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Von der TIME zu den 100 besten Fantasy-Büchern aller Zeiten gewählt Der Auftakt zu Ken Lius meisterhafter Seidenkrieger-Trilogie - ausgezeichnet mit dem Locus-Award für das beste Fantasy-Debüt 2016 Mit »Die Schwerter von Dara«, dem ersten Band der Seidenkrieger-Trilogie, hat Liu ein episches High-Fantasy-Werk geschaffen, in dem der Autor meisterhaft Elemente der chinesischen Mythologie mit politischen Intrigen und überzeugenden Charakteren mischt: Zwei Männer höchst unterschiedlicher Herkunft steigen gemeinsam zu Anführern einer Rebellion gegen den tyrannischen Kaiser auf. Sie sind sich näher als Brüder – und werden zu Todfeinden, als ein erbittertes Ringen um die Nachfolge des Herrschers beginnt. Der gerissene, charmante Kuni Garu, ein Bandit, und der strenge, furchtlose Mata Zyndu, der Sohn eines abgesetzten Herzogs, werden beim Aufstand gegen den Kaiser in eine Reihe von Abenteuern im Kampf gegen Armeen, in Seide gehüllte Luftschiffe und gestaltwandelnde Götter gezogen. Nach dem Sturz des Kaisers finden sich die beiden jedoch als Anführer verschiedener Fraktionen wieder – zwei Seiten mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wie die Welt geführt werden sollte und was Gerechtigkeit bedeutet. Als erster Autor ist Ken Liu für eine Short Story sowohl mit dem ›Nebula‹ als auch mit dem ›Hugo‹ und dem ›World Fantasy Award‹ ausgezeichnet worden. »Erzählt in Lius eleganter, intelligenter Prosa, ist der Roman ein prächtiges Fest epischer Fantasy.« Rob Bedford, SFF World »Die Schwerter von Dara« ist der erste Teil der Seidenkrieger-Reihe. Die epische High-Fantasy-Serie ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Die Schwerter von Dara - Seidenkrieger Band 1 - Die Götter von Dara - Seidenkrieger Band 2 - Die Stürme von Dara - Seidenkrieger Band 3
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Seitenzahl: 988
Ken Liu
Die Schwerter von Dara
Seidenkrieger
Knaur e-books
Wie ein Sturm fegt die Rebellion über die Inseln von Dara hinweg – nach langen Jahren der Unterdrückung wollen die Menschen frei sein von der grausamen Herrschaft des Kaisers. Zwei Männer werden zu Anführern der Rebellen: der gewitzte Bauernsohn Kuni und der furchtlose Mata, Sohn eines in Ungnade gefallenen Adeligen. Gemeinsam stellen sie sich gegen die übermächtigen Armeen und die gewaltigen Himmelsschiffe des Herrschers – und sogar gegen die launischen Götter selbst.Ihr Kampf lässt sie alle Unterschiede vergessen, macht sie zu Brüdern – doch sie werden zu Todfeinden, als das erbitterte Ringen um die Nachfolge des Tyrannen beginnt.
Für meine Großmutter, die mir die großen Helden der Han-Dynastie nahebrachte. Ich werde mich immer an die Nachmittage erinnern, an denen wir gemeinsam Pingshu-Hörspiele im Radio hörten.
Und für Lisa, die Dara sah, bevor ich es tat.
Viele Namen auf Dara stammen aus dem klassischen Ano. Die Transliteration aus dem klassischen Ano in diesem Buch kommt ohne Diphtonge aus; jeder Vokal wird einzeln ausgesprochen. Zum Beispiel besteht »Réfiroa« aus vier einzelnen Silben: »Ré-fi-ro-a«. Entsprechend hat »Na-aroénna« fünf Silben: »Na-a-ro-én-na«.
Das i wird immer ausgesprochen wie das i im englischen »mill«, deutsch: »still«.
Das o wird immer ausgesprochen wie das o im englischen Wort »code«.
Das ü wird immer ausgesprochen wie im Deutschen oder im chinesischen Pinyin.
Andere Namen, die aus anderen Sprachen stammen, werden mit Lauten gebildet, die es im klassischen Ano nicht gibt, zum Beispiel das xa in »Xana« oder das ha in »Haan«. Aber auch in diesen Fällen werden die Vokale einzeln ausgesprochen. Daher besteht auch »Haan« aus zwei Silben.
Die Chrysantheme und der Löwenzahn
KUNI GARU: Ein Junge, der lieber spielt als lernt; der Anführer der Straßenkinderbande und noch viel mehr.
MATA ZYNDU: Ein Junge, edel von Gestalt und Geist; der letzte Nachkomme des Zyndu-Clans.
Kunis Gefolge
JIA MATIZA: Eine Bauerntochter und begabte Kräuterkundige; Kunis Frau.
COGO YELU: Ein Angestellter in Zudis Stadtverwaltung; Kunis Beziehung zu den »wichtigen Stellen«.
LUAN ZYA: Spross einer adeligen Familie in Haan; Abenteurer unter den Einwohnern von Tan Adü.
GIN MAZOTI: Ein Waisenkind auf den Straßen von Dimushi; ein Glückssucher während des Aufstands.
RIN CODA: Kunis Freund aus Kindertagen.
MÜN ÇAKRI: Ein Metzger; einer von Kunis grimmigsten Kriegern.
THAN CARUCONO: Ein alter Stallmeister in Zudi.
LADY RISANA: Eine Zauberin und versierte Musikerin.
DAFIRO MIRO: »Daf«, einer der ersten Rebellen unter Huno Krima; Bruder von Ratho Miro.
SOTO: Jias Haushälterin.
Matas Gefolge
PHIN ZYNDU: Matas Onkel, sein Lehrer und Ersatzvater.
TORULU PERING: Ein alter Gelehrter; Matas Berater.
THÉCA KIMO: Ein Rebell, der ebenfalls aus Tunoa stammt.
LADY MIRA: Eine Stickerin und Sängerin aus Tunoa; die einzige Frau, die Mata versteht.
RATHO MIRO: »Rat«, einer der ersten Rebellen unter Huno Krima; Bruder von Dafiro Miro.
Das Reich Xana
MAPIDÉRÉ: Der erste Kaiser der Sieben Inseln von Dara; als König von Xana trug er den Namen Réon.
ERISHI: Der zweite Kaiser der Sieben Inseln von Dara.
GORAN PIRA: Schlossvogt von Xana; König Réons Freund aus der Kindheit.
LÜGO CRUPO: Regent von Xana; ein großer Gelehrter und Kalligraph.
TANNO NAMEN: Allseits verehrter General von Xana.
KINDO MARANA: Der oberste Steuereintreiber des Reiches.
Die Tiro-Könige der Sechs Staaten
PRINZESSIN KIKOMI UND KÖNIG PONADOMU VON AMU: Das Juwel von Arulugi und ihr Großonkel.
KÖNIG THUFI VON COCRU: Als Schafhirte aufgewachsen; er drängt die Tiro-Könige zur Einheit.
KÖNIG SHILUÉ VON FAÇA: Ehrgeizig, aber mit großem Selbsterhaltungstrieb; streckt die Hand nach Rima aus.
KÖNIG DALO VON GAN: Herrscht über den wohlhabendsten Staat im Sechserbund.
KÖNIG COSUGI VON HAAN: Ein alter König, der womöglich seinen Appetit auf das Risiko verloren hat.
KÖNIG JIZU VON RIMA: Ein junger Prinz, der als Fischer aufwuchs.
Der Aufstand
HUNO KRIMA: Anführer der ersten Rebellen gegen Xana.
ZOPA SHIGIN: Gefährte von Huno; Anführer der ersten Rebellen gegen Xana.
Die Götter von Dara
KIJI: Schutzheiliger von Xana; Herr der Luft, Gott des Windes, des Fluges und der Vögel; sein Pawi ist der Mingén-Falke; er trägt gern einen weißen Reiseumhang.
TUTUTIKA: Schutzheilige von Amu; die Jüngste der Götter; Göttin der Landwirtschaft, Schönheit und des frischen Wassers; ihr Pawi ist der goldene Karpfen.
KANA UND RAPA: Die Zwillingsschutzheiligen von Cocru; Kana ist die Göttin des Feuers, der Asche, der Feuerbestattung und des Todes; Rapa ist die Göttin des Eises, des Schnees, der Gletscher und des Schlafes; ihre Pawis sind die Zwillingsraben: einer schwarz, der andere weiß.
RUFIZO: Schutzheiliger von Faça; Göttlicher Heiler; sein Pawi ist die Taube.
TAZU: Schutzheiliger von Gan; unvorhersehbar, chaotisch, erfreut sich am Zufall; Gott der Meeresströmungen, Tsunamis und versunkenen Schätze; sein Pawi ist der Hai.
LUTHO: Schutzheiliger von Haan, Gott der Fischer, des Hellsehens, der Mathematik und des Wissens; sein Pawi ist die Meeresschildkröte.
FITHOWÉO: Schutzheiliger von Rima; der Gott des Krieges, der Jagd und der Schmiedekunst; sein Pawi ist der Wolf.
EIN ATTENTÄTER
Ein weißer Vogel schwebte ruhig am klaren Westhimmel und schlug von Zeit zu Zeit mit seinen Flügeln.
Vielleicht war es ein Raubvogel, der sein Nest auf einem der schroffen Gipfel der Er-Mé-Berge zurückgelassen hatte, um Jagd auf Beute zu machen. Aber heute war kein guter Tag für die Jagd – das Gebiet, in dem die Raubvögel sonst auf Nahrungssuche gingen, dieser sonnendurchglühte Bereich der Porin-Ebene, war voller Menschen.
