1,99 €
Die Großen Eingeweihten
Geheimlehren der Religionen (Rama, Krishna, Hermes, Moses, Orpheus, Pythagoras, Plato, Jesus)
Alle großen Religionen haben eine äußere und eine innere Geschichte: die eine offenbar, die andere verborgen. Durch die äußere Geschichte erschließen sich die in den Tempeln und Schulen öffentlich gelehrten, vom Kultus und dem Volksaberglauben anerkannten Dogmen und Mythen. Durch die innere Geschichte erschließen sich die tiefe Wissenschaft, die geheime Weisheit, das verborgene Wirken der großen Eingeweihten, der Propheten und Reformatoren, die diese Religionen geschaffen, gestützt und verbreitet haben. Die erste, die äußere Geschichte, die überall gelesen wird, geht am hellen Tage vor sich; sie ist nichtsdestoweniger dunkel, verworren, widerspruchsvoll. Die zweite, die ich die esoterische Tradition oder die Mysterienlehre nenne, ist sehr schwer aus der ersten zu entwirren. Denn sie verläuft im Innern der Tempel, in den geheimen Brüderschaften, und ihre ergreifendsten Dramen spielen sich ganz ab in den Seelen der großen Propheten, die keinem Pergament und keinem Jünger ihre höchsten Kämpfe, ihre göttlichen Ekstasen anvertraut haben. Man muss ihre Rätsel lösen. Sieht man sie aber einmal, erscheint sie lichtvoll, organisch und immer in Harmonie mit sich selbst. Man könnte sie auch die Geschichte der ewigen, universellen Religion nennen. Sie zeigt uns das Innere der Dinge, die Lichtseite des menschlichen Bewusstseins, während die Geschichte uns nur dessen Außenseite zeigt. Dort rinden wir den schöpferischen Keimpunkt von Religion und Philosophie, welche am andern Ende der Ellipse in der ungeteilten Wissenschaft sich wieder vereinigen. Es ist der Punkt, der den übersinnlichen Wahrheiten entspricht. Wir finden hier die Ursache, den Ursprung und das Endziel der ungeheuren Arbeit der Jahrhunderte, die Weltenlenkung in ihren irdischen Sendboten. Diese Geschichte ist die einzige, mit der ich mich in diesem Buche beschäftigt habe.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Vorwort zur ersten deutschen Auflage
Vorwort zur Zweiten deutsche Auflage
Vorwort zur Dritten deutsche Auflage
Einführung in die esoterische Lehre
1. Rama
2. Krishna
3. Hermes
4. Moses
5. Orpheus
6. Pythagoras
7. Plato
8. Jesus
Vor einiger Zeit konnte Edouard Schurés Drama „Die Kinder des Lucifer“1 in deutscher Sprache veröffentlicht werden. Die Handlung und die Gestalten dieses Kunstwerkes heben sich aus den geistigen Strömungen des vierten christlichen Jahrhunderts heraus. An einem besonders charakteristischen Punkte der Menschheitsentwicklung wollte Schuré die beiden Grundregungen der ringenden Menschenseele zur Darstellung bringen, die eine, die sie wie göttliche Abstammung, und die andere, die sie wie ihre göttliche Zukunft empfindet. Christus, der menschgewordene Gott, und Luzifer, der nach Göttlichkeit ringende Mensch, stehen wie im Hintergrund des Dramas und geben ihm ein Leben, auf das Goethe am Ende seines Faust deuten wollte, als er alles Vergängliche als dessen Gleichnis ansprach.
Dies Kunstwerk ist aus einer Fantasie geboren, die sich als das Kind einer höheren menschlichen Geisteskraft fühlt. Auch von dieser höheren Geisteskraft hat Goethe gesprochen. Er sagt, dass der Mensch durch die Entwicklung seiner Fähigkeiten sich zu einer Höhe erheben könne, wo sein Geist nicht mehr bloß die Abbilder der geschaffenen Dinge wie im Spiegel der Wissenschaft sieht, sondern wo er durch Einleben in das Schöpfungswerk die Urbilder in seiner Seele sich offenbaren lässt. In seinem rastlosen Einheitsstreben stand so vor Goethes geistigem Auge stets der Endpunkt einer perspektivischen Fernsicht, in dem Erkenntnis und Kunst, Wissen und Fantasie sich auf den Höhen des Menschengeistes berühren. Wahrheit und Schönheit stammen für ihn aus gemeinsamer Quelle. Ein Wahrheitsforschen, das tief genug ist, dringt hinter die Oberfläche der Dinge zu den ewigen Ideen vor, die nicht schattenhafte Abstraktionen, sondern die lebendigen Gestaltungskräfte der Dinge und Wesen selbst sind. Und ein echtes Kunstwerk ist aus einer Fantasie entsprungen, die nicht aus menschlicher Willkür geboren, sondern von eben jenen ewigen Gestaltungskräften selbst befruchtet ist. So wurde für Goethe die wahre Kunst zu einer Offenbarung geheimer Naturkräfte, die ohne sie niemals offenbar werden könnten. Künstlerische Fantasie und weisheitsvolle Einsicht weisen auf eine hinter ihnen verborgene Kraft der Menschenseele, in der sie beide eins sind.
Die wahre Mystik aller Zeiten hat diese Seelenkraft dem Seher zuerkannt. Die geistschauende Erkenntnis, die über das gewöhnliche Menschengedenken hinausgeht, dringt bis zu der Stufe, wo sich die Vorstellungen auflösen in jenes Element, aus dem die künstlerische Fantasie auf zumeist unbewusste Art geboren ist.
Unter den schaffenden Künstlern der Gegenwart ist Edouard Schuré einer, dessen ganze Art auf der Einsicht ruht, was der Seher in der geistigen Entwicklung der Menschheit ist. Alles menschliche Schaffen führt für ihn zuletzt auf die Kraft der Seher zurück. Sie sind ihm die Vermittler zwischen dem Vergänglichen, das ihm ein Gleichnis ist, und dem Ewigen, das sich dem geistigen Schauen erschließt, der höheren Einheit von Weisheit und Fantasie.
Seine eigene Pilgerfahrt in dieses Gebiet hat nun Schuré in diesem Buche dargestellt, das hiermit in deutscher Sprache der Öffentlichkeit vorgelegt wird. Dass es in französischer Sprache neun Auflagen erlebt hat, ist ein Beweis dafür, dass es in der Gegenwart viele Menschen gibt, deren Seelen den Zugang suchen zu jenen Höhen des Geistes.
Schuré ist von dem Glauben beseelt, dass eine Zukunft der Geisteskultur bevorstehe, in der sich die Wissenschaft durch die Weisheit zur Anerkennung des Sehers der Wahrheit hindurchringen wird, und dass die Kunst eine Epoche erleben werde, in der hinter der Fantasie die befruchtende Kraft der ewigen Urbilder der Dinge walten werde. Auf diesem Vertrauen ruht sein künstlerisches Schaffen und aus ihm ist auch dieses Buch erwachsen. Es spricht von den großen Erleuchteten, den Eingeweihten, welche die tiefen Blicke hinter die Dinge getan und von da aus der Geistesentwicklung der Menschheit die großen Impulse gegeben haben. Es verfolgt diese größten Geistestaten von Rama, Krishna, Hermes bis zu Pythagoras und Plato, um in Christus die Vereinigung aller dieser Seherimpulse zu zeigen.
Was von da ausgegangen ist, lebt in der Gegenwartskultur fort. Das hiebt, das aus Schurés Buch strömt, ist daher auch erleuchtend für alle diejenigen, die mit ihrer Seele in den geistigen Untergründen wurzeln wollen, aus denen Kraft und Sicherheit für das Leben der Gegenwart geschöpft werden können. — Wer den religiösen Bedürfnissen unserer Zeit Verständnis entgegenbringt, der vermag auch zu erkennen, was Schurés Buch besonders nach dieser Richtung an Segen verbreiten kann. Es bietet den geschichtlichen Nachweis, dass das Wesen der Religion von dem Begriff der Einweihung oder Erleuchtung nicht zu trennen ist. Das Bedürfnis nach Religion ist allgemein-menschlich. Eine Seele, die vermeint, ohne Religion leben zu können, ist in einer schweren Selbsttäuschung befangen. Aber Befriedigung können diesem Bedürfnisse nur die Sendboten der geistigen Welt bringen, die im Lande der Seher sich zu den höchsten Stufen erheben. So wahr es auch ist, dass die Religionen zuletzt die größten Wahrheiten dem schlichtesten Herzen zu offenbaren vermögen, so wahr ist es auch, dass ihr Ausgangspunkt da liegt, wo die Fantasie das Kleid des Scheines ablegt und zur Imagination wird, sodass sich ihr die höchste Wirklichkeit erschließt, und wo die Wahrheitsforschung zur Inspiration wird, zu der nicht der Abglanz der Gedanken, sondern das Urlicht der Ideen spricht. Indem Schuré die großen Religionsstifter als die höchsten Eingeweihten schildert, gibt er die religiöse Entwicklung der Menschheit aus ihrer tiefsten Wurzel heraus. Man wird in der Zukunft das Wesen der »Einweihung« begreifen, wenn man an den großen religiösen Erscheinungen der Vergangenheit die Einsicht in dieses Wesen gewinnen wird.
Man redet gegenwärtig viel von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Man sagt, dies oder jenes müsse dem Menschen verschlossen sein, weil er mit seinem Wissen über einen gewissen Kreis nicht hinausdringen könne. Man wird in der Zukunft einsehen, dass des Menschen Wissenskreis sich in dem Maße erweitert, als er sich selbst entwickelt. Dinge, die nicht erkennbar scheinen, treten in den Bereich der Erkenntnis, wenn der Mensch die Erkenntnisfähigkeiten entfaltet, die in ihm schlummern. Wer einmal ganz ernstlich zu solcher Erweiterung der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten Vertrauen gewonnen hat, der hat auch schon den Weg betreten, an dessen Ende die großen Eingeweihten stehen.
