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Preisgekrönte asiatische Fantasy: Von der TIME zu den 100 besten Fantasy-Büchern aller Zeiten gewählt Mächtige Himmelsschiffe, fantastische Kreaturen und eigennützige Götter: Ken Lius High Fantasy-Epos mischt asiatische Mythologie mit tödlichen Ränkespielen und dem Kampf um die Macht im Inselreich Dara. Zehn Jahre nachdem Kuni zum Kaiser von Dara aufgestiegen ist, herrscht ein brüchiger Friede im Land. Kunis Feinde planen ihre Rache sorgfältig, und die Götter sind dem Kaiser keine Stütze - und all seine Pläne geraten ins Wanken, als sich an den Grenzen des Reiches eine neue Bedrohung formiert. »Lius Charaktere begeistern, die Weltenschöpfung ist ungewöhnlich und überzeugend, seine Sprache entwickelt eine eingängige Strahlkraft. Diese Saga bezaubert jeden Fan epischer Fantasy mit genau der richtigen Menge Spannung und magischen Einfällen.« Publishers Weekly »Die Götter von Dara« ist der zweite Teil der Seidenkrieger-Reihe. Die epische High-Fantasy-Serie ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Die Schwerter von Dara - Seidenkrieger Band 1 - Die Götter von Dara - Seidenkrieger Band 2 - Die Stürme von Dara - Seidenkrieger Band 3
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Seitenzahl: 645
Ken Liu
Die Götter von Dara
Seidenkrieger
Aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Naumann
Knaur e-books
Zehn Jahre nachdem Kuni zum Kaiser von Dara aufgestiegen ist, herrscht ein brüchiger Friede im Land. Kunis Feinde planen ihre Rache sorgfältig, und die Götter sind dem Kaiser keine Stütze – und all seine Pläne geraten ins Wanken, als sich an den Grenzen des Reiches eine neue Bedrohung formiert
Für Lisa, Esther und Miranda,
supra omnia familia
Viele Namen auf Dara stammen aus dem klassischen Ano. Die Transliteration aus dem klassischen Ano in diesem Buch kommt ohne Diphtonge aus; jeder Vokal wird einzeln ausgesprochen. Zum Beispiel besteht »Réfiroa« aus vier einzelnen Silben: »Ré-fi-ro-a«. Entsprechend hat »Na-aroénna« fünf Silben: »Na-a-ro-én-na«.
Das i wird immer ausgesprochen wie das i im englischen »mill«, deutsch: »still«.
Das o wird immer ausgesprochen wie das o im englischen Wort »code«.
Das ü wird immer ausgesprochen wie im Deutschen oder im chinesischen Pinyin.
Andere Namen, die aus anderen Sprachen stammen, werden mit Lauten gebildet, die es im klassischen Ano nicht gibt, zum Beispiel das xa in »Xana« oder das ha in »Haan«. Aber auch in diesen Fällen werden die Vokale einzeln ausgesprochen. Daher besteht auch »Haan« aus zwei Silben.
Wörter und Namen, die aus dem Lyucu und Agon stammen, stellen ein ganz anderes Problem dar. Wir lernen diese Wörter nur mittelbar durch die Menschen und die Sprache Daras, daher sind sie vermutlich stark verändert. Ebenso wie englische Muttersprachler, die chinesische Wörter schreiben, nur eine grobe Annäherung an die Originalaussprache erreichen, sind die Wörter aus dem Lyucu und Agon in die Sprache Daras nur grob übertragen.
Die Chrysantheme und der Löwenzahn
KUNI GARU: Kaiser Ragin von Dara.
MATA ZYNDU: Hegemon von Dara (verstorben).
Der Löwenzahn-Hofstaat
JIA MATIZA: Kaiserin Jia; eine begabte Kräuterkundige.
GEFÄHRTIN RISANA: Räucherkünstlerin und versierte Musikerin.
COGO YELU: Premierminister von Dara.
GIN MAZOTI: Marschall von Dara; Königin von Géjira; die größte Kriegsstrategin ihrer Zeit. Aya Mazoti ist ihre Tochter.
RIN CODA: Kaiserlicher Sekretär für Weitsicht; Kindheitsfreund von Kuni.
MÜN ÇAKRI: Erster General der Infanterie.
THAN CARUCONO: Erster General der Kavallerie und Erster Admiral der Marine.
PUMA YEMU: Markgraf von Porin; Fachmann für Überfalltaktiken.
DAFIRO MIRO: Hauptmann der Palastgarden.
OTHO KRIN: Kaiser Ragins Schlossvogt.
SOTO ZYNDU: Jias Vertraute und Ratgeberin.
Kunis Kinder
PRINZ TIMU (Kindheitsname: Toto-tika): Kunis Erstgeborener; Sohn von Kaiserin Jia.
PRINZESSIN THÈRA (Kindheitsname: Rata-tika): Tochter von Kaiserin Jia.
PRINZ PHYRO (Kindheitsname: Hudo-tika): Sohn von Gefährtin Risana.
PRINZESSIN FARA (Kindheitsname: Ada-tika): Tochter von Gefährtin Fina, die im Kindbett starb.
Die Gelehrten
LUAN ZYA: Kunis Chefstratege während seines Aufstiegs, der jeden Titel zurückwies; Geliebter von Gin Mazoti.
ZATO RUTHI: Kaiserlicher Lehrer; führender Moralist seiner Zeit.
ZOMI KIDOSU: Ausgezeichnete Schülerin eines geheimnisvollen Lehrers; Tochter einer Bauern- und Fischerfamilie in Dasu (Oga und Aki Kidosu).
KON FIJI: Philosoph des klassischen Ano; Gründer der Moralistischen Schule.
RA OJI: Verfasser klassischer Ano-Sinnsprüche; Gründer der Fluxus-Schule.
NA MOJI: Xana-Ingenieur, der den Flug der Vögel studierte, Gründer der Strukturistenschule.
GI ANJI: Moderner Philosoph der Tiro-Staaten-Zeit; Gründer der Motivationsschule.
DIE LYUCU
PÉKYU TENRYO ROATAN: Anführer der Lyucu.
PRINZESSIN VADYU ROATAN (unter dem Kosenamen »Tanvanaki«): die beste garinafin-Pilotin ihrer Zeit; Tochter von Tenryo.
PRINZ CUDYU ROATAN: Sohn von Tenryo.
Die Götter von Dara
KIJI: Schutzheiliger von Xana; Herr der Luft, Gott des Windes, des Fluges und der Vögel; sein Pawi ist der Mingén-Falke; er trägt gern einen weißen Reiseumhang.
TUTUTIKA: Schutzheilige von Amu; die jüngste der Götter; Göttin der Landwirtschaft, Schönheit und des frischen Wassers; ihr Pawi ist der goldene Karpfen.
KANA UND RAPA: Die Zwillingsschutzheiligen von Cocru; Kana ist die Göttin des Feuers, der Asche, der Feuerbestattung und des Todes; Rapa ist die Göttin des Eises, des Schnees, der Gletscher und des Schlafes; ihre Pawis sind die Zwillingsraben: einer schwarz, der andere weiß.
RUFIZO: Schutzheiliger von Faça; Göttlicher Heiler; sein Pawi ist die Taube.
TAZU: Schutzheiliger von Gan; unvorhersehbar, chaotisch, erfreut sich am Zufall; Gott der Meeresströmungen, Tsunamis und versunkenen Schätze; sein Pawi ist der Hai.
LUTHO: Schutzheiliger von Haan, Gott der Fischer, des Hellsehens, der Mathematik und des Wissens; sein Pawi ist die Meeresschildkröte.
FITHOWÉO: Schutzheiliger von Rima; der Gott des Krieges, der Jagd und der Schmiedekunst; sein Pawi ist der Wolf.
SCHULSCHWÄNZER
Ihr Damen und Herren, hört mir gut zu.
Ich geb Euch Kunde von Treue und Mut.
Ob Fürst, General, Minister oder Frau,
jedermann erfährt dieses himmlische Gut.
Die Liebe einer Prinzessin – ist was?
Die Furcht eines Königs – ist was?
Gebt ihr mir von dem feurigen Trunk,
Belebt mein Herz mit klingender Münz,
so löst sich mit der Zeit auch meine Zung’.
Der Himmel war bedeckt, und der kalte Wind peitschte ein paar vereinzelte Schneeflocken durch die Luft. Wagen und Fußgänger in dicken Mänteln und mit pelzgefütterten Mützen hasteten durch die breiten Alleen Pans, der Harmonischen Stadt, um schnell wieder in die Wärme ihrer Häuser zu kommen.
Oder um Trost in einer gemütlichen Kneipe wie dem Dreibeinigen Krug zu suchen.