Tausende Zuschauer säumten die breite Straße, die aus Zudi herausführte. Sie achteten nicht auf den Vogel, sie waren hier, um sich die kaiserliche Prozession anzuschauen.
Voller Ehrfurcht hatten sie aufgestöhnt, als die Flotte der riesigen kaiserlichen Luftschiffe in eleganten Formationen über sie hinweggeflogen war. In respektvollem Schweigen hatten sie gegafft, als die schweren Schlachtwagen an ihnen vorbeigerollt waren, die Steinwurfarme dick mit Ochsensehnen umwickelt. Sie hatten die Voraussicht des Kaisers und seine Großzügigkeit gepriesen, als seine Ingenieure die Menge mit parfümiertem Wasser von den Eiswagen besprengten, kühl und erfrischend in der heißen Sonne und der staubigen Luft von Nord-Cocru. Sie hatten applaudiert und den besten Tänzerinnen zugejubelt, die die sechs eroberten Tiro-Staaten zu bieten hatten: Fünfhundert Faça-Jungfrauen wanden sich verführerisch beim Schleiertanz, ein Anblick, der einst den Mitgliedern des königlichen Hofes in Boama vorbehalten gewesen war; vierhundert Schwertkünstler aus Cocru verschmolzen kriegerischen Ruhm mit lyrischer Grazie, indem sie ihre Klingen so geschickt schwangen, dass sie wirkten wie leuchtende Chrysanthemen aus kaltem Licht; Dutzende eleganter, stattlicher Elefanten von der wilden, dünn besiedelten Insel Écofi zogen vorbei, angemalt in den Farben der Sieben Staaten – der größte Bulle war wie erwartet in die weiße Flagge Xanas gehüllt, während die anderen die Regenbogenfarben der eroberten Länder trugen.
Die Elefanten zogen eine Rampe hinter sich her, auf der zweihundert der besten Sänger aller Inseln Daras zusammen standen, ein Chor, der vor der Großen Eroberung durch Xana niemals hätte zustande kommen können. Sie sangen ein neues Lied, eine Komposition des großen kaiserlichen Gelehrten Lügo Crupo, die die kaiserliche Inselrundreise besang:
Gen Norden: Das fruchtbare Faça, grün wie die Augen des freundlichen Rufizo,
Weiden, geküsst vom süßen Regen, zerklüftete Hochlande, nebelverhangen.
Soldaten, die neben der Rampe marschierten, warfen Kleinigkeiten in die Menge: Schmuckknoten im Xana-Stil, die aus Fäden in den Farben der Sieben Staaten geschlungen waren. Die Knoten hatten die Form der Wortzeichen für »Wohlstand« und »Glück«. Die Zuschauer drängelten sich nach vorn und rauften miteinander, um eine solche Erinnerung an diesen aufregenden Tag zu erhaschen.
Gen Süden: Cocru, Land der Schlösser, der Felder voll Hirse und Reis, blass und dunkel,
Rot wie der Ruhm des Kriegers, weiß wie die stolze Rapa, schwarz wie die trauernde Kana.
Die Menge jubelte nach diesem Vers über ihr Heimatland besonders laut.
Gen Westen: Wo Amu lockt, das Juwel von Tututika,
Leuchtende Eleganz, filigrane Städte, umgeben von zwei blauen Seen.
Gen Osten: Glänzendes Gan, wo Tazus Händel und Spiele glitzern,
Reich wie die Fülle des Meeres, edel wie die grauen Roben der Gelehrten.
Hinter den Sängern gingen Soldaten, die lange Seidenbanner hielten, auf die komplizierte Szenen der Schönheiten und Wunder der Sieben Staaten gestickt waren: Das Mondlicht, wie es auf der schneebedeckten Spitze des Berges Kiji glitzerte; Fischschwärme, die im Tututika-See beim Sonnenaufgang schimmerten; Cruben und Wale, die durch die Wellen brachen und vor den Ufern der Wolfstatze gesichtet wurden; die begeisterten Massen, die die breiten Straßen in der Hauptstadt Pan säumten; ernsthafte Gelehrte, die vor dem weisen, allwissenden Kaiser über Politik debattierten…
Gen Nordwesten: Das hochherzige Haan, Wiege der Philosophie,
Auf der Suche nach den gewundenen Pfaden der Götter auf Luthos gelber Muschel.
In der Mitte: Das bewaldete Rima, wo von alters her Sonne in dichte Wälder dringt,
Die die Erde bedecken, so spitz wie Fithowéos schwarzes Schwert.
Zwischen den Versen grölte die Menge den Refrain mit den Sängern mit:
Wir beugen uns, beugen uns, beugen uns vor Xana, dem Höchsten, dem Herrscher der Lüfte.
Warum gegen den heiligen Kiji aufbegehren, ihm widerstehen in einem Kampf, den wir nicht gewinnen können?
Wenn die unterwürfigen Worte denjenigen in der Menge der Einwohner Cocrus widerstrebten, die vor etwas mehr als zwölf Jahren die Waffen gegen die Eindringlinge aus Xana erhoben hatten, dann wurde ihr Murren vom wilden, lauten Singen der Männer und Frauen um sie herum übertönt. Der hypnotische Gesang war von ganz eigener Kraft, als ob die Worte durch die reine Wiederholung an Gewicht gewannen, wahrer wurden.
Aber die Menge war noch lange nicht mit dem Schauspiel zufrieden. Sie hatte das Herz der Prozession noch nicht gesehen: den Kaiser.
Der weiße Vogel glitt näher heran. Seine Schwingen schienen so weit wie die Flügel der Windmühlen in Zudi zu sein, die Wasser aus tiefen Brunnen schöpften und es in die Häuser der Reichen pumpten – viel zu groß für einen Adler oder Geier. Ein paar Zuschauer sahen hinauf und fragten sich kurz, ob es wohl ein riesiger Mingén-Falke war, der aus seiner Heimat auf der Insel Rui hierhergebracht worden war, um das Volk zu beeindrucken.
Ein kaiserlicher Kundschafter, der sich in der Menge versteckt hatte, sah ebenfalls hinauf und runzelte die Stirn. Dann wandte er sich um und drängte sich durch die Menschenmenge zur Aussichtsplattform, auf der sich Cocrus’ Würdenträger versammelt hatten.
Die Spannung unter den Zuschauern wuchs, als die Kaiserliche Garde wie ein Trupp mechanischer Männchen vorbeimarschierte: Den Blick geradeaus gerichtet, Arme und Beine in perfekt synchroner Bewegung, wie Marionetten, die von einem einzigen Puppenspieler bewegt wurden. Ihre Disziplin und Ordnung bildeten einen scharfen Kontrast zu den rasanten Bewegungen der Tänzerinnen, die vor ihnen vorbeigezogen waren.
Nach einer kurzen Pause brüllte die Menge vor Begeisterung, auch wenn eben diese Armee Cocrus’ Soldaten abgeschlachtet und den alten Adel gestürzt hatte. Die Zuschauer wollten einfach ein Schauspiel, und sie liebten die glänzenden Rüstungen und die kriegerische Pracht.
Der Vogel glitt noch näher heran.
»Lasst uns durch! Lasst uns durch!«
Zwei vierzehnjährige Jungen drängten sich durch die dichte Menge wie ungestüme Fohlen, die durch ein Zuckerrohrfeld galoppieren. Der erste, Kuni Garu, trug sein langes, glattes schwarzes Haar als Knoten auf dem Kopf, genau wie die Schüler an den Privatschulen. Er war stämmig – nicht dick, aber muskulös, mit starken Armen und Schenkeln. In seinen Augen, langgezogen und schmal wie die der meisten Männer aus Cocru, glomm eine Intelligenz, die fast schon Schlitzohrigkeit zu nennen war. Er gab sich gar nicht erst Mühe, höflich zu sein, sondern stieß Männer und Frauen mit den Ellbogen rücksichtslos zur Seite, so dass er eine Spur blauer Flecken und wütender Flüche hinter sich ließ.
Der Junge hinter ihm, Rin Coda, war schlaksig und nervös. Er wirkte wie eine Möwe, die dem Kielwasser eines Schiffes folgt. Er murmelte den erbosten Männern und Frauen um sich herum Entschuldigungen zu.
»Kuni, ich glaube, es reicht, wenn wir hier hinten stehen bleiben«, sagte Rin. »Ich denke wirklich nicht, dass das hier eine gute Idee ist.«
»Dann denk einfach nicht«, entgegnete Kuni. »Dein Problem ist sowieso, dass du viel zu viel denkst. Mach einfach.«
»Meister Loing sagt, die Götter wollen, dass wir nachdenken, bevor wir handeln.« Rin zuckte zusammen und duckte sich, als ein Mann sie beschimpfte und sich auf sie zu stürzen drohte.
»Niemand weiß, was die Götter wollen.« Kuni sah sich nicht einmal nach ihm um. »Nicht einmal Meister Loing.«
Endlich hatten sie es durch die dichte Menge geschafft und standen direkt neben der Straße, wo der Bereich für die Zuschauer mit weißen Kreidestrichen markiert war.
»Also das nenne ich mal eine gute Aussicht«, sagte Kuni, atmete tief durch und schaute sich um. Er pfiff anerkennend, als die letzten halbnackten Schleiertänzerinnen aus Faça an ihm vorbeikamen. »Jetzt begreife ich den Reiz des Kaiserseins.«
»Hör auf, so zu reden! Willst du ins Gefängnis?« Rin schaute sich nervös um, um zu sehen, ob sie jemand gehört hatte – Kuni neigte dazu, unerhörte Dinge laut auszusprechen, die leicht als Verrat gedeutet werden konnten.