Zum Auffinden dieses Weges ist Schurés Buch in der Gegenwart einer der besten Führer. Er spricht von den Taten der Erleuchteten, die aus der Geistesgeschichte der Menschheit zu erkennen sind, und es führt von diesen Taten zurück in die Seelen der Erleuchteten selbst.
Zwei Mittel sind heute vorhanden, um den Zugang zu der Sprache derjenigen zu finden, die aus der Seher-Erfahrung heraus Kunde geben können von einer geistigen Welt. Der eine Weg ist der direkte des Hinhorchens auf die Quellen, die auch in der Gegenwart aus dem Urgründe des Daseins fließen. Der andere Weg ist der in Schurés Buch gebotene. Für viele wird das letztere Mittel wohl erst auf den vorgenannten Weg führen. Wenn sich solche Menschen erst überzeugen können, dass die großen Geistesimpulse der Vorzeit, die noch in ihren Seelen fortleben, aus Seherkraft entsprungen sind, dann werden sie sich zu der Einsicht hindurchringen können, dass auch in der Gegenwart ein Erreichen dieser Kraft möglich ist.
Wer das Geistesleben der Gegenwart nicht nur an seiner Oberfläche, sondern in seinen Tiefen verfolgen kann, der vermag auch zu sehen, wie sich nach dem Abfluten der materialistischen Strömungen von vielen Seiten die Quellen des spirituellen Lebens öffnen. Gerade wer dies klar durchschaut, wird nicht die zeitliche Notwendigkeit des Materialismus bestreiten. Er wird wissen, dass dieser Materialismus in den letzten Jahrhunderten entstehen musste, weil nur unter seinem einseitigen Wirken die äußeren Erfolge der Kultur möglich waren. Ein solcher wird aber auch sehen, wie ein neues Zeitalter der Spiritualität heraufzieht.
Eine der besten Erscheinungen dieses beginnenden spirituellen Zeitalters glauben wir, mit Schurés Großen Eingeweihten der deutschen Öffentlichkeit zu übergeben. Wir zählen den Autor des Werkes zu denen, welche kühn voranschreiten in der Morgenröte dieses Zeitalters. Ihm hat die Kraft, die von dem Forschen in den Seelen der Großen Eingeweihten ausgeht, den Mut und die Freiheit gegeben, die notwendig waren, um ein so kühnes Buch zu schreiben, wie es das vorliegende ist.
Dr. Rudolf Steiner
1Die Kinder des Lucifer von Edouard Schuré.
Als vor verhältnismäßig kurzer Zeit die erste Auflage dieser deutschen Ausgabe von Schurés Großen Eingeweihten der Öffentlichkeit übergeben wurde, geschah dies in der Voraussetzung, dass dieses Werk auch in dieser Übersetzung Leser von solcher Art finden werde, wie es in so großer Zahl in seinem französischen Originale gefunden hat. Dass hiermit eine zweite Auflage erscheinen kann, zeigt, dass diese Voraussetzung begründet war.
Edouard Schuré, der gedankentiefe Darsteller der Großen Eingeweihten spricht zu solchen Seelen, welche die Blicke sehnend erheben wollen zu den großen Wegweisern der menschlichen Intuitionen, um sich mit den Ideen zu erfüllen, die im geschichtlichen Werden zur Offenbarung gekommen sind und die in jedem Menscheninnern die Ahnung erwecken können von Lösungen der Daseinsrätsel.
In unserer Zeit ist über manche der Persönlichkeiten, über welche Schuré in diesem Buche spricht, eine reichhaltige gelehrte Literatur vorhanden. Und manche populäre Schrift macht die Ergebnisse dieser Literatur weiten Kreisen zugänglich. Schurés glänzende Darstellung gibt wesentlich anderes als diese Literatur. Eine Persönlichkeit spricht in ihr, welche mit intuitivem Blick in das Walten der Seelenmächte dringt, die sich in Menschen verkörpern. Diese Persönlichkeit vermag den Leser auf den Horizont der ewigen Gedanken zu erheben, deren Verwirklichung die wahre Geschichte der Menschheit ist.
Es war Edouard Schuré vorbehalten, die Brennpunkte des geistigen Entwicklungsstromes der Menschheit in den Großen Eingeweihten aufleuchten zu lassen, auf dessen geheimnisvolle Wirkungsweise auch in Deutschland seit Herder das Suchen der größten Geister gerichtet war. Die hingebungsvollste Art im Ergründen der großen Weltgedanken verbindet sich bei diesem Autor mit der Kraft der Wiederbelebung wirksamer Ideen, die für den Verstand im Schoß der Zeiten ruhen, im Menscheninnern aber ewige Gegenwart haben. — Aus diesem Grunde ist es, dass dieses Buch in seiner französischen Gestalt Auflage nach Auflage in schneller Folge erlebt und dem inneren Bildungsleben unserer Zeit, dem Leben der Seele, reiche Kräfte der Vertiefung zugeführt.
Mit diesen Gedanken wird dies Buch in der neuen deutschen Auflage der Öffentlichkeit übergeben.*
Dr. Rudolf Steiner
Mit den vorangehenden Worten erschien 1909 die erste und 1911 die zweite Auflage des Buches Edouard Schurés Die großen Eingeweihten in deutscher Übersetzung. In dieser Schicksal tragenden Zeit wird die dritte Auflage notwendig. Französische Schriftsteller finden heute schlimme Urteile über deutsches Geistesleben aus der aufgewühlten Leidenschaft heraus. Ich glaube, dass innerhalb des deutschen Geisteslebens kein wirklich urteilsfähiger Anstoß nimmt, wenn gegenwärtig dieselben Worte unverändert wieder am Anfang dieses Buches erscheinen, die in der Zeit des Friedens aus dem Gefühle des Zusammenwirkens deutschen und französischen Geistes geschrieben sind. Aus dem Gefühl heraus, dass Edouard Schuré dem deutschen Geistesleben nahesteht, schrieb ich 1911, dass die Gedanken seiner Großen Eingeweihten an die Entwicklungsströmung anklingen, die an Herder und Goethe anknüpft. Ich empfinde vieles Deutsche in dem Elsässer Edouard Schuré. Oft erschien mir beim Durcharbeiten der Großen Eingeweihten mancher Gedanke wie aus dem deutschen Anschauen übersetzt. Ich musste dann denken, dass Schuré als eines seiner ersten Bücher geschrieben hat Histoire du Lied, eine Entwicklungsgeschichte der deutschen Lyrik. Er empfand, indem er für die deutsche lyrische Schöpfung das Wort Lied nicht durch einen französischen Ausdruck wiedergab, wie die deutsche Lyrik in gewisser Hinsicht einzigartig aus der Tiefe deutschen Wesens geflossen ist. Auch hat Schuré ein Buch über Richard Wagners Geistesart und Kunst geschrieben. Man kann bemerken, dass, was ihn an Ideen zu diesem Buch begeistert hat, vielfach wieder anklingt auch in dem vorliegenden Buch. — Sicher gehört aber der Inhalt von Schurés Buch zu jenen allgemein-menschlichen Geisteswerten, die über dem stehen, was Völker trennt.
Berlin, im Juli 1916.
Dr. Rudolf Steiner
Ich bin sicher, dass ein Tag kommen wird, wo der Physiologe, der Dichter und der Philosoph dieselbe Sprache sprechen und sich begegnen werden.
Claude Bernard
Das größte Übel unserer Zeit ist, dass Wissenschaft und Religion sich wie zwei feindliche, unversöhnliche Mächte gegenüberstehen. Dieses intellektuelle Übel ist um so schädlicher, als es von oben kommt und sich leise und sicher in alle Geister hineinschleicht wie ein subtiles Gift, das man mit der Luft einatmet. Jedes intellektuelle Übel wird aber bald ein seelisches und deshalb ein soziales.
Solange das Christentum naiv den christlichen Glauben inmitten eines noch halb barbarischen Europas betonte, war es die größte moralische Kraft; es hat die Seele des modernen Menschen geformt. — Solange die experimentelle Wissenschaft, öffentlich wiederhergestellt im sechzehnten Jahrhundert, nur die legitimen Rechte der Vernunft und deren unbegrenzte Freiheit forderte, war sie die gewaltigste intellektuelle Kraft; sie hat das Antlitz der Welt wieder erneuert, den Menschen von jahrhundertealten Ketten befreit, dem menschlichen Verstand eine unzerstörbare Grundlage geschaffen.
Aber seitdem die Kirche angesichts der Einwendungen der Wissenschaft ihr uraltes Dogma nicht mehr beweisen kann und sich in ihm wie in einem fensterlosen Hause einschließt, der Vernunft den Glauben entgegensetzend, wie ein undiskutierbares und absolutes Gebot; seitdem die Wissenschaft, berauscht von ihren Entdeckungen in der physischen Welt, gänzlich von der psychischen und geistigen Welt absieht und in ihrer Methode agnostisch, in ihren Grundsätzen und Schlussfolgerungen materialistisch geworden ist; seitdem die Philosophie, richtungslos und ohnmächtig zwischen beiden stehend, in gewissem Sinne ihren Rechten entsagt hat, um in transzendenten Skeptizismus zu verfallen, seitdem ist ein tiefer Riss in der Seele der Gesellschaft wie in denjenigen der Individuen entstanden. Dieser Konflikt, der zuerst notwendig und nützlich war, weil er die Rechte der Vernunft und der Wissenschaft feststellte, wurde zuletzt eine Ursache der Ohnmacht und Lähmung. Die Religion entspricht den Anforderungen des Herzens, deshalb ihr ewiger Zauber; die Wissenschaft denjenigen des Verstandes, deshalb ihre unbesiegbare Kraft. Doch seit Langem können diese Mächte sich nicht mehr verstehen. Die Religion ohne Beweise und die Wissenschaft ohne Hoffnung stehen sich gegenüber und fordern einander in die Schranken, ohne sich besiegen zu können.