»Kira, bist du nicht an der Reihe, eine Runde auszugeben? Wir wissen doch alle, dass dein Ehemann jedes Kupferstück an dich weitergibt.«
»Das musst du gerade sagen. Dein Mann darf ja ohne deine Erlaubnis nicht einmal niesen! Aber ich glaube, heute ist Jizan an der Reihe, Schwester. Ich hörte, ein wohlhabender Kaufmann aus Gan hat ihr letzte Nacht fünf Silberstücke Trinkgeld gegeben!«
»Wofür das denn?«
»Sie hat den Kaufmann durch das Geflecht der schwarzen Gässchen zum Haus seiner Lieblingsmätresse geführt und es geschafft, dabei den Spionen der Kaufmannsfrau zu entgehen!«
»Jizan! Ich wusste ja gar nicht, dass du ein so einträgliches Talent besitzt …«
»Hör nicht auf Kiras Lügen! Sehe ich etwa so aus, als hätte ich fünf Silberstücke?«
»Du bist hier allerdings mit einem ziemlich breiten Grinsen aufgetaucht. Ich möchte wetten, dass du ordentlich dafür bezahlt worden bist, eine Ehe für eine Nacht zu ermöglichen …«
»Ach, seid doch still! Das klingt ja, als sei ich die Empfangsdame in einem Indigo-Haus …«
»Haha! Warum solltest du nur am Empfang sitzen? Ich glaube schon, dass du auch die Fähigkeiten besitzt, ein Indigo-Haus zu leiten oder sogar … ein Scharlach-Haus! Bei einigen dieser Jungen ist mir schon ein wenig das Wasser im Mund zusammengelaufen. Wie wäre es mit ein wenig Hilfe für eine Schwester in Not …«
»… oder mit viel Hilfe …«
»Habt ihr beiden kein anderes Gesprächsthema als die Gosse? Warte mal … Phiphi, ich glaube, ich habe Münzen in deiner Tasche klimpern hören, als du hereinkamst – hattest du gestern Nacht Glück beim Sperlingsspiel?«
»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst.«
»Aha, wusste ich’s doch! Dir kann man auch alles am Gesicht ablesen; es ist ein Wunder, dass du es schaffst, deine Mitspieler aufs Kreuz zu legen. Hör mal, wenn du willst, dass Jizan und ich deinem Mann nichts von deiner Neigung zum Spiel sagen …«
»Du unbefiederter Fasan! Wehe, ihr sagt ihm was!«
»Es fällt uns eben schwer, unsere Geheimnisse für uns zu behalten, wenn wir so durstig sind. Wie wäre es mit einem ›Erinnerungsbefeuchter‹, wie man ihn in den Volksopern nennt?«
»Oh, ihr verdorbenen … Na gut, die Runde geht auf mich.«
»Eine gute Schwester.«
»Es ist doch nur ein harmloses Hobby. Aber ich ertrage es einfach nicht, wenn er mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter herumläuft und nörgelt, weil er glaubt, dass ich alles verspiele.«
»Du scheinst allerdings in der Gunst des Gottes Tazu zu stehen. Aber Glück verdoppelt sich, wenn man es teilt!«
»Meine Eltern haben vor meiner Geburt offenbar nicht genügend Räucherstäbchen im Tempel von Tututika gespendet, dass ich mit solchen ›Freundinnen‹ geschlagen bin …«
Hier, im Dreibeinigen Krug, der sich in einem entfernten Winkel der Stadt versteckte, flossen warmer Reiswein, kaltes Bier und Kokosnuss-Branntwein so reichlich wie die Unterhaltungen. Das Feuer im Ofen in der Ecke knisterte und tanzte, badete alles in warmem Licht und wärmte auch die Gäste. Eisblumen zierten die Glasfenster in komplizierten Mustern und erschwerten den Blick hinein. Die Gäste saßen zu dritt und zu viert in der géüpa-Sitzhaltung um niedrige Tischchen herum, entspannt und gesellig, und genossen geröstete Erdnüsse in Taro-Soße auf kleinen Tellerchen, die den Geschmack des Alkohols schärften.
Normalerweise konnte kein Unterhalter an diesem Ort darauf hoffen, dass das ständige Gemurmel und Gelächter seinetwegen aufhörte. Nun aber erstarb nach und nach das allgemeine Geplauder. In diesem Moment unterschieden sich die Stalljungen der Kaufleute von Wolfstatze und die Dienerinnen der Gelehrten von Haan, niedrige Staatsbedienstete, die sich aus ihren Büros geschlichen hatten, und Arbeiter, die nach einem Vormittag voller ehrlicher Arbeit ausruhten, nicht von den Ladenbesitzern, die Pause machten, während ihre Ehefrauen auf ihr Geschäft aufpassten, Mägden und älteren Damen, die zum Einkaufen gegangen und dabei Bekannte getroffen hatten – sie alle waren jetzt nur noch das Publikum, das von dem Geschichtenerzähler in der Mitte der Kneipe vollkommen in den Bann geschlagen war.
Er nahm einen Schluck schaumigen Biers, stellte den Krug wieder hin, klatschte einige Male mit der Hand gegen seine langen, weiten Ärmel und fuhr fort:
… der Hegemon zog Na-aroénna aus der Scheide, und König Mocri trat zurück, um das großartige Schwert zu bewundern: Der Seelenräuber, der Köpfer, der Vernichter jeder Hoffnung. Selbst der Mond schien zu verblassen neben dem reinen Glanz dieser Waffe.
»Das ist eine wunderschöne Klinge«, sagte König Mocri, Meister von Gan. »Es übertrifft ebenso alle anderen Schwerter, wie die Gefährtin Mira alle anderen Frauen übertrifft.«
Der Hegemon sah Mocri voller Geringschätzung an, seine doppelten Pupillen glitzerten.
»Lobt Ihr die Waffe, weil Ihr glaubt, dass sie mir einen unehrenhaften Vorteil verschafft? Kommt, lasst uns Schwerter tauschen, und ich hege keinerlei Zweifel, dass ich Euch dennoch besiegen werde.«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Mocri. »Ich lobe diese Waffe, weil ich glaube, dass man einen Krieger an seiner Waffe erkennt. Was gibt es Besseres im Leben, als auf einen Gegner zu stoßen, der wahrhaftig ebenbürtig ist?«
Das Gesicht des Hegemon wurde weich. »Wenn Ihr doch nur nicht rebelliert hättet, Mocri …«
In einer Ecke, in die das sanfte Licht des Ofens kaum hineindrang, kauerten zwei Jungen und ein Mädchen um einen Tisch. Sie waren in Hanfkleider und -tuniken gekleidet, die einfach, aber gut gearbeitet waren, und schienen Bauernkinder oder vielleicht Diener einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie zu sein. Der ältere Junge war etwa zwölf Jahre alt, hatte helle Haut und gleichmäßige Züge. Sein Blick war sanft. Er hatte sein dunkles, lockiges Haar zu einem einzigen, unordentlichen Knoten auf dem Kopf zusammengefasst. Ihm gegenüber saß das Mädchen, das ungefähr ein Jahr jünger war, ebenfalls hellhäutig und mit lockigem Haar – nur dass sie ihre Haare offen trug und die Locken um ihr hübsches, rundes Gesicht fielen. Ihre Mundwinkel waren zu einem leichten Lächeln nach oben gebogen, als sie sich mit wachem Blick und lebendigem Interesse im Raum umsah; aus Augen, die geformt waren wie der anmutige Dyran. Neben ihr saß ein kleinerer Junge von etwa neun Jahren, dessen Haut dunkler und die Haare glatt und schwarz waren. Die älteren Kinder hatten ihn in ihre Mitte genommen, sodass er zwischen den Tisch und die Wand geklemmt saß. Das mutwillige Glitzern in seinen Augen und sein ständiges Zappeln ließen erraten, warum. Die Kinder hatten ähnliche Gesichtszüge, was vermuten ließ, dass sie Geschwister waren.
»Ist das nicht großartig?«, flüsterte der kleinere Junge. »Ich wette, Meister Ruthi glaubt, dass wir gefangen in unseren Zimmern unsere Strafe absitzen.«
»Phyro«, sagte der ältere Junge und runzelte die Stirn, »du weißt, dass das nur eine Galgenfrist ist. Wir müssen heute Nacht noch einen Aufsatz darüber schreiben, inwiefern sich Kon Fijis Morallehre auf unser Fehlverhalten anwenden lässt, wie unsere jugendliche Energie durch Bildung gezügelt werden muss und wie …«
»Psst!«, machte das Mädchen. »Ich versuche dem Geschichtenerzähler zuzuhören! Hör auf zu predigen, Timu. Du hast zugegeben, dass es egal ist, ob man zuerst spielt und dann lernt oder zuerst lernt und dann spielt. Das nennt man einfach ›zeitversetzt‹.«
»Langsam kommt es mir so vor, als sei diese ›Zeitversetzungsidee‹ besser als ›Zeitverschwendung‹ zu bezeichnen«, bemerkte Timu, der ältere Bruder. »Es war falsch von euch beiden, Witze über Meister Kon Fiji zu machen – und ich hätte strenger mit euch sein sollen. Ihr solltet eure Strafe mit Würde über euch ergehen lassen.«
»Oh, warte nur, was Théra und ich … mmff …«
Das Mädchen hatte dem kleinen Jungen die Hand auf den Mund gedrückt. »Wir wollen Timu doch nicht mit zu viel Wissen belasten, oder?« Phyro nickte, und Théra ließ ihn los.