»Na, das ist doch aber mal viel besser, als im Unterricht zu sitzen, Schriftzeichen in Wachs zu ritzen und Kon Fijis Abhandlung moralischer Beziehungen auswendig zu lernen, oder?« Kuni legte Rin seinen Arm um die Schulter. »Gib zu: Du bist froh, dass du mitgekommen bist.«
Meister Loing hatte erklärt, er würde seine Schule anlässlich der Prozession nicht schließen, denn er glaube, dass es sicher nicht des Kaisers Wille sei, die Kinder ihre Studien unterbrechen zu lassen – aber Rin vermutete im Stillen, dass Meister Loing nicht viel vom Kaiser hielt. Viele Menschen in Zudi hatten zwiespältige Ansichten über den Kaiser.
»Meister Loing würde das hier sicher ganz und gar nicht richtig finden«, sagte Rin, aber er konnte den Blick ebenfalls nicht von den Schleiertänzerinnen wenden.
Kuni lachte. »Wenn der Meister uns ohnehin mit seinem Lineal züchtigt, weil wir drei volle Tage schwänzen, dann soll es sich auch lohnen.«
»Leider fällt dir immer wieder eine gute Ausrede ein, und ich muss am Ende auch noch deine Hiebe einstecken!«
Der Jubel der Menge schwoll an.
Auf der Thronpagode saß der Kaiser mit ausgestreckten Beinen in der thakrido-Haltung auf weichen Seidenkissen. Nur der Kaiser konnte in der Öffentlichkeit so dasitzen, weil ihm alle anderen untergeben waren.
Die Thronpagode war eine fünfstöckige Konstruktion aus Bambus und Seide, die auf einer Plattform aus zwanzig dicken Bambuspfählen stand – zehn waagerecht, zehn senkrecht –, getragen von hundert Männern mit nackten, eingeölten Oberkörpern und Armen, die in der Sonne glänzten.
Die unteren vier Stockwerke der Thronpagode waren mit Uhrwerkmodellen gefüllt, fein ziseliert und kompliziert wie Kleinodien, deren Bewegungen die Vier Reiche des Universums darstellten: die Welt des Feuers ganz unten – voller Dämonen, die Diamanten und Gold schürften; dann die Welt des Wassers – voller Fische und Seeschlangen und pulsierender Quallen; darüber die Welt der Erde, in der die Menschen lebten – auf den Inseln, die in den vier Meeren schwammen; und schließlich die Welt der Luft, über allen anderen – das Reich der Vögel und Geister.
Kaiser Mapidéré war in ein Gewand aus schimmernder Seide gehüllt und trug eine herrliche Krone aus feinstem Gold und glitzernden Edelsteinen, auf der die Statuette eines Cruben thronte, des geschuppten Wals und Gebieters der Vier Stillen Meere. Das Horn des Cruben war aus dem reinsten Elfenbein aus dem Stoßzahn eines jungen Elefantenbullen geschnitzt. Die Augen bildeten zwei schwere schwarze Diamanten – die größten Diamanten, die Dara je gesehen hatte und die aus dem Schatz von Cocru stammten, der bei der Großen Eroberung von Xana vor fünfzehn Jahren an Dara gefallen war. Jetzt beschattete der Kaiser die Augen mit der Hand und blinzelte in den Himmel, um den sich nähernden Umriss des großen Vogels zu betrachten.
»Was ist das?«, dachte er laut.
Am Fuß der Thronpagode, die sich langsam vorwärtsbewegte, informierte der kaiserliche Kundschafter den Hauptmann der Kaiserlichen Garde, dass die Würdenträger in Zudi allesamt behaupteten, noch niemals so etwas wie diesen merkwürdigen Vogel gesehen zu haben. Der Hauptmann flüsterte ein paar Befehle, und die Kaiserliche Garde, die nur aus den besten Elitesoldaten von Dara bestand, zog den Ring um die Pagodenträger enger.
Der Kaiser indes fuhr fort, in den Himmel zu starren und den Vogel zu beobachten, der gleichmäßig immer näher glitt. Einmal schlug er mit den Schwingen, und dem Kaiser, der sich Mühe geben musste, das Geschrei der begeisterten Massen auszublenden, war es, als gäbe er einen erschreckend menschlichen Schrei von sich.
Die kaiserliche Inselrundreise hatte schon vor mehr als acht Monaten begonnen. Kaiser Mapidéré verstand sehr wohl die Notwendigkeit, der unterworfenen Bevölkerung von Xana sichtbar die eigene Macht und Autorität in Erinnerung zu rufen, aber er war müde. Er sehnte sich zurück nach Pan, der Makellosen Stadt, seiner neuen Hauptstadt, wo er sich im Zoo und im Aquarium vergnügen konnte, in denen Tiere aus ganz Dara lebten – einschließlich ein paar exotischer Lebewesen, die Piraten von weit her als Tributzahlungen beigesteuert hatten. Er wünschte, endlich wieder die Mahlzeiten seines Lieblingskochs genießen zu können, statt die merkwürdigen Spezialitäten kosten zu müssen, die ihm die jeweilige Bevölkerung bei seinen Besuchen servierte – sicherlich die wertvollsten Delikatessen, die die Oberschicht der jeweiligen Stadt aufbringen und kredenzen konnte, aber es war mühsam, jeden einzelnen Bissen von einem Vorkoster prüfen lassen zu müssen, und natürlich waren die Gerichte meist zu fett oder zu scharf und schlugen ihm auf den Magen.
Aber vor allem war er gelangweilt. Hunderte Abendempfänge bei den lokalen Beamten und Würdenträgern verschmolzen zu einem einzigen Sumpf. Egal, wohin er auch kam, die Lehnseide und Treueschwüre klangen überall gleich. Manchmal hatte er das Gefühl, ganz allein in einem Theaterstück zu sitzen, das jeden einzelnen Abend wiederholt wurde, mit unterschiedlicher Besetzung und Bühnenbild, aber mit stets demselben Text.
Der Kaiser beugte sich vor: Dieser merkwürdige Vogel war das Interessanteste, was er seit Tagen zu Gesicht bekommen hatte.
Jetzt, da er näher gekommen war, konnte er mehr Einzelheiten erkennen. Es war … überhaupt kein Vogel.
Es war ein riesiger Drachen aus Papier, Seide und Bambus, nur dass er von keiner Schnur am Boden gehalten wurde. Unter dem Drachen – war das möglich? – hing ein Mann.
»Interessant«, sagte der Kaiser.
Der Hauptmann der Kaiserlichen Garde eilte die zierliche spiralförmige Treppe in der Pagode hinauf und nahm dabei zwei oder drei Stufen auf einmal. »Rénga, wir sollten Vorsichtsmaßnahmen treffen.«
Der Kaiser nickte.
Die Träger senkten die Thronpagode vorsichtig auf den Boden. Die Kaiserliche Garde blieb stehen. Bogenschützen stellten sich um die Pagode herum auf, und Schildsoldaten versammelten sich am Fuß der Konstruktion, um aus ihren großen, ineinandergreifenden Setzschilden einen Schutz zu bilden wie ein Schildkrötenpanzer. Der Kaiser klopfte seine Beine ab, um die steife Muskulatur wieder so weit zu lockern, dass er aufstehen konnte.
Die Menschen in der Menge spürten, dass das hier nicht zur Prozession gehörte. Sie reckten die Hälse und folgten der Richtung, in die die Pfeile der Bogenschützen zeigten.
Der merkwürdige schwebende Apparat war jetzt nur noch ein paar hundert Meter entfernt.
Der Mann, der an dem Drachen hing, zog an ein paar Schnüren, die neben ihm herunterhingen. In Sekundenschnelle faltete der Drachen-Vogel seine Schwingen zusammen und stürzte pfeilschnell auf die Thronpagode herunter. Der Mann gab ein Heulen von sich, einen langen, durchdringenden Schrei, der die Menge trotz der herrschenden Hitze erschauern ließ.
»Tod Xana und Mapidéré! Lang lebe der Große Haan!«
Bevor sich jemand rühren konnte, schoss der Drachenreiter einen Feuerball auf die Thronpagode. Der Kaiser starrte das Geschoss an, das auf ihn zukam, zu verblüfft, um sich zu rühren.
»Rénga!« Der Hauptmann der Kaiserlichen Garde war in Sekundenschnelle bei ihm. Er stieß den alten Mann vom Thron – eine schwere Sitzfläche aus Eisenholz, die mit Gold ummantelt war – und hob diesen dann mit einem Grunzen an,so dass er wie ein riesiger Setzschild wirkte. Das Geschoss explodierte daran und fiel in einzelnen brennenden Stücken herunter, nicht ohne zischende, flammende Klumpen öligen Talgs in alle Richtungen zu versprengen, die alles, was sie berührten, in Brand setzten. Unglückliche Tänzerinnen und Soldaten schrien, als die klebrige, brennende Flüssigkeit sie traf, und waren sofort von Flammenzungen umgeben.
Obwohl der schwere Thron die größte Wucht der Explosion vom Hauptmann der Garde und vom Kaiser selbst abgehalten hatte, hatten ein paar Flammen das Haar des Hauptmanns versengt und die rechte Seite seines Gesichts sowie seinen rechten Arm schwer verbrannt. Der Kaiser dagegen war zwar geschockt, aber unverletzt.