Daher ein tiefer Widerspruch, ein verborgener Krieg, nicht nur zwischen dem Staat und der Kirche, sondern auch in der Wissenschaft selbst, im Herzen aller Kirchen, und bis in die Gewissen aller denkenden Individuen hinein. Denn, wer wir auch seien, welcher philosophischen, ästhetischen und sozialen Schule wir auch zugehören, wir tragen in uns diese zwei feindlichen, dem Scheine nach unversöhnlichen Welten, die aus zwei unzerstörbaren Bedürfnissen des Menschen heraus geboren sind: dem wissenschaftlichen und dem religiösen Bedürfnis. Dieser Zustand, der seit mehr als hundert Jahren dauert, hat gewiss nicht wenig dazu beigetragen, die menschlichen Fähigkeiten durch äußerste Anspannung zu entwickeln. Er hat der Dichtung und der Musik Töne eines grandiosen Pathos entlockt. Heute aber hat die allzu lang dauernde und straffe Spannung die entgegengesetzte Wirkung hervorgerufen. So wie bei einem Kranken auf das Fieber die Mattigkeit folgt, so hat sie sich in geistige Entkräftung, in Ekel, in Ohnmacht gewandelt. Die Wissenschaft beschäftigt sich nur mit der physischen und materiellen Welt; die moderne Philosophie hat die Führung der Geister verloren, die Religion herrscht noch bis zu einem gewissen Sinne über die Massen, aber nicht mehr auf den sozialen Gipfeln; immer noch groß durch werktätige Liebe, strahlt sie nicht mehr durch die Kraft des Glaubens. Die geistigen Leiter unserer Zeit sind durchaus ehrliche und loyale Ungläubige und Skeptiker. Aber sie zweifeln an ihrem Können und blicken sich lächelnd an wie römische Auguren. In der Öffentlichkeit, im privaten Leben verkünden sie soziale Katastrophen, ohne ein Gegenmittel zu finden, und hüllen ihre dunklen Weissagungen in beschönigende Ausdrücke ein. Unter solchem Einfluss haben die Literatur und die Kunst den Sinn für das Göttliche verloren. Der ewigen Horizonte bar, ist ein großer Teil der Jugend untergetaucht in das, was seine neuen Lehrer den Naturalismus nennen, damit den schönen Namen der Natur herabwürdigend. Denn was sie mit diesem Namen schmücken, ist nichts als die Apologie der niederen Instinkte, der Schmutz des Lasters oder die gefällige Ausmalung unserer sozialen Flachheiten; mit einem Worte, die systematische Verneinung der Seele und des Geistes. Und die arme Psyche, die ihre Flügel verloren hat, stöhnt und seufzt seltsam im Innersten selbst derjenigen, die sie schmähen und verleugnen.
Materialismus, Positivismus und Skeptizismus haben am Ende des Jahrhunderts einen falschen Begriff von der Wahrheit und dem Fortschritt herangebildet.
Unsere Gelehrten, die für das Studium des sichtbaren Universums mit wunderbarer Genauigkeit und herrlichen Erfolgen die experimentelle Methode Bacons anwenden, haben von der Wahrheit einen ganz äußerlichen und materiellen Begriff. Sie glauben, dass man sich ihr in dem Maße nähert, als man eine größere Menge von Tatsachen anhäuft. Auf ihrem Gebiete haben sie recht. Eine Gefahr bedeutet es, dass unsere Philosophen und Moralisten auch dahin gekommen sind, so zu denken. Bei dieser Methode ist es sicher, dass die ersten Ursachen und die letzten Endziele für den menschlichen Verstand auf immer undurchdringbar bleiben. Denn nehmen wir an, dass wir genau wüssten, was im Sinne des Materiellen auf allen Planeten unseres Sonnensystems geschieht (eine prächtige Induktionsbasis, nebenbei gesagt), nehmen wir sogar an, dass wir genau wüssten, welche Art Bewohner die Satelliten des Sirius und mehrere Sterne der Milchstraße haben: gewiss wäre es herrlich, alles das zu wissen. Wären wir dadurch besser unterrichtet von der Gesamtheit der Sternanhäufungen? Gar nicht zu sprechen von der Nebelmasse der Andromeda und der Wolkenmasse des Magellan. — Dies ist der Grund, weshalb unsere Zeit die Entwicklung der Menschheit wie ein ewiges Schreiten zu einem unbestimmten, unbestimmbaren, auf immer unerreichbaren Ziele empfindet.
Es ist das Bekenntnis der positivistischen Philosophie von Auguste Comte und Herbert Spencer, das in unseren Tagen siegte.
Etwas ganz anderes jedoch war die Wahrheit für die Weisen und Theosophen des Orients und Griechenlands. Sie wussten gewiss, dass man sie nicht umfassen und mit sich in Übereinstimmung bringen kann ohne eine summarische Kenntnis der physischen Welt; aber sie wussten auch, dass die Wahrheit vor allem in uns selbst lebt, in den Prinzipien unseres Geistes und in dem spirituellen Leben unserer Seele. Für sie war die Seele die einzige, die göttliche Realität und der Schlüssel zum Universum. Indem sie ihren Willen in seinem Mittelpunkt ergriffen, indem sie dessen latente Fähigkeiten entwickelten, tauchten sie unter in jenes lebende Feuer, das man Gott nennt und in dessen Licht Menschen und Wesenheiten zu begreifen sind. Für sie war das, was wir Fortschritt nennen, nämlich das Wissen der Welt- und Menschengeschichte, nichts anderes als die Entwicklung jener ersten Ursache und jenes letzten Zieles in der Zeit und im Raum. — Vielleicht glaubt man, dass jene Theosophen nichts anderes waren als sinnige Menschen, ohnmächtige Träumer, auf Säulen stehende Fakire? Dies wäre ein Irrtum. Die Welt hat keine größeren Helden der Zeit gekannt. Sie glänzen wie Sterne erster Größe am Himmel der Seelen. Sie nennen sich: Krishna, Buddha, Zoroaster, Hermes, Moses, Pythagoras, Jesus; und es waren mächtige Geistesbildner, gewaltige Erwecker der Seelen, segenbringende Organisatoren der Gesellschaft. Nur für ihre Idee lebend, immer zu sterben bereit, wissend, dass der Tod für die Wahrheit die wirksamste und höchste Tat ist, haben sie die Wissenschaften und die Religionen geschaffen und infolgedessen das Schrifttum und die Künste, deren Saft uns bis heute Nahrung und Leben gibt. Und was schafft der Positivismus und der Skeptizismus unserer Tage? Eine nüchterne Generation, ohne Ideal, ohne Licht und ohne Glauben, die weder an Gott noch an die Seele, noch an die Zukunft des Menschengeschlechtes, noch an dieses Leben, noch an ein anderes glaubt, ohne Zähigkeit im Willen, an sich und an der menschlichen Freiheit zweifelnd.
»An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen«, sagt Jesus. Dieses Wort des Meisters aller Meister lässt sich ebenso gut auf Lehren wie auf Menschen anwenden. Ja, dieser Gedanke drängt sich auf: entweder ist die Wahrheit auf immer dem Menschen unerreichbar oder sie war bis zu einem hohen Maß Besitz der großen Weisen und ersten Eingeweihten der Erde. Sie ist also in allen großen Religionen und heiligen Büchern der Völker enthalten. Nur muss man sie da entdecken und ans Licht bringen.
Wenn man die Geschichte der Religionen mit Augen betrachtet, welche von jener zentralen Weisheit geöffnet sind, die allein die innere Initiation geben kann, so ist man zugleich erstaunt und verwundert. Was man dann erschaut, sieht in nichts dem ähnlich, was unsere Kirche lehrt, welche die Offenbarung auf das Christentum beschränkt und nur ihren elementaren Sinn gelten lässt. Aber es sieht ebenso wenig dem ähnlich, was die rein naturalistische Wissenschaft unserer Universitäten lehrt. Diese jedoch lässt einen weiteren Gesichtskreis gelten. Sie stellt alle Religionen auf gleiche Linie und wendet eine einzige Forschungsmethode an. Ihr Wissen ist tief, ihr Eifer herrlich, aber sie hat sich noch nicht bis zum Standpunkt des vergleichenden Esoterismus erhoben, welcher das Werden der Religionen und der Menschheit in einem ganz anderen Lichte zeigt. Von dieser Höhe aus erblickt man Folgendes:
Alle großen Religionen haben eine äußere und eine innere Geschichte: die eine offenbar, die andere verborgen. Durch die äußere Geschichte erschließen sich die in den Tempeln und Schulen öffentlich gelehrten, vom Kultus und dem Volksaberglauben anerkannten Dogmen und Mythen. Durch die innere Geschichte erschließen sich die tiefe Wissenschaft, die geheime Weisheit, das verborgene Wirken der großen Eingeweihten, der Propheten und Reformatoren, die diese Religionen geschaffen, gestützt und verbreitet haben. Die erste, die äußere Geschichte, die überall gelesen wird, geht am hellen Tage vor sich; sie ist nichtsdestoweniger dunkel, verworren, widerspruchsvoll. Die zweite, die ich die esoterische Tradition oder die Mysterienlehre nenne, ist sehr schwer aus der ersten zu entwirren. Denn sie verläuft im Innern der Tempel, in den geheimen Brüderschaften, und ihre ergreifendsten Dramen spielen sich ganz ab in den Seelen der großen Propheten, die keinem Pergament und keinem Jünger ihre höchsten Kämpfe, ihre göttlichen Ekstasen anvertraut haben. Man muss ihre Rätsel lösen. Sieht man sie aber einmal, erscheint sie lichtvoll, organisch und immer in Harmonie mit sich selbst. Man könnte sie auch die Geschichte der ewigen, universellen Religion nennen. Sie zeigt uns das Innere der Dinge, die Lichtseite des menschlichen Bewusstseins, während die Geschichte uns nur dessen Außenseite zeigt. Dort rinden wir den schöpferischen Keimpunkt von Religion und Philosophie, welche am andern Ende der Ellipse in der ungeteilten Wissenschaft sich wieder vereinigen. Es ist der Punkt, der den übersinnlichen Wahrheiten entspricht. Wir finden hier die Ursache, den Ursprung und das Endziel der ungeheuren Arbeit der Jahrhunderte, die Weltenlenkung in ihren irdischen Sendboten. Diese Geschichte ist die einzige, mit der ich mich in diesem Buche beschäftigt habe.
