesem nur tiefenpsychologisch analysierbaren Mechanismus die Ursache für den Kreislauf des offenen oder heimlichen, brutalen oder raffinierten Terrors, den Menschen oft vollkommen unbewußt und gutwillig gegeneinander ausüben, weil Macht und Ohnmacht das zentrale, jede mitmenschliche Solidarität vergiftende seelische Thema bleibt, gegen das Fragen des Rechts, der Fairneß gar, kaum eine Chance haben. Mit der vieldeutigen Lockung: »Wissen ist Macht«, werden Kinder zum »Lernen« verführt in Schulen, in denen sie wenig anderes erfahren als wiederum ihre Ohnmacht.

Klammert man tiefenpsychologische Erwägungen nicht aus, so erscheinen die Umerziehungsprogramme antifaschistischer oder sozialistischer Richtung, die Erwachsene betrafen, als ebenso (bestenfalls) naiv wie die Erziehungsprogramme, mit denen man heute noch auf Kinder losgeht. Eine neue Form der Gesellschaft kann dauerhaft nicht gegen die seelischen Zustände ihrer Mitglieder begründet werden – höchstens künstlich gerettet durch massive Zwangsmaßnahmen. Die Psychologin Franziska Baumgarten schreibt in ihrem Buch »Demokratie und Charakter«[10]: »Das Sich-Rächen-Wollen ist … wohl der dauerhafteste Affekt, den der Mensch besitzt« (S. 120). Aber: »Die Demokratie kann nur so lange bestehen, wie im Volke die positiven Eigenschaften erhalten bleiben. Sie schwindet dort, wo infolge ungünstiger Umstände feindselige Triebe und Affekte im seelischen Leben die Oberhand gewinnen« (S. 126). Ungünstigere Umstände lassen sich kaum ausdenken, als die Kindheit der Staatsbürger durch Fremdbestimmung – und damit schlicht Angst – zu vergiften. Selbst üble Erziehungsfanatiker unter den Pädagogikprofessoren geben heute zu: »Angst spielt in der gesamten Erziehung eine dominierende Rolle.«[11] Spätestens mit diesem Eingeständnis[12] erweist sich Erziehung und das sie begründende pädagogische Denken als im Kern und in den Folgen undemokratisch, ja antidemokratisch. Dazu der Soziologe Dieter Otten: »Der autoritäre Charakter – oder besser: die autoritär erzogenen Menschen – stellen nach Ansicht der Sozialpsychologie ein zutiefst undemokratisches Potential dar … Denn in einer freien Gesellschaft wird die Selbstorientierung zum politischen Prinzip gemacht – eine Sache, wozu der autoritäre Mensch so gut wie unfähig ist.«[13] Zwei Seiten später heißt es: »Die autoritäre Erziehung ist nämlich nicht ein extremer Sonderfall, sondern die Regel.« Und bei Richard Farson ist zu lesen: »Wenn der Kampf um die Rechte der Kinder Erfolg hat, … wird beispielsweise der Unterschied zwischen ›strenger‹ und ›nachgiebiger‹ elterlicher Fürsorge unerheblich sein … Selbst die nachgiebigste Erziehung wird sich dann peinlicherweise als autoritär erweisen.«[14]

Allerdings bleibt es höchst fraglich, ob der Kampf um die Rechte des Kindes überhaupt möglich ist, ohne daß man zuvor verstanden hat, daß jede Erziehung autoritär ist. (Schließlichzieht da ein Stärkerer einen Schwächeren.) Im Rahmen der Erziehungsideologie ist eine echte Alternative des Umgangs zwischen Erwachsenen und Kindern, welche dem Rechtsstaat und der Demokratie einzig angemessen wäre, tatsächlich nicht denkbar. So richtig und wichtig es beispielsweise ist, wenn der bedeutendste Sozialphilosoph der Gegenwart, Professor Ulrich Sonnemann, immer wieder auf die Gefährdung der westdeutschen Demokratie durch das typisch deutsche Staatsdenken, das Ordnung über Freiheit stellt, durch das Fehlen einer kritischen Öffentlichkeit, die sich etwa gegen Verfassungsbrüche durchsetzen könnte, und vielerlei historisch bedingte deutsche Eigentümlichkeiten hinweist (z.B. in einer Diskussion zum 1. Mai 1976, die u.a. der Hessische Rundfunk übertrug), und so berechtigt er die größere Stabilität anderer westlicher Demokratien betont, so deutlich ist doch andererseits, daß es in allen diesen relativ vorbildlichen Demokratien im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben keineswegs vorbildlich zugeht, weil auch dort Machthunger, Irrationalität und Demagogik herrschen[15], die nicht hinreichend erklärt und verstanden werden können, wenn man die Tatsache außer acht läßt, daß jeder Bürger, Politiker usw. viele Jahre lang Kind war und in dieser Zeit seine wichtigsten Erfahrungen sammelte. Die demokratische Staatsform ist sicher die menschenwürdigste und gerechteste, aber solange die Würde und das Recht des Kindes von pädagogisch denkenden Erwachsenen mißachtet werden, solange Kinder aller Schichten systematisch gedemütigt, verdummt und ihren Gefühlen entfremdet werden, darf man sich nicht wundern, zu welchen Schandtaten und Dummheiten verschiedenster Größenordnungen Erwachsene später – aktiv wie passiv! – fähig sind, wie korrumpierbar ihr Selbstvertrauen ist und wie schwer es jede Aufklärung hat, gegen die nachträglich kaum veränderbare, faustrechtlich geprägte Basis argumentativ für Würde, Solidarität, Freiheit, Aufrichtigkeit, kurz: für eine Menschlichkeit zu streiten, die sich nicht immer wieder nur im Irren (und Versagen und Angst und Haß …) dokumentiert.