Der Hauptmann ließ den Thron wieder fallen, wand sich vor Schmerzen, beugte sich über die Seite der Pagode herunter und rief zu den erschrockenen Bogenschützen hinunter: »Feuer frei!«
Er verfluchte die absolute Disziplin, die er den Wachsoldaten eingeimpft hatte – jetzt führten sie nur noch Befehle aus, statt auf eigene Initiative zu handeln. Aber es war so lange her, dass es jemand gewagt hatte, einen Anschlag auf den Kaiser zu verüben, dass sich alle in Sicherheit gewiegt hatten. Er würde den Drill verbessern müssen – vorausgesetzt, er behielt seinen eigenen Kopf nach diesem Attentat.
Die Bogenschützen feuerten eine Salve ab. Der Attentäter zog an den Schnüren seines Drachen, faltete die Schwingen und drehte in einem engen Bogen bei, um auszuweichen. Wie schwarzer Regen fielen Pfeile vom Himmel. Die Menge schrie und drängte zurück, Zuschauer und Tänzerinnen waren nur noch ein panischer, chaotischer Haufen.
»Ich habe dir gesagt, dass das eine ganz schlechte Idee ist!« Rin sah sich voller Angst nach einem Schlupfwinkel um. Er jaulte auf und sprang zur Seite, um einem fallenden Pfeil auszuweichen. Neben ihm lagen zwei tote Männer, aus deren Rücken Pfeile ragten. »Ich hätte dich nie vor deinen Eltern bei der Lüge über die geschlossene Schule decken dürfen. Deine Pläne enden immer so, dass ich den ganzen Ärger bekomme! Los, lass uns abhauen!«
»Wenn du jetzt losrennst und in der Menge stolperst, wirst du totgetrampelt«, versetzte Kuni. »Außerdem, wie kannst du das hier bloß verpassen wollen?«
»Oh Götter, wir werden alle sterben!« Noch ein Pfeil fiel und blieb weniger als dreißig Zentimeter von ihnen entfernt im Boden stecken. Noch mehr Menschen stürzten und schrien im Pfeilregen.
»Noch sind wir nicht tot.« Kuni rannte auf die Straße und kehrte mit einem Schild zurück, den einer der Soldaten fallen gelassen hatte. »Duck dich!«, schrie er, zog Rin mit sich hinunter auf den Boden und hielt den Schild über ihre Köpfe. Ein Pfeil prallte mit einem dumpfen Geräusch dagegen.
»Rapa und Kana, b-be-beschützt mich!«, stotterte Rin mit fest zusammengekniffenen Augen. »Wenn ich das hier überlebe, will ich auch immer auf meine Mutter hören und nie mehr die Schule schwänzen, und ich will den uralten Weisen gehorchen und mich von Freunden mit Honigzungen fernhalten, die mich vom rechten Pfad abbringen …«
Aber Kuni spähte schon hinter dem Schild hervor.
Der Drachenreiter beugte seine Beine wie beim Schwimmen, daraufhin schlugen die Schwingen seines Drachen ein paar Mal schnell hintereinander. Der Drachen stieg nach oben und gewann an Höhe. Der Reiter zog an den Seilen, drehte in scharfem Bogen ab und flog erneut auf die Pagode zu.
Der Kaiser, der sich vom ersten Schreck erholt hatte, wurde inzwischen die Wendeltreppe heruntergeführt. Aber er befand sich erst auf halbem Weg zum Boden, gefangen in der Welt des Wassers, zwischen den Welten der Erde und des Feuers.
»Rénga, bitte vergebt mir!« Der Hauptmann der Kaiserlichen Garde bückte sich und hob den Körper des Kaisers hoch, schob ihn über die Seite der Pagode und ließ ihn fallen.
Die Soldaten am Boden hatten bereits ein großes, steifes Stück Stoff ausgebreitet. Der Kaiser landete darauf, hüpfte ein paar Mal auf und nieder, schien aber unverletzt.
In dem kurzen Moment, bevor der Kaiser unter dem Schutz der Schilde verschwand, konnte Kuni einen Blick auf ihn erhaschen. Die jahrelange Behandlung mit alchemistischer Medizin, mit der der Kaiser sein Leben zu verlängern hoffte, hatte verheerende Schäden in seinem Körper angerichtet. Obwohl er erst fünfundfünfzig Jahre zählte, sah er dreißig Jahre älter aus. Aber Kuni beeindruckten am meisten die Augen des alten Mannes, die unter schweren Lidern aus seinem runzligen Gesicht schauten. Augen, in denen für einen winzigen Moment Überraschung und Angst aufgeglommen waren.
Das Geräusch des hinter ihnen herangleitenden Drachen klang wie rauher Stoff, der entzweiriss. »Runter!« Kuni stieß Rin auf den Boden und ließ sich auf seinen Körper fallen, dabei zog er den Schild über ihre Köpfe. »Tu so, als wärst du eine Schildkröte.«
Rin versuchte, sich unter Kuni so dicht wie möglich an die Erde zu schmiegen. »Ich wünschte, es täte sich ein Graben auf, in den ich kriechen könnte.«
Noch mehr brennender Talg explodierte um die Thronpagode herum. Einige Klumpen trafen die Fläche aus Schilden, unter denen die Soldaten kauerten, und als der glühende Talg durch die Ritzen zwischen ihnen tropfte, schrien die Männer vor Schmerzen, hielten aber ihre Position. Auf Befehl der Offiziere hoben sie gleichzeitig die Schilde und hielten sie schräg, um den brennenden Talg abgleiten zu lassen, wie ein Krokodil, das seine Schuppen sträubt, um überschüssiges Wasser loszuwerden.
»Ich glaube, jetzt ist es sicher«, sagte Kuni. Er schob den Schild zur Seite und ließ sich von Rin heruntergleiten.
Rin setzte sich langsam auf und sah seinem Freund verständnislos zu. Kuni rollte über den Boden, als ob er im Schnee herumtollte – wie konnte Kuni jetzt nur ans Spielen denken?
Dann sah er, dass Rauch von Kunis Kleidung aufstieg. Er jaulte auf und eilte zu ihm, um ihm dabei zu helfen, die Flammen zu löschen. Er schlug auf Kunis weites Gewand mit den langen Ärmeln ein.
»Danke, Rin«, sagte Kuni. Er setzte sich auf und versuchte zu lächeln, brachte aber nur ein Zucken der Mundwinkel zustande.
Rin musterte Kuni genauer: Ein paar Tropfen brennenden Fettes waren auf seinem Rücken gelandet. Durch die rauchenden Löcher im Stoff konnte Rin erkennen, dass das Fleisch roh, verkohlt und blutig war.
»Oh Götter! Tut es weh?«
»Nur ein bisschen«, erwiderte Kuni.
»Wenn du nicht auf mir gelegen hättest…« Rin schluckte. »Kuni Garu, du bist ein echter Freund.«
»Eh, keine Ursache«, sagte Kuni. »Wie der Weise Kon Fiji sagt: Man sollte immer – autsch! – bereit sein, jemandem ein Messer zwischen die Rippen zu rammen, wenn man damit einem Freund hilft.« Er versuchte, es ein wenig angeberisch klingen zu lassen, aber der Schmerz ließ seine Stimme zittern. »Siehst du, Meister Loing hat mir doch etwas beigebracht.«
»Daran erinnerst du dich? Aber das ist nicht von Kon Fiji. Du zitierst einen Banditen, der mit Kon Fiji streitet.«
»Wer sagt, dass Banditen nicht auch ihre Tugenden haben?«
Das Geräusch schlagender Flügel unterbrach sie. Die Jungen sahen auf. Langsam, elegant, wie ein Albatros, der über das Meer fliegt, schlug der Drachen mit den Schwingen, erhob sich, beschrieb einen weiten Kreis und startete einen dritten Angriff auf die Thronpagode. Der Reiter wirkte eindeutig erschöpft und flog nicht mehr so hoch. Der Drachen glitt sehr nah am Boden entlang.
Ein paar Schützen schafften es, Löcher in die Schwingen des Drachen zu reißen, und ein paar Pfeile trafen sogar den Reiter. Doch dessen dicker Lederpanzer schien verstärkt zu sein, so dass die Pfeile nur kurz im Leder hängenblieben, bevor sie zu Boden fielen, ohne Schaden angerichtet zu haben.
Erneut faltete der Drachenreiter die Schwingen seines Fluggerätes, gewann an Höhe und beschleunigte, um wie ein Eisvogel auf Beutezug auf die Thronpagode niederzustürzen.
Die Bogenschützen schossen einen wahren Pfeilhagel auf den Attentäter ab, aber der achtete gar nicht darauf und hielt den Kurs. Flammende Geschosse explodierten an den Mauern der Thronpagode. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich die Konstruktion aus Seide und Bambus in einen Feuerturm.
Aber der Kaiser war nun sicher unter den Schilden der Soldaten verborgen, und immer mehr Bogenschützen versammelten sich um seinen Schlupfwinkel. Der Attentäter erkannte, dass seine Beute unerreichbar war.
Statt noch mehr Feuerbomben abzuwerfen, lenkte er seine Maschine gen Süden, fort von der Prozession, und stieß mit letzter Kraft mit den Beinen, um wieder an Höhe zu gewinnen.