Für die arische Rasse ist der Keim und der Kern davon in den Veden enthalten. Ihre erste geschichtliche Kristallisation erscheint in der Dreifaltigkeitslehre des Krishna, die dem Brahmanismus seine Kraft verleiht und Indien ein unauslöschliches Gepräge gibt. Buddha, der nach der brahmanischen Chronologie zweitausendvierhundert Jahre später als Krishna gelehrt hat, betont nur eine andere Seite der Geheimlehre, diejenige der Metempsychose und der durch das Gesetz des Karma miteinander verbundenen Existenzen. Obgleich der Buddhismus eine demokratische, soziale und sittliche Revolution gegen den aristokratischen und priesterlichen Brahmanismus war, ist sein metaphysischer Gehalt derselbe, nur weniger vollständig.
Nicht weniger auffallend ist das hohe Alter der Geheimlehre in Ägypten, dessen Traditionen in eine Zivilisation hineinreichen, die dem Erscheinen der arischen Rasse auf dem Schauplatz der Geschichte weit voranging. Man durfte bis vor noch nicht langer Zeit annehmen, dass der dreiheitliche Monismus, so wie er in den griechischen Büchern des Hermes Trismegistos dargestellt wird, eine Kompilation der alexandrinischen Schule unter dem doppelten Einfluss des jüdischen Christentums und des Neoplatonismus sei. Gläubige und Ungläubige, Historiker und Theologen bekannten sich bis vor Kurzem zu dieser Theorie. Nun fällt sie vor den Entdeckungen der ägyptischen Epigrafik. Die fundamentale Echtheit der hermetischen Bücher als Dokumente der uralten Weisheit Ägyptens ersteht triumphierend aus den entzifferten Hieroglyphen. Nicht nur bestätigen die Stelen von Theben und Memphis die ganze Chronologie des Manethon, sondern sie beweisen auch, dass die Priester von Theben und Memphis sich zu derselben hohen Metaphysik bekannten, die man unter anderen Formen an den Ufern des Ganges lehrte. Man kann hier mit dem hebräischen Propheten sagen, dass der Stein spricht und die Mauer ihren Ruf ertönen lässt. Denn, gleich der Mitternachtssonne, die, wie man sagt, in den Mysterien von Isis und Osiris erstrahlte, so hat sich der Gedanke des Hermes, die uralte Lehre des Sonnenlogos, in den Grabmalen der Könige wieder entzündet, und wirft Licht auf die Papyrusrollen des Totenbuchs, das viertausend Jahre alte Mumien behüteten.
In Griechenland ist der esoterische Gedanke zugleich sichtbarer und umhüllter als anderswo; sichtbarer, weil er durch eine menschliche und entzückende Mythologie hindurchspielt, weil er wie ambrosisches Blut in den Adern dieser Zivilisation fließt und aus allen Poren ihrer Götter quillt, wie Blumenduft und himmlischer Tau. Andrerseits ist der tiefe philosophische und wissenschaftliche Gedanke, welcher der Fassung dieser Mythen zugrunde lag, gerade ihres Zaubers und der von Dichtern hinzugefügten Verschönerungen wegen oft noch schwerer zu durchdringen. Doch die erhabenen Grundsätze der dorischen Theogonie und der delphischen Weisheit sind mit goldenen Buchstaben in den orphischen Fragmenten und der pythagoräischen Synthese, ebenso in der dialektischen und etwas fantastischen gemeinverständlichen Darstellung Platos eingeschrieben. Die alexandrinische Schule schließlich liefert uns nützliche Schlüssel. Denn sie war die erste, die inmitten des Zerfalles der griechischen Religion und angesichts des wachsenden Christentums einen Teil der Mysterien veröffentlichte und ihren Sinn deutete.
Die okkulte Tradition Israels, die zugleich von Ägypten, Chaldäa und Persien herrührt, ist uns in ihrer ganzen Tiefe und Ausdehnung, wenn auch in sonderbaren und dunklen Formen, in der Kabbala oder mündlichen Überlieferung erhalten worden, von dem, Simon Ben Jochai zugeschriebenen Sohar und Sepher Jezirah an, bis zu den Auslegungen des Maimonides. Geheimnisvoll eingeschlossen in der Genesis und der Symbolik der Propheten, tritt sie auf schlagende Art hervor aus dem herrlichen Werke von Fabre d'Olivet über die wiederhergestellte hebräische Sprache; dieses Werk strebt an, die wirkliche Kosmogonie des Moses wieder aufzubauen, nach der ägyptischen Methode, gemäß dem dreifachen Sinne eines jeden Verses und beinah jeden Wortes in den ersten zehn Kapiteln der Genesis.
Was die christliche Esoterik anbetrifft, so strahlt sie uns von selbst entgegen aus den Evangelien, wenn wie sie im Lichte der essenischen und gnostischen Überlieferung betrachten. Wie ein lebendiger Quell strömt sie aus den Worten Christi, aus seinen Parabeln, aus der Tiefe dieser unvergleichlichen göttlichen Seele. Zugleich liefert uns das Evangelium des heiligen Johannes die Schlüssel zu der intimen und höheren Lehre Christi, wie auch den Sinn und die Tragweite seiner Verheißungen. Wir finden hier dieselbe Lehre der Dreieinigkeit und des göttlichen Wortes wieder, die schon seit Jahrtausenden in den Tempeln Ägyptens und Indiens gelehrt wurde, doch vorgelebt, verkörpert durch den Fürsten der Eingeweihten, durch den größten der Söhne Gottes.
Die Anwendung der Methode, die ich vergleichenden Esoterismus genannt habe, auf die Geschichte der Religionen führt uns zu einem Ergebnis von hoher Bedeutung, das sich folgendermaßen kurz zusammenfassen lässt: das hohe Alter, die ununterbrochene Fortdauer und die Wesenseinheit der esoterischen Lehre. Man muss die Bedeutung dieser Tatsache erkennen; denn sie setzt voraus, dass die Weisen und Propheten der verschiedensten Zeiten über die ersten und letzten Wahrheiten zu gleichen Schlussfolgerungen gekommen sind, im Inhalte gleich, wenn auch in der Form verschieden — und zwar immer auf dem Wege der inneren Einweihung und Meditation. Fügen wir hinzu, dass diese Weisen und Propheten die großen Wohltäter der Menschheit waren, die Erlöser, deren befreiende Kraft die Menschen aus dem Abgrund der niederen Natur und der Verneinung riss.
Muss man nicht danach mit Leibniz sagen, dass es eine Art ewiger Philosophie gibt, perennis quaedam philosophia, die das ursprüngliche Band zwischen Wissenschaft und Religion, und ihre endliche Einheit bildet?
Die uralte, in Indien, Ägypten und Griechenland gelehrte Theosophie bildet eine Universalwissenschaft, die gewöhnlich in vier Abteilungen geteilt wurde:
1. Die Theogonie oder die Wissenschaft der absoluten Prinzipien, identisch mit der auf das Universum angewandten Wissenschaft der Zahlen oder der heiligen Mathematik;
2. die Kosmogonie, Realisation der ewigen Prinzipien in der Zeit und dem Raum oder die Involution des Geistes in die Materie, Weltenperioden;
3. die Psychologie, Aufbau des Menschen, Evolution der Seele durch die Daseinsketten;
4. die Physik, Wissenschaft der irdischen Naturreiche und ihrer Eigenschaften.
In diesen verschiedenen Wissenschaften verbanden und kontrollierten sich gegenseitig die induktive und die experimentelle Methode, und jeder derselben entsprach eine Kunst. Es waren, wenn wir die Reihenfolge umkehren und von der Physik aufsteigen:
1. eine besondere Medizin, auf Kenntnis okkulter Eigenschaften der Mineralien, Pflanzen und Tiere beruhend; die Alchemie oder Umbildung der Metalle, Desintegration und Reintegration der Materie durch das universelle Agens, eine im alten Ägypten ausgeübte Kunst, von ihm Chrysopöe und Argyropöe genannt, Fabrikation des Goldes und des Silbers;
2. die den Seelenkräften entsprechenden psychurgischen Künste: Magie und Wahrsagung;
3. die Astrologie, oder die Kunst, den Zusammenhang zu finden zwischen den Schicksalen von Völkern und Individuen, und den Bewegungen des Universums, entsprechend den Bahnen der Sterne;
4. die Theurgie, die höchste Kunst des Magiers, ebenso so selten als gefährlich und schwer, bestehend im bewussten Verkehr mit den verschiedenen Graden der Geister und in der Gewalt über sie.
Man sieht es: Wissenschaft und Künste, alles hielt sich in dieser Theosophie und entsprang einem einzigen Prinzip, das ich in moderner Sprache gern den intellektuellen Monismus, den sich selbst entwickelnden und transzendenten Spiritualismus nennen möchte. Man kann auf folgende Art die Hauptgrundsätze der esoterischen Lehre formulieren: Der Geist ist eine einzige Realität. Die Materie ist nichts als ein niederer, vergänglicher, wechselnder Ausdruck, sein Dynamismus in der Zeit und in dem Räume. — Die Schöpfung ist ewig und dauert wie das Leben. — Der Mikrokosmos-Mensch ist durch seine dreifache Konstitution (Geist, Seele und Leib) das Spiegelbild der Makrokosmos-Welt (göttliche, menschliche, natürliche Welt); diese selbst ist das Organ des unaussprechlichen Gottes, des absoluten Geistes, der durch seine Natur: Vater, Mutter und Sohn ist (Essenz, Substanz und Leben). — Deshalb kann der Mensch, Ebenbild der Gottheit, sein lebendiges Wort werden. Die Gnosis oder die rationelle Mystik aller Zeiten ist die Kunst, Gott in sich zu rinden durch Entwicklung der verborgenen Tiefen, der latenten Fähigkeiten des Bewusstseins. — Die menschliche Seele, die Individualität, ist ihrer Essenz nach unsterblich. Ihre Entwicklung geschieht durch einen abwechselnden Niederstieg und Aufstieg in geistige oder körperliche Daseinsform. — Die Wiederverkörperung ist das Gesetz ihrer Entwicklung. Wenn die Seele ihre Vollkommenheit erreicht hat, hört diese Notwendigkeit auf, und sie kehrt in der Vollkommenheit ihres Bewusstseins zum reinen Geiste wieder, zu Gott. Ebenso wie die Seele sich über das Gesetz vom Kampf ums Dasein erhebt, wenn sie sich ihrer Menschlichkeit bewusst wird, ebenso erhebt sie sich über das Gesetz der Wiederverkörperung, wenn sie sich ihrer Göttlichkeit bewusst wird.