Erziehung als Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts des Kindes ist aber nicht nur eine Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat. Erziehung ist auch schlicht kinderfeindlich, weil sie Kinder nicht unbedingt gelten läßt, wie sie jeweils sind. Damit müßte die Abschaffung der Erziehung zum Anliegen aller Beteiligten werden, auch derjenigen, denen die demokratischen Ideen nicht sonderlich am Herzen liegen, oder die sich um gesellschaftliche Entwicklungen und gar Staatsformen nicht scheren. Zumal im familiären Raum, während der ersten Lebensjahre der Kinder, gibt es für den Erwachsenen keinen vernünftigen Grund, den Erziehungskrieg gegen seinen Nachwuchs zu eröffnen, selbst wenn er um des Sieges willen bereit wäre, auf dessen Liebe zu verzichten: Im Gegensatz zu früheren Zeiten ist die Chance des Sieges außerordentlich gering. Die Analysen der pädagogischen Entfremdung, des pädagogischen Gegenteileffekts und der gesellschaftlichen Selbstbestrafung haben wir an anderen Stellen vorgelegt.[16] Hier ist wichtig festzuhalten, daß Fremdbestimmung über Schwächere oder Abhängige dem Unterdrücker keine reine Befriedigung mehr verschafft, sondern zunehmend ein schlechtes Gewissen, seit die Selbstverständlichkeit und Naivität, mit der Kinder terrorisiert (erzogen) wurden, durch die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Aufdeckung tiefenpsychologischer Zusammenhänge verlorenzugehen begann.

Der Vorschulexperte Professor Gunnar Heinsohn hat in verschiedenen äußerst interessanten und wichtigen Arbeiten die historische Entwicklung nachgezeichnet, die z.B. das Kinderwunschmotiv veränderte (Kinder dienten früher in weiten Kreisen tatsächlich der persönlichen Bereicherung und Alterssicherung) und etwa die Enterbungsdrohung als Erziehungsmittel (das Erziehungssiege noch wahrscheinlich machte) hinfällig werden ließ.[17] Wir teilen Heinsohns Schlußfolgerungen nicht (z.B. die angebliche Notwendigkeit vergesellschafteter »Kinderaufzuchtfabriken«), aber seine Befunde ebenso wie die allgemeine Erfahrung der kompletten Verwirrtheit und Verunsicherung der erwachsenen Generation im Umgang mit Kindern zeigen an, daß eine umfassende und grundsätzliche Neuorientierung überfälligist; nicht nur um des Bestandes der Gesellschaft willen, sondern auch im Interesse des privaten Lebensglücks der Eltern und Kinder.

