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Die nordischen Götter sind zurück, und sie sind unwiderstehlicher denn je! In ihrem Urban Fantasy-Roman »Die Helden von Midgard« erzählt YouTube-Shooting-Star Liza Grimm von der Liebe einer Walküre zu einem auserwählten Helden, der den Pfad seines Schicksals verlässt. Der junge Krieger Erik ist dazu bestimmt, ein wahrer Held zu werden. Beistand auf diesem schwierigen Weg erhält er vom Gott Tyr und der Walküre Kára. Für Kára keine leichte Aufgabe, denn sie ist heimlich in den jungen Mann verliebt, der nicht ahnt, wer sie wirklich ist. Doch dann erfahren die beiden von Loki dem Listenreichen, dass Göttervater Odin es allen Bewohnern Asgards strengstens untersagt hat, sich den Menschen zu nähern. Tyr und Kára ahnen nicht, dass Loki ein falsches Spiel mit ihnen spielt. Denn sollte Erik sein Schicksal erfüllen, würde ihn das direkt nach Walhall an die Tafel der Götter führen. Und es gibt jemanden, der den jungen Mann dort keinesfalls sehen möchte. »Unbedingt lesen!« Heilbronner Stimme über »Die Götter von Asgard«
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Seitenzahl: 396
Liza Grimm
Roman
Knaur eBooks
»Die Helden von Midgard« spielt vor »Die Götter von Asgard« und erzählt die Geschichte der Walküre Kára und ihrer tragischen Liebe zu einem Krieger Asgards.
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
Epilog
Leseprobe »Hinter den Spiegeln so kalt«
Loki saß auf einem Dach und lauschte den Todesschreien. Der Mond zeigte sich nur halb, als traue er sich nicht, sein Licht auf das Dorf zu werfen.
Hätten die Menschen nach oben geblickt, hätten sie Lokis schmale Silhouette gesehen, die sich nun langsam erhob. Seine Füße fanden auf den Holzbalken, die von einem Geflecht aus Gras und Stroh bedeckt waren, mühelos Halt. Er balancierte nach vorne, legte sich hin und behielt den Hauseingang im Blick. Ein Anflug von Ungeduld huschte über sein markantes Gesicht. Die schmale Nase kräuselte sich.
Er mochte seinen Auftrag nicht.
Sein Blick wanderte zu den anderen Hütten, die bereits von den Plünderern überfallen worden waren. Kampfgeräusche waren zu hören. Frauen schrien. Kinder weinten.
Loki zog die Mundwinkel nach oben.
Wie er die Menschen und ihr Chaos liebte. Er liebte, dass er sich hier oben nicht verbergen musste, da sie ihn ohnehin nicht bemerken würden. Wie immer waren sie viel zu sehr mit der akuten Gefahr beschäftigt, um die wahre Bedrohung zu sehen.
Schließlich kam Bewegung in die Schatten unter ihm. Ein Mann stürzte aus der Hütte. Loki sah ihm nach, wie er mit erhobener Axt in das nächste Haus verschwand.
»Du bist also der Held«, sagte er. Er wusste, dass ihn niemand hören würde. »Interessant.«
Loki wartete und wartete. Er hörte leblose Körper auf dem Boden aufschlagen. Schreie verstummten und ertönten dafür an einer anderen Stelle. Sein Nacken kribbelte vor Ungeduld.
Langsam beugte er sich nach vorne und fühlte sich wie eine Fledermaus, obwohl der Großteil seines Körpers noch auf dem Balken lag und lediglich sein Kopf im Nichts hing.
Er schob sich weiter über den Rand und testete, wann sein Gleichgewicht kippen würde. Dabei kannte er die Antwort: bis zum Bauchnabel, nicht weiter. In den letzten Jahrhunderten hatte er es oft genug versucht. In Asgard gab es nicht viel zu tun, und er übte gerne.
Gerade als der Balken sich oberhalb seines Bauchnabels in seinen Magen bohrte, stürmten drei Männer auf die Hütte zu. Er ließ sie eintreten, dann fiel er. Wie eine Katze drehte er sich in der Luft und landete sicher im feuchten Gras. Gleichzeitig tauchte er in die Dämmerung ein. In einer fließenden Bewegung stand er auf und wischte sich die Hände an seiner Hose trocken.
Er liebte dieses Zwielicht, in dem die Menschen ihn nicht sehen konnten. Er war für sie nicht mehr als ein Schatten oder eine Reflexion. Ein Spiel, das ihre eigenen Augen mit ihnen spielten. Ein Phänomen, das vor allem im Zwielicht des Tagesanbruchs oder zu Beginn der Nacht eintrat. Deshalb hatte er diesen kleinen Trick Dämmerung getauft. Ein Gott machte sich nicht einfach nur unsichtbar.