Die Perspektiven, die sich an der Schwelle der Theosophie eröffnen, sind unermesslich, besonders wenn man sie mit dem engen und trostlosen Horizont vergleicht, in welchen der Materialismus den Menschen einschließt, oder mit den kindlichen und unannehmbaren Angaben der klerikalen Theologie. Wenn man sie das erste Mal erblickt, empfindet man den Taumel, den Schauer des Unendlichen. Die Tiefen des Unbewussten öffnen sich in uns, zeigen uns den Abgrund, aus dem wir steigen, die schwindelerregenden Höhen, zu denen wir hinanstreben. Hingerissen von dieser Unermesslichkeit, doch entsetzt von den Mühen der Reise, flehen wir nicht mehr zu sein, rufen wir Nirwana an!
Dann erkennen wir, dass diese Schwäche nichts ist als die Müdigkeit des Seemanns, der mitten im Sturm sein Ruder wegwerfen will. Jemand hat gesagt: der Mensch ist in der Höhlung einer Welle geboren und weiß nichts von dem weiten Ozean, der sich hinten und vorn erstreckt. Das ist wahr; aber die transzendente Mystik stößt unseren Kahn auf den Kamm einer Welle, und dort, immer getrieben von der Gewalt des Sturmes, erfassen wir seinen grandiosen Rhythmus: und das Auge, das des Himmels Gewölbe ermisst, ruht in seinem blauen Frieden.
Das Erstaunen wächst, wenn man, zu den modernen Wissenschaften zurückkehrend, feststellen muss, dass seit Bacon und Descartes sie unwillkürlich, aber um so sicherer dem Grundgedanken der uralten Theosophie sich nähern. Ohne die Hypothese der Atome zu verlassen, ist die moderne Physik unmerklich dazu gekommen, den Gedanken der Materie mit dem Gedanken der Kraft zu identifizieren, was einen Schritt zum geistigen Dynamismus hin bedeutet. Um das Licht, den Magnetismus, die Elektrizität zu erklären, haben die Gelehrten eine subtile und durchaus unwägbare Materie annehmen müssen, die den Raum erfüllt und alle Körper durchdringt, was ein Schritt ist zur uralten theosophischen Idee der Weltenseele. Die Eindrucksfähigkeit hingegen, die intelligente Fügsamkeit dieser Materie ergibt sich aus einem vor kurzem erprobten Experiment, das die Möglichkeit der Übertragung des Tones durch das Licht beweist.1
Von allen Wissenschaften scheinen vergleichende Zoologie und Anthropologie am meisten dem Spiritualismus zu widersprechen. In Wirklichkeit können sie ihm dienen, denn sie zeigen, durch welches Gesetz und in welcher Art die geistige Welt in der tierischen ihren Ausdruck findet. Darwin hat aufgeräumt mit der kindlichen Idee einer Schöpfung im Sinne der primitiven Theologie. Er ist in dieser Beziehung nur zu den Ideen der uralten Theosophie zurückgekehrt. Pythagoras schon hatte gesagt: »Der Mensch ist dem Tiere verwandt.« Darwin hat die Gesetze gezeigt, denen die Natur gehorcht, um den göttlichen Plan auszuführen, die werktätigen Gesetze, die uns entgegentreten als: Kampf ums Dasein, Vererbung und natürliche Zuchtwahl. Er hat die Veränderlichkeit der Arten bewiesen, ihre Anzahl beschränkt, ihren Maßstab festgestellt. Aber seine Jünger, die Theoretiker einer absoluten Umbildung der Arten durch Zuchtwahl, die alle Arten aus einem einzigen Urbild hervorgehen lassen und ihr Erscheinen nur von dem Einfluss der Umgebung abhängig machen wollen: sie haben den Tatsachen Gewalt angetan zugunsten einer rein äußerlichen und materialistischen Auffassung der Natur. Nein, die Umgebung erklärt nicht die Art, ebenso wenig wie die physischen Gesetze chemische erklären, ebenso wenig wie die Chemie das Evolutionsprinzip der Pflanze und dieses das Evolutionsprinzip der Tiere erklärt. Die großen Tiergattungen hingegen entsprechen den ewigen Urbildern des Lebens, sind Signaturen (Siegelabdrücke) des Geistes in der Stufenfolge des Bewusstseins. Die Erscheinung der Säugetiere nach den Reptilien und den Vögeln hat nicht ihren Daseinsgrund in einer Änderung der irdischen Umgebung; diese liefert nur die Bedingungen. Sie setzt eine neue Embryogenie voraus; folglich eine neue intellektuelle und seelische Kraft, die aus dem Innern und den Tiefen der Natur heraus wirkt, die wir, im Hinblick auf unsere Sinneswahrnehmung, das Jenseits nennen. Ohne diese intellektuelle und seelische Kraft wäre nicht einmal das Auftreten einer einzigen organisierten Zelle in der unorganischen Welt erklärbar. Der Mensch zuletzt, der die Reihe der Wesen zusammenfasst und krönt, offenbart den ganzen göttlichen Gedanken durch die Harmonie seiner Organe und die Vollendung seiner Form, er ist das lebendige Bildnis der universellen Seele, der tätigen Geisteskraft. Indem er in seinem Körper alle Gesetze der Entwicklung und die ganze Natur gedrängt zusammenfasst, beherrscht er sie und erhebt sich über sie, um auf dem Wege des Bewusstseins und der Freiheit in das unendliche Reich des Geistes zu dringen.
Die auf die Physiologie sich stützende experimentelle Psychologie, die seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wieder danach strebt, eine Wissenschaft zu werden, hat die modernen Gelehrten bis zur Schwelle einer anderen Welt geführt, der wahren Welt der Seele, wo neue Gesetze herrschen, ohne dass die Analogien aufhören. Ich meine damit die Studien und die medizinischen Feststellungen unseres Jahrhunderts über den tierischen Magnetismus, den Somnambulismus und alle jene vom Wachzustand sich unterscheidenden Seelenstadien, angefangen vom Traumschlaf, durch das Hellsehen, bis zur Ekstase. Die moderne Wissenschaft dringt nur tastend ein in dieses Gebiet, das die Wissenschaft der alten Tempel beherrschte, weil ihr deren Grundsätze und nötige Schlüssel zu Gebote standen. Nichtsdestoweniger hat sie eine Reihe von Tatsachen entdeckt, die ihr erstaunlich, wunderbar, unbegreiflich scheinen, weil sie rundweg den materialistischen Theorien widersprechen, unter deren Herrschaft man zu denken und zu experimentieren gewohnt war. Nichts ist lehrreicher als die empörte Ungläubigkeit einiger gelehrter Materialisten allen Phänomenen gegenüber, die als Beweise des Bestehens einer unsichtbaren und geistigen Welt gelten dürfen. Heute fordert jemand, der die Seele zu beweisen wagt, den Ärger des orthodoxen Atheismus ebenso heraus wie früher der Gottesleugner den Zorn der orthodoxen Kirche. Man wagt nicht mehr sein Leben, das ist wahr, aber man wagt seinen Ruf. — Wie dem auch sei, das, was sich in dem einfachsten Phänomen mentaler Suggestion auf eine Entfernung hin und kraft des reinen Gedankens ergibt, ist eine Wirkungsart des Geistes und des Willens, jenseits der physischen Gesetze und der sichtbaren Welt. Das Tor zum Unsichtbaren ist also offen. — In den höheren Phänomenen des Somnambulismus öffnet sich diese Welt ganz. Doch ich bleibe hier stehen bei dem, was von der offiziellen Wissenschaft festgestellt ist.
Wenn wir von der experimentellen und objektiven Psychologie übergehen zur intimen und subjektiven unserer Zeit, die sich in Poesie, Musik und Literatur ausdrückt, so finden wir, dass ein ungeheurer Zug von unbewusstem Esoterismus sie durchzieht. Niemals vielleicht war das Sehnen nach dem geistigen Leben, nach der unsichtbaren Welt, das die materialistischen Theorien der Gelehrten und die Meinung der Welt zurückgedrängt hatten, ernster und wirklicher. Man findet dieses Sehnen in dem Bedauern, den Zweifeln, der düsteren Melancholie, bis hinein in die Lästerungen unserer naturalistischen Romanschriftsteller und unserer dekadenten Dichter. Niemals hat die menschliche Seele ein tieferes Gefühl gehabt von der Unzulänglichkeit, dem Elend, der Unwirklichkeit ihres jetzigen Lebens. Niemals hat sie sich glühender nach einem unsichtbaren Jenseits gesehnt, ohne dazu gelangen zu können, an es zu glauben. Manchmal gelingt es ihrer Intuition, übersinnliche Wahrheiten auszusprechen, die dem von der Vernunft aufgebauten System, den Ansichten von außen widersprechen und die gleichsam Lichtstrahlen ihres okkulten Bewusstseins sind. Als Beweis führe idi den Ausspruch eines seltenen Denkers an, der die ganze Bitternis und die ganze sittliche Vereinsamung unserer Zeit ausgekostet hat. »Jede Sphäre des Seins«, sagt Friedrich Amiel, »strebt einer höheren Sphäre entgegen, die sich ihr durch Offenbarungen und Ahnungen eröffnet. Das Ideal ist unter allen seinen Formen die Vorverkündigung, die prophetische Vision eines erhabenen Daseins, nach dem jedes Wesen sich immerwährend sehnt. Dieses Dasein ist würdiger und seinem Wesen nach innerlicher, d. h. durchgeistigter. Wie die Vulkane uns die Geheimnisse des Erdinnern entgegenbringen, so sind die Begeisterung, die Ekstase, vorübergehende Ausbräche dieser inneren Welt der Seele, und das menschliche Leben ist nichts als die Vorbereitung, der Antritt zu diesem geistigen Leben. Die Stufen der Initiation sind zahllos. Deshalb wache, Jünger des Lebens, Schmetterlingspuppe, arbeite an deiner künftigen Entfaltung, denn die göttliche Odyssee ist nichts als eine Reihe von Metamorphosen in immer feinerem Äther, wo jede Form eine Wirkung der vorangegangenen, eine Bedingung der nachfolgenden ist. Das göttliche Leben ist ein wiederholtes Sterben, bei welchem der Geist seine Unvollkommenheiten und seine Symbole abstreift und sich der wachsenden Anziehungskraft überlässt, die ihm vom unaussprechbaren Gravitationszentrum entgegenwirkt, der Sonne der Vernunft und Liebe.« Gewöhnlich war Amiel nur ein sehr intelligenter Hegelianer, ein vortrefflicher Sittenlehrer. An dem Tage, da er diese Zeilen schrieb, war er ein tiefer Theosoph. Denn man könnte nicht lichtvoller und ergreifender das eigentliche Wesen der esoterischen Wahrheit wiedergeben.