Der kleine Junge wischte sich den Mund ab. »Deine Hand ist ja ganz salzig! Pfui!«
Dann wandte er sich an seinen älteren Bruder. »Da du ja solche Lust hast, die Aufsätze zu schreiben, Toto-tika, überlasse ich dir gern auch meinen Teil, dann kannst du sechs statt drei Aufsätze verfassen. Deine Aufsätze entsprechen sowieso viel mehr Meister Ruthis Geschmack.«
»Das ist doch lächerlich! Der einzige Grund, aus dem ich bereit war, mich mit dir und Théra fortzuschleichen, ist, dass ich als Ältester die Verantwortung für euch habe, und du hast versprochen, die Bestrafung später auf dich zu nehmen …«
»Großer Bruder, ich bin schockiert!« Phyro setzte ein ernsthaftes Gesicht auf, das genauso aussah wie das ihres strengen Lehrers, wenn er gerade im Begriff war, eine seiner Standpauken zu halten. »Steht es nicht in den Geschichten über die kindliche Zuneigung, dass der jüngere Bruder dem älteren die erlesensten Exemplare in einem Korb Pflaumen anbieten sollte als Zeichen seines Respekts? Und steht dort nicht auch, dass der ältere Bruder den jüngeren vor schwierigen Aufgaben beschützen soll, die seine Fähigkeiten übersteigen, da es die Pflicht des Stärkeren ist, den Schwächeren zu beschützen? Diese Aufsätze sind für mich Nüsse, die ich nicht knacken kann, aber saftige Pflaumen für dich. Ich versuche nur, ein guter Moralist zu sein. Ich dachte, das würde dich freuen.«
»Das ist doch … du kannst doch nicht …« Timu war in dieser Unterform der Debattierkunst längst nicht so versiert wie sein jüngerer Bruder. Sein Gesicht wurde ganz rot, und er funkelte Phyro böse an. »Wenn du deine Schlauheit doch nur auf deine Schulaufgaben anwenden würdest.«
»Du solltest froh sein, dass Hudo-tika endlich seine Hausaufgaben erledigt hat«, bemerkte Théra, die sich redlich bemühte, sich das Lachen zu verbeißen. »Jetzt seid bitte beide still; ich will das hier hören.«
… hieb Na-aroénna nieder, und Mocri wehrte es mit seinem Eisenholzschild ab, das er mit Cruben-Schuppen verstärkt hatte. Es war, als ob Fithowéo seinen Speer gegen den Berg Kiji erhoben oder Kana ihre feurige Faust auf die Meeresoberfläche hätte niedersausen lassen. Besser noch: Lasst mich euch die Geschichte dieses Kampfes als Liedstück vortragen:
Auf der einen Seite: der Held von Gan, geboren und aufgewachsen auf Wolfstatze,
auf der anderen: der Hegemon von Dara, letzter Spross der Marschälle von Cocru.
Der eine der Stolz der speerschwingenden Scharen einer Insel;
Der andere ist Fithowéo, der Gott des Krieges leibhaftig.
Wird der Beender aller Zweifel alle Zweifel beenden, wer der Meister von Dara ist?
Oder wird Goremaw zu guter Letzt ein Mahl serviert, das er nicht schlucken kann?
Schwert trifft auf Schwert, Keule auf Schild.
Die Erde bebt, wenn Titanen springen, schlagen, metzeln und fallen.
Neun Tage und Nächte kämpften sie auf einem einsamen Hügel,
und die Götter Daras versammelten sich, um über ihre Willensstärke zu urteilen …
Der Geschichtenerzähler schlug mit Kokosnussschalen gegen einen großen Küchenlöffel, um die Geräusche der Schwerter zu simulieren, die auf Schilde trafen; er sprang herum und ließ seine weiten Ärmel schwingen, um den Kampftanz der legendären Helden im flackernden Licht des Feuers in der Kneipe heraufzubeschwören. Seine Stimme schwoll an und wurde wieder leiser, drängend im einen Moment, dann wieder verträumt und träge, und versetzte das Publikum in eine andere Zeit, an einen anderen Ort.
… Nach neun Tagen waren sowohl der Hegemon als auch König Mocri erschöpft. Mocri parierte einen weiteren Hieb vom Beender aller Zweifel, tat einen Schritt zurück und stolperte über einen Stein. Er strauchelte, sein Schild und sein Schwert fielen zu seinen Seiten auf die Erde. Nur ein weiterer Schritt, und der Hegemon wäre in der Lage, seinen Schädel zu zertrümmern oder seinen Kopf abzuhacken.
»Nein!«, entfuhr es Phyro. Timu und Théra waren ebenfalls vollkommen gefangen von der Geschichte und mahnten ihn weiterzusprechen.
Der Geschichtenerzähler nickte den Kindern anerkennend zu und fuhr fort:
Aber der Hegemon rührte sich nicht und wartete, bis Mocri sich wieder aufgerappelt hatte und Schwert und Schild gezückt hielt.
»Warum hast du es nicht beendet?«, fragte Mocri, der stoßweise atmete.
»Weil ein großer Mann es nicht verdient, dass sein Tod dem Zufall geschuldet ist«, erwiderte der Hegemon, der ebenfalls nach Luft rang. »Die Welt ist vielleicht nicht gerecht, aber wir müssen danach streben, sie gerecht zu machen.«
»Hegemon«, sagte Mocri, »es macht mich zugleich glücklich und traurig, Euch kennengelernt zu haben.«
Und sie stürzten sich erneut aufeinander, wankend und stolzen Herzens …
»So müssen wahre Helden sein«, flüsterte Phyro voller Bewunderung und Sehnsucht. »Hey, Timu und Théra, ihr habt den Hegemon doch kennengelernt, oder?«
»Ja … aber das ist sehr lange her«, flüsterte Timu zurück. »Ich erinnere mich kaum daran, außer dass er wirklich riesig war und dass seine merkwürdigen Augen schrecklich böse aussahen. Ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, wie er das unfassbar riesige Schwert auf seinem Rücken schwingen konnte.«
»Er muss ein großer Mann gewesen sein«, sagte Phyro versonnen. »So viel Ehre in jeder seiner Taten, solcher Anstand seinen Feinden gegenüber. Wie schade, dass er und Da nicht …«
»Pssst!«, unterbrach ihn Théra. »Hudo-tika, nicht so laut! Willst du, dass alle hier erfahren, wer wir sind?«
Phyro war vielleicht ein Schlitzohr und nahm seinen älteren Bruder nicht ernst, aber er respektierte die Autorität seiner älteren Schwester. Er senkte die Stimme. »Tut mir leid. Er scheint bloß so ein unglaublich mutiger Mann gewesen zu sein. Mocri auch. Ich muss Ada-tika alles über diesen Helden von ihrer Heimatinsel erzählen. Wie kommt es, dass uns Meister Ruthi noch nie etwas über Mocri beigebracht hat?«
»Das ist doch nur eine Geschichte«, sagte Théra. »Dass zwei Männer neun Tage und Nächte lang kämpfen – das glaubst du doch selbst nicht. Denk doch mal nach: Der Geschichtenerzähler war nicht dabei, woher soll er denn wissen, was der Hegemon und Mocri wirklich gesagt haben?« Als sie die Enttäuschung in der Miene ihres kleinen Bruders sah, fügte sie etwas sanfter hinzu: »Wenn du wahre Heldengeschichten hören willst, erzähle ich dir später, wie Tantchen Soto den Hegemon daran hinderte, Mutter und uns wehzutun. Ich war erst drei, aber ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen.«
Phyros Blick hellte sich auf, und er war drauf und dran zu fragen, wie die Geschichte ging, als eine raue Stimme das gespannte Schweigen der Kneipenbesucher durchbrach.
»Ich habe genug von dieser lächerlichen Geschichte, du frecher Betrüger!«
Der Geschichtenerzähler hielt mitten im Satz inne, sichtbar entgeistert von der rüden Unterbrechung seiner Darbietung. Die Kneipengäste wandten sich nach dem Störenfried um. Er stand neben dem Ofen, hochgewachsen, mit einer Brust so breit wie ein Fass und muskelbepackt wie ein Hafenarbeiter. Er war mit Abstand der größte Mann in der Kneipe. Eine gezackte Narbe, die von seiner linken Braue quer über das Gesicht bis zu seiner rechten Wange verlief, verlieh seinem Gesicht etwas Furchterregendes – ein Eindruck, der durch die Kette aus Wolfszähnen auf seiner pelzbedeckten Brust noch verstärkt wurde. Tatsächlich erinnerten die gelben Zähne in seinem höhnisch verzogenen Mund an die Fänge eines hungrigen Wolfes auf Beutejagd.
»Wie kannst du es wagen, dir solche Geschichten über den Betrüger Mata Zyndu auszudenken? Er hat versucht, Kaiser Ragins rechtmäßige Thronbesteigung zu vereiteln und dabei viel sinnloses Leid und Verzweiflung verursacht. Indem du den verachtenswerten Tyrannen Zyndu preist, minderst du den Sieg unseres weisen Kaisers und verleumdest die große Persönlichkeit, die auf dem Löwenzahnthron sitzt. Deine Worte sind die eines Verräters.«
»Verrat? Weil ich ein paar Geschichten erzähle?« Der Geschichtenerzähler war so wütend, dass er zu lachen anfing. »Wollt Ihr demnächst behaupten, dass alle fahrenden Schauspieler Aufständische sind, weil sie den Aufstieg und den Fall alter Tiro-Dynastien nachspielen? Oder dass der weise Kaiser Ragin eifersüchtig ist, weil Schattenspiele über das Leben Kaiser Mapidérés aufgeführt werden? Was seid Ihr nur für ein dummer Mann!«
Die Besitzer des Dreibeinigen Krugs – ein rundlicher Mann von kleinem Wuchs und seine ebenso rundliche Frau – eilten herbei, um sich schlichtend zwischen die beiden Streithähne zu stellen. »Verehrte Herren! Denkt daran, dass dies hier ein bescheidener Ort zur Belustigung und Entspannung ist! Keine Politik, bitte! Wir haben uns hier nach unserem harten Tagewerk zusammengefunden, um ein paar Krüge zu trinken und Spaß zu haben.«
Der Wirt wandte sich an den Mann mit dem vernarbten Gesicht und vebeugte sich tief vor ihm. »Herr, ich sehe sofort, dass Ihr ein Mann heißer Leidenschaften und strenger Moral seid. Und wenn diese Geschichte Euch beleidigt hat, so bin ich der Erste, der um Verzeihung bittet. Ich kenne Tino hier gut. Lasst mich versichern, dass es nicht seine Absicht war, den Kaiser zu beleidigen. Bevor er Geschichtenerzähler wurde, kämpfte er doch selbst für Kaiser Ragin, im Krieg zwischen Chrysantheme und Löwenzahn in Haan, als der Kaiser noch König von Dasu war.«
Seine Frau lächelte liebenswürdig. »Wie wäre es denn mit einem Fläschchen Pflaumenwein aufs Haus? Wenn Ihr mit Tino gemeinsam trinkt, werdet Ihr Euer kleines Missverständnis sicher bald vergessen haben.«
»Wie kommt Ihr darauf, dass ich mit dem da etwas trinken will?«, fragte Tino, der Geschichtenerzähler, und wedelte mit seinen Ärmeln herablassend in Richtung Narbengesicht.
