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In einem verfallenen Anwesen nahe Edinburgh kommt ein Grauen ans Licht, das besser verborgen geblieben wäre ...
In einer tiefen Schlucht nahe Edinburgh wird die Leiche eines Mannes gefunden, fürchterlich zugerichtet und über und über mit Tattoos bedeckt. Kaum hat Inspector Tony McLean den Tatort besichtigt, versetzt ein weiteres schockierendes Verbrechen die schottischen Behörden und Medien in Aufruhr: Der Politiker Andrew Weatherly hat zuerst seine Frau und seine beiden kleinen Töchter erschossen, dann sich selbst. Warum lief der angesehene Mann plötzlich Amok? McLean soll für rasche Aufklärung des Falls sorgen. Doch als er einen Zusammenhang zwischen dem tätowierten Toten, der Familientragödie und den einflussreichen Kreisen Edinburghs entdeckt, begibt er sich auf gefährliches Terrain ...
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Seitenzahl: 656
Buch
Eine tiefe felsige Schlucht im Umland von Edinburgh. Im eisigen Fluss am Grund wird die Leiche eines Mannes gefunden, fürchterlich zugerichtet und über und über mit Tattoos besät. Doch kaum hat Detective Inspector Anthony McLean den Tatort untersucht, versetzt ein weiteres schockierendes Verbrechen die schottischen Behörden und Medien heftig in Aufruhr: Der einflussreiche Politiker Andrew Weatherly hat in seinem Haus zuerst seine Frau und seine beiden kleinen Töchter getötet, dann sich selbst. Warum lief der hoch geachtete Mann plötzlich Amok? Vom Polizeichef unter Druck gesetzt, soll McLean für eine rasche Aufklärung des Falls sorgen. Dass der tätowierte Tote nur unweit eines alten Anwesens, das Weatherly besaß, gefunden wurde und der Schlüssel zur Aufklärung der Familientragödie sein könnte, will dabei niemand hören. McLean aber lässt sich nicht so leicht abschütteln. Er hält an der Spur fest, die ihn in die höchsten Kreise Edinburghs führt. Damit begibt er sich auf gefährliches Terrain …
Weitere Informationen zu James Oswald sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
JAMES OSWALD
Die Gräber der Vergessenen
Thriller
Aus dem Englischen
von Sigrun Zühlke
Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Dead Men’s Bones« bei Penguin Books Ltd, London. .
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1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2016
Copyright der Originalausgabe © James Oswald 2014
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Stefan Arendt/imageBROKER/Corbis
Redaktion: Eva Wagner
KS ∙ Herstellung: Str.
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-17411-8V001
www.goldmann-verlag.de
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Dies hier ist für die Bobs –
Duncan, Elspeth, Fingal, Hector und Magnus.
Danke für all die Ham Nights und das Bier.
1
Der Schmerz ist überall.
Er pulsiert durch seinen Kopf, als wäre da ein Loch im Schädel, durch das ihm im Takt seines Herzschlags das Hirn zusammenquetscht würde. Er schießt brennend wie Säure durch seine Blutgefäße und frisst ihn von innen auf. Er bohrt sich in seine Gelenke, obwohl er sie gar nicht bewegt. Er hüllt ihn ein wie eine glühende Decke aus Feuer.
Er weiß nicht, wo er sich befindet. Da ist nur die Dunkelheit, die ihn umgibt, und das widerhallende Brüllen in seinen Ohren und die alles verzehrende Qual. Ist er wieder in Afghanistan? Ist ihm dasselbe passiert wie Bodie und Jugs? Ein Sprengsatz der Kameltreiber? Nein. Das war damals. Er hat seine Tour hinter sich, und er hat überlebt. Was auch immer ihm das gebracht haben sollte.
Er erinnert sich an die Stadt, an das geheime Dasein derer, die auf der Straße leben. Seiner Leute. Dort war er sicher gewesen, zumindest eine Zeitlang. Er hatte sein Gleichgewicht gefunden, sich eine Art Leben aufgebaut. Etwas, das er verstehen konnte: ums Überleben zu kämpfen, für den nächsten Alkoholrausch.
Ruhig. Versuch, ruhig zu bleiben. Lass die Ausbildung greifen. Er war schon in schlimmeren Situationen als dieser gewesen, ganz bestimmt. Nur die Nerven behalten. Leichter gesagt, als getan, mit diesem Hämmern im Kopf, dem Jucken auf der ganzen Haut, dem Reiben in Hüften und Knien und Schultern.
Ganz langsam flaut die Panik ab, nur der Schmerz bleibt. Damit kann er umgehen. Sich auf etwas konzentrieren, das jenseits davon liegt. Versuch rauszufinden, was eigentlich los ist. Er ballt und streckt die Hände, grunzt, als der Schmerz die Arme hinaufschießt. Das Geräusch verleiht ihm Sicherheit, ist etwas, das er verstehen kann, und er spürt, wie die Fessel an seinem linken Handgelenk etwas nachgibt. Konzentrier dich darauf. Nutze es. Achte nicht auf die zehrende Qual. Er arbeitet sich an dem Riemen ab wie ein Terrier an einer Ratte. Hartnäckig, stur, zielstrebig.
Als sie sich lockert, fühlt es sich an wie eine Kugel ins Hirn. Die Dunkelheit explodiert in einem Kaleidoskop aus Farben, wirbelt und blitzt um ihn herum, während er spürt, wie er untergeht. Er beißt die Zähne zusammen und stößt ein kurzes, ersticktes, scharfes Bellen heraus. Halb Triumph, halb Niederlage. Er lässt die befreite Hand heruntersinken, während er seine Kräfte für die nächste Schlacht sammelt.
Zuerst das Band um den Kopf. Schweißnasse Finger mühen sich mit einer zu fest geschlossenen Schnalle. Es scheint Stunden zu dauern, bis sie endlich aufgeht. Er hatte gehofft, dass die Entlastung von dem Druck das Hämmern im Kopf lindern würde, aber sie macht alles eher noch schlimmer. Als er seine Stirn betastet, ist die Haut rau und uneben, die Stelle, an der er sie berührt hat, explodiert in Feuer.