Dieser Überblick genügt, um klarzulegen, dass Wissenschaft und moderner Geist, ohne es zu wissen und zu wollen, an einer Wiederherstellung der uralten Theosophie arbeiten, mithilfe genauerer Werkzeuge und auf einer solideren Grundlage. Dem Ausspruch Lamartines gemäß ist die Menschheit ein Weber, der von außen am Webstuhl der Zeiten arbeitet. Ein Tag wird kommen, wo sie, auf die andere Seite hinübertretend, das herrliche und grandiose Bild betrachten wird, das sie jahrhundertelang mit eigenen Händen gewebt, ohne etwas anderes gesehen zu haben als das Durcheinander der rückwärts verschlungenen Fäden. An jenem Tage wird sie die in ihr selbst offenbarte Vorsehung grüßen. Dann werden die Worte eines gegenwärtigen hermetischen Schriftstückes ihre Bestätigung finden und denen nicht zu verwegen scheinen, die tief genug in die okkulten Traditionen eingedrungen sind, um ihre wunderbare Einheit zu ahnen: »Die esoterische Lehre ist nicht nur eine Wissenschaft, eine Philosophie, eine Moral, eine Religion. Es ist die Wissenschaft, die Philosophie, die Moral und die Religion, von welcher alle anderen nur Vorbereitungen oder Entartungen sind, Bruchstücke oder Fälschungen, je nachdem sie zu ihr hinstreben oder von ihr abweichen.«2
Fern von mir sei der eitle Gedanke, eine vollständige Darlegung dieser höchsten Wissenschaft gegebenzuhaben. Dazu gehört nicht weniger als der Gesamtaufbau der bekannten und unbekannten Wissenschaften, wiederhergestellt in ihrem hierarchischen Rahmen und neu organisiert im Sinne des Esoterismus. Was ich hoffe, bewiesen zu haben ist, dass die Lehre der Mysterien am Ausgangspunkt unserer Zivilisation steht; dass sie die großen arischen wie auch die großen semitischen Religionen geschaffen hat; dass das Christentum die ganze Menschheit dahin führt durch seinen esoterischen Gehalt und dass die moderne Wissenschaft in der Gesamtheit ihrer Bestrebungen wie durch Vorsehung dahin zielt; dass sie dort endlich wie in einem Hafen einlaufen müssen, um ihre Synthese zu finden.
Man kann sagen, dass überall, wo sich irgendein Fragment der esoterischen Lehre findet, es die Möglichkeit des Ganzen in sich schließt. Denn jeder ihrer Teile setzt andere voraus oder erzeugt solche. Die großen Weisen, die wirklichen Propheten haben sie alle besessen, und die Weisen und Propheten der Zukunft werden sie ebenso besitzen. Das Licht kann mehr oder weniger intensiv sein, aber es ist immer dasselbe Licht. Die Form, die Einzelheiten, die Angriffspunkte können sich bis ins Unendliche ändern; der Kern, d. h., die Grundlehren und Endziele niemals. — Nichtsdestoweniger wird man in diesem Buche eine Art allmählicher Entwicklung, fortschreitender Offenbarung der Lehre in ihren verschiedenen Teilen finden, und zwar in den großen Eingeweihten, von denen jeder eine der großen Religionen verkörpert, die für die Beschaffenheit der heutigen Menschheit maßgebend sind. Ihre Reihenfolge gibt die Evolutionslinie an, welche sie im gegenwärtigen Zyklus durchschreitet, seit dem uralten Ägypten und den arischen Zeiten. Man wird sie also nicht aus einer abstrakten und scholastischen Auseinandersetzung hervortreten sehen, sondern aus dem Glanz der Seelen dieser großen Erleuchteten und aus dem lebendigen Wirken der Geschichte.
In dieser Reihe zeigt Rama nur den Zugang zum Tempel, Krishna und Hermes geben den Schlüssel dazu. Moses, Orpheus und Pythagoras öffnen uns sein Inneres. Jesus Christus stellt sein Heiligtum dar.
Dieses Buch ist ganz entsprungen einer glühenden Sehnsucht nach der höchsten, vollständigen, ewigen Wahrheit, ohne welche die Teilwahrheiten nur Trug sind. Diejenigen werden mich verstehen, die, wie ich, das Bewusstsein davon haben, dass der gegenwärtige Zeitpunkt der Geschichte, mit seinen materiellen Reichtümern, vom Standpunkt der Seele und ihres unsterblichen Sehnens aus, nichts ist als eine traurige Wüste. Die Stunde ist ernst und die äußersten Konsequenzen des Agnostizismus machen sich fühlbar in der sozialen Auflösung. Für Frankreich wie für Europa handelt es sich um Sein oder Nichtsein. Es handelt sich darum, die zentralen, organischen Wahrheiten auf unzerstörbaren Grundlagen festzusetzen oder endgültig in den Abgrund des Materialismus und der Anarchie zu stürzen.
Die Wissenschaften und die Religion, diese Hüterinnen der Zivilisation, haben beide ihre höchste Gabe, ihre Magie, verloren, diejenige der großen und starken Erziehung. Die Tempel Indiens und Ägyptens haben die größten Weisen der Erde hervorgebracht. Die griechischen Tempel haben Helden und Dichter gemodelt. Die Apostel Christi waren erhabene Märtyrer und haben ihrer Tausende erzeugt. Die Kirche des Mittelalters hat trotz ihrer primitiven Theologie Heilige und Ritter geschaffen, weil sie glaubte und weil ab und zu der Geist Christi in ihr aufzuckte. Heute können weder die in ihrem Dogma befangene Kirche noch die in der Materie aufgehende Wissenschaft Vollmenschen hervorbringen. Die Kunst, Seelen zu schaffen und zu bilden, ist verloren gegangen und wird nur wiedergefunden werden, wenn die Wissenschaft und die Religion, wieder vereinigt zu einer lebendigen Kraft, gemeinsam und in gegenseitigem Einvernehmen streben werden zum Wohl und Heil der Menschheit. Um dieses zu erreichen, brauchte die Wissenschaft nicht ihre Methode zu ändern, sondern ihr Gebiet zu erweitern, das Christentum nicht seine Tradition aufzugeben, sondern deren Ursprung, deren Geist und deren Tragweite zu verstehen.
Diese Zeit der geistigen Wiedererneuerung und sozialen Umgestaltung wird kommen, davon sind wir überzeugt. Schon deuten sichere Vorzeichen darauf. Wenn die Wissenschaft wahrhaftes Wissen sein wird, dann wird die Religion echtes Können entwickeln, und der Mensch wird handeln mit erneuter Energie. Die Kunst des Lebens und alle Künste können nur durch diesen Ausgleich zu neuem Dasein erwachen.
Doch was sollen wir tun am Ende dieses Jahrhunderts, das einem Niederstieg in den Abgrund in düsterer Dämmerstunde gleicht, während sein Anfang erschienen war wie ein Aufstieg zu freien Gipfeln bei strahlender Morgenröte? — »Der Glaube«, hat ein großer Gelehrter gesagt, »ist die Kraft des Geistes, die ihn vorwärtsdrängt auf dem Wege zur Wahrheit. Dieser Glaube ist nicht der Feind der Vernunft, sondern seine Leuchte; es ist der Glaube des Christoph Kolumbus und Galilei, der den Beweis und den Gegenbeweis haben will, provando e riprovando, und es ist der einzige, der heute möglich ist.«
Für diejenigen, die ihn unwiderruflich verloren haben, und die sind zahlreich — denn das Beispiel ist von oben gekommen, ist der leicht gangbare Weg, den Forderungen des Tages sich fügen, sich in sein Jahrhundert finden, statt dagegen anzukämpfen, sich dem Zweifel oder der Verneinung zu ergeben, sich über alles menschliche Elend und alle künftigen Kataklysmen hinwegzuhelfen mit einem Lächeln der Geringschätzung, und das tiefe Nichts der Dinge — an das allein man glaubt — mit einem glänzenden Schleier zu bedecken, den man ausschmückt mit dem schönen Namen Ideal — während man zugleich denkt, dass es nichts ist als eine nützliche Chimäre.