Die anderen Gäste grölten gegen Narbengesicht an.
»Setz dich endlich hin, du dummer Ochse!«
»Hau doch ab, wenn dir die Geschichte nicht gefällt. Keiner zwingt dich, zuzuhören!«
»Ich mach dir gleich Beine, wenn du nicht endlich still bist.«
Narbengesicht lächelte, fuhr mit der Hand unter den Aufschlag seines Gewandes und die Wolfszahnkette und zog eine Metallplakette hervor. Er präsentierte sie erst den Kneipenbesuchern und hielt sie dann der Wirtin unter die Nase. »Erkennt Ihr das hier?«
Die Frau verengte die Augen und sah genauer hin. Die Plakette war in etwa so groß wie zwei Handflächen, und ein Relief aus zwei großen Schriftzeichen war hineingraviert: Das eine war das Schriftzeichen für Sehen – ein stilisiertes Auge, aus dem ein Pfeil schoss –, und das andere das Schriftzeichen für weit entfernt – zusammengesetzt aus dem Schriftzeichen für »Tausend« und einem Weg aus Tinte, der sich darum herum wand. Erschrocken stotterte die Frau: »Ihr … Ihr seid von der … äh … der …«
Narbengesicht schob die Plakette zurück unter sein Gewand. Sein kaltes, erbarmungsloses Grinsen wurde breiter, als er sich im Saal umsah und bemerkte, wie jeder Einzelne rasch den Blick abwandte. »Sehr richtig. Ich diene Herzog Rin Coda, dem Kaiserlichen Sekretär für Weitsicht.«
Das Geschrei der Menge verstummte, und selbst Tinos selbstsichere Miene verblasste. Narbengesicht sah zwar eher aus wie ein Wegelagerer als wie ein Regierungsvertreter – aber es hieß, dass Herzog Coda, der die Spione Kaiser Ragins befehligte, bei der Rekrutierung seiner Untergebenen gern auf die zwielichtigeren Elemente der Gesellschaft Daras zurückgriff. Er würde sicher nicht zögern, jemanden wie Narbengesicht zu verdingen. Zwar hatte keiner der Kneipenbesucher je davon gehört, dass ein Geschichtenerzähler Schwierigkeiten bekam, weil er eine Geschichte über den Hegemon ein wenig ausschmückte. Doch es gehörte durchaus zu den Pflichten Herzog Codas, Verräter und unzufriedene Adelige aufzuspüren, die womöglich einen Aufstand gegen den Kaiser planten. Und niemand wollte es riskieren, die Augen des Kaisers herauszufordern.
»Wartet …« Phyro wollte etwas sagen, aber Théra packte seine Hand unter dem Tisch, drückte sie und schüttelte langsam den Kopf.
Narbengesicht sah die eingeschüchterten Blicke der Gäste und nickte zufrieden. Er schob die Kneipenwirte beiseite und trat zu Tino. »Listige, verräterische Unterhalter wie du sind die schlimmsten von allen. Nur weil du für den Kaiser gekämpft hast, hast du noch lange nicht das Recht zu sagen, was immer dir einfällt. Eigentlich müsste ich dich zur Wache bringen, um dich dort befragen zu lassen« – bei diesen Worten zuckte Tino ängstlich zurück –, »aber heute bin ich in großzügiger Stimmung. Wenn du eine Strafe in Höhe von fünfundzwanzig Silberstücken zahlst und dich für deine Fehler entschuldigst, lasse ich dich vielleicht mit einer Verwarnung laufen.«
Tino warf einen Blick auf die wenigen Münzen, die in der Trinkgeldschüssel auf dem Tisch lagen, und verbeugte sich dann mehrfach vor Narbengesicht wie ein Huhn, das auf dem Boden nach Körnern pickt. »Meister Weitseher, bitte! Das wären selbst bei gutem Verdienst die Einnahmen von zwei Wochen. Ich habe meine alte Mutter zu Hause, sie ist krank und …«
»Natürlich hast du das«, schnitt ihm Narbengesicht das Wort ab. »Sie wird dich sicher schrecklich vermissen, wenn die Konstabler dich auf der Wache festsetzen, nicht wahr? Eine ordentliche Befragung kann Tage dauern, sogar Wochen, verstehst du?«
Tinos Miene veränderte sich von ärgerlich über gedemütigt bis hin zu vollkommen geschlagen. Er griff unter den Aufschlag seines Gewandes und zog seinen Münzbeutel hervor. Die anderen Gäste schauten wohlweislich weg und blieben mucksmäuschenstill.
»Glaubt bloß nicht, dass ihr anderen so leicht davonkommt«, sagte Narbengesicht in die Runde. »Ich habe genau gehört, wer alles gejubelt hat, als er seine in diese verlogene Geschichte gehüllte Kritik am Kaiser übte. Jeder von euch muss eine Strafe in Höhe von einem Silberstück zahlen wegen Mittäterschaft an einem Verbrechen.«
Die Männer und Frauen in der Kneipe sahen unglücklich aus, aber einige von ihnen seufzten und kramten ebenfalls nach ihren Geldbörsen.
»Stopp.«
Narbengesicht sah sich nach der Quelle dieses Befehls um – einer Stimme, die klar war, scharf und vollkommen frei von Angst. In einer dunklen Ecke der Kneipe erhob sich eine Gestalt und trat ins Licht des Feuers. Sie humpelte leicht, und das Stakkato eines Stocks auf den Holzdielen begleitete ihre Schritte.
Obwohl sie in das weite, fließende, mit blauer Seide gesäumte Gewand eines Gelehrten gehüllt war, erkannte man sofort, dass es sich bei der Gestalt um eine Frau handelte. Sie mochte etwa achtzehn Jahre alt sein und besaß helle Haut und graue Augen, in denen eine Standhaftigkeit glitzerte, die nicht zu ihrer Jugend passte. Eine blassrote Narbe wuchs in feinen Linien auf ihrer linken Wange wie die grobe Zeichnung einer blühenden Blume. Der Stiel dieser Blume zog sich ihren Hals herunter wie die Seitenlinie eines Fischs und verlieh ihrem ansonsten recht fahlen Gesicht eine eigentümliche Lebendigkeit. Ihr Haar war von einem hellen Braun und oben auf ihrem Kopf zu einem dreifach geschlungenen Knoten gebunden. Fransen und geknotete Fäden hingen an ihrer blauen Schärpe – nach der Mode der fernen Inseln im Nordwesten des alten Xana. Sie stützte sich auf einen Holzstock, der bis zu ihren Augenbrauen reichte, und legte die rechte Hand auf das Schwert, das sie in der Schärpe befestigt hatte. Schwertgriff und -scheide wirkten abgenutzt und schäbig.
»Was willst du?«, fragte Narbengesicht. Aber es klang nicht mehr so arrogant wie zuvor. Die Haartracht der Frau und die Kühnheit, mitten in Pan offen ein Schwert zu tragen, wiesen darauf hin, dass sie eine Gelehrte im Rang eines cashima war – was im klassischen Ano »Praktizierender« bedeutete: Sie hatte bereits die zweite Stufe der Kaiserlichen Examen bestanden.
Kaiser Ragin hatte das Prüfungssystem des öffentlichen Dienstes, das es bereits unter den Tiro-Königen und sogar im Xana-Reich gegeben hatte, wiederhergestellt und ausgeweitet. Jetzt war es für diejenigen mit politischem Ehrgeiz die einzige Möglichkeit, im Rang aufzusteigen. Die anderen Wege, an einen gut entlohnten, wichtigen Posten in der Verwaltung oder Regierung zu kommen, wie zum Beispiel Vetternwirtschaft, Bestechung, Erbschaft oder die Empfehlung durch zuverlässige Adelige, hatte der Kaiser dagegen vollständig eliminiert. Die Konkurrenz bei den Prüfungen war hart, und Kaiser Ragin, der selbst an die Macht gelangt war, indem er wichtige Posten in seinem Gefolge mit Frauen besetzte und sich von ihnen helfen ließ, ließ Männer wie Frauen gleichermaßen daran teilnehmen. Obwohl es noch immer nur sehr wenige Frauen gab, die toko dawiji waren – also die erste Examensstufe, die sogenannten Städtischen Prüfungen abgelegt hatten –, und noch weniger Frauen, die cashima waren, genossen sie all die Privilegien ihres Status, die auch ihre männlichen Gegenstücke für sich beanspruchten. Zum Beispiel waren alle toko dawiji vom Frondienst befreit, und die cashima hatten das Recht, sofort vor einen Kaiserlichen Richter gebracht zu werden, ohne sich vorher von der Stadtwache verhören lassen zu müssen.