Er kennt quälenden Schmerz. Das Training für die Special Forces mutet dem Körper Sachen zu, die die meisten Leute nicht für möglich halten würden. Das hier ist viel, viel schlimmer. Nur die eng um seine Unterschenkel geschlungenen Fesseln verhindern, dass er hinfällt, als er versucht, sich aufzurichten. Die Anstrengung, sie zu lösen, bringt ihn beinahe um. Er kann nicht verhindern, dass er auf den Boden schlittert. Immerhin ist der angenehm kalt und beruhigt seine Haut. Er sucht den Kontakt wie ein Kind die Umarmung der Mutter, klammert sich verzweifelt an diese winzige Erleichterung.
Doch sie ist nur vorübergehend, die kühlende Berührung entflammt die Qualen zu neuen, ungeahnten Höhen. Als ob der Stein zu Sandpapier geworden wäre, das über bereits rohes Fleisch streicht. Salz und Zitrone, in Wunden gerieben.
Er stolpert auf die Füße. Hält sich an der Liege fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Da ist ein Licht. Echtes Licht, nicht die Blitze, die ihm vor Augen stehen, seit er zum ersten Mal versucht hat, sich zu bewegen. Mild und sanft erleuchtet es den Raum nur spärlich. Was er erkennen kann, reicht dennoch, um die Panik erneut wie Galle seine Kehle hinaufblubbern zu lassen.
Es ist eine Folterkammer. Er ist umgeben von einer Ansammlung von Apparaten, die ausschließlich dazu dienen, Schmerzen zu bereiten. Nadeln an langen mechanischen Armen, mit Drähten umwickelte Kästen, Krokodilklemmen an verchromten Leisten. Flaschen mit farbigen Flüssigkeiten, Gifte, Säuren.
Entsetzt weicht er zurück, und dabei nimmt er auf der gegenüberliegenden Seite eine Bewegung wahr. Glas, ein Spiegel, ein unvertrauter Umriss, der seine eigenen ungeschickten Bewegungen nachahmt. Es ist zu dunkel, um klar zu sehen, aber er taumelt dennoch darauf zu. Näher und näher, ohne genau sagen zu können, was an dem Bild, das er sieht, nicht stimmt.
Und dann ist es da. Starrt ihm im schummrigen Licht entgegen. Das Gesicht. Sein Gesicht. Die Fratze eines Dämonen. Wilde Augen. Schwarze Wirbel kräuseln sich über Wangen und Nase, die Stirn und den rasierten Schädel. Er schaut an seinen Armen herunter und sieht, wie die Muster sich über seinen Körper winden und schlängeln. Sie sind in ihm: fremde, geisterhafte Kreaturen unter seiner Haut, die ihn verschlingen.
Die Panik schlägt mit Wucht über ihm zusammen. Adrenalin reißt alles andere mit sich. Es bleibt nichts, als wegzurennen. Er kracht durch Türen, leere Flure entlang, ohne etwas anderes wahrzunehmen als die Angst. Seine Flucht hat keine Richtung, keinen Plan, außer dem davonzukommen.
Und dann ist er draußen. Weißer Schnee stürmt aus einem nächtlichen Himmel. Er bemerkt kaum, dass er nackt ist, als er von dem Haus wegrennt. Er spürt weder die eisige Kälte noch das Peitschen der tief hängenden Äste gegen seine geschundene Haut. Sein Entsetzen ist so groß, dass er nicht einmal merkt, als der Boden unter seinen Füßen aufhört. Während er mit Armen und Beinen rudert, trägt ihn der Schwung über die Klippe und dann nach unten. Immer weiter nach unten.
2
Meine Güte, ist das kalt.«
Detective Inspector Tony McLean stampfte mit den Füßen im knöcheltiefen Schnee in dem verzweifelten Versuch, den Blutfluss anzuregen. Auf der Suche nach Wärme steckte er seine rauen roten Hände unter die Achseln und war sich nur allzu schmerzlich bewusst, dass er hier rausgekommen war, ohne zu bedenken, wohin er wollte. Roslin Glen war im Sommer ein wunderschönes Fleckchen Erde, an dem der North Esk durch eine enge Schlucht gurgelte, die tief in den Sandstein eingegraben war. Hier draußen, wo die Straße nach Rosehall und Dalkeith den Hügel hinaufführte, weitete sich das Flussbett, und normalerweise war das hier ein gut geschütztes, sonniges Eckchen. Heute allerdings nicht. Heute drängte der Wind das Wasser flussaufwärts und peitschte den Schnee in Wirbeln so heftig gegen jede Stelle ungeschützter Haut, dass es wehtat.
»Hättest dir einen Mantel mitbringen sollen, Chef. Das kann hier schon mal ’n bisschen frisch werden.« Detective Sergeant Laird, Grumpy Bob für Freund und Feind gleichermaßen, sah aus wie ein Großvater zu Weihnachten. Er war in eine dick gefütterte Jacke gehüllt, trug schwere Handschuhe und eine leuchtend gelbe Pudelmütze, die seinen kahl werdenden Kopf warm hielt. Der eisige Wind hatte seine Wangen und die Nasenspitze rot gefärbt. Nun, entweder das oder lebenslanges Trinken. Oder beides.
»Irgendeine Idee, wo es langgeht?« McLean drehte sich um und ließ den Blick über den ganzen Fuhrpark schweifen. Zwei Streifenwagen, ein Bus der Spurensicherung und ein rostiger alter Peugeot-Kombi parkten ganz in der Nähe, aber weit und breit war kein Mensch zu sehen. Um diese Jahreszeit und bei dem Schnee, der aus einem grauen Himmel in der Farbe eines verblassten Blutergusses fiel, war das kaum verwunderlich. Man musste schon ein hartgesottener Hundespaziergänger sein, um sich hierher zu verlaufen.