Uns jedoch, armen verirrten Kindern, die da glauben, dass das Ideal die einzige Wirklichkeit und die einzige Wahrheit sei inmitten einer schwankenden und fließenden Welt; die da glauben an das ihm innewohnende Schöpferische und an die Erfüllung seiner Verheißungen in der Menschheitsgeschichte wie im zukünftigen Leben; uns, die da wissen, dass diese Schöpferkraft notwendig ist, dass sie der Lohn menschlicher Verbrüderung wie der Daseinsgrund des Universums und die Logik Gottes ist; — uns, die wir diese Überzeugung haben, bleibt nur eines übrig: Verkünden wir diese Wahrheit ohne Furcht und so laut als möglich; werfen wir uns für sie und mit ihr in die Arena der Tat, und trotz des wirren Tumultes versuchen wir durch die Meditation und die persönliche Einweihung einzudringen in den Tempel der unwandelbaren Ideen, um daselbst ausgerüstet zu werden mit den unüberwindlichen Prinzipien.
Dies ist, was ich in diesem Buch zu tun versucht habe in der Hoffnung, dass andere mir folgen, die es besser tun werden.
1Experiment von Bell: Man lässt einen Lichtstrahl auf eine Platte aus Selenium fallen, die ihn auf eine andere entfernte Platte vom selben Metall hinwirft. Diese steht in Verbindung mit einer galvanischen Batterie, an welche sich ein Telefon anschließt. Worte, die hinter der ersten Platte ausgesprochen werden, sind deutlich vernehmbar im Telefon, das mit der zweiten Platte in Verbindung steht. Die Schallwellen haben sich in Lichtwellen verwandelt, diese in galvanische Wellen, welche wiederum Schallwellen geworden sind.
2»Der wahre Weg, Christentum zu finden« von Anna Kingsford und Maitland, London, 1882.
Zoroaster fragte Ormuzd, den großen Schöpfer: »Welches ist der erste Mensch, zu dem du gesprochen?«
Ormuzd antwortete: »Es ist der schöne Yima, der an der Spitze der Tapfern stand. — Ich habe ihn übertragen, zu wachen über die Welten, die mir gehören, und ich gab ihm ein goldenes Schwert, eine Waffe des Sieges.«
Und Yima schritt voran auf dem Sonnenweg und vereinigte die tapfern Männer im ruhmreichen Airyana-Vaeja, erschaffen in Reinheit.
(Zend Avesta), (Vendidad-Sade, 2. Fargard)
O Agni! Heiliges Feuer! Reinigendes Feuer! Du, der du in den Wäldern schläfst und in glänzenden Flammen von dem Altar steigst, du bist das Herz des Opfers, die tragende Kraft des Gebets, der verborgene göttliche Eimke eines jeden Dinges und die glorreiche Seele der Sonne.
Vedischer Hymnus
Die menschlichen Rassen
und der Ursprung der Religion
»Der Himmel ist mein Vater, er hat mich erzeugt. Diese Welt von Sternen ist meine Familie. Meine Mutter ist die große Erde. Der höchste Teil ihrer Oberfläche ist ihre Matrize; dort befruchtet der Vater den Schoß derjenigen, die zugleich seine Gattin und Tochter ist.«
So sang vor vier- oder fünftausend Jahren der Dichter der Veden vor einem irdenen Altar, auf welchem ein Feuer von trockenen Kräutern flammte. Eine tiefe Ahnung, ein großartiges Bewusstsein atmet in diesen Worten. Sie enthalten das Geheimnis des doppelten Ursprungs der Menschheit. Der Erde vorangehend und sie überdauernd, ist das göttliche Urbild des Menschen; himmlisch ist der Ursprung seiner Seele. Aber sein Körper ist das Erzeugnis der irdischen, von einer kosmischen Essenz befruchteten Elemente. Die Umarmungen des Uranos und der großen Mutter bedeuten in der Sprache der Mysterien das Hinabfluten der Seelen oder geistigen Monaden, welche die irdischen Keime befruchten; die organisierenden Prinzipien, ohne welche die Materie nichts wäre als eine starre, ungeordnete Masse. Der höchste Teil der Erdoberfläche, welche der Vedendichter die irdische Matrize nennt, bezeichnet Kontinente und Berge, die Wiegen der menschlichen Rassen. Der Himmel jedoch: Varuna, der Uranos der Griechen, stellt die unsichtbare, überphysische, ewige und geistige Ordnung dar, er umfasst die ganze Unendlichkeit des Raumes und der Zeit.
In diesem Kapitel werden wir nur die irdische Abstammung der Menschheit verfolgen, gemäß den esoterischen Traditionen, welche von der anthropologischen und ethnologischen Wissenschaft unserer Tage bestätigt worden sind.
Die vier Rassen, die jetzt sich den Globus teilen, sind Tochter verschiedener Erdstriche und Zonen. In langen Zwischenräumen, welche die uralten Priester Indiens interdiluvianische Zyklen nannten, sind die Kontinente, allmähliche Schöpfungen, langsame Durcharbeitungen der kreisenden Erde, den Meeren entstiegen. Jahrtausende hindurch hat jeder Kontinent seine Flora und Fauna erzeugt, gekrönt von einer Menschenrasse bestimmter Färbung.
Der südliche Kontinent, von der letzten großen Flut hinweggespült, war die Wiege der primitiven roten Rasse, von welcher die Indianer Amerikas Überbleibsel sind, Nachkömmlinge von Troglodyten, die sich auf die Gipfel der Berge flüchteten, als der Kontinent unterging. Afrika ist die Mutter der schwarzen Rasse, welcher die Griechen den Namen der äthiopischen gegeben hatten. Asien hat die gelbe Rasse hervorgebracht, die in den Chinesen weiter besteht. Die letztgekommene, die weiße Rasse ist aus den Wäldern Europas hervorgegangen, zwischen den Stürmen des Atlantischen Ozeans und dem Lächeln des Mittelländischen Meeres. Alle menschlichen Variationen entspringen den Mischungen, den Zusammenstellungen, den Entartungen und Selektionen dieser vier großen Rassen. In den vorhergegangenen Zyklen haben die rote und die schwarze Rasse abwechselnd geherrscht durch mächtige Zivilisationen, die ihre Spuren in den zyklopischen Bauten wie in der Architektur von Mexiko hinterlassen haben. Die Tempel Indiens und Ägyptens hatten über diese entschwundenen Zivilisationen summarische Zahlen und Überlieferungen. — In unserem Zyklus dominiert die weiße Rasse, und wenn man das wahrscheinliche Alter Indiens und Ägyptens in Betracht zieht, wird man ihre Vorherrschaft auf ungefähr sieben- oder achttausend Jahre bemessen.1
Den brahmanischen Traditionen gemäß hätte die Zivilisation auf unserer Erde vor fünfzigtausend Jahren begonnen mit der roten Rasse auf dem südlichen Kontinent, während ganz Europa und ein Teil Asiens noch unter Wasser waren. Diese Mythologien sprechen auch von einer vorangegangenen Rasse von Riesen. Man hat in gewissen Höhlen des Tibets riesige Menschenknochen gefunden, deren Bildung mehr dem Affen als dem Menschen ähnlich ist. Sie lassen sich zurückführen auf eine primitive Menschheit, ein Mittelglied, noch nah verwandt der Tierheit, die weder artikulierte Sprache noch gesellschaftliche Organisation noch Religion hatte. Denn diese drei Dinge entstehen immer zu gleicher Zeit; und dies ist der Sinn dieser bemerkenswerten bardischen Triade, welche sagt: »Drei Dinge sind von Anbeginn gleichzeitig: Gott, das Licht und die Freiheit.« Mit dem ersten Stammeln des Wortes wird die Gesellschaft geboren, und mit ihr kommt die Ahnung einer göttlichen Gesetzmäßigkeit. Es ist der Hauch Jehovas in dem Munde Adams, das Wort des Hermes, das Gesetz des ersten Manu, das Feuer des Prometheus. Ein Gott regt sich im Menschentier. Die rote Rasse, wir haben es bereits gesagt, bewohnte den heute versunkenen südlichen Kontinent, nach ägyptischen Traditionen von Plato Atlantis genannt. Ein großer Kataklysmus zerstörte ihn zum Teil und streute seine Reste auseinander. Mehrere polynesische Rassen sowohl wie die Indianer des nördlichen Amerikas und die Azteken, denen Francesco Pizarro in Mexiko begegnete, sind Überbleibsel der alten roten Rasse, deren auf immer entschwundene Zivilisation ihre Tage des Ruhmes und des materiellen Glanzes hatte. Alle diese armen Spätlinge tragen in ihrer Seele die unheilbare Melancholie der alten Rassen, die ohne Hoffnung dahinsterben.
Nach der roten Rasse beherrschte die schwarze Rasse den Globus. Man muss ihren Typus nicht in dem degenerierten Neger suchen, sondern in Abessinien und Nubien, wo sich das Gepräge dieser Rasse am vollendetsten erhalten hat. Die Schwarzen eroberten den Süden Europas in prähistorischen Zeiten und wurden von dort durch die Weißen vertrieben. Die Erinnerung an sie ist vollständig aus unsern Volksüberlieferungen geschwunden. Zwei unlöschbare Eindrücke sind jedoch geblieben: der Schrecken vor dem Drachen, der das Attribut ihrer Könige war, und die Idee, dass der Teufel schwarz ist. Die Schwarzen erwiderten die Schmähung, indem sie ihren Teufel weiß machten. Zur Zeit ihrer Herrschaft hatten die Schwarzen religiöse Zentren in Oberägypten und in Indien. Ihre zyklopischen Städte umzinnten die Berge Afrikas, des Kaukasus und Zentralasiens. Ihre gesellschaftliche Organisation bestand in einer absoluten Theokratie. Auf dem Gipfel Priester, die wie Götter gefürchtet wurden, unten wimmelnde Stämme ohne anerkannte Familie, die Frauen Sklavinnen. Diese Priester hatten tiefe Kenntnisse in das Prinzip der göttlichen Einheit des Universums und den Kultus der Sterne, der unter dem Namen Sabeismus in die weißen Rassen hineinsickerte.2 Aber zwischen der Wissenschaft der schwarzen Priester und dem großen Fetischismus der Massen gab es kein Zwischenglied, keine idealistische Kunst, keine anschauliche Mythologie. Im Übrigen herrschte eine ausgebildete Industrie, besonders die Kunst, durch die Ballistik (Lehre von der Flugbahn geworfener Körper) Massen kolossaler Steine zu handhaben und Metalle zu gießen in ungeheuren Feueröfen, an denen man Kriegsgefangene arbeiten ließ. In dieser Rasse, mächtig durch physische Widerstandskraft, durch eine energische Leidenschaftsnatur und durch die Befähigung zur Anhänglichkeit, war also die Religion die Herrschaft der Stärke durch die Furcht. Die Natur und Gott erschienen dem Gewissen dieser kindlichen Völker nur unter der Form des Drachens, des schrecklichen vorsintflutlichen Tieres, welches die Könige auf ihre Banner malen ließen und die Priester auf das Tor ihrer Tempel meißelten.