»Hör auf, diese Leute zu belästigen«, sagte sie ruhig. »Und du bekommst ganz sicher kein einziges Kupferstück von mir.«
Narbengesicht hatte offensichtlich nicht erwartet, in einer Kaschemme wie dem Dreibeinigen Krug auf jemanden ihres Ranges zu treffen. »Herrin, ihr müsst die Strafe natürlich nicht entrichten. Ihr seid sicher kein so untreuer Hund wie der Rest dieser Missgeburten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass du wirklich für Herzog Coda arbeitest.«
Narbengesicht verengte die Augen. »Ihr zweifelt am Zeichen der Weitseher?«
Die Frau lächelte. »Du hast die Plakette so schnell wieder weggesteckt, dass ich sie mir gar nicht richtig anschauen konnte. Zeig sie mir doch noch einmal.«
Narbengesicht kicherte unbehaglich. »Eine Gelehrte Eures Formats hat die Schriftzeichen doch sicher auf den ersten Blick erkannt.«
»Es ist ziemlich leicht, so eine Plakette aus einem Stück Wachs zu formen und mit ein wenig Silberfarbe zu bepinseln. Weit schwieriger ist es dagegen, einen glaubhaften Befehl von Sekretär Codas zu fälschen.«
»Was … wovon redet Ihr? Es ist die Zeit der Großen Prüfungen, und die besten Gelehrten Daras sind in der Hauptstadt versammelt. Mögliche Aufrührer könnten die Gelegenheit beim Schopf packen und versuchen, den talentierten Männern, äh, und Frauen, die hierhergekommen sind, um dem Kaiser zu dienen, Schaden zuzufügen. Es ist ganz natürlich, dass der Kaiser Herzog Coda befiehlt, die Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen.«
Die Frau schüttelte erneut den Kopf und fuhr gelassen fort: »Kaiser Ragin ist stolz darauf, ein nachsichtiger Kaiser zu sein, der immer für ehrlichen Rat offen ist. Er hat sogar Zato Ruthi, der einst gegen ihn gekämpft hat, mit der Stellung eines Kaiserlichen Lehrers geehrt, weil er dessen Gelehrsamkeit so schätzt. Einen Geschichtenerzähler des Verrats anzuklagen, nur weil er sich ein paar erzählerische Freiheiten genommen hat, würde die Herzen der Männer und Frauen, die der Kaiser anwerben will, vor Furcht erzittern lassen. Und Herzog Coda, der den Kaiser so gut kennt wie kaum ein anderer, würde niemals einen Befehl erteilen, der gestattet, was du hier zu tun versuchst.«
Narbengesicht wurde rot vor Ärger, und die dicke Narbe zuckte wie eine Schlange auf seinem Gesicht. Aber er blieb stehen und rührte sich nicht.
Die Frau lachte. »Tatsächlich sollte ich diejenige sein, die die Konstabler ruft. Sich für einen Kaiserlichen Offizier auszugeben, ist ein Verbrechen.«
»Oh nein«, flüsterte Théra in ihrer Ecke.
»Was?«, fragten Timu und Phyro leise und wie aus einem Munde.
»Einen tollwütigen Hund darf man niemals in die Ecke treiben«, stöhnte Théra.
Narbengesichts Augen wurden zu wütenden Schlitzen, als seine Angst vor der cashima in verzweifelte Entschlossenheit umschlug. Er brüllte und stürzte sich auf die cashima. Die überraschte Frau schaffte es im letzten Augenblick, auszuweichen, wobei sie ihr linkes Bein mühsam hinter sich herzog. Ihr schwerfälliger Angreifer krachte in einen Tisch, sodass die daran sitzenden Gäste fluchend und kreischend aufsprangen. Aber schon bald hatte er sich wieder aufgerappelt und war sogar noch wütender als zuvor. Er fluchte laut und wollte sich erneut auf die cashima stürzen.
»Hoffentlich kämpft sie so gut, wie sie spricht«, sagte Phyro. Er klatschte in die Hände und lachte. »So viel Spaß hatten wir noch nie, wenn wir abgehauen sind!«
»Bleib hinter mir!«, sagte Timu, breitete die Arme aus und versuchte, seinen Bruder und seine Schwester vor dem Tumult in der Kneipe zu schützen.
Die Frau zog mit der Rechten das Schwert aus der Scheide. Sie stützte sich auf den Gehstock und hielt die Waffe unsicher vor sich. Die Schwertspitze zitterte leicht, als sie sie auf den Mann richtete. Aber Narbengesicht schien vollkommen außer Kontrolle zu sein. Er stürzte sich erneut auf sie und packte die Klinge ihres Schwertes mit bloßen Händen.
Die Kneipengäste sahen hastig zur Seite oder wichen zurück, in der Erwartung, jeden Moment Blut fließen zu sehen.
Knack. Das Schwert brach mit einem scharfen Ton in zwei Hälften, und die Frau lag auf dem Boden, benommen von der Wucht, mit der Narbengesichts stämmiger Körper gegen sie geprallt war. Die eine Hälfte des Schwertes hielt sie noch in der Hand, und es war kein einziger Tropfen Blut geflossen.
Narbengesicht lachte und schleuderte die abgebrochene Hälfte des Schwertes in den Ofen, wo die Holzklinge, bemalt mit Silberfarbe, die sie so täuschend echt hatte aussehen lassen, sofort in Flammen aufging.
»Wer ist hier nun ein Betrüger?«, höhnte Narbengesicht. »Nur ein Betrüger entlarvt einen Betrüger, nicht wahr? Und jetzt wirst du bezahlen.« Er ging auf die immer noch wie gelähmt daliegende Frau zu, geduckt wie ein Wolf, als wäre sie seine Beute. Der Saum ihres Gewandes war hochgerutscht, und er sah, dass ihr linkes Bein in eine Art Geschirr eingebunden war, ähnlich wie bei den Kriegsveteranen, die im Kampf Gliedmaßen verloren hatten. »Soso, ein nutzloser Krüppel bist du auch noch.« Er spuckte auf sie und hob seinen rechten Fuß, der in einem mächtigen Lederstiefel steckte, über ihren Kopf.
»Wage es nicht, sie anzurühren!«, schrie Phyro. »Oder du wirst es bereuen!«
Narbengesicht hielt inne und wandte sich zu den drei Kindern in der Ecke um.
Timu und Théra starrten Phyro an.
»Meister Ruthi hat immer gesagt, dass ein moralischer Ehrenmann für diejenigen einstehen muss, die in Not sind«, sagte Phyro entschuldigend.
»Und du hast beschlossen, ausgerechnet jetzt damit anzufangen, auf Meister Ruthi zu hören?«, stöhnte Théra. »Denkst du etwa, wir sind im Palast, wo die Wachen ihn von uns fernhalten können?«
»Tut mir ja leid, aber sie hat Da und seine Ehre verteidigt«, flüsterte Phyro heftig und ohne einen Hauch von Schuldbewusstsein.
»Lauft, ihr beiden!«, rief Timu. »Ich halte ihn auf.« Er wedelte mit seinen langen Armen, vollkommen unsicher, wie er seinen Plan in die Tat umsetzen sollte.
Jetzt, da er die drei »Helden« gesehen hatte, lachte Narbengesicht. »Um euch Bälger kümmere ich mich, wenn ich mit der hier fertig bin.« Er drehte sich um und bückte sich, um nach dem Reisebeutel zu greifen, der an der Schärpe der cashima befestigt war.
Théra blickte sich hastig in der Kneipe um: Einige Gäste hatten sich eng an die Wände gedrückt, um so viel Abstand wie möglich von dem Kampf zu halten. Andere schlichen langsam auf die Tür zu, um sich aus dem Staub zu machen. Niemand unternahm etwas, um den Raub – und womöglich Schlimmeres – zu verhindern. Théra packte Phyro bei den Ohren, bevor er ihr entschlüpfen konnte, drehte sein Gesicht zu sich und lehnte ihre Stirn an seine.
»Autsch!«, zischte Phyro. »Muss das sein?«
»Timu ist mutig, aber er ist kein guter Kämpfer«, sagte sie.
Phyro nickte. »Es sei denn, es geht darum, wer die undeutlichsten Schriftzeichen schreibt.«
»Ganz genau. Also müssen wir beide die Sache in die Hand nehmen.« Rasch flüsterte sie ihm ihren Plan ins Ohr.
Phyro grinste. »Du bist doch die allerbeste große Schwester.«
Timu, der immer noch unsicher herumzappelte, schubste sie. »Los, lauft schon!«
Neben dem Ofen untersuchte Narbengesicht den Inhalt des Beutels, den er der Frau abgenommen hatte. Sie lag reglos zu seinen Füßen. Vielleicht war sie immer noch benommen.
Phyro flitzte davon und verschwand in der Menge. Aber statt fortzulaufen, sprang Théra auf den Tisch.
»Hey, Tantchen Phiphi, Tantchen Kira, Tantchen Jizan!«, rief sie und zeigte auf drei Frauen, die gerade dabei waren, sich auf die Tür zuzubewegen. Sie blieben stehen und sahen sich nach ihr um, erschrocken, dass das fremde Mädchen ihre Namen kannte.
»Kennt ihr sie?«, flüsterte Phiphi.
Jizan und Kira schüttelten die Köpfe. »Sie hat am Tisch neben uns gesessen«, flüsterte Kira zurück. »Vielleicht hat sie unser Gespräch belauscht.«
»Habt ihr nicht immer gesagt, man darf sich nach der Hochzeit nicht von den Männern herumschubsen lassen, wenn man einen friedlichen Haushalt führen will?«, fuhr Théra fort. »Jetzt, da die Männer hier mit eingezogenen Schwänzen weglaufen, wollt ihr mir da nicht helfen, diesem Ochsen eine Lehre zu erteilen?«
Narbengesicht sah zwischen Théra und den drei Frauen hin und her. Er schien nicht sicher zu sein, was da gerade vor sich ging. Aber Théra hatte nicht vor, ihm genügend Zeit zu lassen, die Situation zu erfassen. »Oh, Kusine Ro! Beinahe unsere ganze Sippe ist hier. Warum haben wir alle solche Angst vor diesem Trottel?«
»Ich ganz bestimmt nicht«, rief eine Stimme aus der Menge. Sie klang jung, beinahe mädchenhaft. Dann flog eine Schale aus dem Schatten bei der Tür und traf Narbengesicht am Hals, sodass er von duftendem, heißem Tee durchnässt wurde. »Zum Henker noch mal, wenn wir alle auf ihn spucken, ertrinkt er! Tantchen Phiphi, Tantchen Kira, Tantchen Jizan, na los doch!«
Die Menge, die auf dem Weg zur Tür gewesen war, blieb stehen. Die drei Frauen, deren Namen Théra gerufen hatte, starrten Narbengesicht an, der plötzlich aussah wie ein Huhn im Gewitter. Sie wechselten einen Blick und grinsten.