Er schob den Stoff zur Seite, der vor dem Eingang der Hütte hing, und drückte sich nach dem Eintreten sofort an die Wand. In der Mitte des Raums befand sich eine Feuerstelle, auf der das Holz noch leicht glühte. Der schwache Schein der Glut reichte aus, um die Anwesenden zu erkennen. Eine große, schlanke Frau stand mit erhobener Axt vor den drei Männern.
Ihre langen blonden Haare waren zu einem geschickten Zopf geflochten. Hinter ihr stand ein zitternder Junge, der ein Baby an sich presste. Angst stand in seinen Augen.
Loki überlegte nicht lange. Obwohl er Odins Anweisung nicht guthieß, würde er Folge leisten. Wenn Asgard brennen musste, dann nicht wegen zwei Menschen, die sich in Walhall nicht benehmen konnten. Die Götter hatten Schlimmeres verdient. Er hatte da schon ein paar Ideen. Doch zuerst galt es, den Auftrag auszuführen.
Mit wenigen Schritten stand er bei der Familie. Im hinteren Teil der Hütte roch es nach Stroh und Schweiß. Er rümpfte die Nase.
»Sei gegrüßt«, sagte er freundlich und strich dem Jungen über den Kopf. Dieser zuckte zusammen, als hätte eine Fliege sein Ohr berührt.
Die Frau legte den Kopf leicht schief. Ein Zeichen dafür, dass sie Loki gehört hatte. Die Angreifer hielten ebenfalls inne. Ihre Kleidung war voller Blut, einer von ihnen hielt ein Schwert, die anderen Äxte in den Händen. Der Mann mit dem Schwert stand etwas weiter vorne, das Licht der Feuerstelle im Rücken, sodass Loki nur vage die Umrisse seines Gesichts sehen konnte. Auch die anderen Männer waren nicht mehr als dunkle Umrisse mit glänzenden Waffen.
»Wartet!«, befahl er ihnen. Sie ließen verunsichert die Waffen sinken. Loki ahnte, dass sie überlegten, wer von ihnen das gesagt hatte. Sie fragten sich, ob es ihre eigenen Gedanken waren oder ob sie sich die Stimme nur eingebildet hatten. All das reichte, um ihm die Zeit zu verschaffen, die er nun brauchte.
»Nimm dein kleines Kind«, sagte er zu der Frau. »Du bist seine Mutter. Du musst es beschützen.«
Gedanken, die nahe genug an ihrer Gefühlswelt waren, um sie als ihre eigenen auszugeben. Loki konnte im Dämmerlicht keine Befehle erteilen. Aber die Menschen waren sich meist so unsicher, dass sie nur allzu gerne auf jemand anderen hörten.
Die Frau zögerte. Loki hatte keine Zeit zu verlieren. Er beugte sich zu dem Sohn, dabei fielen ihm seine dunklen Haare ins Gesicht.
»Nimm die Axt«, flüsterte er. »Gib deiner Mutter das Kind.«
Der Junge gehorchte sofort. Er ging einen Schritt nach vorne, nahm seiner Mutter die Waffe ab und drückte ihr das Bündel in die Arme. Mit erhobenem Kinn stellte er sich den Angreifern entgegen. Der Mann mit dem Schwert stieß ein Lachen aus.
Er hob den Stahl und ließ ihn niederfahren. Die Frau schrie, wich zurück und presste ihr Kind enger an sich. Der Junge zuckte nicht zusammen, doch der Streich war absichtlich ins Leere geführt worden.
»Mutig«, bemerkte der Plünderer, und seine Lippen teilten sich zu einem hämischen Lächeln. Im Feuerschein konnte man das Aufblitzen seiner Zähne wahrnehmen.
Plötzlich stürmte hinter ihm der zukünftige Held in die Hütte, seine Axt hoch erhoben. Die Angreifer bemerkten ihn nicht.
Loki beobachtete sie amüsiert. Der Geruch von Schweiß, Rauch und Blut stieg ihm in die Nase. Das Baby wimmerte, und Loki beschloss, dass es an der Zeit war, zu gehen. Er hatte getan, worum Odin ihn gebeten hatte. Gerade als er zurück nach Asgard reisen wollte, spürte er eine neue Präsenz im Raum. Er drehte den Kopf und grinste zum Gruß.
Tyr war gekommen, um seinen Teil der Aufgabe zu erfüllen.
Die Sonne sank langsam gen Horizont, und Kára wusste, dass die Sterne wieder Blut sehen würden. Sie prüfte mit einem schnellen Blick, ob sie wirklich allein war, dann ging sie in die Knie und tauchte ihre Hände in den rauschenden Bach.
Das eiskalte Wasser umfing ihre Finger, und sie genoss den Schmerz. Er zeigte ihr, dass sie lebte. Nachdem sie ihre Haut von der Erde befreit hatte, schöpfte sie eine Handvoll Wasser aus dem Bach und säuberte sich das Gesicht.
Ein Knacken ertönte im Unterholz.