Hat die Sonne Afrikas die schwarze Rasse ausgebrütet, so könnte man sagen, dass die Eisblöcke des Nordpols das Aufkeimen der weißen Rasse gesehen haben. Es sind die Hyperborea, von denen die griechische Mythologie spricht. Diese Männer mit den roten Haaren und den blauen Augen kamen aus dem Norden, durch ihre vom Polarlicht erhellten Wälder, begleitet von Hunden und Rentieren, geführt von kühnen Häuptlingen und vorwärtsgetrieben von Seherinnen. Goldige Haare und himmelblaue Augen: auserwählte Farben. Diese Rasse sollte den Kultus der Sonne und des heiligen Feuers aufrichten und in die Welt die Sehnsucht nach dem Himmel hineintragen. Bald möchte sie sich gegen ihn empören und in ihrer Vermessenheit ihn erklimmen, bald will sie vor seiner Herrlichkeit in absoluter Anbetung niedersinken.
Wie die andern, so musste auch die weiße Rasse sich dem Stadium der Wildheit entringen, bevor sie sich ihrer selbst bewusst wurde. — Sie hat als Unterscheidungsmerkmale das Bedürfnis der individuellen Freiheit, das sinnende Gemüt, das die Macht der Sympathie erschafft, und das Vorherrschen des Intellekts, das der Einbildungskraft ein idealistisches und symbolisches Gepräge gibt. — Die Gemütswärme führte die Anhänglichkeit, die Vorliebe eines Mannes zu einer einzigen Frau herbei; deshalb die Tendenz dieser Rasse zur Monogamie, zum Eheprinzip und zur Familie. — Das Bedürfnis nach Freiheit mit dem nach Geselligkeit schuf den Klan mit seinem Wahlsystem. — Die suchende Imagination schuf den Kultus der Ahnen, der die Wurzel und den Mittelpunkt der Religionen bei den weißen Völkern bildet.
Das gesellige und politische Prinzip offenbart sich an dem Tag, an dem eine gewisse Anzahl halbwilder Männer, von einem feindlichen Stamm bedrängt, sich instinktiv zusammenschließen und den Stärksten und Klügsten unter sich wählen, um sie zu verteidigen und ihnen zu befehlen. An dem Tag ist die Gesellschaft geboren. Der Häuptling ist ein König im Keim, seine Gefährten die künftigen Edelleute; die Rat gebenden, aber zum Gehen unfähigen Greise bilden schon eine Art Senat oder Versammlung der Alten. Wie aber ist die Religion entstanden? Man sagt, aus der Furcht des Urmenschen vor der Natur. Aber die Furcht hat nichts Gemeinsames mit der Ehrfurcht und der Liebe. Sie verbindet nicht die Tatsache mit der Idee, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren, den Menschen mit Gott. Solange der Mensch vor der Natur zitterte, war er noch nicht ganz Mensch. Er wurde es an dem Tag, als er das Band ergriff, das ihn mit der Vergangenheit und Zukunft verband, mit etwas Erhabenem und Wohltätigem, und als er dieses geheimnisvolle Unbekannte anbetete. Wie aber betete er zum ersten Mal?
Fabre d'Olivet gibt eine außerordentlich geniale und anregende Hypothese über die Art, wie der Kultus der Ahnen in der weißen Rasse entstanden sein muss.3 In einem kriegerischen Klan sind zwei rivalisierende Krieger miteinander in Streit geraten. Wütend wollen sie sich schlagen und ringen schon miteinander. In diesem Augenblick wirft sich mit fliegendem Haar eine Frau zwischen sie und trennt sie. Es ist die Schwester des einen und die Frau des andern. Ihre Augen sprühen Flammen, ihre Stimme hat den Ton des Befehls. Keuchend, mit eindringlichen Worten, ruft sie, dass sie im Wald den Ahnherrn der Rasse gesehen hat, den siegreichen Kämpfer von ehedem, den Heroll. Er wollte nicht, dass zwei stammverwandte Krieger sich befehden, sondern dass sie sich gegen den gemeinsamen Feind vereinen. »Es ist der Schatten des großen Ahnherrn, es ist der Heroll, der es mir gesagt hat«, ruft die begeisterte Frau, »er hat zu mir gesprochen! Ich habe ihn gesehen!« Was sie gesagt hat, glaubt sie. Selbst überzeugt, überzeugt sie. Bewegt, verwundert und wie von einer unsichtbaren Macht bezwungen, reichen sich die versöhnten Gegner die Hand und staunen die begeisterte Frau wie eine Art Gottheit an.
Solche Eingebungen, gefolgt von plötzlichen Rückschlägen, mussten in großer Anzahl und unter den verschiedensten Formen in dem prähistorischen Leben der weißen Rasse stattfinden. Bei den barbarischen Völkern ist es die Frau, die durch ihre nervöse Sensibilität zuerst das Okkulte ahnt, das Unsichtbare verkündet. Man betrachte jetzt die unerwarteten und außerordentlichen Folgen eines Ereignisses, ähnlich demjenigen, welches wir beschrieben haben. Im Klan, im Volksstamm, spricht jedermann von dem wunderbaren Ereignis. Der Eichbaum, unter welchem die begeisterte Frau die Erscheinung gesehen hat, wird ein geheiligter Baum. Man führt sie hin; und dort, unter dem magnetischen Einfluss des Mondes, der sie in hellseherischen Zustand wirft, fährt sie fort, in dem Namen der großen Ahnen zu weissagen. Bald werden diese Frau und andere ihr ähnliche, auf Felsen stehend, inmitten der Waldlichtungen, beim Rauschen des Windes und des fernen Ozeans, die lichten Seelen der Ahnen beschwören vor der wogenden Menge, die sie sehen oder zu sehen glauben wird, angezogen von den magischen Beschwörungsformeln, in den wehenden, vom Mond durchbrochenen Nebeln. Der letzte der großen Kelten, Ossian, wird Fingal und seine in den Wolken versammelten Gefährten beschwören. So wurde der Beginn des sozialen Lebens, der Kultus der Ahnen, in der weißen Rasse begründet. Der große Ahnherr wird der Gott des Volksstammes. Dies ist der Anfang der Religion.
Um die Wahrsagerin herum gruppieren sich Greise, die sie in ihrem hellseherischen Schlaf, in ihren prophetischen Ekstasen beobachten. Sie studieren ihre verschiedenen Zustände, kontrollieren ihre Offenbarungen, deuten ihr Orakel. Sie bemerken, dass, wenn sie in ihrem visionären Zustand weissagt, ihr Gesicht sich verklärt, ihre Sprache rhythmisch wird und ihre gehobene Stimme singend, in ernster und bedeutungsvoller Kadenz Orakel ausspricht4. Hieraus quellen der Vers, die Strophe, die Dichtung und die Musik, deren Ursprung bei allen Völkern arischer Rasse als göttlich gilt. Der Gedanke der Offenbarung konnte nur durch Tatsachen ähnlicher Art hervorgerufen werden. Auf einmal entstehen hier die Religion, der Kultus, die Priester und die Poesie.
In Asien, in Iran und in Indien, wo Völker weißer Rasse die ersten arischen Zivilisationen begründeten, indem sie sich mit andersfarbigen Völkern vermischten, gewinnen die Männer bald die Überhand über die Frauen, was die religiöse Inspiration betrifft. Die Frau, unterdrückt und unterworfen, ist nur noch Priesterin an ihrem Herd. Aber in Europa findet sich eine Spur des überwiegenden Einflusses der Frau bei den Völkern gleicher Abstammung, die Jahrtausende lang Barbaren geblieben waren. Er bricht durch in der skandinavischen Wahrsagerin, der Voluspa der Edda, in den keltischen Druidinnen, in den weissagenden Frauen, welche die germanischen Heere begleiteten und den Tag der Schlacht bestimmten5, und in den thrakischen Bacchantinnen, die aus der Legende des Orpheus hervortreten. Die prähistorische Seherin findet ihre Fortsetzung in der Pythia von Delphi.
Die primitiven Wahrsagerinnen der weißen Rasse organisierten sich zu Hochschulen der Druidinnen unter der Aufsicht gelehrter Greise oder Druiden, den Männern der Eiche. Sie waren zunächst nur wohltätig. Durch ihre Intuition, ihr Ahnungsvermögen, ihre Begeisterung, gaben sie einen ungeheuren Aufschwung der Rasse, die erst im Anfang ihres viele Jahrhunderte dauernden Kampfes mit den Schwarzen war. Aber die schnelle Entartung und die großen Missbräuche dieser Institution waren unvermeidlich. Sich als Herrinnen des Schicksals der Völker fühlend, wollten die Druidinnen sie um jeden Preis beherrschen. Wenn die Inspiration ihnen fehlte, versuchten sie durch den Schrecken zu herrschen. Sie verlangten menschliche Opfer und machten daraus den Hauptbestandteil ihres Kultus. Hekatomben von Menschenopfern wurden zu den Toten geschickt als Boten; man glaubte so, die Gunst der Ahnen zu gewinnen. Diese fortwährend über dem Haupt der ersten Häuptlinge schwebende Drohung aus dem Mund der Wahrsagerinnen und der Druiden wurde in ihren Händen ein furchtbares Werkzeug der Gewalt.