Der Materialist Heinsohn sieht in Kindern in erster Linie Störenfriede, welche die Verdienstmöglichkeiten der Eltern beschneiden. Die Kinderfeindlichkeit nicht nur »der Gesellschaft«, sondern auch der meisten Eltern und überhaupt der Erwachsenen soll nun hier nicht bestritten werden. Die einseitig materialistische Analyse aber (wie aufschlußreich und wichtig sie ansonsten ist!) blendet einen Wert aus, der manchen finanziellen Nachteil ausgleichen könnte, wenn Eltern und Kinder nicht in Feindschaft miteinander leben würden. Wir meinen den Spaß, die Freude und das Glück des freundschaftlichen, zärtlichen, herrschaftsfreien Umgangs mit Kindern, seien es nun »eigene« oder »fremde«. Der Wissenschaftsjournalist Horst Speichert hat in seinem erstklassigen (zur lustvollen Pflichtlektüre empfohlenen) Elternhandbuch »Umgang mit der Schule«[18] formuliert: »Kinder führen uns in Versuchung. Sie sind für uns gefährlich, weil sie unser eigenes Leben konkret in Frage stellen.« Deshalb sei »einer der Hauptzwecke (der Schule) offensichtlich, uns vor den Kindern zu schützen: durch Kasernierung und Disziplinierung« (S. 42). Freilich weiß Speichert, daß Kinder auch in der Schule »triebhafter Machtausübung« Erwachsener (Lehrer) ausgesetzt sein können (S. 44), aber niemand behauptet, daß dies so sein müsse. Man kann Versuchungen erliegen oder aber Gefahren bestehen! Wenn Kinder unser eigenes Leben konkret in Frage stellen, weil sie Zukunft, Hoffnung, Vielfalt der Möglichkeiten verkörpern und unsere höchst problematischen Gewohnheiten und Werte konkret zu überprüfen neigen, so können wir uns diese und diesen Fragen ebenfalls stellen und durch unsere Kinder und unsere eigenen Antworten, seien sie nun gleichlautend oder unterschiedlich, eine außerordentliche Bereicherung erfahren. Man kann mit Kindern wieder jung werden, gegen sie verrottet man um so schneller.

Auch die Tendenz zur triebhaften Machtausübung kann tief verankert sein, doch sie muß nicht zu Unterdrückung und Feindschaft führen, wenn die Lehrer ihre überlegene Macht in den Dienst der Schüler und des Unterrichts stellen. Damit das möglich wird, muß allerdings eine Voraussetzung erfüllt sein: Erwachsene dürfen nicht mehr an die Erziehungsideologie glauben. Dann können sie, statt die Klugheit der Kinder zu korrumpieren (»der Klügere gibt nach«), die alte christliche Tugend des Gleichmuts wiederentdeckend dem Motto folgen: Der Stärkere gibt nach. Er hat den größeren Spielraum und im Zweifelsfalle die Möglichkeit wirksamer Notwehr. Franziska Baumgarten drückt diesen Gedanken folgendermaßen aus: »Je sozialer ein Mensch gesinnt ist (populär ausgedrückt: menschenfreundlich ist), desto mehr Freiheiten wird er geneigt sein, anderen Menschen zuzusprechen, und einem desto größeren Kreise von Menschen werden diese Freiheiten zuerkannt. Je edler er ist, desto geneigter ist er, das, was er für sich selbst erstrebt, dem anderen zu gönnen.«[19] Dieser Gedanke, der die pädagogischen Führernaturen als entschieden unedel und asozial entlarvt, wird besonders in den Werken Carl R. Rogers ausführlich begründet, auf deren Lektüre nur Leute verzichten dürften, die unausgesetzt glücklich und vollkommen damit zufrieden sind, wie es zwischen Menschen so zugeht[20].

2. Kinderfreundlich heißt antipädagogisch

Wir müssen nun erörtern, wie sich das Leben mit Kindern außerhalb des pädagogischen Denkens – oder, insofern Pädagogik herrscht, direkt gegen dieses, im Sinne der Antipädagogik – gestaltet. Betrachten wir ein neugeborenes Kind. Normalerweise findet es, wenn es nicht in ein Heim abgeschoben wird oder qualifizierte Pädagogen zu Eltern hat, wenigstens einen Erwachsenen vor, der auf seine Bedürfnisse (Gesichtsausdruck, Körperregungen, Weinen, Schreien) hört und ihnen zu ge-horchen bereit ist. Obwohl diese Gehorsamsbereitschaft (oder »Nachgiebigkeit«) des eindeutig Stärkeren selbstverständlich zu sein scheint, hatten doch Eltern lange Zeit Bedenken, sich den »Launen« ihres Säuglings vollkommen »auszuliefern«. Ideologen der Erziehung haben ihnen eingeredet, sie müßten (natürlich um der Kinder willen!) aus der selbstverständlichen und einzig menschenwürdigen Pflicht des Stärkeren (= Hilfsbereitschaft) ein Recht des Stärkeren (= Terror) machen. Dieses Recht heißt »Erziehungsrecht« und führte z.B. zu der unglaublichen Brutalität, daß man lebendige menschliche Säuglinge nicht nach ihren eigenen Bedürfnissen mit Nahrung versorgte, sondern auf Kommando einer Maschine – der Uhr. Dieser Wahnwitz wird sogar heute wieder propagiert und zwar von den Autoren des »Elternführerscheins«, auf den wir noch zurückkommen werden. Wenn Kinder dagegen nicht als Erziehungsobjekte angesehen, sondern vollkommen anders eingeschätzt werden, schätzen sie sich auch selbst vollkommen anders ein und sind zur Selbstbestimmung und zur Mitbestimmung von Anfang an fähig, was ihnen das pädagogische, paternalistische Denken lediglich nicht zu-traute. Man kann schon das verzweifelte Schreien eines Säuglings, dessen Betreuungsperson vordemokratisch, faustrechtlich, unmenschlich denkt und handelt (statt ihrer Sorgepflicht nachzukommen), als die Forderung nach Gleichberechtigung interpretieren, als das Reklamieren des Rechts auf selbstbestimmte Nahrungsaufnahme etwa, das ihm da womöglich von einem ständig kauenden Erwachsenen vorenthalten wird, der ebenfalls als Kind durch das Füttern nach der Uhr zu Ordnung, Pünktlichkeit und Selbstbeherrschung erzogen wurde.