Kára griff nach ihrem Schwert, zog es aus der Scheide und wirbelte mit erhobener Klinge herum. Ihr gegenüber stand ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern. Seine Haare und sein Bart waren voller Erde, trotzdem schimmerten sie im Licht der untergehenden Sonne golden. Ein Lächeln umspielte seine vollen Lippen.
Kára seufzte und steckte ihre Waffe weg.
»Du sollst dich doch nicht so anschleichen.«
»Verzeih.« Erik kniete sich ans Flussufer und wusch seine kräftigen Arme und sein Gesicht. Die Baumkronen raschelten im sanften Sommerwind, und in der Nähe zwitscherte ein Vogel. »Ich hätte gedacht, du würdest mich schon früher bemerken.«
Er grinste sie schelmisch an, und Kára spürte ein warmes Ziehen in ihrer Magengegend.
»Wer sagt, dass ich dich nicht schon früher bemerkt habe?«, erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sei froh, dass ich dir mein Schwert nicht direkt in die Brust gebohrt habe.«
»Natürlich.« In einer fließenden Bewegung stand er auf, überbrückte den Abstand zwischen ihnen und legte seine Hand auf ihren Rücken. Kára gab dem Druck nach und ging einen Schritt nach vorne, legte ihre Finger auf seine Brust und den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen sehen zu können. An seiner Stirn erkannte sie getrocknetes Blut, das er nicht komplett weggewaschen hatte. Sie nahm einen der Wassertropfen, die in seinen Haaren hingen, und wischte ihn fort.
Er legte seine warme Hand in ihren Nacken und beugte sich nach vorne, bis seine Lippen ihr Ohr berührten.
»Du warst heute gut beim Training. Dennoch solltest du morgen nicht mit in den Kampf ziehen.«
Ruckartig befreite sie sich und funkelte ihn wütend an.
»Du weißt, dass ich muss.«
»Rache ist kein Grund, der zu dir passt, Kára.«
Sie wich seinem Blick aus. Er hatte recht – und irgendwie auch nicht. Allerdings konnte sie ihm ihre wahren Beweggründe nicht nennen, ohne ihre Herkunft zu verraten. Kein Wunder also, dass er sich fragte, wieso die rothaarige Schönheit nicht von seiner Seite wich. Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt«, flüsterte er, und Káras Herz gefror zu Eis. Sie studierte seine markanten Gesichtszüge, die gerade Nase, die Furchen auf seiner Stirn. Ihr Blick blieb an den dunklen Augen hängen, die sie besorgt musterten. Sie erinnerte sich daran, wie Erik sie das erste Mal so angesehen hatte. Der Moment, in dem sie bemerkt hatte, wie viel er ihr bedeutete. Ihr Magen begann zu kribbeln, und sie bemühte sich um ein Lächeln.
Mit Erik war es anders, das hatte sie sich schon vor mehreren Tagen eingestanden. Er war mehr als ein Auftrag. Sie hoffte sehr, dass sie den richtigen Mann ausgewählt hatte.
»Ich weiß«, sagte sie und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie bemerkte, dass diese kleine Geste Eriks Augen zum Leuchten brachte, und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Aber ich bin ein großes Mädchen. Ich habe meine Gründe dafür, dass ich an der Seite deines Dorfes kämpfe.«
»Wenn du sie mir nicht bald verrätst, wird Arn Probleme machen.«
Kára seufzte.
»Arn sollte sich lieber auf den Kampf konzentrieren, statt sich nach Klatsch und Tratsch umzuhören.«
»Darum geht es ihm nicht.« Erik presste die Lippen zusammen. »Du bist plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Sie vertrauen dir nicht.«
Sie. Damit meinte er die Dorfbewohner. Kára verschränkte die Arme. Der Bach plätscherte still vor sich hin, die Sonne war bereits fast hinter dem Horizont verschwunden, und Dunkelheit legte sich über das kleine Wäldchen. In der Ferne sah Kára die Fackeln des Dorfes brennen. Wie Dämonenaugen leuchteten sie in der Finsternis. In einer Baumkrone schrie ein Rabe, und Kára fühlte sich schlagartig beobachtet. Der Mond schien hell, und die Nacht malte das Unterholz schwarzblau. Kára fröstelte.
»Das ist doch absurd. Ich stehe auf eurer Seite.«
»Manche halten dich für eine Hexe.« Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, wandte Erik den Kopf zur Seite. »Du …«
»Ich verstehe«, unterbrach sie ihn. Sie kannte diese Anschuldigungen, und sie waren ihr egal. Für sie zählte nur eines. »Was denkst du?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. Seine Ehrlichkeit traf sie mitten ins Herz. Er griff nach ihrer Hand. Seine warme Haut auf ihrer fühlte sich tröstlich an. Trotzdem entzog sie sich seinem Griff. »Aber ich weiß, dass ich dir vertraue.«
»Na dann.« Sie wünschte, dass sie ihm glauben könnte. Aber tatsächlich verstand sie seine Unsicherheit und konnte sie ihm nicht zum Vorwurf machen.