»Er fliegt in Richtung Zudi«, sagte Rin. »Glaubst du, dass jemand zu Hause ihm geholfen hat?«
Kuni schüttelte den Kopf. Als der Drachen direkt über ihn und Rin hinweggeflogen war, hatte er für einen Moment mit seinen Schwingen die heiße Sonne verdeckt. Kuni hatte erkannt, dass der Reiter ein junger Mann war, der noch nicht einmal die dreißig erreicht hatte. Er hatte die dunkle Haut und die langen Glieder der Männer von Haan aus dem Norden. Für den Bruchteil einer Sekunde hatten sich sein und Kunis Blick getroffen, und Kunis Herz war ganz aufgewühlt von der wilden Leidenschaft und zielgerichteten Intensität, die in jenen leuchtend grünen Augen gelegen hatte.
»Er hat dem Kaiser Angst eingejagt«, sagte Kuni wie zu sich selbst. »Der Kaiser ist auch nur ein Mensch.« Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Bevor Rin seinen Freund zum Schweigen bringen konnte, glitten riesige schwarze Schatten über sie. Die Jungen sahen zum Himmel hinauf und erkannten noch mehr Gründe für den Rückzug des Drachenreiters.
Sechs elegante Luftschiffe, jedes von ihnen etwa neunzig Meter lang, der ganze Stolz der kaiserlichen Luftstreitkräfte, schwebten über ihnen. Die Luftschiffe hatten die Spitze der kaiserlichen Prozession gebildet, um einen Überblick über die Umgebung zu gewinnen und gleichzeitig die Zuschauer zu beeindrucken. Es hatte daher eine Weile gedauert, bevor die Männer am Steuerruder die Schiffe wenden und dem Kaiser zu Hilfe kommen konnten.
Der Drachen wurde immer kleiner. Die Luftschiffe flogen behäbig hinter dem fliehenden Attentäter her, ihre riesigen, gefiederten Ruder schlugen durch die Luft wie die Flügel fetter Gänse, die nur mit Mühe vom Boden abheben. Der Drachenreiter war schon zu weit entfernt für die Bogenschützen des Luftschiffes und für die Kriegsdrachen, die vom Boden aus an Seilen geführt wurden. Sie würden die Stadt Zudi erst erreichen, wenn der wendige Mann längst gelandet und in den Gassen verschwunden war.
Der Kaiser, der im dämmrigen Schatten seines Schild-Unterschlupfs kauerte, war zornig, doch sein Gesichtsausdruck war ruhig. Das hier war nicht der erste Anschlag auf ihn, und es würde nicht der letzte sein; nur dass dieser beinahe Erfolg gehabt hätte.
Er gab seinen Befehl in vollkommen ausdruckslosem und unerbittlichem Ton.
»Findet diesen Mann. Selbst wenn Ihr jedes einzelne Haus in Zudi filzen und die Anwesen aller Adeligen in Haan niederbrennen müsst – führt ihn mir vor.«
MATA ZYNDU
Nur wenige hätten erraten, dass der Mann, der die lärmende Menge an der Ecke des Marktplatzes von Farun bei weitem überragte, nur ein Junge von vierzehn Jahren war. Die Städter, die sich auf dem Platz drängten, hielten sich respektvoll von Mata Zyndus knapp zwei Meter dreißig großer, muskelgestählter Gestalt fern.
»Sie haben Angst vor dir«, sagte der Onkel des Jungen, Phin Zyndu, und in seiner Stimme schwang ein gewisser Stolz mit. Er sah zu Mata auf und seufzte. »Ich wünschte, dein Vater und Großvater könnten dich heute sehen.«
Der Junge nickte, erwiderte aber nichts und schaute über die wogende Menge hinweg wie ein Kranich über ein Sandvipern-Gezücht. Die meisten Einwohner von Cocru hatten braune Augen, Matas Augen jedoch waren schwarz wie Kohlen, und jedes von ihnen hatte zwei Pupillen, in denen ein schwaches Licht glomm – ein seltenes Erbe, das viele für ein Zeichen hielten.
Diese Augen mit den doppelten Pupillen erlaubten ihm, schärfer und weiter zu sehen als die meisten Menschen. Jetzt schweifte sein Blick zum Horizont und blieb am schlanken, dunklen Steinturm hängen, der Richtung Norden vor der Stadt aufragte. Man hatte ihn direkt am Meer errichtet, so dass er wie ein Dolch aussah, den man in das felsige Ufer gerammt hatte. Mata konnte die großen Bogenfenster ganz oben am Turm ausmachen. Ihre Rahmen waren kunstvoll mit Schnitzereien verziert, die die Zwillingsraben darstellten, schwarz und weiß. Ihre Schnäbel berührten sich am Scheitel des Bogens und hielten eine Steinchrysantheme mit tausend Blütenblättern.
Es war der Hauptturm des Schlosses, das seit ewigen Zeiten dem Zyndu-Clan gehörte. Doch der jetzige Besitzer hieß Datun Zatoma, Kommandant der Xana-Garnison, die Farun bewachte. Mata Zyndu hasste die Vorstellung, dass dieser gewöhnliche Bürger, der nicht einmal ein Krieger, sondern nur ein schlichter Schriftgelehrter war, jetzt in den uralten Hallen hockte, die von Rechts wegen seiner Familie gehörten.
Mata riss seinen Blick los und beugte sich zu Phin hinunter: »Ich will näher heran«, raunte er.
Die kaiserliche Prozession war gerade vom südlichen Teil der Großen Insel über das Meer in Tunoa angekommen, und es gab Gerüchte, dass der Kaiser einen Attentatsversuch in der Nähe von Zudi überlebt hätte. Mata und Phin bahnten sich ihren Weg durch die Menge, die sich wie die Wellen vor dem Bug eines Schiffes vor ihnen teilte.
Sie blieben kurz vor der ersten Reihe stehen. Mata hockte sich hin, um nicht zu hoch über seinem Onkel aufzuragen und damit die Aufmerksamkeit der Kaiserlichen Garden auf sich zu ziehen.
»Sie sind da!«, rief die Menge. Luftschiffe brachen aus den Wolken am Horizont, und die Spitze der Thronpagode erschien.
Die Städter jubelten den schönen Tänzerinnen zu und applaudierten den kühnen Soldaten, aber Mata Zyndu hielt nur nach Kaiser Mapidéré Ausschau. Endlich würde er das Gesicht seines Feindes sehen.
Soldaten standen mit gespannten Bögen und gezogenen Schwertern Schulter an Schulter auf der Pagode. Der Kaiser saß in ihrer Mitte, und die Schaulustigen konnten nur hin und wieder einen kurzen Blick auf sein Gesicht erhaschen.
Mata hatte sich einen alten Mann vorgestellt, der vor lauter Bequemlichkeit schon weich und fett geworden war, aber stattdessen erblickte er eine hagere Gestalt mit ausdruckslosem Blick.
Wie einsam er ist, dort oben in seiner unvergleichlichen Pracht.
Und wie ängstlich.
Phin und Mata sahen sich an. Jeder erkannte im Blick des anderen dieselbe Mischung aus Leid und glühendem Hass. Phin musste nichts sagen. Mata hatte die Worte seines Onkels jeden einzelnen Tag seines Lebens gehört:
Du darfst niemals vergessen.
Als Kaiser Mapidéré noch der junge König von Xana war und seine Armee die bröckelnden Streitkräfte der Sechs Staaten einen nach dem anderen zu Wasser, zu Lande und in der Luft besiegte, hatte ihm nur ein Mann im Weg gestanden: Dazu Zyndu, Herzog von Tunoa und Marschall von Cocru.
Die Zyndus entstammten einer langen Linie großer Cocru-Generäle. Doch als junger Mann war Dazu dünn und kränklich. Sein Vater und sein Großvater beschlossen, ihn in den Norden zu schicken, weit fort vom Familienlehensgut auf den Tunoa-Inseln, damit er unter dem legendären Schwertkampfmeister Médo lernte – auf den nebelverhangenen kleinen Inseln am anderen Ende von Dara, die man »Seidenraupen-Eier« nannte.
Nach einem einzigen Blick auf Dazu sagte Médo: »Ich bin zu alt, und du bist zu klein. Ich habe die Ausbildung meines letzten Schülers schon vor Jahren beendet. Lass mich in Frieden.«
Aber Dazu ging nicht. Er kniete zehn Tage und Nächte vor Médos Haus und nahm nichts anderes zu sich als Regenwasser. Am elften Tag brach Dazu zusammen. Médo war beeindruckt von Dazus Hartnäckigkeit und nahm ihn als seinen Schüler auf.
Aber statt den jungen Mann in der Kunst des Schwertkampfes zu unterweisen, ließ Médo Dazu nur als Knecht für seine kleine Rinderherde sorgen. Dazu beklagte sich nicht. Der junge Mann folgte der Herde in den kalten, felsigen Bergen überall hin und hielt nach Wölfen Ausschau, die sich im Nebel verbargen. In der Nacht legte er sich zwischen die leise muhenden Rinder.
Als im Frühling ein Kalb zur Welt kam, befahl Médo seinem Schüler, das Neugeborene jeden Morgen zum Wiegen in sein Haus zu bringen, damit sich das Kälbchen nicht die Beine an den scharfen Steinen verletzte. Das bedeutete, dass Dazu viele Meilen wandern musste. Zu Beginn waren diese Wanderungen leicht, aber je schwerer das Kalb wurde, desto mühseliger wurden sie.
»Das Kalb kann inzwischen recht gut selbst gehen«, wandte Dazu eines Tages ein. »Es stolpert nicht mehr.«
»Aber ich habe dir befohlen, es hierher zu tragen«, erwiderte sein Lehrer. »Das Erste, was ein Krieger lernen muss, ist, Befehle zu befolgen.«
Jeden Tag wurde das Kalb ein wenig schwerer, und jeden Tag musste sich Dazu ein wenig mehr anstrengen. Wenn er endlich bei der Farm ankam, brach er erschöpft zusammen, und das Kalb wand sich aus seinen Armen, froh, sich endlich strecken und selbst laufen zu dürfen.