»Der Fluss ist in dieser Richtung, glaube ich.« Grumpy Bob zeigte am nächststehenden Auto vorbei. Im Schnee war eine ausgetrampelte Spur zu sehen, die sich bereits wieder füllte. Wenn man hochsah, hätte man eigentlich die Burg auf ihrem felsigen Vorsprung sehen müssen. Möglicherweise sogar die Kapelle, wenn ihn die Erinnerung nicht trog. Heute bestand allerdings keine Chance darauf. McLean machte sich daran, den Pfad entlangzustapfen. Aber als er am Spurensicherungsbus vorbeikam, glitt die Seitentür auf und entließ einen Schwall warme Luft ins Freie, zusammen mit Detective Constable Stuart MacBride und dem unverwechselbaren Duft von Kaffee.
»Sie sind hier, Sir.«
»So viel zumindest scheint klar zu sein, Constable.« McLean lugte an ihm vorbei in den Bus und sah ein paar Kriminaltechniker um etwas zusammengekauert, das wie ein tragbarer Gasofen aussah – etwas, was die Jungs von der Arbeitssicherheit sicher nicht gern sahen, falls sie jemals darauf aufmerksam gemacht würden.
»Ihr habt nicht zufällig noch eine Jacke oder so was?«
Sie mochte grellgelb sein und den Schriftzug »Strathclyde Wasserpolizei« in großen blauen Buchstaben tragen, aber sie war warm. McLean zog seine neu erworbene Jacke eng um sich, während er MacBride und Grumpy Bob einen schmalen Trampelpfad vom Parkplatz weg hinunter in die Schlucht folgte. Die Wipfel der Bäume rechts und links vereinigten sich über ihren Köpfen und bildeten eine Art Tunnel. Sie hielten den Wind ein wenig ab, drohten allerdings, dem Unachtsamen jederzeit eine Ladung Schnee in den Nacken fallen zu lassen.
»Was haben wir, Constable?«, fragte McLean, als sich der Pfad auf eine kleine armselige Schafweide öffnete.
»Eine Leiche im Fluss, Sir. Muss irgendwo flussaufwärts reingefallen sein. Hier ist in letzter Zeit ziemlich viel Wasser durchgeflossen. Das muss ihn irgendwie mitgeschleift haben, bis er hier oben an den Felsen hängen geblieben ist.«
Sie kletterten über einen verrotteten Zauntritt und kamen in einen bewaldeten Bereich. Bis hierher war der Schnee noch nicht vorgedrungen, nur der Boden war dünn bestäubt, gerade genug, um ihn rutschig zu machen. Dass das Gelände jetzt sehr steil zum Ufer hin abfiel, half auch nicht gerade. Irgendwie schaffte McLean es nach unten, ohne ins Wasser zu fallen, indem er auf einen flachen Stein trat, der aus dem Fluss herausragte. Ein paar Schritte weiter kauerten sich ein paar uniformierte Beamte in ihre eigenen knallig leuchtenden Jacken, und ihr Atem dampfte in die baltische Kaltluft.
»Da unten?«, fragte McLean und zeigte auf eine Stelle, wo der Fluss durch einen schmalen Kanal zwischen den Felsen schoss. Er konnte das Wasser unten rauschen hören. Der nächste Uniformierte nickte. Ein paar Kriminaltechniker waren damit beschäftigt, eine Art Flaschenzug über dem Flussbett zu errichten. Beide trugen schwere Wetterschutzkleidung und Helme, wie sie auch von Kajakfahrern oder Höhlenforschern benutzt werden. Ohne Zweifel hatten sie den Kürzeren gezogen, als entschieden wurde, wer die Leiche bergen sollte.
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte McLean den Constable, als er sich vorsichtig näher an die Kante heranschob, immer in der Sorge, kopfüber im North Esk zu landen.
»Ein Dorfbewohner. Geht hier jeden Tag mit seinem Hund spazieren. Verrückt, wenn Sie mich fragen.« Der Uniformierte machte ein etwas verlegenes Gesicht, bevor er hinzusetzte: »Sir.«
McLean sagte nichts, sondern lugte nur in den Abgrund. Die ganze Schlucht war über Jahrtausende in den Sandstein geschliffen worden. An einigen Stellen waren die Klippen über dreißig Meter hoch. Hier war der Fluss in grauer Vorzeit auf härteres Gestein gestoßen und hatte riesige Felsbrocken gegeneinander aufgetürmt, die jetzt eine Barriere bildeten. Der schmale Durchlass, in den er blickte, war nur einer von vielen Wegen, die das Wasser um und durch dieses Hindernis hindurch nahm, bevor es seine Reise in den Firth of Forth fortsetzte. Alle möglichen Arten von Abfällen waren hier hängen geblieben: umgeknickte Bäume, Plastiktüten, sogar der klassische Einkaufswagen. Und jetzt der nackte Leichnam eines Mannes.
Im Halbdunkel war es schwer zu erkennen, aber McLean war sich ziemlich sicher, dass es sich um einen Mann handelte. Das Wasser war nicht gerade sanft mit ihm umgesprungen, hatte Arme und Beine auf eine Art und Weise verbogen, für die sie ursprünglich nicht gedacht waren. Der Kopf war überhaupt nicht zu sehen, er musste zwischen den Felsbrocken klemmen. McLean schauderte nicht wegen der Kälte, als er über die Möglichkeit nachdachte, dass der Kopf vielleicht auch ganz fehlen könnte. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand versucht hatte, ihnen so die Arbeit zu erschweren.
Was ihm gleich ins Auge gefallen war, war die ungewöhnliche Farbe der Leiche. Natürlich war es nicht ungewöhnlich, in einer Stadt von der Größe Edinburghs einen Schwarzen zu sehen, aber irgendetwas stimmte mit der Hautfarbe des Mannes nicht. Vielleicht war es aber auch die Textur.
»Sollen wir ihn raufholen?«
McLean sah auf und blickte in das Gesicht eines der Kriminaltechniker, der viel näher stand, als er erwartet hatte. Das ständige Brüllen des Wassers machte es ihm beinahe unmöglich zu hören, wenn sich jemand in seiner Nähe bewegte.