»Kára, ich …«
»Geh zurück ins Dorf.« Sie bemühte sich um einen warmen Tonfall, auch wenn sie nichts als Kälte in ihrem Inneren verspürte. »Wir sehen uns bei Sonnenaufgang.«
»Wie war dein Tag?«
Kára ignorierte die gut gelaunte Stimme ihres Halbbruders und stapfte an ihm vorbei in ihr Zimmer. Sie entledigte sich ihrer schmutzigen Rüstung und griff nach einem goldenen Becher, der neben ihrem Himmelbett stand. Tyr stand im Türrahmen und beobachtete sie. Seine braunen Haare hingen ihm wild im Gesicht, sein Dreitagebart betonte sein markantes Kinn. In seinen grünen Augen funkelte Neugier. Ein Funkeln, dem schon viele ihrer Schwestern verfallen waren. Es war für die Götter nicht ungewöhnlich, Liebschaften miteinander zu pflegen. Es gab wenige Partner, die wie sie für die Unsterblichkeit geschaffen waren, und letztendlich war es das, was viele Walküren sich wünschten: einen Partner für die Ewigkeit. Kára verdrängte den Gedanken.
»Du bist heute früh von der Arbeit gegangen«, sagte er. Kára warf sich ein schlichtes Gewand über und knirschte mit den Zähnen.
»Ich hatte zu tun.«
»Ach wirklich?«
»Wirklich«, erwiderte sie eisig und verschränkte die Arme. Sie war nicht bereit, ihrem Bruder die Wahrheit zu sagen. Noch nicht. Aber sie wusste, dass sie früher oder später mit ihm sprechen musste.
»In letzter Zeit bist du viel mit diesem Erik unterwegs.«
Kára zuckte zusammen, und Tyr grinste triumphierend. Natürlich hatte er es bemerkt. Mit einem Seufzen gab sie ihre verkrampfte Haltung auf, ließ sich aufs Bett fallen und vergrub den Kopf in den Händen.
»Du hast dich schon wieder verliebt, oder?« Sie spürte, wie er sich neben ihr aufs Bett fallen ließ. Sein Arm legte sich tröstend um ihre Schultern.
»Du tust so, als würde mir das ständig passieren«, murmelte sie und rieb sich die Schläfen. Sie war erschöpft. Das Reisen zwischen den Welten war auf Dauer anstrengend, und seit Erik in ihr Leben getreten war, verließ sie Asgard beinahe jeden Tag, um ihn zu sehen.
»Dir passiert es zumindest häufiger als mir.« Es klang nicht wie ein Vorwurf.
»Aber dieses Mal ist es anders.« Sie wusste, wie hohl diese Phrase klang. Verzweifelt griff sie erneut nach dem Becher und leerte ihn in einem Zug. »Er ist wirklich etwas Besonderes.«
»Du kannst tun, was du möchtest«, sagte Tyr, aber Kára entgingen die Sorgenfalten auf seiner Stirn nicht. »Aber denk daran, dass er ein Mensch ist. Menschen und Walküren können dauerhaft nicht glücklich miteinander werden.«
Heiße Verzweiflung stieg in ihr auf. Als ob sie das nicht wüsste. Seit sie sich ihre Gefühle eingestanden hatte, hatte sie nach einer Möglichkeit gesucht, wie sie dafür sorgen konnte, dass ihre Liebe nicht schmerzhaft enden musste. Bisher war sie nie glücklich geworden. Als Walküre war sie nahezu unsterblich und lebte mit den Göttern, von denen sie abstammte, in Asgard. Ihre Aufgabe war es, die Seelen verstorbener Helden nach Walhall zu bringen. Helden, die ehrenhaft im Kampf gefallen waren oder sich anderweitig einen Namen gemacht hatten.
Die Idee, die sie seit ihrer Erkenntnis mit sich herumtrug, bahnte sich einen Weg auf ihre Zunge.
»Kannst du ihn zum Helden machen?« Sie biss sich auf die Lippe und fluchte innerlich. Sie hatte Tyr diese Frage schon einmal gestellt. Ihre Blicke verfingen sich ineinander, und Kára ahnte, dass Tyr in diesem Augenblick ebenfalls an die Jahre dachte, in denen sie nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Die Jahrzehnte, in denen Kára ihn ignoriert hatte. Es war eine harte Zeit für sie beide gewesen, denn eigentlich liebte sie ihren Bruder mehr als alle anderen Asen. Es hatte lange gedauert, bis sie ihm halbwegs verziehen hatte. Sie spürte, dass er mit sich kämpfte. Das war seine Gelegenheit, diesen Fehler wiedergutzumachen.