Als es erneut Winter wurde, gab Médo ihm ein hölzernes Schwert und befahl ihm, so hart wie möglich auf die Übungspuppe einzuschlagen. Dazu schaute verächtlich auf die grobe Waffe, die keine Klinge besaß, hieb aber gehorsam auf die Puppe ein.
Die hölzerne Figur fiel in zwei Teile auseinander, sauber durchschlagen. Erstaunt starrte er das Holzschwert an.
»Es ist nicht das Schwert«, sagte sein Lehrer. »Hast du dich in letzter Zeit einmal angesehen?« Er schob Dazu vor einen auf Hochglanz polierten Schild.
Der junge Mann erkannte sein Spiegelbild kaum wieder. Seine Schultern füllten den gesamten Schild aus. Seine Arme und Schenkel waren doppelt so dick, wie er sie in Erinnerung hatte, und die Brust wölbte sich über seiner schmalen Taille.
»Ein großer Krieger traut nicht seinen Waffen, sondern nur sich selbst. Wenn du wahre Stärke besitzt, kannst du einen tödlichen Schlag austeilen, selbst wenn du nichts weiter als einen Grashalm als Waffe besitzt. Jetzt bist du endlich bereit, von mir zu lernen. Aber erst bedanke dich beim Kalb, dass es dich so stark gemacht hat.«
Dazu Zyndu war auf dem Schlachtfeld unübertroffen. Während die Heere der anderen Tiro-Staaten eines nach dem anderen unter dem Ansturm der wilden Horden aus Xana fielen, hielten die Männer von Cocru unter der Führung von Herzog Zyndu den Angriffen stand wie ein starker Damm einer tobenden Flut.
Weil seine Truppen in der Unterzahl waren, verteilte Herzog Zyndu sie strategisch in Forts und Garnisonen in ganz Cocru. Immer wenn Xana einen neuen Übergriff startete, wies er seine Männer an, den Hohn und Spott der Xana-Befehlshaber zu überhören und hinter den Mauern zu bleiben, wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzieht.
Aber immer wenn die Armee von Xana an diesen gut bewachten Forts und Städten vorbeimarschieren wollte, schossen die Verteidiger aus ihren Festungen wie Muränen aus ihren geheimen Höhlen und griffen grausam von hinten an, um die Versorgungslinien der Truppen zu kappen. Obwohl Gotha Tonyeti, der große General von Xana, viel mehr Männer und bessere Ausrüstung zu seiner Verfügung hatte als Herzog Zyndu, hielt ihn Zyndus Taktik auf, und er konnte nicht weiter vordringen.
Tonyeti nannte Zyndu »Die bärtige Schildkröte«. Er meinte es als Beleidigung, aber Dazu lachte nur und übernahm den Spitznamen mit Stolz.
Da er auf dem Feld keinen Boden gutmachen konnte, verlegte sich Tonyeti auf Listen. Er verbreitete Gerüchte über Herzog Zyndus Ehrgeiz in Çaruza, der Hauptstadt von Cocru.
»Warum greift Herzog Zyndu Xana nicht an, sondern versteckt sich nur hinter Steinmauern?«, flüsterten sich die Leute zu. »Die Armee von Xana ist Cocrus Macht klar unterlegen, und dennoch zögert der Herzog und lässt die Angreifer unsere Felder besetzen. Vielleicht ist der Herzog ein heimliches Bündnis mit Gotha Tonyeti eingegangen, und Tonyeti tut nur so, als ob er angreift. Kann es sein, dass sie planen, den König zu stürzen und an seiner statt Herzog Zyndu einzusetzen?«
Der König von Cocru wurde misstrauisch und befahl Herzog Zyndu, seine Verteidigungsposition zu verlassen und gegen Tonyeti auf dem Feld zu kämpfen. Dazu Zyndu erklärte ihm, warum das ein Fehler wäre, aber seine Argumente machten den König nur noch misstrauischer.
So blieb Dazu Zyndu keine Wahl. Er legte seine Rüstung an und führte seine Männer ins Feld. Tonyetis Streitkräfte schienen unter dem Angriff der schrecklichen Krieger von Cocru dahinzuschmelzen. Die Truppen von Xana fielen immer weiter zurück, bis unter ihnen das totale Chaos ausbrach.
Der Herzog verfolgte den besiegten Tonyeti bis in ein tiefes Tal, wo der Xana-General im dunklen Wald verschwand. Plötzlich tauchten Xana-Truppen auf, fünf Mal so viele Männer, wie Zyndu bei sich hatte. Zyndu war in einen Hinterhalt geraten, sein Rückzug war abgeschnitten. Er begriff, dass man ihn in eine Falle gelockt hatte und dass er nichts anderes tun konnte, als sich zu ergeben.
Dazu Zyndu handelte mit Tonyeti die Sicherheit seiner Soldaten als Kriegsgefangene aus und nahm sich dann das Leben, denn er fühlte sich nicht imstande, mit der Schande der Kapitulation weiterzuleben. Gotha Tonyeti aber brach das Versprechen, das er seinem Gegner gegeben hatte, und ließ die besiegten Cocru-Soldaten lebendig begraben.
Drei Tage später fiel Çaruza.
Mapidéré beschloss, ein Exempel am Zyndu-Clan zu statuieren, der ihm so lange Widerstand geleistet hatte. Jedes männliche Mitglied des Zyndu-Clans bis ins dritte Glied wurde getötet, die Frauen in die Indigo-Häuser verkauft. Dazu Zyndus ältester Sohn Shiru wurde in Çaruza bei lebendigem Leibe gehäutet, und Tonyetis Männer zwangen die Einwohner der Hauptstadt, zuzusehen und Stücke von seinem Fleisch zu essen, um so ihre Treue zu Xana zu beweisen. Dazus Tochter Soto verbarrikadierte sich und ihre Diener auf ihrem Landsitz und legte Feuer daran, um dem weit schlimmeren Schicksal zu entgehen, das sie erwartete. Die Flammen wüteten einen ganzen Tag und eine Nacht lang, als ob die Göttin Kana ihre Trauer zeigen wollte, und die Hitze war so stark, dass später nicht einmal mehr Sotos Gebeine in den Überresten gefunden wurden.
Dazus jüngster Sohn, der dreizehnjährige Phin, entkam für mehrere Tage der Gefangenschaft, indem er sich in dem Labyrinth lichtloser Vorratsräume und Tunnel im Keller des Familienschlosses der Zyndu versteckte. Aber schließlich fingen ihn Tonyetis Soldaten, als er versuchte, sich in die Küche zu schleichen, um einen Schluck Wasser zu stehlen. Die Soldaten zerrten den jungen Mann vor den großen General.
Tonyeti sah den Jungen an, der vor ihm kniete, zitternd und schluchzend vor Angst, und lachte.
»Es wäre eine Schande, dich zu töten«, sagte er mit seiner dröhnenden Stimme. »Wenn du dich wie ein Hase versteckst, statt wie ein Wolf zu kämpfen, wie willst du deinem Vater und Bruder nach deinem Tode gegenübertreten? Du hast nicht einmal ein Zehntel des Mutes deiner Schwester. Ich werde dich wie den Säugling deines Bruders behandeln, weil du dich ebenso verhältst.«
Gegen Mapidérés Befehl hatte Tonyeti Shirus neugeborenen Sohn verschont. »Die Edlen müssen sich besser benehmen als die Bauern«, hatte er gesagt, »selbst im Krieg.«
Und so ließen Tonyetis Soldaten Phin frei, und der bloßgestellte Junge stolperte aus dem Familienschloss mit Mata, dem neugeborenen Sohn seines Bruders in den Armen.
Was sollte er jetzt tun, da man ihm seinen Titel, sein Zuhause und seinen Clan genommen hatte, da sein angenehmes Leben voller Wohlstand und Annehmlichkeiten wie ein Traum zerplatzt war?
Am äußersten Tor des Schlosses hob Phin eine rote Flagge vom Boden auf: angesengt, schmutzig, aber die gestickte goldene Chrysantheme, das Wappen des Zyndu-Clans, noch gut erkennbar. Er wickelte Mata darin ein, ein dürftiger Schutz gegen die kalte Winterluft, und hob ein Eckchen des Stoffes an, um das Gesicht des Babys freizulegen.
Baby Mata blinzelte und sah ihn mit zwei Pupillen in jedem schwarzen Auge an. Ein schwaches Licht glomm in ihnen.
Phin sog scharf die Luft ein. Die uralten Ano sagten, dass jene, die mit doppelten Pupillen gesegnet waren, die besondere Aufmerksamkeit der Götter genossen. Die meisten dieser Kinder waren von Geburt an blind. Selbst kaum mehr als ein Kind, hatte Phin dem schreienden Bündel, das sein Neffe war, nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt bemerkte er zum ersten Mal Matas Besonderheit.
Phin wedelte mit der Hand vor dem Gesicht des Babys, um sicherzugehen, dass es nicht blind war. Matas Augen bewegten sich nicht, aber dann drehte das Baby den Kopf und sah Phin direkt in die Augen.
Unter jenen mit den doppelten Pupillen hatten einige wenige die Sehkraft eines Adlers, und es hieß, sie seien zu Großem bestimmt.