»Da unten kann ich wohl kaum was mit ihm anfangen. Ja, holen Sie ihn hoch.«
Er trat zurück und wartete, während eine schmale Trage in den Spalt heruntergelassen wurde. Einer der Kriminaltechniker ließ ein Seil herab, das am anderen Ende um einen Felsblock gesichert war, während sein Kollege vorsichtig zum Wasser hinunterkletterte. Ein Jahrhundert später, indem McLean jegliches Gefühl in seinen Füßen verlor, kam der Beamte wieder nach oben und gab das Zeichen. Dann begannen die beiden die Trage hochzuziehen und schwangen sie herüber, bevor sie sie vorsichtig auf den flachen felsigen Grund herabließen.
»Der Kerl steckte mit dem Kopf direkt in einer Spalte. War’n beschissenes Stück Arbeit, ihn da rauszukriegen.« Der Kriminaltechniker war damit beschäftigt, die Seile aufzurollen, während sein Kollege den Rahmen und den Flaschenzug abbaute. Sie sahen aus, als wollten sie so schnell wie möglich in den Bus und vor den kleinen Gasofen zurück. McLean konnte es ihnen nicht wirklich verdenken.
Er ging vor der Leiche in die Knie, die immer noch ganz verdreht und gebrochen von ihrem Aufenthalt im Fluss war. Er konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, ohne den Körper zu berühren, aber es war definitiv ein Mann. Was darauf hindeutete, war geschrumpft und klein, aber dennoch eindeutig. Ebenso eindeutig war der Mann in der Tat kein Schwarzer. Es gab ein paar helle Streifen auf seinem Körper, wenn auch nur sehr wenige.
Der Rest war von Kopf bis Fuß – Arme, Hände, Finger, und ja, sogar der Penis – mit dunklen verschlungenen Tattoos bedeckt.
3
»… Berichte über einen Schusswechsel in einem Landhaus in Nordost-Fife. Es wird vermutet, dass Mr Andrew Weatherly zuerst seine Frau und seine beiden Töchter und dann sich selbst erschossen hat. Zum derzeitigen Zeitpunkt können wir nicht bestätigen, ob es sich bei dem Schützen tatsächlich um den Abgeordneten für Fife West …«
McLean drückte auf den Knopf am Lenkrad, mit dem man den nächsten Sender anwählte, auf der Suche nach beruhigender Musik. Er hatte selbst Ärger genug, da musste er sich nicht auch noch die Leidensgeschichten der anderen Einheiten anhören. Nur dass sie jetzt natürlich alle eine einzige glückliche Familie waren, die Police Scotland. Oder Greater Strathclyde, wie die Spötter meinten. Auch nicht weit von der Wahrheit entfernt.
Vor ihm im Verkehr tat sich eine Lücke auf, und er beschleunigte, genoss den kraftvollen Schub, der ihn fünfzig Meter vorantrug, bevor er wieder abbremsen und langsamer fahren musste. Die Pendelei war höllisch, und nicht zum ersten Mal vermisste er seine alte Wohnung in Newington. Zu Fuß zur Arbeit gehen zu können hatte seine Vorteile, auch bei so kaltem winterlichem Wetter. Im Rhythmus der Schritte auf dem Pflaster konnte man sehr viel besser nachdenken als in dieser sich langsam dahinquälenden Autoschlange.
Wenigstens funktionierte sein Wagen gut, und er musste sich keine Sorgen darüber machen, ob er sich durch das Streusalz auf den Straßen auflöste. Sein alter Alfa wurde gerade restauriert, und er empfand es letztendlich doch als Segen, dass er eine Weile nicht zur Verfügung stand.
Er wollte gerade in eine Seitenstraße einbiegen in der Hoffnung, die Fahrt auf diese Weise um ein paar Sekunden zu verkürzen, als sein Telefon über die Lautsprecher klingelte. Ein weniger willkommener Vorzug des neuen Wagens. Er tippte auf einen Knopf, der die Freisprechanlage aktivierte.
»McLean.«
»Wo zum Teufel stecken Sie?«
Auch Ihnen einen guten Morgen, Detective Superintendent Duguid, Sir. McLean warf einen Blick auf die Uhr vor sich, auf der die orangefarbene Anzeige ihm verriet, dass er noch zwanzig Minuten Zeit hatte, bis es acht Uhr war.
»Im Moment, Sir? In meinem Auto im Stau auf der Lothian Road. Wo sind Sie?«
»Jetzt werden Sie mal nicht frech, McLean. Sie sollten hier um halb sieben zur Morgenbesprechung erschienen sein.«
Davon hörte er jetzt zum ersten Mal. Nach dem Zwischenfall auf seinem Dachboden war er vom aktiven Dienst freigestellt worden, vordergründig, bis sein gebrochenes Bein geheilt war, aber auch, bis er eine ihm schier endlos erscheinende Reihe von Therapiesitzungen mit seinem Lieblingskurpfuscher, dem Psychologen Professor Matt Hilton, hinter sich gebracht hatte. Der Besuch draußen in Roslin Glen am Vortag war sein erster richtiger Fall seit Monaten. »Morgenbesprechung, Sir? Was für eine Morgenbesprechung?«
Eine kurze Pause, als sei der Superintendent tief in Gedanken versunken. »Ah, stimmt. Sie sind jetzt gar nicht mehr in dem Team, oder?«
Duguids kurzer Einsatz als Vorgesetzter des gesamten Reviers war gnädigerweise durch die Erschaffung der Police Scotland abgebrochen worden. Das war wahrscheinlich das einzig Positive an der ganzen traurigen Geschichte, das einem, wenn man in Zivil arbeitete, dazu einfallen konnte. Seit das Crime Investigation Department zur Specialist Crime Division geworden und in eine verwirrende Vielzahl von Teams aufgespalten worden war, von denen sich jedes auf eine andere Facette schottischer Kriminalität spezialisierte, war es schon eine tagesfüllende Aufgabe, einfach nur herauszufinden, wo man am betreffenden Tag eigentlich sein sollte.