Aber noch immer werden Erziehungswissenschaftler, pädagogisch denkende Kinderärzte, Psychologen usw. von vielen Eltern als Fachleute für Kinderfreundlichkeit angesehen, und diese Fachleute sagen eben, daß die Erziehung mit der Geburt zu beginnen habe. Mit einem Taschenspielertrick »beweisen« sie, daß der Mensch, da er von Geburt an lernt, also auch von Geburt an belehrt und unterworfen werden müsse. Dieser Trick, da er noch nicht von jedermann durchschaut wurde, erlaubte dann sogar, von einer »Erziehungspflicht« der Eltern zu sprechen und von einem Recht der Kinder auf Erziehung, obgleich unter menschenwürdigen Voraussetzungen dem Recht der Kinder auf Versorgung nach ihren Bedürfnissen selbstverständlich nur die Pflicht der Eltern (oder anderer Bezugspersonen) zugeordnet werden kann, diese vom Kind bestimmte Versorgung nach besten Kräften zu gewährleisten.

Damit man versteht, warum die Menschen für einen vernunfts- und gefühlswürdigen Empfang ihres Nachwuchses, also – wenn von »Autorität« überhaupt gesprochen werden muß – zur Achtung derjenigen des Säuglings statt zur Beanspruchung einer erzieherischen Autorität, so lange nicht bereit waren, zitiere ich ein Zitat. Der Sozialtheoretiker Wilhelm Heinrich Riehl schrieb im Jahre 1854 in seiner »Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik«: »Die Familie steht unter der natürlichen Obervormundschaft der Eltern und speziell des Familienvaters. Diese Obervormundschaft ist ein Urrecht, in der Natur der Sache gegeben. Weil Vater und Mutter die Auctores, die Urheber der Familie sind, darum besitzen sie von selber auch die Auctoritas, die Macht der Autorität. Weil aber die Autorität die Gewalt des Urhebers ist, so ist sie andererseits gegründet auf die natürliche Liebe und Aufopferung des Erzeugers für sein Kind … So war es seit die Welt stehet und so wird es bleiben.«[21]

Von der »Liebe und Aufopferung des Erzeugers für sein Kind« ist im Laufe der Zeit (nicht zuletzt wegen der zunehmenden Pädagogisierung fast aller Lebensbereiche) wenig geblieben. Die Betonung verlagerte sich immer mehr auf die »Obervormundschaft der Eltern«, »die Macht der Autorität«, »die Gewalt des Urhebers«. Erst seit kurzem sind wir gezwungen, von unseren Kindern, die massenhaft nicht mehr mitspielen (u.a. weil sie im Zeitalter des Fernsehens, des Reisens, des Mündigkeitsideals nicht mehr so alternativlos und ungebrochen der Herrschaft ihrer Eltern ausgeliefert sind), zu lernen, daß diese Sichtweise zwar natürlich ist, aber nicht menschlich, schon gar nicht christlich. Nach christlicher Vorstellung hat Gott, der allmächtige Urheber, seine Geschöpfe bekanntlich mit einem freien Willen ausgestattet und auf Obervormundschaft, Macht und Gewalt verzichtet. Demgegenüber veranstalten viele gegen ihre Geschöpfe (häufig genug im Namen der Erziehung, jedenfalls abgesichert durch ihr »Erziehungsrecht«) einen Terror, wie er unchristlicher und unmenschlicher kaum erdichtet werden kann. Das Handbuch »Gewalt gegen Kinder« von der »Arbeitsgruppe Kinderschutz«[22] gibt eine eindrucksvolle Darstellung, ebenso die verdienstvolle Studie »Gewalt in der Erziehung« von Horst Petri und Matthias Lauterbach[23]. In einer anderen als der patriarchalischen Riehlschen Sichtweise leiten Eltern aus ihrer Urheberschaft keine Herrschaftsansprüche gegen ihre Kinder ab, sondern sie machen sich Gedanken über die Verantwortung, die sie dadurch übernehmen, daß sie sich einen Gast