Erleichtert drückte Phin das Baby an sich, gegen sein hämmerndes Herz, und dann fiel eine Träne, so heiß wie Blut, aus seinen Augen auf Matas Gesicht. Das Baby begann zu weinen.
Phin beugte sich zu ihm hinunter und berührte mit seiner Stirn die des Babys. Das beruhigte das Kind. Phin flüsterte: »Wir haben nur noch einander. Lass niemals in Vergessenheit geraten, was unserer Familie angetan wurde. Du darfst niemals vergessen.«
Das Baby schien zu verstehen. Es strampelte, um seine winzigen Ärmchen aus dem Stoff der Flagge zu befreien, hob sie zu Phin und ballte die Fäustchen.
Phin hob sein Gesicht gen Himmel und lachte in den fallenden Schnee. Dann bedeckte er das Gesicht des Babys vorsichtig mit dem Stoff und ließ das Schloss hinter sich.
Matas Stirnrunzeln erinnerte Phin an Dazu Zyndus ernste Miene, wenn er tief in Gedanken versunken war. Matas Lächeln war das Abbild von Sotos Lächeln, dem Lächeln Phins toter Schwester, und es erinnerte ihn daran, wie sie als Kind lachend durch den Garten gerannt war. Wenn Mata schlief, war sein Gesicht ebenso ruhig und entspannt wie das von Phins älterem Bruder Shiru, der Phin immer ermahnt hatte, geduldiger zu sein.
Phin sah Mata an und verstand, warum man ihn verschont hatte. Der kleine Junge war die letzte und hellste Chrysanthemenblüte an der Spitze des edlen Stammbaumes, den viele Generationen des Zyndu-Clans bildeten. Phin gelobte Kana und Rapa, den Zwillingsgöttinnen von Cocru, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Mata aufzuziehen und zu beschützen.
Und er würde sein Herz kalt und sein Blut heiß werden lassen, genau wie die eisige Rapa und die feurige Kana. Um Matas Willen würde er lernen, hart und scharf zu sein statt verwöhnt und weich. Selbst ein Hase kann in der Rache zum Wolf werden.
Phin war auf die Almosen einzelner Familien angewiesen, denen die Überlebenden des Zyndu-Clans leidtaten, bis er zwei Diebe tötete, die auf einem Feld schliefen, und ihnen ihre Beute abnahm. Mit dem Geld kaufte er eine kleine Farm vor Farun. Dort unterwies er Mata im Fischen, in der Jagd und im Schwertkampf, nachdem er sich diese Fähigkeiten mit der ausgesprochen schmerzhaften Versuch-und-Irrtum-Methode selbst beigebracht hatte: Als er zum ersten Mal einen Hirsch schoss, musste er sich beim Anblick des Blutes übergeben; als er zum ersten Mal ein Schwert schwang, schlug er sich beinahe den eigenen Fuß ab. Er verfluchte es immer und immer wieder, dass er in seinem früheren müßigen Leben im Nichtstun geschwelgt und nichts Nützliches gelernt hatte.
Das Gewicht der Verantwortung ließ ihn schon im Alter von fünfundzwanzig Jahren ergrauen. Oft saß er nachts allein vor seiner Hütte, wenn sein kleiner Neffe endlich eingeschlafen war. Die Erinnerung an seine Schwäche vor so vielen Jahren verfolgte ihn noch immer; er grübelte, ob er genug tat, ob er überhaupt in der Lage war, genug zu tun, den Mut und die Kraft und vor allem die Sehnsucht nach Ruhm an seinen Neffen weiterzugeben, die sein Geburtsrecht waren.
Dazu und Shiru hatten nicht gewollt, dass der zarte Phin den Kriegspfad beschritt. Sie hatten Phins Liebe zur Literatur und Kunst gefördert, und jetzt sah man ja, wohin ihn das gebracht hatte. In dem Moment, in dem die Familie ihn gebraucht hatte, war Phin machtlos gewesen, er war ein Feigling, der Schande über den Clan brachte.
Also versuchte er die Erinnerung an die freundlichen Worte von Shiru und die Zärtlichkeit von Dazu zu vergessen. Stattdessen bereitete er Mata eine Kindheit, von der er glaubte, dass sein Vater und Bruder sie sich für den Jungen gewünscht hätten. Wenn sich Mata weh tat, so wie es alle Kinder tun, zwang Phin sich dazu, dem Jungen jeden Trost zu verwehren, bis Mata lernte, dass Weinen zu nichts führte. Wenn sich Mata mit einem anderen Jungen aus der Stadt raufte, bestand Phin darauf, dass er so lange weiterkämpfte, bis er als Sieger aus der Prügelei hervorging. Phin ließ ihm nicht die kleinste Schwäche durchgehen und brachte Mata bei, jeden Streit freudig als Gelegenheit wahrzunehmen, sich zu beweisen.
Über die Jahre vergrub und verbarg Phin seine von Natur aus freundliche Seele so tief in der Rolle, die er sich selbst auferlegte, dass er schließlich nicht mehr wusste, wo die Familienlegende endete und sein eigenes Leben begann.
Aber einmal, als der fünfjährige Mata mit einer Krankheit rang, die sein Leben bedrohte, konnte der Junge durch einen Riss in der harten Schale seines Onkels spähen.
Mata war aus einem fiebrigen Schlaf erwacht und sah, dass sein Onkel weinte. Das hatte der Junge noch nie gesehen, und er glaubte, dass er immer noch träumte. Phin umarmte Mata fest – noch etwas, das dem Kind vollkommen fremd war – und murmelte Dankesworte an Kana und Rapa. »Du bist ein Zyndu«, sagte er, wie er es oft tat. »Du bist stärker als alle anderen.« Aber dann fügte er mit einer zärtlichen und seltsamen Stimme hinzu: »Du bist alles, was ich habe.«
Mata konnte sich an seinen richtigen Vater nicht erinnern, und Phin war sein Vater, sein Held. Von Phin lernte er, dass der Name Zyndu heilig war. Sie gehörten zu einer edlen Familie, reich an Ruhm, deren Blut von den Göttern gesegnet war, Blut, das vom Kaiser vergossen und daher gerächt werden musste.
Phin und Mata verkauften die Pelze gejagter Tiere in der Stadt. Phin suchte überlebende Gelehrte, Freunde der Familie und Bekannte auf. Einige von ihnen hatten heimlich uralte Bücher beiseitegeschafft, geschrieben in den alten Schriftzeichen, die es nur in Cocru gab und die vom Kaiser verboten worden waren, und Phin lieh sie sich oder ertauschte sie, um Mata lesen und schreiben zu lehren.
Aus diesen Büchern und aus seiner Erinnerung erzählte Phin Mata Legenden aus Cocrus kriegerischer Vergangenheit und aus der ruhmreichen Geschichte des Zyndu-Clans. Mata träumte davon, es seinem Großvater nachzutun und seinen ererbten Heldenmut zu beweisen. Er aß nur Fleisch und badete ausschließlich in eiskaltem Wasser. Weil er kein lebendes Kalb mehr hatte, das er umhertragen konnte, bot er den Fischern am Kai jeden Tag seine Hilfe beim Entladen des Fangs an (und verdiente dabei ein paar Münzen). Er füllte kleine Säcke mit Steinen und band sie um Taille und Fußgelenke, um sich zu kräftigen. Wenn es zwei Wege zu ein und demselben Ziel gab, wählte er den längeren und anstrengenderen. Wenn es zwei Arten gab, wie man etwas tun konnte, wählte er die härtere und schwierigere. Als er zwölf war, konnte er den riesigen Kessel vor dem Tempel in Farun bis über seinen Kopf heben.
Mata hatte nicht viel Zeit zum Spielen, daher schloss er keine Freundschaften von Bedeutung. Er schätzte es, die edlen Künste erlernen zu dürfen, die sich sein Onkel mit so viel harter Arbeit angeeignet hatte. Aber Mata hatte wenig Verwendung für Gedichte. Stattdessen liebte er Bücher über Geschichte und Militärstrategie. Aus ihnen lernte er viel über die goldene Vergangenheit, die es längst nicht mehr gab, und begriff schließlich, dass sich Xanas Sünden nicht nur auf das beschränkten, was man seiner Familie angetan hatte. »Mapidérés Große Eroberung hat die Welt in ihren Grundfesten zerstört«, sagte Phin ihm wieder und wieder.
Der Ursprung des alten Tiro-Systems verlor sich in den Nebeln der Vergangenheit. Es ging die Legende, dass die Inseln von Dara vor vielen Jahrhunderten von einem Volk besiedelt waren, das sich selbst die Ano nannte, Flüchtlinge, die von einem versunkenen Kontinent weit jenseits der Meere des Westens gekommen waren. Kaum hatten sie die Barbaren besiegt, die ursprünglich auf der Insel gelebt hatten und von denen einige durch Heirat selbst zu Ano wurden, fingen sie an, sich gegenseitig zu bekämpfen. Ihre Nachkommen teilten sich über viele Generationen und Kriege in verschiedene Staaten auf.
Einige Gelehrte behaupteten, dass der große Gesetzgeber Aruano das Tiro-System als Reaktion auf die wilden Kriege zwischen den Staaten geschaffen hatte. Das Wort tiro bedeutete im klassischen Ano wörtlich »Gefährte«, und das grundlegende Prinzip des Systems war, dass jeder Tiro-Staat jedem anderen Tiro-Staat ebenbürtig war; kein Staat hatte irgendeine Autorität über die anderen. Erst wenn ein Staat einen Fehltritt beging, der die Götter beleidigte, durften sich die anderen Staaten gegen ihn zusammenschließen, und der Anführer dieser vorübergehenden Allianz durfte den Titel Prinzeps tragen, erster tiro unter Gleichen.