Flehentlich sah sie ihn an. Tyr war der Gott des Kampfes und hatte schon vielen Menschen den Weg ins Heldentum bereitet. Es war der Webstuhl der Schicksalsgöttinnen, der den Göttern sagte, welcher Mensch ein Held werden würde. Kára wusste nicht, wie das Schicksal festlegte, wer diesen schwierigen Weg zu gehen hatte. Aber sobald ein Mensch vom Webstuhl als Held auserkoren worden war, tat Tyr alles, um das Schicksal zu unterstützen.
Nun hoffte Kára, dass Tyr Erik den Weg ins Heldentum zeigen würde, damit ihre Liebe eine unsterbliche Zukunft hatte.
»Du weißt, dass das so nicht funktioniert.« Mitleid lag in seiner Stimme. »In diesem Dorf wird ein Held auftauchen, und wir zwei sind diejenigen, die diesen Helden finden und begleiten sollen. Ich im Leben und du im Tod. Dieser Erik lenkt dich zu sehr von deiner eigentlichen Aufgabe ab.«
»Aber was ist, wenn er der prophezeite Held ist?« Sie konnte ihren Frust nicht verbergen. Ihr Puls beschleunigte sich. Alte Wunden rissen auf. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn dieser Arn an Walhalls Tafeln speist.«
»Es liegt nicht an uns«, wiederholte Tyr. »Wir werden denjenigen begleiten, der sich auf dem Schlachtfeld als Held offenbart.«
Kára fluchte. Sie stand auf, holte einen weiteren Krug Met aus einem massiven Goldschrank und füllte den Kelch nach. Sie trank in gierigen Zügen. Der Alkohol hatte keine berauschende Wirkung auf sie, aber sie genoss die Wärme, die sich dank der Flüssigkeit in ihrem Körper ausbreitete. Mehr denn je wünschte sie, betrunken werden zu können.
»Eigentlich dürftest du nicht einmal an der Seite der Menschen auf dem Schlachtfeld stehen.« Tyr sah Kára mitleidig an. »Wenn Vater das erfährt, wird er nicht gerade begeistert sein.«
Wut kochte in Kára hoch. Sie stellte das Getränk ab und funkelte Tyr an. »Das klingt beinahe so, als wolltest du mich erpressen. Du weißt, dass du mit solchen Methoden keinen Erfolg haben wirst.«
Tyr erhob sich und schüttelte beschwichtigend den Kopf.
»Ich möchte dich nicht erpressen. Aber ich will, dass du vorsichtiger bist und unser Ziel nicht aus den Augen verlierst. Wir müssen den Helden des Dorfes finden.« Er legte eine Hand auf ihren Kopf, und mit einem Mal fühlte Kára sich unglaublich klein. Wie sie das hasste. »Du bist meine kleine Schwester. Und ich will nicht, dass dir jemand wehtut.«
Sie wünschte, dass dieser Satz ihre Wut auflöste, stattdessen befeuerte er sie nur noch mehr.
»Ich kann allein auf mich aufpassen.« Sie trat einen Schritt zurück und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Nun geh bitte. Morgen wartet viel Arbeit auf uns.«
Tyr öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen. Dann schüttelte er jedoch den Kopf, drehte sich um und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Kára atmete erleichtert auf. Sie wusste, dass Tyr es nur gut mit ihr meinte, und wollte nicht mit ihm streiten. Aber sie konnte es nicht leiden, herumkommandiert oder wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Verdammt, sie hatte schon mehrere Jahrhunderte überlebt! Ganz zu schweigen von den Kämpfen, die sie an Tyrs Seite bestritten hatte.
Kára schüttelte den Kopf und räumte den Krug Met zurück in den Schrank. Warmes Wasser. Das war es, was sie jetzt brauchte. Sie schritt durch den dunkelroten Vorhang neben ihrem Bett und befreite sich mit einer eleganten Bewegung von ihrem Stoffkleid, das sie sich während des Gesprächs mit Tyr übergezogen hatte.
Vor ihren Füßen floss ein Bach gemächlich dahin. Er war in weißen Marmor eingebettet. Das Flüstern des Wassers wurde von bemalten Wänden zurückgeworfen. Baumstämme, deren Kronen sich einem wolkenlosen Himmel entgegenstreckten. Tupfer von sattem Grün, tiefem Blau und hellem Orange. Die Decke war gläsern und zeigte einen nachtschwarzen Himmel, übersät von unzähligen Galaxien in Purpur, Gelb und Rot. Im Vergleich zu der naturgewaltigen Schönheit über ihr, wirkten die gemalten Bäume recht erbärmlich.
Kára seufzte und streckte einen Zeh in den Bach. Angenehm warm. Trotzdem stellten sich ihre feinen Haare auf, als sie sich vollends ins Wasser gleiten ließ. Sie schloss die Augen, ihre Gesichtszüge entspannten sich. Sie fühlte, wie all die Anspannung aus ihren Muskeln wich. Mit einem Blick auf ihre Haut stellte sie fest, dass die Kratzer des heutigen Tages bereits verheilt waren. Asgard hatte diese Wirkung auf sie. Ihre Gedanken wanderten zu Erik, der in ihrer Vorstellung vor einem Feuer saß, seinen kleinen Bruder in den Armen hielt und ihm vom heutigen Tag erzählte. Von seinen mutigen Taten. Dabei verschwieg er sicherlich, dass sich dank des Kampfes andere kleine Brüder in den Schlaf weinen mussten.