Einen Moment später flogen drei Krüge Bier durch die Luft und trafen Narbengesicht. Er brüllte vor Wut.
»Und diese hier kommt von mir!« Théra packte die Flasche Reiswein auf dem Tisch und schleuderte sie auf Narbengesichts Kopf. Sie verfehlte ihn knapp und zerbrach am Ofen. Der Wein verdampfte zischend in den Flammen.
Die Menge war ein empfindliches Wesen, heikel in seinen Reaktionen. Manchmal brauchte es nur einen einzigen Auslöser, um eine Herde Schafe in ein blutrünstiges Wolfsrudel zu verwandeln.
Der Erfolg der Frauen ließ die Männer Blicke wechseln und ihren eigenen Mut entdecken. Selbst der Geschichtenerzähler Tino, der gerade noch so unterwürfig gewesen war, warf seinen halb ausgetrunkenen Bierkrug nach dem Räuber. Schüsseln, Becher, Flaschen und Krüge hagelten aus allen Richtungen auf Narbengesicht, der sich die Arme um den Kopf schlang und versuchte, davonzustolpern, heulend vor Schmerz. Das Wirtspaar sprang auf und nieder und flehte seine Gäste an, doch bitte nicht ihren gesamten Besitz zu zerstören, aber es war zu spät.
»Wir ersetzen euch alles!«, rief Timu über den Lärm hinweg, aber man wusste nicht, ob der Wirt und die Wirtin ihn gehört hatten.
Etliche Wurfgeschosse hatten Narbengesicht getroffen, und er war von Wunden übersät. Blut floss aus Schnitten in seinem Gesicht, und er war völlig durchweicht von Tee, Wein und Bier. Als er begriff, dass er die aufgewiegelte Menge nicht länger einschüchtern konnte, spuckte er Théra hasserfüllt an. Aber er musste sich beeilen fortzukommen, bevor die Menge noch mutiger wurde und ihn direkt angriff.
Er schleuderte die erbeutete Geldbörse in den brennenden Ofen, um ein letztes Mal seine Verachtung zu demonstrieren, und drängte sich dann rücksichtslos schubsend und stoßend durch die Menge. Die Leute, immer noch von seiner Größe und Stärke beeindruckt, wichen vor ihm zurück. Narbengesicht brach durch die Tür der Kneipe wie ein Wolf, der von einer bellenden Hundemeute von der Herde vertrieben wird, und hinterließ nur ein paar wirbelnde Schneeflocken im Eingang. Bald verschwanden auch sie, und es war, als wäre er nie da gewesen.
Die Männer und Frauen in der Kneipe liefen durcheinander und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Wirt und Wirtin wieselten mit Besen, Schaufel, Eimer und Wischlappen herum, um das zerbrochene Tongeschirr und Porzellan vom Boden aufzusammeln. Phyro drängte sich durch die Menge, bis er neben Théra stand.
»Hab ihn direkt am Hals getroffen, gleich mit der ersten Schüssel«, prahlte Phyro.
»Gut gemacht, ›Kusine Ro‹«, sagte Théra lächelnd.
Tino, der Geschichtenerzähler, und das Wirtspaar kamen zu den drei Kindern, um sich bei ihnen für ihre heldenhafte Tat zu bedanken – und, was das Wirtspaar betraf, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich für die Schäden aufkommen würden. Théra und Phyro überließen Timu den Austausch gegenseitiger Wertschätzungsbeteuerungen, höflicher Demutsbezeugungen und Schuldbriefe und gingen zur cashima, um nachzusehen, wie es ihr ging.
Die cashima war zwar vom Stoß des kräftigen Mannes noch immer ein wenig benommen, aber nicht ernsthaft verletzt. Phyro und Théra halfen ihr, sich aufzusetzen, und flößten ihr warmen Reiswein ein.
»Wie heißt Ihr?«
»Zomi Kidosu«, antwortete sie mit schwacher, beschämter Stimme. »Aus Dasu.«
»Seid Ihr wirklich eine echte cashima?«, fragte Phyro und zeigte auf das zerbrochene Holzschwert, dessen Reste neben ihr lagen.
»Hudo-tika!« Théra war die unverschämte Frage ihres kleinen Bruders peinlich.
»Was? Wenn das Schwert nicht echt ist, ist es ihr Rang vielleicht auch nicht.«
Aber die junge Frau antwortete nicht. Sie starrte auf das Feuer im Ofen, wo sich die andere Hälfte ihres Schwertes gerade in Asche verwandelte.
»Mein Pass … mein Pass …«
»Welcher Pass?«, fragte Phyro.
Zomi murmelte weiter vor sich hin, als ob sie Phyro gar nicht gehört hätte.
Théra musterte die abgetragenen Schuhe der Frau und ihr geflicktes Gewand; ihr Blick blieb einen Moment an der komplizierten Konstruktion um ihr Bein hängen, die sie so noch nie gesehen hatte, nicht einmal bei den Kaiserlichen Ärzten, die die Wunden der Wachmänner ihres Vaters behandelten; sie bemerkte die Schwielen an Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger ihrer rechten Hand und auf dem Ringfinger; sie erkannte den Schmutz unter ihren Fingernägeln als Wachs und Tinte.
Sie kommt von weit her, und sie hat Schreiben geübt, sehr intensiv Schreiben geübt.
»Natürlich ist sie eine echte cashima«, sagte Théra. »Sie ist zu den Großen Prüfungen gekommen. Dieser Trottel hat ihren Pass für die Prüfungshalle verbrannt.«
GEFALLENE KÖNIGE
Die wirbelnden Schneeflocken wurden immer dichter, und immer weniger Fußgänger und Reiter waren in den Straßen zu sehen. Die meisten waren schon nach Hause gehastet oder suchten Schutz in den Gasthäusern am Straßenrand. Ein paar Spatzen, die sich unter den Dachgesimsen versteckten, zwitscherten aufgeregt. Offenbar erkannten sie eine Stimme im Heulen des Windes.
– Welches Unheil planst du, Tazu? Bist du gekommen, um Zwietracht in der Harmonischen Stadt zu säen?
Für einen Augenblick unterbrach ein wildes Gackern den jaulenden Schneesturm, vermischt mit dem markerschütternden Geräusch eines hungrigen Hais, der mit den Zähnen knirscht. Aber es verklang so schnell, dass die Spatzen verblüfft innehielten, unsicher, ob sie es wirklich gehört hatten.
– Kiji, mein Bruder, immer noch so humorlos wie damals. Genau wie du bin ich gekommen, um den von Kuni ins Leben gerufenen Wettstreit der Intelligenz zu beobachten, die Prüfung scharfer Worte und wohlgesetzter Schriftzeichen. Du hast mein Mitgefühl für den Kummer deiner fleißigen jungen Dame, aber ich versichere dir, ich habe nichts mit dem Mann zu schaffen, der ihr den Tag verdorben hat – was natürlich nicht bedeutet, dass ich auch in Zukunft nichts mit ihm zu schaffen haben werde, nun, da er mein Interesse geweckt hat. Du aber tust so beleidigt, dass man sich schon fragen muss, wer hier eigentlich das Mädchen und wer der Schutzheilige ist.
– Ich traue dir nicht. Du bringst stets Unruhe in die Ordnung, Streit in den Frieden.
– Ich bin gekränkt! Obwohl ich zugeben muss, dass es mich immer ein wenig triezt, wenn die Sterblichen die schmutzigen Wahrheiten der Geschichte zu netten kleinen Erzählungen zusammenstutzen. Zu glatt und »harmonisch«.
– Dann bist du verdammt, für immer in Zorn zu leben. Die Geschichte ist der lange Schatten, den die Vergangenheit auf die Zukunft wirft. Und Schatten, wie man weiß, sind von ihrer Natur aus nur grobe Umrisse.
– Du klingst wie einer dieser sterblichen Philosophen.
– Es war nicht leicht, den Frieden zu erlangen. Hetze nicht die Geister auf, dass sie Jagd auf die Lebenden machen.
– Aber wir wollen Fithowéo doch nicht langweilen, oder? Was bist du nur für ein Bruder, dass dich sein Wohlergehen gar nicht kümmert?
Das Klirren von Metall auf Metall drang hell durch den Sturm wie das Donnern von Hufen auf der Eisenbrücke, die sich über den Burggraben spannte. Die Spatzen duckten sich und blieben ganz still.
– Meine Verantwortung ist der Krieg, aber das bedeutet nicht, dass ich nach dem Tod giere. Daran findet doch eher Kana ihre Freude.
Etwas Rotes zuckte hinter den Wolken auf – als ob ein Vulkan durch den Nebel hindurchglühte.
– Tazu und Fithowéo, besudelt nicht meinen Namen. Ich herrsche über die Schatten auf der anderen Seite des Flusses-Auf-Dem-Nichts-Schwimmt, aber glaubt nicht, dass ich ihre Zahl ohne guten Grund zu erhöhen wünsche.
Ein Wirbel im Schnee wie ein Zyklon, der über eine weiße See tobte.
– Ts, ts. Was ist eigentlich aus der Idee geworden, immer das Interessanteste zu tun? Ihr seid alle solche Spielverderber. Egal. Es gibt einen schwarzen Fleck in den Grundfesten des Löwenzahn-Throns, dessen Reich Kunis Verrat am Hegemon entstiegen ist. Eine solche Sünde in den Anfängen eines Reiches kann niemals gesühnt werden, und sie wird ihn verfolgen, egal wie viel Gutes er zu tun glaubt.