Die Sieben Staaten hatten länger als tausend Jahre nebeneinander existiert, und hätte es diesen Tyrannen aus Xana nicht gegeben, hätten sie auch noch weitere tausend Jahre überlebt. Die Könige der Tiro-Staaten waren die höchsten weltlichen Autoritäten, die Anker, an denen die Sieben Großen Ketten des Seins hingen. Sie gaben ihren Adeligen Land zu Lehen, die wiederum den Frieden in ihrem Gebiet bewahrten und es wie einen winzigen Tiro-Staat verwalteten. Jeder Kleinbauer zahlte seine Steuern und arbeitete für einen Herrn, und jeder Herr für seinen Herrn, und so fügten sich die Glieder der Ketten ineinander bis ganz nach oben.
Die Weisheit des Tiro-Systems lag auf der Hand, denn es spiegelte die natürlichen Verhältnisse wider. In den uralten Wäldern von Dara stand jeder große Baum wie ein Tiro-Staat unabhängig von den anderen. Kein Baum herrschte über den anderen. Aber dennoch bestand jeder Baum aus Zweigen, und jeder Zweig aus Blättern, ebenso wie jeder König seine Kraft von seinen Edlen bekam, und jeder Edle von seinen Bauern. Ebenso verhielt es sich mit den Inseln von Dara, von denen jede einzelne aus kleinen Inselchen und Lagunen, aus Buchten und Meerbusen bestand. Das Prinzip unabhängiger Einheiten, die jeweils aus winzigen Kopien ihrer selbst bestanden, konnte man in Korallenriffen, in Fischschwärmen, in den schwimmenden Seetangwäldern, in Kristallen und in der Anatomie der Tiere wiederfinden. Es war die Ordnung des Universums, die allem unterlag, ein Muster – wie Kette und Schuss im groben Stoff, den die Weber von Cocru herstellten –, gewoben aus den horizontalen Linien gegenseitigen Respekts unter Gleichen und vertikalen Linien der Verpflichtung gegenüber den Untergebenen einerseits und Lehenstreue gegenüber den Übergeordneten andererseits. Jeder kannte seinen Platz.
Kaiser Mapidéré hatte all das zerstört, es einfach weggewischt wie die Armeen der Sechs Staaten, wie das fallende Laub im Herbst. Ein paar der alten Edlen, die sich beizeiten ergaben, durften ihre bedeutungslosen Titel behalten, einige von ihnen sogar ihre Schlösser und ihr Vermögen, aber das war auch alles. Ihre Ländereien gehörten ihnen nicht mehr, weil jetzt das gesamte Land dem Reich von Xana gehörte und damit dem Kaiser selbst. Während früher jeder Fürst in seinem Gebiet Gesetzgeber war, gab es nun nur noch ein Gesetz, das auf allen Inseln galt.
Während die Schriftgelehrten jedes einzelnen Tiro-Staates früher mit ihren eigenen Schriftzeichen schrieben und die Zyndari-Buchstaben auf ihre Weise und in ihrer Tradition ordneten, musste jetzt jeder die Xana-Schrift benutzen. Während früher jeder Tiro-Staat seine eigenen Gewichts- und Maßeinheiten hatte, seine eigene Art, die Welt zu sehen und zu beurteilen, musste jetzt jeder Staat die Straßen so breit anlegen, dass die Wagen der Makellosen Stadt Pan darauf fahren konnten, und ihre Kisten so groß, dass sie auf ein Schiff aus dem Hafen von Kriphi passten, der ehemaligen Hauptstadt von Xana.
Alle Loyalitäten, alle Beziehungen wurden durch die Treue zum Kaiser ersetzt. Anstelle der Ergebenheit den alten Edlen gegenüber hatte der Kaiser eine Pyramide kleinlicher Bürokraten gesetzt – gewöhnliche Bürger, die kaum die Schriftzeichen ihrer eigenen Namen beherrschten und die alles in Zyndari-Buchstaben schreiben mussten. Statt die Besten regieren zu lassen, hatte der Kaiser den Feigen, Gierigen, Dummen und Niedrigen zur Macht verholfen.
In dieser neuen Welt gab es die alte Lebensordnung nicht mehr. Niemand wusste, wo er hingehörte. Gewöhnliche Bürger lebten in Schlössern, während die Edlen sich in zugigen Hütten drängten. Die Sünden des Kaisers Mapidéré waren gegen die Natur, gegen die verborgene Ordnung des Universums selbst.
Als die Prozession in der Ferne verschwand, zerstreute sich auch die Menge. Jetzt musste die Bevölkerung sich wieder dem alltäglichen Lebenskampf stellen: Felder abernten, Schafe scheren und Fisch fangen.
Aber Mata und Phin blieben, wo sie waren.
»Sie jubeln einem Mann zu, der ihre Väter und Großväter umgebracht hat«, sagte Phin leise. Dann spuckte er aus.
Mata sah sich nach den Aufbrechenden um. Sie glichen dem Sand und dem Schlamm, das das Meer aufwühlte. Wenn man einen Becher Meerwasser schöpfte, war es voll wirbelnden Drecks, der das Licht trübte.
Aber wenn man geduldig abwartete, würden sich Unrat und Schmutz am Boden absetzen, wo es hingehörte, und das klare Wasser würde das Licht hindurchlassen, so sicher, wie das Gewicht der Geschichte alles an seinen rechtmäßigen Platz sinken ließ.
KUNI GARU
In Zudi erzählte man sich viele Geschichten über Kuni Garu.
Der junge Mann war der Sohn einfacher Bauern, die große Pläne für ihre Kinder gehabt hatten, Pläne, die Kuni immer wieder zerstörte.
Oh, als Junge hatte Kuni durchaus zu den schönsten Hoffnungen Anlass gegeben. Er konnte lesen und dreihundert Schriftzeichen schreiben, bevor er auch nur seinen fünften Geburtstag gefeiert hatte. Kunis Mutter Naré dankte Kana und Rapa jeden Tag und erzählte ihren Freundinnen immer wieder, wie brillant ihr kleiner Junge war. Sie glaubte, dass ihr Kind eine Zukunft als Schriftgelehrter haben konnte, der der Familie Ehre machen würde. Kunis Vater Féso kratzte all seine Ersparnisse zusammen, um ihn an der Privatakademie von Tumo Loing lernen zu lassen, der ein Gelehrter von hohem Ansehen war und vor der Vereinigung dem König von Cocru als Getreideminister gedient hatte.
Aber Garu und sein Freund Rin Coda zogen es vor, die Schule zu schwänzen, wann immer es ging, und stattdessen angeln zu gehen. Wenn er dabei erwischt wurde, entschuldigte sich Kuni wortreich und ausschweifend und überzeugte Meister Loing, dass er wirklich sehr zerknirscht war und seine Lektion gelernt hatte. Aber dann heckte er neue Streiche mit Rin aus und gab seinem Lehrer Widerworte, hinterfragte seine Erklärungen der Klassiker und wies auf Fehler in seiner Beweiskette hin, bis Loing schließlich die Geduld verlor und ihn rauswarf – und den armen Rin Coda ebenfalls, weil der stets Kunis Beispiel folgte.
Aber Kuni war das ganz recht. Er war ein guter Trinker, Redner und Raufbold und kannte bald alles ehrlose Gelichter in Zudi: Diebe, Schurken, Steuereintreiber, Xana-Soldaten von der Garnison, Mädchen aus den Indigo-Häusern, wohlhabende junge Männer, die nichts Besseres zu tun hatten, als den ganzen Tag an den Straßenecken herumzuhängen und Streit zu suchen – solange die Leute atmeten, Geld hatten, um ihm ein Getränk zu kaufen, und schmutzige Witze und Klatsch genossen, war Kuni Garu ihr Freund.
Die Familie Garu versuchte, dem jungen Mann eine einträgliche Anstellung zu besorgen. Kado, Kunis älterer Bruder, zeigte früh ein Talent für das Geschäftliche und wurde Kaufmann für Damenkleider. Er stellte Kuni bei sich an. Aber Kuni hielt es für unter seiner Würde, sich vor den Kunden zu verbeugen und über ihre dummen Witze zu lachen, und als Kuni versuchte, seine haarsträubende Idee durchzusetzen, Mädchen aus den Indigo-Häusern als »Kleidermodelle« anzuheuern, hatte Kado keine Wahl mehr. Er musste ihn entlassen.
»Es hätte deine Verkäufe in ungeahnte Höhen getrieben!«, verteidigte sich Kuni. »Wenn die reichen Männer die Kleider an ihren Lieblingsmätressen sehen, kaufen sie sie sicher auch für ihre Ehefrauen.«
»Ist dir denn der Ruf deiner Familie völlig egal?!« Und Kado rannte mit erhobener Elle hinter Kuni her und jagte ihn auf die Straße.
Als Kuni siebzehn war, hatte sein Vater endgültig genug von dem jungen Müßiggänger, der jede Nacht betrunken nach Hause kam und ein Abendessen verlangte. Er ließ ihn nicht mehr ins Haus und befahl ihm, sich eine andere Unterkunft zu suchen, wo er darüber nachdenken konnte, warum er sein Leben verschwendete und das Herz seiner Mutter brach. Naré weinte und weinte und ging jeden Tag in den Tempel von Kana und Rapa, um die Göttinnen anzuflehen, ihren kleinen Kuni endlich auf den richtigen Weg zu bringen.