»Egal.« Keine Entschuldigung für seinen Irrtum, aber andererseits war so etwas noch nie Duguids Stil gewesen. »Kommen Sie einfach zu mir, sobald Sie da sind, okay? Ich habe eine Aufgabe für Sie.«
Das Gespräch brach ab, Duguids Stimme wurde von dem sich langsam wieder einblendenden Radio abgelöst, in dem ein piepsiger moderner Popsong gespielt wurde, den McLean nicht kannte. Er starrte einen Moment lang vor sich hin, bis ihm klar wurde, dass der Wagen vor ihm sich in Bewegung gesetzt hatte. Er trat auf die Kupplung, legte den Gang ein und ließ den Motor aufheulen, um aufzuschließen. Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, mit den Ermittlungen zu dem Toten anzufangen, den sie in Roslin Glen gefunden hatten. Aber wie so oft sah es aus, als hätte das Leben andere Pläne.
»Ich weiß, es ist ein verdammtes Desaster. Könnte zu keinem schlechteren Zeitpunkt passiert sein. Als hätten wir hier nicht schon genug zu tun.«
Detective Superintendent Charles Duguid hatte es irgendwie geschafft, sich das große Büro im dritten Stock in den Wirren der Umstrukturierung zu sichern. Theoretisch bedeutete das, dass er für abteilungsübergreifende Verbrechen und Schutz der Öffentlichkeit in dem Bereich, der früher Lothian and Borders hieß, zuständig war, sodass es in gewisser Weise auch einen Sinn ergab. McLean wünschte sich immer noch die vorherige Bewohnerin in den Raum und auf den Posten zurück. Aber, ach, Wünsche hatten hier die Neigung, nicht in Erfüllung zu gehen.
In einer kleinen Geste der Anerkennung seiner Vorgängerin, vielleicht aber auch nur aus seinem schon fast krankhaften Bedürfnis heraus mitzubekommen, was geschah, hatte Duguid es sich angewöhnt, seine Bürotür zumindest zeitweise offen zu lassen. McLean stand jetzt davor, hörte mit halbem Ohr das Telefongespräch mit und versuchte, den besten Zeitpunkt herauszufinden, um zu stören.
»Wissen Sie, worum es da geht?«, fragte er die Sekretärin, die an einem Schreibtisch direkt vor dem Büro saß.
»Irgendwas mit dem Abgeordneten, der seine Familie erschossen hat, glaube ich. Schrecklich, ein ganz schrecklicher Fall.« Sie schüttelte den Kopf und machte sich wieder an ihre Schreibarbeit.
»Na, McLean, stehen Sie nicht da draußen rum und halten die Sekretärinnen von der Arbeit ab. Kommen Sie rein. Und machen Sie die Tür hinter sich zu.« Duguid stand im Türrahmen, ungeduldig wie eh und je. Er hatte das Telefon in einer Hand und hob es wieder ans Ohr, als McLean tat, wie ihm geheißen.
»Nein. Er ist jetzt hier. Ich kümmere mich darum, machen Sie sich keine Sorgen, Sir.«
McLean zog eine Augenbraue hoch, obwohl er nicht wirklich erwartete, dass Duguid es ihm erklärte. Er wurde nicht enttäuscht. Der Superintendent beendete das Gespräch und legte das Telefon auf den Schreibtisch, dann ließ er sich in seinen riesigen Ledersessel fallen, der mit dem Rücken zum Fenster stand, bevor er McLean schließlich ansah.
»Was macht das Bein?«
McLean verlagerte das Gewicht ein wenig. Seine Hüfte tat ihm weh, ebenso wie der Oberschenkel, wo er sich vor einigen Monaten einen Bruch zugezogen hatte, aber er heilte. Das kalte Wetter trug allerdings kaum dazu bei.
»Besser, danke. Einmal die Woche gehe ich noch zur Physiotherapie, aber es ist kein Problem.«
Duguids Augen verengten sich. Er zog sich ein Blatt Papier heran, sah aber nicht darauf.
»Das psychologische Gutachten sagt, Sie seien fit für die Arbeit.« Das klang beinahe, als stelle diese Tatsache eine persönliche Beleidigung dar.
»Das freut mich zu hören, Sir. Vor allem, weil ich ja nun schon lange genug wieder dabei bin.«
»Werden Sie nicht sarkastisch, McLean. Sie haben von Andrew Weatherly gehört, nehme ich an?«
»Dem Abgeordneten? Da war heute Morgen was im Radio, aber ich dachte, es sei noch nicht bestätigt …«
»Oh, es handelt sich um ihn. Blödes kleines Arschloch.« Duguid rieb sich mit seinen langen dünnen Fingern, die irgendwie aussahen, als hätten sie viel zu viele Gelenke, übers Gesicht. »Sieht aus, als hätte er Frau und Kinder erschossen und dann die Waffe gegen sich selbst gerichtet. Warum, verdammt noch mal, macht man so was?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung, Sir. Stand er unter Druck?«
Duguid sah ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Was bin ich denn, sein Therapeut? Woher zur Hölle soll ich das wissen?«
McLean antwortete nicht. Es war immer am besten, einfach nur dazustehen und, was immer Duguid zu sagen hatte, über sich ergehen zu lassen. Und sich später mit den Folgen auseinanderzusetzen.
»Er war überaus gut vernetzt, unser Mr Weatherly. Saß zum einen im Police Liaison Committee. Außerdem hatte er seine Finger in unserer geliebten Police Scotland, also können Sie sich vorstellen, wie gut das alles bei unseren Oberen ankommt. Die wollen die Sache so schnell wie möglich aus der Welt geschafft sehen.«
»Ist das nicht ein Fall für Fife? Es ist doch in deren Einzugsgebiet passiert.«
Duguid bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Es gibt keine ›Einzugsgebiete‹ mehr. Wir sind jetzt alle eine einzige, verdammte, glückliche Familie, schon vergessen?«
McLean streckte seine Füße und versuchte, nicht ungeduldig auf und ab zu wippen. Natürlich wusste er von den neuen Strukturen, aber die alten Bezirke gab es innerhalb der Specialist Crime Division immer noch. Sicher kein Grund, nach Fife hochzufahren und die Kollegen dort zu verärgern.