Kára schlug die Augen wieder auf und starrte eine Weile in das Himmelszelt. Dann tauchte sie ihren Kopf unter Wasser und japste nach Luft, als sie wieder an die Oberfläche kam. Sie griff nach einer Bürste, die auf dem steinernen Rand des künstlichen Baches lag, und kämmte sich damit die Haare. Einige lösten sich und trieben im Wasser davon. Die feuerroten Strähnen verschwanden in der Wand, und Kára wusste, dass das Wasser zwischen den Bädern gefiltert und erneut aufgeheizt wurde. Götter badeten nicht gerne kalt.
Als Kára am nächsten Morgen erwachte, stellte sie fest, dass Tyr bereits ohne sie gegangen war. Sein Verhalten verwunderte sie nicht, aber es zeigte ihr deutlich, dass er seinen Auftrag ohne sie erfüllen wollte. Dieser egozentrische Gott. Aber davon würde sie sich nicht beirren lassen.
Voller Tatendrang schlug Kára die Decke zurück. Sie legte ihre Rüstung an, steckte ihr Schwert in die Scheide und holte tief Luft. Dann begann sie die Reise nach Midgard. Ihr Zimmer löste sich auf, Farben wirbelten umher, als bestünde die Welt aus buntem Wasser. Als sie zum zweiten Mal einatmete, hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen und stand in dem Wald, in dem sie sich gestern von Erik verabschiedet hatte.
Bei Tageslicht hatte er jeden Zauber verloren.
Abgestorbene Äste, aufgetürmte Erdhügel, verrottete Blätterhaufen. Kára sah zum Himmel und erkannte, dass die Sonne schon höher stand, als sie vermutet hatte. Ein Fluch fand den Weg über ihre Lippen, und sie lief los.
»Kára!« Ein kleiner Junge kam auf sie zugestürmt, und Kára ging in die Hocke, um ihn freudig in die Arme zu nehmen. Er trug ein schlichtes Hemd, seine braunen Haare standen ihm wild vom Kopf ab. Sein Lächeln entblößte eine Zahnlücke. »Erik meinte, du kommst vielleicht nicht.«
Sie ließ den Blick schweifen und suchte nach Erik. Er stand mit verschränkten Armen inmitten einer Gruppe von Männern, die wild gestikulierend auf ihn einredeten. Seine Stirn lag in Falten. Hin und wieder nickte er, aber das war die einzige Regung, die Kára aus dieser Entfernung erkennen konnte.
»Weshalb hätte ich denn nicht kommen sollen?« Kára wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Irik zu, der nun den gleichen Gesichtsausdruck aufgelegt hatte wie sein großer Bruder. Káras Herz stolperte.
»Ich weiß es nicht. Die Männer wollten schon vor einiger Zeit los, aber Erik hat sich geweigert, ohne dich zu gehen.«
Kára kniff die Lippen zusammen. Sie wusste, was das bedeutete.
»Verstehe.« Sie erhob sich und wuschelte Irik durch seine Haare, woraufhin er heftig protestierte. Dann schob sie die Schultern zurück, hob das Kinn in die Höhe und ging auf Erik zu.
»Verzeiht meine Verspätung.« Ihre Worte unterbrachen den hitzigen Wortschwall eines Mannes, der auf Erik einredete. Sofort wandten sich die fünf Krieger Kára zu. Vier von ihnen wichen zurück und entfernten sich, als wären sie nur zufällig in diese Diskussion geraten. Einer von ihnen blieb stehen und spuckte Kára abfällig vor die Füße.
»Sprich nicht so, als müssten wir dankbar dafür sein, dass du jetzt hier bist«, sagte er. Arn war eine Handbreit kleiner als Erik, seine Augen wässriggrau wie eine Schneepfütze. Er trug seinen Bart und seine Haare kurz, seine schmalen Augenbrauen und die spitze Nase verliehen seinem Gesicht die Züge eines Wiesels. Kára mochte die pelzigen Mörder nicht. Sie waren hinterlistige und gemeine Diebe. Von Arn hatte sie dieselbe Meinung.
Abschätzig hob sie eine Augenbraue.
»Ich wollte mich höflich entschuldigen. Mehr nicht.«
»Deine Entschuldigung bringt uns nicht die verlorene Zeit zurück. Wenn sie unser Dorf erreichen und unsere Kinder umbringen und unsere Frauen schänden, bist du schuld.«
»Arn!« Erik trat vor Kára, sodass sie nur seinen breiten Rücken sehen konnte. Mit einer kräftigen Handbewegung drängte sie ihn zur Seite und stellte sich Arn selbst entgegen.