Das Schweigen der anderen Götter schien die Wahrheit in Tazus Worten anzuerkennen.
– Die Sterblichen sind unzufrieden und werden Schwierigkeiten machen, egal was ihr zu begehren vorgebt. Der Geruch von Blut und Verwesung lockt Haie an, und ich tue nur, was mir im Blut liegt. Wenn der Sturm kommt, weiß ich, dass ihr alle dasselbe tun werdet.
Der wilde Wirbel ging in den heulenden Sturm über, und bald bedeckte Schnee die Fußspuren der letzten Fußgänger.
Doru Solofi stapfte durch den Schnee und versuchte, so schnell voranzukommen wie möglich. Schließlich beschloss er, dass er jetzt weit genug vom Dreibeinigen Krug entfernt war, und bog in eine kleine Seitengasse ein, wo er sich gegen eine Wand lehnte, um sich ein wenig auszuruhen. Sein Herz schlug wild, sein Atem ging schwer.
Diese verdammte cashima, und diese verdammten Kinder! Sein kleiner Schwindel hatte die letzten Male so gut geklappt und ihm ein ordentliches Sümmchen eingebracht – auch wenn er es sofort wieder in den Spielhallen und Indigo-Häusern losgeworden war. Wenn diese cashima ihn wirklich bei der Stadtwache verpfiff, würde er sich womöglich für eine Weile verstecken müssen, bis sich die Lage wieder beruhigte. In jedem Fall war es vielleicht zu riskant, in der Hauptstadt zu bleiben, wo die Sicherheitskräfte aufmerksamer waren als anderswo, aber er wollte den Trubel der Stadt und der blühenden Märkte nicht verlassen. Die Luft schien hier in der Nähe der Macht förmlich zu knistern.
Er war wie ein Wolf, der aus seiner Höhle gejagt worden war, und jetzt sehnte er sich nach einem Heim, das ihm nicht mehr gehörte.
Klatsch. Ein Schneeball traf ihn in den Nacken, die plötzliche Kälte erschreckte ihn dabei mehr als der Schmerz. Er fuhr herum und sah einen kleinen Jungen, der ein paar Meter entfernt in der Gasse stand. Der Junge grinste und zeigte dabei gelbe Zähne, die unnatürlich scharf aussahen – ein Eindruck, der noch durch die Haifischzahn-Kette verstärkt wurde, die er um den Hals trug.
Wer ist das?, überlegte Doru Solofi. Ist das einer der Wilden aus Tan Adü, wo die Einwohner sich die Zähne nach barbarischem Brauch spitz feilen?
Klatsch. Der Junge warf einen weiteren Schneeball nach ihm. Dieser traf ihn direkt ins Gesicht.
Solofi wischte sich den Schnee aus den Augen und blinzelte. Schmelzender Schnee und Eis liefen in den Ausschnitt seiner Tunika und durchnässten Rücken und Brust. Er spürte kleine Steinchen auf seiner Haut, besonders schmerzhaft an den Stellen, an denen der heiße Tee ihn verbrüht hatte. Das Eis ließ ihn in seinen tee- und alkoholgetränkten Kleidern im heulenden Wind mit den Zähnen klappern.
Solofi brüllte und stürzte sich auf den kleinen Jungen, entschlossen, ihm eine Lektion zu erteilen. Es war nicht hinzunehmen, dass jetzt sogar schon Kinder glaubten, Doru Solofi ärgern zu dürfen, der einst der mächtigste Mann in dieser Stadt gewesen war.
Der Junge duckte sich, geschickt wie ein schlanker Hai, der einem schwerfälligen Fischerboot ausweicht. Wild gackernd rannte der Junge davon und Solofi hinterher.
Immer und immer weiter rannten der Junge und sein Verfolger durch die Straßen von Pan, ohne auf die erstaunten Blicke der Passanten zu achten. Solofis Lunge brannte von der eisigen Luft; seine Beine fühlten sich bleiern an. Er stolperte und schlitterte durch den Schnee. Der Junge dagegen war so trittsicher wie die Steinböcke auf den schneebedeckten Felsen des Berges Rapa, und er schien Solofi zu verhöhnen, indem er stets nur einen Schritt voraus blieb, gerade eben außerhalb von Solofis Reichweite. Mehrmals war er drauf und dran, stehen zu bleiben und die Jagd aufzugeben, aber jedes Mal, wenn er sich dazu entschloss, drehte sich der Junge um und warf einen weiteren Schneeball nach ihm. Solofi verstand einfach nicht, wie es sein konnte, dass der Junge so viel Kraft und Ausdauer besaß – das schien völlig unnatürlich zu sein –, aber der Zorn hatte die Vernunft aus seinem Hirn verbannt. Er konnte nur noch daran denken, welche Freude er empfinden würde, wenn er den Schädel dieses ekelhaften Bengels gegen eine Wand schmetterte.
Der Junge flitzte in die nächste verlassene Gasse und verschwand um eine Ecke. Solofi trampelte schwerfällig hinterher – und blieb wie vom Donner gerührt stehen, als er aus der Gasse trat.
Vor ihm erstreckte sich, so weit das Auge reichte, eine Miniaturstadt aus graugeädertem Marmor, grob behauenem Granit und verwittertem Holz. Mannshohe Pyramiden, Zylinder und schlichte Quader waren in einem Netz schneebedeckter Pfade errichtet worden. Rabenstatuen standen auf Grabsteinen, und Gedenktafeln waren mit Schriftzeichen bedeckt, die versuchten, ein ganzes Leben in ein paar Verse zu fassen.
Der Junge hatte ihn zum größten Friedhof der Stadt geführt, wo viele jener Männer und Frauen begraben lagen, die während des Aufstandes gegen die Xana-Herrschaft und später während des Krieges zwischen der Chrysantheme und dem Löwenzahn ums Leben gekommen waren.
Der Junge war nirgends zu sehen.
Solofi atmete tief durch, um seine Nerven zu beruhigen. Er neigte nicht zum Aberglauben und würde sich nicht vor Geistern fürchten. Und so trat er ohne Zögern in die Stadt der Toten.
Zuerst vorsichtig, dann immer fieberhafter suchte Solofi zwischen den Grabsteinen nach seiner Beute und ihren Spuren. Aber der Junge hatte sich offensichtlich in Luft aufgelöst wie ein Trugbild oder ein Traum.
Solofis Nackenhaare stellten sich auf. War er einem Geist hinterhergelaufen? Immerhin war er verantwortlich für den Tod vieler im Krieg Gefallener …
»Eins, zwei, drei, vier! Schneller! Schneller! Spürst du es? Spürst du die Kraft, die durch deinen Körper strömt? Drei, zwei, drei, vier!«
Solofi fuhr herum und sah, dass die Rufe von einem Mann kamen, der auf den Stufen zum riesigen Marmormausoleum stand, das den Geistern der Achthundert gewidmet war, jenen ersten Soldaten, die sich dem Hegemon Mata Zyndu angeschlossen hatten, als er die Flagge des Aufstandes gegen Kaiser Mapidéré auf Tunoa gehisst hatte.
»Vier, zwei, drei, vier! Suadégo, du musst deine Beinarbeit verbessern. Sieh dir deinen Ehemann an: Wie er voller Hingabe tanzt! Sechs, zwei, drei, vier!«
Der Mann auf den Stufen war drahtig und dunkelhäutig, und die Art, wie er sich bewegte – gleichzeitig überlegt und verstohlen wie eine Maus, die über einen Abendbrottisch läuft, wenn die Kerzen ausgeblasen sind –, kam Solofi irgendwie bekannt vor. Er ging auf den Mann zu, um ihn sich genauer anzusehen, wobei er sich hinter hohen Grabsteinen versteckte.
»Sieben, zwei, drei, vier! Poda, du musst dich schneller drehen. Du bist gar nicht mehr im Takt. Ich muss dich zurückstufen, wenn du den Anschluss verpasst. Eins, zwei, drei, vier!«
Jetzt, da Solofi nahe genug herangekommen war, sah er, dass ungefähr vierzig Männer und Frauen in vier Reihen auf der freien Fläche vor den Stufen des Mausoleums standen. Soweit Solofi es beurteilen konnte, übten sie eine Art Tanz, obwohl er keinem Tanz ähnelte, den er je gesehen hatte. Die Männer und Frauen wirbelten herum wie betrunkene Schwertkämpfer aus Cocru; sie reckten die Arme hoch in die Luft und beugten sich dann hinab, um ihre Zehen zu berühren – es sah aus wie eine absurde Parodie der Schleiertänzerinnen von Faça; sie hüpften auf der Stelle auf und nieder, klatschten über dem Kopf in die Hände, als wären sie Rekruten in der Armee, die einen Trainingsplan absolvierten. Sie tanzten nur zum Heulen der Winde und zum rhythmischen Singsang des Mannes auf den Stufen des Mausoleums, der den Takt mitzählte, und zum Rhythmus ihrer stampfenden Füße. Obwohl der Schnee immer noch in dichten Flocken fiel, waren die Tänzer schweißgebadet, und weißer Atemnebel kam stoßweise aus ihren Mündern, der sich sofort in Eisfäden in ihren Bärten und Haaren verwandelte.
Über ihnen schritt der mausartige Mann vor und zurück und gab den Tänzern Kommandos. Solofi hatte keine Ahnung, was er von diesem merkwürdigen Ausbilder halten sollte.
»In Ordnung, Schluss für heute«, sagte der Mann. Die Tänzer reihten sich vor den Stufen auf, und er kam herunter und sprach mit jedem einzelnen.