Duguid machte wieder das mit den Fingern, dann ließ er sich in seinen Sessel zurückfallen. Der quietschte alarmierend und neigte sich bedrohlich weit zurück, als wollte er ihn nach hinten abwerfen.
»Sehen Sie: Fife ist jetzt vor Ort. Ja, es ist deren Einzugsgebiet, wie Sie das ausgedrückt haben. Aber Weatherly ist ein Mitglied des schottischen Parlaments. Er hat ein Haus hier in Edinburgh, seine Firma hat hier ihren Sitz. Also stecken wir mit drin, ob das Fife nun gefällt oder nicht.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich hätte gedacht, das läge auf der Hand, McLean. Tun Sie, was Sie immer tun. Bohren Sie tiefer, als es wirklich nötig ist. Verkomplizieren Sie alles.«
McLean runzelte die Stirn. Das hatte er nicht erwartet. Nicht von Duguid.
»Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, das Präsidium …«
Duguid beugte sich vor und stützte die Ellbogen vor ihm auf dem Schreibtisch auf. »Oh, das reicht höher als bis ins Präsidium, McLean. Bis ganz nach oben. Die wollen das schnell und hübsch säuberlich geklärt haben. Soll vom Tisch, als wäre nie was gewesen. Aber nicht mit mir! Eine unschuldige Frau und zwei Kinder sind tot. Mir ist egal, ob ihr Mörder sich selbst getötet hat. Ich will wissen, warum er das getan hat, und wenn das bedeutet, ein paar Leuten auf die Zehen zu treten, dann ist das eben so!«
Im Großraumbüro der Kriminalpolizei schien die übliche bienenfleißige Arbeitssimulation zu herrschen, als McLean eine halbe Stunde später durch die Tür trat. Ihm schwirrte immer noch der Kopf vom Gespräch mit Duguid. Die Unverfrorenheit des Mannes verblüffte ihn immer wieder. Und dann war da noch die unbedeutende Frage, wer die Schuld bekommen würde, wenn ihnen das alles um die Ohren flog. Was es unausweichlich tun würde. Es wäre nicht das erste Mal, dass er zum Sündenbock auserkoren worden war; wahrscheinlich auch nicht das letzte.
»Morgen, Sir.« Die Stimme hinter der geöffneten Tür klang frisch und eifrig, genau wie das rundliche, frisch geschrubbte rosige Gesicht aussah, das dazugehörte. Detective Constable Stuart MacBride sah ihm erwartungsvoll von seinem Tisch entgegen.
»Morgen, Constable. Sind Sie der Einzige, der schon da ist?«
»Besprechung im Haupteinsatzraum, Sir. DCI Brooks bringt alle DIs und Sergeants in den laufenden Fällen auf den aktuellen Stand.« Noch während er es sagte, verfinsterte sich die Miene des Constable zu einem nachdenklichen Stirnrunzeln, das wahrscheinlich das von McLean spiegelte.
»Das Memo muss ich verpasst haben.« Immerhin würde das Duguids Verwirrung am Morgen erklären. »Egal, ich hab Besseres zu tun, als mir Brooks’ Gelaber anzuhören. Sind Sie schon irgendwie mit unserem rätselhaften Tätowierten weitergekommen?«
MacBride schob kurz die säuberlich auf seinem Tisch gestapelten Akten umher und zog eine hervor, die noch schmerzlich dünn aussah. Immerhin stand schon ein offizielles Aktenzeichen auf dem Deckel.
»Noch nichts. Die Leiche wartet in der Rechtsmedizin auf die Obduktion. Ich habe mit der Vermisstenabteilung gesprochen, die hatten aber niemanden, auf den die Beschreibung passt. Mehr kann ich nicht machen, bis wir wissen, ob es sich überhaupt um einen verdächtigen Todesfall handelt.«
»Er war nackt, Constable. Das kommt mir ziemlich verdächtig vor. Wenn er einfach nur zufällig in den Fluss gefallen wäre, hätte ich doch zumindest ein paar Klamotten erwartet.«
»Er kann sie doch ausgezogen haben, Sir. Machen das Leute nicht manchmal, die unterkühlt sind? Das Gehirn dreht durch, und sie denken, sie würden überhitzen. Ich glaube, das habe ich mal irgendwo gelesen …«
»Hypothermie-Halluzinationen. Ja, das könnte es natürlich auch gewesen sein.« McLean schüttelte den Kopf. »Na ja, wir werden es noch früh genug herausfinden. Wissen Sie schon, wann die Obduktion stattfinden soll?«
»Nein, Sir. Ich kann anrufen und fragen.« MacBride griff nach dem Telefon.
»Das hat Zeit. Ich hab erst noch was anderes zu erledigen. Ist Ritchie in der Nähe?«
»Sitzt in Brooks’ Briefing zusammen mit allen anderen. Gibt es noch was, womit ich Ihnen helfen kann?« Der hoffnungsvolle Blick auf dem Gesicht des jungen Constable war unbezahlbar. Wie ein Welpe, der verzweifelt hoffte, ausgewählt zu werden. McLean brachte es kaum übers Herz, ihn zu enttäuschen.