»Du magst mich nicht«, stellte sie fest. »Sei beruhigt: Das beruht auf Gegenseitigkeit. Aber ich kämpfe auf eurer Seite.«
Sie hielt seinem eindringlichen Blick stand, obwohl das verwaschene Grau seiner Augen ein Gefühl der Übelkeit in ihr auslöste. Schließlich wandte er sich ab.
»Wir haben keine Zeit, diese Diskussion jetzt zu führen«, sagte er und stapfte davon. Nach wenigen Schritten hielt er inne und drehte sich um. »Ich versichere dir, dass dies nicht das Ende unseres Gesprächs war. Es gibt in diesem Moment nur Wichtigeres zu tun.«
Kára antwortete mit einem verkniffenen Lächeln. Erik legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Verzeih«, flüsterte er, und sofort wurde Kára warm ums Herz.
»Du musst dich nicht für das Verhalten dieses …« Sie verkniff sich das Schimpfwort, das ihr auf der Zunge lag, und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht deine Schuld.«
»Ich bin für das, was hier geschieht, verantwortlich. Sie sehen in mir ihren Anführer.« Erik deutete mit einer ausladenden Geste auf die Hütten, aus denen vereinzelt Rauchsäulen aufstiegen. Die Gebäude standen relativ weit auseinander. Sobald eine neue Familie hinzukam, entschied das Dorf gemeinsam, wo sie ihre Bleibe errichten durfte. Wie Pfeilspitzen erhoben sich die Häuser aus der Erde, ihre Strohdächer reichten meist bis zum Boden, und es entstand die Illusion, die Gebäude seien ein Teil der Landschaft.
»Erik …« Kára wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie nahm seinen Ellbogen und zog ihn ein Stück zur Seite. Mit gesenkter Stimme sprach sie weiter. »Du riskierst dein Ansehen, wenn du mich derart in Schutz nimmst. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Daran zweifle ich keineswegs, aber …«
»Irik kann das noch nicht«, unterbrach Kára ihn scharf. Sofort wanderten Eriks dunkle Augen zu seinem kleinen Bruder, der unbeholfene Hiebe mit einem Holzschwert ausführte. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn vertieften sich.
»Glaubst du wirklich, Arn würde …?« Er ließ den Satz unvollendet und beobachtete Arn, der mit grimmiger Miene auf eine kleine Gruppe Männer einredete. Die Umherstehenden nickten hin und wieder und warfen Kára verstohlene Blicke zu.
»Die Macht an sich reißen?« Sie hob eine Augenbraue. »Definitiv. Wie weit er dafür gehen würde? Das weiß ich nicht. Aber ehrlich gesagt möchte ich es ungern herausfinden.«
Eine Idee huschte durch ihren Verstand.
»Du wirst mich anschreien«, sagte sie. Erik wollte widersprechen, aber sie schnitt ihm das Wort ab. »Du wirst mir vor den anderen sagen, dass ich aufgrund meiner Verspätung unverantwortlich gehandelt habe. Wir werden uns streiten.«
»Kára …« Er schüttelte den Kopf. Die Sorgen zogen tiefe Furchen durch sein Gesicht, und Kára wurde sich schmerzhaft seiner Sterblichkeit bewusst. Sie schluckte. Sein Blick zwang ihren Stolz endgültig in die Knie.
»So kannst du die Zweifel, die Arn in den anderen gesät hat, zerstreuen.«
Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. Er seufzte.
»Mir gefällt es nicht, wenn du recht hast.«
»Wir müssen los und nach den restlichen Kriegern sehen. Vielleicht waren die Plünderer schneller, als ihr dachtet, und sind schon längst angekommen.« Sie deutete zur Sonne, die bereits eine Handbreit über dem Horizont schwebte.
»Unsere Krieger werden die Siedlung verteidigen.« Er reckte das Kinn in die Höhe, und in diesem Moment sah Kára das stolze Oberhaupt vor sich. Den Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hatte. Ihr Nacken kribbelte, und gleichzeitig wurde ihr schlecht vor Schuldgefühlen. »Das war der Pakt, den Leif und ich geschlossen haben. Wir schützen sein Dorf, und er gibt uns einen Teil seiner Beute, wenn er und seine Kämpfer zurückkehren. Es muss Lokis Werk sein, dass die Plünderer genau jetzt durch unser Land streifen. Ich bin dir und deinem Bruder dankbar, dass ihr uns gewarnt habt.«
»Ihr hättet dasselbe für uns getan«, antwortete sie. Die Lüge, die sie Erik bei ihrer ersten Begegnung erzählt hatte, war perfekt. Tyr und sie waren in seinen Augen die einzigen Überlebenden eines bereits erfolgten Angriffs der Plünderer. Deshalb hielt Arn sie für Feiglinge und Verräter.