»Sehr gut, Suadégo. Die Geister freuen sich über deinen Fortschritt. Morgen kannst du in der zweiten Reihe tanzen. Fühlst du dich nicht voller Energie? Ah, das sind also die neuen Umschläge … lasst mich kurz nachzählen, wie viele gesegnete Talismane ihr und eure Rekruten verkauft habt … nur zwei neue Mitglieder in der letzten Woche? Ich bin enttäuscht! Ihr und euer Ehemann müsst mit jedem einzelnen in eurer Familie sprechen – Vettern, Kusinen ersten und zweiten Grades, mit ihren Kindern und den Eheleuten der Kinder – mit allen. Vergesst nicht, euer Glaube misst sich daran, wie groß euer Beitrag für die Gemeinschaft ist, und je mehr Leute ihr rekrutiert, die ihrerseits den Glauben verbreiten, desto erfreuter werden die Geister sein! Hier ist euer Preis – eine Verhandlungspille. Behaltet sie unter der Zunge, wenn ihr mit euren Lieferanten sprecht, und stellt euch euren Erfolg bildlich vor, versteht ihr? Ihr müsst daran glauben, sonst funktioniert es nicht!«
Etwas Ähnliches sagte er zu jedem einzelnen Tänzer. Einige tadelte er, andere lobte er, aber stets ging es um die Zahl neuer Mitglieder und um Geld.
Als der Mann mit der letzten Tänzerin fertig war, die niedergeschlagen von dannen zog, weil sie keine neuen Mitglieder hatte gewinnen können und daher vom nächsten Tanz ausgeschlossen war, begriff Solofi endlich, warum ihm der Mann so bekannt vorkam.
Er trat hinter dem Grabstein hervor, der ihn bisher verdeckt hatte. »Noda Mi! Ich habe dich ja seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen!«
Nach dem erfolgreichen Aufstand gegen das Xana-Reich hatte der Hegemon diejenigen belohnt, von denen er glaubte, dass sie einen wichtigen Beitrag zu seinem Sieg geleistet hatten. Dazu hatte er eine große Zahl neuer Tiro-Staaten gegründet und die Männer zu deren Königen ernannt. Noda Mi, der als Getreidelieferant für Matas Armee begonnen hatte, bevor er Matas Quartiermeister wurde, ernannte der Hegemon schließlich zum König von Zentral-Géfica. Doru Solofi, der vom Fußsoldaten zum Talentsucher aufgestiegen war, bestieg den Thron von Süd-Géfica, auf dessen Gebiet auch Pan lag, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er zufällig der erste gewesen war, der Kuni Garus Pläne erkannt hatte.
Während des Krieges zwischen der Chrysantheme und dem Löwenzahn wurden Noda und Doru durch Gin Mazotis Armee von ihren Thronen gestoßen und fielen beim Hegemon in Ungnade. Daraufhin waren sie jahrelang als Flüchtlinge umhergezogen und hatten sich ihren Lebensunterhalt als Banditen verdient, als Wegelagerer, Verkäufer von Gammelfleisch und verdorbenem Fisch, als Entführer und Betrüger – und immer versteckten sie sich vor Kaiser Ragins Polizei.
»Nun sieh uns mal an«, sagte Solofi. »Zwei Tiro-Könige auf einem Friedhof!« Er lachte bitter und stieß mit den Füßen gegen die Schneeverwehungen auf den Stufen des Mausoleums. Dann gab er Noda die Pfeife mit den Glückskräutern zurück.
Noda winkte ab; er hatte genug geraucht. Stattdessen nahm er einen Schluck aus einer Flasche und genoss, wie der brennende Schnaps ihn von innen wärmte. »Du hast deine beeindruckenden Muskeln wirklich geschickt eingesetzt. Dieser Trick mit den Geschichtenerzählern ist ziemlich gut. Danke dafür; ich werde es auch damit versuchen.«
»Bei dir wird es nicht klappen. Sie hätten nicht genug Angst vor dir«, versetzte Solofi und betrachtete Nodas dünne, kleine Gestalt mit einigem Mitleid. »Aber dieser Pyramidentrick ist auch nicht schlecht. Wie hast du nur so viele Trottel davon überzeugen können, für dich zu tanzen und dir dafür auch noch Geld zu geben?«
»Das ist doch leicht! Der Frieden in Pan hat so viele reich gemacht. Jetzt langweilen sie sich und sehnen sich nach ein bisschen Aufregung in ihrem Leben. Ich habe angedeutet, dass ich die Energie der Toten für das Glück der Lebenden mobilisiere, und viele kommen, um zu sehen, ob ich meine Versprechen einlösen kann. Die Sache ist aber die: Sobald sich genügend Leute zusammenrotten, verlieren sie völlig den Verstand. Wenn ich alle dazu bringe, wie die Idioten herumzuhopsen, traut sich niemand mehr, mich infrage zu stellen, weil derjenige, der aus der Reihe tanzt, plötzlich als Trottel dasteht. Wenn ich eine von ihnen dazu bringe zu sagen, dass sie die Energie spürt, die sie durchströmt, dann sagen die anderen sofort dasselbe, weil sie sonst zugeben würden, dass die Geister ihnen nicht wohlgesinnt sind. Tatsächlich überschlagen sie sich dabei, mir zu sagen, wie viel besser sie sich fühlen, seit sie tanzen, nur um in den Augen ihrer Mittanzenden als besonders spirituell zu gelten.«
»Das ist ja kaum zu glauben.«
»Oh, glaub es lieber. Unterschätze nie das Bedürfnis der Leute, besser dazustehen als die anderen – ein Bedürfnis, das ich gern befriedige. Ich veranstalte kleine Wettkämpfe und hole Tänzer von hinten nach vorn, wenn sie besonders eifrig sind und fest an mich glauben, und ich stelle sie weiter nach hinten, wenn sie so wirken, als zweifelten sie. Ich gebe ihnen Belohnungen, je nachdem, wie wild sie sich winden und wie heftig sie aufstampfen. Ich sage ihnen, dass sie bald gut genug sind, um selbst Lehrer zu werden, und bringe sie dazu, weitere Zaubertanzschüler zu gewinnen – und natürlich beanspruche ich einen Teil des Geldes, das sie bekommen. Nichts überzeugt einen Trottel mehr von einem Schwindel, als wenn man ihn selbst zu einem Schwindler macht. Ich bin sicher, dass ich nackt auftauchen und behaupten könnte, dass nur diejenigen, die wirklich glauben, meine Kleider sehen können. Sie würden sich darin überschlagen, meine prachtvollen Gewänder zu beschreiben.«
Solofis Blick verfinsterte sich für einen Augenblick. »Einst trugen wir tatsächlich Gewänder aus feinster, goldbestickter Wasserseide, du und ich.«
»Das taten wir«, nickte Noda düster. Aber dann erhellte sich sein Blick wieder. »Vielleicht könnten wir das wieder tun.«
»Wie meinst du das?«, fragte Solofi und vergaß, an seiner Glückskräuterpfeife zu ziehen.
»Wir waren einmal Könige, und jetzt müssen wir zwischen den Gebeinen der Toten und unter den Eitelkeiten der Lebenden nach etwas zu essen wühlen, wie es die Ratten tun. Was ist das für ein Leben? Wärst du nicht auch gern wieder König?«
Solofi lachte. »Die Zeit der Tiro-Könige ist vorbei. Ehrgeizige Männer kriechen jetzt zu Kuni Garus Füßen und hoffen, seine Gunst zu erringen, um ihm dienen zu können.«
»Nicht alle Männer«, versetzte Noda und hielt Solofis Blick mit seinem fest, während er seine Stimme senkte. »Als Huno Krima und Zopa Shigin sich trafen, zettelten sie einen Aufstand an, der Mapidérés Lebenswerk zunichtemachte. Als Kuni Garu Mata Zyndu traf, rissen sie diese Inseln auseinander und fügten sie dann neu wieder zusammen. Glaubst du nicht auch, es ist ein Zeichen für uns beide, dass wir uns nach zehn Jahren gerade an diesem Ort wiedertreffen, wo so viele Geister immer noch nach Rache an Kuni Garu schreien?«
Doru Solofi schauderte. Das Mausoleum hinter ihm schien plötzlich eine unnatürliche Kälte auszustrahlen. Noda Mis durchdringender Blick und seine Stimme waren hypnotisierend. Er verstand nun, wie dieser Mann die Leute dazu bringen konnte, ihm Geld zu geben … Solofi erinnerte sich an den Jungen mit den Haifischzähnen, der ihn hierhergeführt hatte. Ist dies wirklich ein Zeichen? Hat Noda womöglich recht?
»Es gibt andere, die so denken wie du und ich – Adelige, die in Ungnade gefallen sind, Veteranen des Hegemon, Gelehrte, die die Kaiserlichen Examen nicht bestanden haben, Kaufleute, die nicht so viel Profit bei ihren Steuerhinterziehungen machen können, wie sie möchten … Dara mag ein Land im Frieden sein, aber die Herzen der Menschen sind niemals friedlich. Ich habe viel darüber gelernt, wie man das Feuer der Unzufriedenheit anfacht, und du besitzt eine Gestalt, die dazu bestimmt ist, an der Spitze einer Menge zu reiten. Die Götter wollten, dass wir uns hier und heute begegnen, und wir können unseren gebührenden Ruhm von diesem Unkrautkaiser zurückfordern. Denk dran, er war einst nichts Besseres, als wir es nun sind.«
Ein kleiner Wirbel fegte in ebendiesem Moment über den Friedhof und peitschte den Schnee auf, sodass er für einen Moment aussah wie der riesige Strudel, der einst zwanzigtausend Xana-Soldaten an einem einzigen Tag verschluckt hatte.
Doru Solofi packte Noda Mi bei den Armen.