»Ich brauche Ritchies spezielle Fähigkeiten«, antwortete er auf der Suche nach einer diplomatischen Art und Weise zu sagen, dass er lieber nicht stundenlang mit MacBride im Auto eingesperrt sein würde, wenn auch weniger eifrige Gesellschaft zur Verfügung stand. »Und sie ist mit ein paar Leuten der Fife Constabulary befreundet, was uns helfen könnte.«
»Fife?« MacBrides Miene wandelte sich von vorübergehender Ratlosigkeit zu Verständnis mit aufgerissenen Augen. »Oh.«
»Ja. Oh. Duguid will, dass ich mir dieses verdammte Durcheinander mal anschaue. Wenn Sie einigermaßen bei Verstand sind, halten Sie hier die Füße still.«
4
Am Ende wäre es wahrscheinlich einfacher gewesen, MacBride mitzunehmen. Detective Sergeant Ritchie war sichtlich dankbar, als McLean sie aus der sinnlosen Morgenbesprechung zerrte, aber sie sah müde aus und sagte nur wenig, während sie durch die Stadt in Richtung Brücke fuhren.
»Ist Brooks wirklich so schlimm?«, startete er einen Versuch, während sie langsam durch die endlosen Baustellen am Nord-ende krochen, wo die neue Brücke nach Fife führen sollte.
»Sie machen sich keine Vorstellung.« Ritchie schüttelte den Kopf.
»Na ja, jetzt sind Sie erst mal zurück in meinem Team. Könnte aber sein, dass Sie das noch bereuen.« McLean schaltete und brachte den Motor auf Touren, als der Verkehr vor Halbeath endlich wieder zu fließen begann. Es war ein unschuldiges Vergnügen, sich durch die Kraft des großen Sechszylinders in die Sitze drücken zu lassen. Er hörte sich auch gut an, selbst wenn er beinahe genauso schlecht zu seiner Gehaltsgruppe passte wie der Oldtimer, der unten in England in einer Spezialwerkstatt kostspielig restauriert wurde. Und ziemlich unbequem, wenn man mit einem Bein aus- und einsteigen wollte, das gerade aus dem Gips heraus war.
Schnee türmte sich an den Straßenrändern, grau vom Salz und Straßendreck, an dem sie schweigend vorbeifuhren. Es war lange her, dass er hier rausgefahren war, aber es schien sich nichts verändert zu haben. Es mochten ein paar moderne Lagerhallen am Rand von Kinross dazugekommen sein, aber das bisschen Geld, das aus der Hauptstadt durchsickerte, verdampfte, je weiter man im alten Königreich nach Norden fuhr. Hinter Auchtermuchty fühlten sich sogar die Schlaglöcher an, als wüchsen sie seit Jahrzehnten.
McLean hatte sich die Wegbeschreibung ausgedruckt, aber sogar damit mussten sie ein paar Mal wenden und den hilfreichen Rat eines rotgesichtigen Bauern in Anspruch nehmen, um endlich den Ort zu finden, an dem Andrew Weatherly – wenn die nur spärlich bekannte Vorgeschichte des Mannes zutraf und nicht nur eine Erfindung der Medien war – sein Leben zwar nicht wohlhabend begonnen, aber sich dafür später mit Haut und Haaren ins Leben eines Land-Edelmannes gestürzt hatte. Seine Residenz in Fife war ein großzügiges Herrenhaus, das weit ab von der Hauptstraße in einer natürlichen Senke am Ende eines flachen Tales stand. Westlich davon war der größte Hügel der Gegend dick mit Schnee bedeckt. Dunkle Nadelgehölze markierten seine Flanken. Es war unbestreitbar ein wunderschöner Platz, was angesichts der schrecklichen Ereignisse, die sich hier abgespielt hatten, umso erschütternder wirkte.
Ein paar uniformierte Constables hielten ihn an, bevor er von der Hauptstraße auf die Zufahrt abbiegen konnte. Es war unmöglich, die Autos der Journalisten zu übersehen, die überall herumstanden, ebensowenig wie die Übertragungswagen und die Fernsehteams. McLeans Dienstausweis brachte ihn mit nichts als einer hochgezogenen Augenbraue durch, aber als er das Ende der Zufahrt erreichte, wo sie sich zur Vorderseite des Anwesens öffnete, wurde er wieder aufgehalten, dieses Mal durch blau-weißes Absperrband.
»Wir müssen sie ja nicht noch mehr verärgern, als wir es ohnehin schon getan haben.« Er stellte den Wagen so nah am Rand der Zufahrt ab, wie er sich traute. Aus dem warmen Auto kommend, traf ihn die winterliche Luft wie eine Ohrfeige, ein frostiger Wind fegte vom Berg herunter und fuhr ihm durch und durch. McLean beugte sich ins Auto zurück, holte seinen schweren Wollmantel heraus und zog ihn über, als ein weiterer Uniformierter auf ihn zukam.
»Sie sind der DI aus Edinburgh, aye?«
McLean nickte und zeigte seinen Ausweis noch einmal vor. Ritchie war auch aus dem Auto geklettert und schaute sich um, während sie ein paar schwarze Lederhandschuhe anzog.
»Der Leitende ist drüben im Zelt.« Der Beamte nickte zu einem niedrigen weißen Aufbau ein paar Meter neben der Haupteingangstür. McLean wollte schon darauf zugehen, als ihn eine Hand auf seinem Arm aufhielt.
»Ich sag ihm Bescheid, dass Sie da sind. Wir wollen’s den Jungs von der Spurensicherung ja nicht unnötig schwer machen, oder?«
McLean sah dem Uniformierten womöglich etwas länger in die Augen, als es höflich war. Es war ein älterer Mann und Sergeant. Vielleicht im selben Alter wie Grumpy Bob. Vielleicht wäre es klüger gewesen, ihn mitzunehmen. Es gab nicht viele Beamte im aktiven Dienst in der Zentralregion, die Grumpy Bob nicht wenigstens vom Sehen kannte.
»Sie haben recht«, sagte er schließlich. »Wir wollen ja niemandem im Weg stehen. Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie so weit sind.«
Der alte Sergeant nickte und schlenderte gemächlich davon, bevor er in dem Zelt verschwand.
»Ziemlich unverschämt, oder?«
McLean drehte sich zu Ritchie um, die am Autodach lehnte und das sommersprossige Gesicht zu einer finsteren Miene verzogen hatte. Der kalte Wind tat ihrem kurz geschnittenen roten Haar keinen Gefallen.
»Irgendwie meine ich mich zu erinnern, dass Sie noch weniger entgegenkommend waren, als ich bei Donald Andersons Beerdigung aufgetaucht bin. Niemand kann es leiden, wenn eine andere Einheit ihre Nase reinsteckt.«
»Aber geht’s nicht bei dem ganzen Police-Scotland-Theater genau darum? Keine kleinlichen Rivalitäten zwischen den Bezirken mehr. Alle zusammen für eine Sache und der ganze andere Motivationsquatsch, den ich das letzte halbe Jahr zu begreifen versucht habe.«
»So was braucht Zeit. Und versuchen Sie, es nicht zu persönlich zu nehmen.« McLean bedachte sie mit einem Lächeln, von dem er hoffte, dass es freundlich aussah, und bekam ein schiefes zurück. Dann richtete sich Ritchies Blick auf etwas in seinem Rücken, und sie stieß sich vom Auto ab und stand gerade.
»Detective Inspector Tony McLean. Sie hätte ich ja nicht in nächster Zeit hier in der Gegend erwartet.«
McLean drehte sich um, erkannte die Stimme, brauchte aber einen Moment, um sie einzuordnen. Ein großer dünner Mann näherte sich, flankiert von dem uniformierten Sergeant und einem Tatortfotografen in weißem Overall. Der Mann selbst trug ebenfalls einen weißen Overall, hatte aber das Oberteil nicht hochgezogen und die Ärmel in einem lockeren Knoten um die Taille geschlungen.
»Jack?« McLean konnte die Überraschung in seiner Stimme nicht verbergen, auch wenn er wusste, dass das befremdlich klingen musste. Es hätte ihm klar sein müssen, dass ein so hochkarätiger Fall in Fife auch einen hochrangigen Ermittlungsleiter hatte. Detective Superintendent Jack Tennant war das mit Sicherheit. Und von allen Leuten, auf die McLean hätte hoffen können, war er mit Sicherheit der Beste.
»So sehr hab ich mich doch wohl nicht verändert, oder?« Der Superintendent strich sich mit der Hand über die hohe Stirn nach hinten, seiner zurückweichenden Haarlinie nach. Die hatte allerdings schon so ausgesehen, als McLean ihn zum ersten Mal getroffen hatte, was fast achtzehn Jahre her sein musste. Sein Gesicht war jetzt etwas faltiger und schmal, vielleicht ungesund schmal. Aber er war unleugbar derselbe Mann, der damals einen jungen Constable unter seine Fittiche genommen und ihn gelehrt hatte, Detective zu werden.
»Sorry«, sagte McLean. »Ich hab nicht damit gerechnet, Sie hier zu sehen. Ich dachte, Sie würden heute eher am Schreibtisch arbeiten.«
»Das hört sich bei Ihnen an wie eine schmerzhafte Krankheit, Tony. Was es in gewisser Weise ja auch ist. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass ein Fall wie der hier …«, Tennant zeigte mit einer ausgreifenden Armbewegung in Richtung des Hauses, »… viel zu wichtig ist, als dass man ihn den Leuten überlassen würde, die wissen, was sie tun.«
»Ich schätze mal, das ist dann auch der Grund, warum sie mich hier raufgeschickt haben, um alles noch ein bisschen schwieriger zu machen.«
Tennant legte den Kopf leicht schief bei der Bemerkung, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Ritchie. »Und wer ist Ihre neue Partnerin? Wird Grumpy Bob allmählich zu alt?«
»Detective Sergeant Kirsty Ritchie, das ist Detective Superintendent Jack Tennant. Es ist doch immer noch Superintendent, oder?«
»Ritchie. Sie waren früher in Aberdeen, nicht wahr. Haben mit DCI Reid zusammengearbeitet.« Tennant sprach in Feststellungen, nicht in Fragen, als läse er irgendwo in seinem Kopf einen Lebenslauf ab.
»Ja, Sir. Vor ungefähr achtzehn Monaten bin ich nach unten versetzt worden.«
»Aye. Gut.« Der Superintendent schwieg einen Moment, dann schien ihm wieder einzufallen, warum sie alle hier waren. Er drehte sich zu dem uniformierten Sergeant um, der McLean während des ganzen Gesprächs misstrauisch beäugt hatte. »Sehen Sie mal, ob Sie uns nicht noch zwei von diesen Strampelanzügen besorgen können, ja, Ben? Ich denke, es ist Zeit, dass wir unseren Freunden aus Edinburgh die Leichen zeigen.«
5
Sie gingen zuerst ins Haus. Ob das Absicht war, wusste McLean nicht genau. Dennoch war er dankbar dafür, denn die Kälte kroch ihm allmählich in die Knochen. Dicke Wolle mochte den schlimmsten Wind abhalten, aber sie nützte auch nichts, wenn man dünne Lederschuhe trug und vergessen hatte, eine Mütze mitzunehmen.
Drinnen vertrieben leistungsstarke Strahler auch noch den zaghaftesten Schatten. Alte Holzvertäfelungen an den Wänden, die vom Boden bis zur Decke reichten, glänzten in dem harten Licht. In der Mitte hing ein Kronleuchter aus einer wunderschön geformten Stuckrosette. Er glitzerte wie die Diamanten eines Starlets.
McLean stand im Eingang und ließ die Szenerie auf sich wirken, während ein Heer aus weiß gekleideten Kriminaltechnikern eifrig auf der Suche nach Beweismitteln war. Wofür, da war er sich nicht ganz sicher, es schien an dem Fall nichts Unklares zu geben. Andererseits war Andrew Weatherly ein wichtiger Mann gewesen, und andere wichtige Männer würden den Fall beobachten, um sicherzugehen, dass ihm die Behandlung zuteilwurde, die ihm ihrer Ansicht nach gebührte.
»Können wir reingehen?« Er sah Detective Superintendent Tennant an, bekam seine Antwort jedoch von der nächststehenden Tatortbeamtin, von der nur die Augen und eine lose Strähne kastanienbraunen Haars unter dem Overall zu sehen war.
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