Wenn Erik die Wahrheit erfuhr, würde er sie hassen. Sie war es gewesen, die ihn davon überzeugt hatte, die Hälfte seiner stärksten Kämpfer in Leifs Siedlung zu positionieren, damit beide Dörfer geschützt waren. Es war wahrhaftig eine Gruppe Plünderer auf dem Weg. Sie waren laut den Schicksalsgöttinnen der Grund für das Erstrahlen eines neuen Helden in Eriks Siedlung. Zumindest, wenn Kára und Tyr ihre Arbeit richtig erledigten. Sicherlich war Tyr bereits dort und hatte der anderen Hälfte der Krieger beigestanden, um im Kampf den angekündigten Helden ausfindig zu machen. Kára wusste es besser. Der erste Kampf ging für die Seite des Helden immer tödlich aus. Ohne Opfer konnte es keine Helden geben.
»Vermutlich«, antwortete Erik vage. Sie wusste, was er damit meinte. In seinem Dorf hielt er niemanden für feige genug, um zu fliehen.
»Lass uns beginnen«, sagte sie und straffte die Schultern. Ihre Wangen brannten vor Scham.
»Deine Verspätung ist eine Schande.« Erik verschränkte die Arme und sah mit erhobenem Kinn auf Kára hinab. »Unsere Krieger warten auf uns, und du schläfst seelenruhig wie ein kleines Kind?«
Das Gemurmel der anderen verstummte. Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf Erik, der Kára mit seinem Blick durchbohrte. Aber sie kannte ihn und sah den Schmerz in seinen Augen. Sie schluckte.
»Verzeih«, sagte sie und senkte demütig den Kopf. Jemand lachte. Leise und gehässig kroch der Laut in Káras Ohren und brachte ihr Blut zum Kochen. Sie zwang sich dazu, ruhig zu bleiben.
Erik ging wortlos an ihr vorbei, gab den Männern ein Zeichen, und gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. Kára ließ sich etwas zurückfallen und bildete den Schluss. Sie schnappte immer wieder Wortfetzen auf und wusste, dass alle über sie redeten. Obwohl es sie nicht kümmern sollte, spürte sie Wut in ihren Eingeweiden brodeln. Alles nur, weil Tyr sie nicht geweckt hatte. Wahrscheinlich meinte er es gut, aber seine Fürsorge hatte Erik in Schwierigkeiten gebracht, und Erik war derjenige, der dazu bestimmt war, ein Held zu werden. Das fühlte sie. Mit energischen Schritten stapfte sie durch das Gras. Zu ihrer linken Seite erstreckte sich der Wald, der sich bis zum nächsten Dorf zog.
Sie sah Rauchfahnen aufsteigen, und kurz darauf kamen die Hütten in Sicht. Kleine Dreiecke, die wie eine Fehlgestaltung der Natur wirkten. Kára kniff die Augen zusammen, um Details erkennen zu können.
»Etwas stimmt nicht.«
Der Satz verbreitete sich in der Gruppe von ungefähr fünfzehn Mann wie ein Echo. Sofort beschleunigten sie ihre Schritte, fielen in einen schnellen Trab. Kára überholte, schloss zu Erik auf. Grimmige Sorgenfalten durchzogen sein Gesicht. Schließlich blieben sie stehen.
Vor ihnen lag der Tod. Blut haftete an den grünen Gräsern, der Himmel spiegelte sich in den leeren Augen der Menschen. Kára trat näher zu Erik, sodass sich ihre Schultern fast berührten. Direkt vor ihren Füßen lag ein kleines Mädchen. Eines seiner Beine war verdreht, die Finger hatte es nach einer Frau ausgestreckt, die mit dem Bauch nach unten im Dreck lag. Ihr Kopf befand sich einige Schritte daneben.
Kára schloss die Augen und atmete tief durch. Der metallische Geruch von Blut stieg ihr in die Nase, gemischt mit Holz und frischen Blumen.
»Die Plünderer waren also hier.« Es war Arn, der als Erster sprach. Kára sah ihn aus den Augenwinkeln an und stellte fest, dass er nicht das Schlachtfeld, sondern sie ausgiebig musterte. »Dein Bruder und du habt die Wahrheit gesagt.«
»Das haben wir.« Kára schluckte. Es waren nicht die Leichen, die ihren Magen verknoteten. Nicht einmal die Tatsache, dass sie für deren Tod verantwortlich war, lastete wirklich schwer auf ihr. Aber die Angst, dass Erik es herausfinden und sie dafür hassen könnte, rückte die toten Menschen in ein Licht, das Kára auf Schlachtfeldern noch nie begegnet war.
»Wo ist denn dann dein Bruder?« Arns Frage krabbelte wie eine Spinne in ihr Ohr. Sie wusste, dass Tyr lebte, immerhin war er ein Gott. Aber ihr war klar, wie sein Überleben auf die anderen wirken würde.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie wahrheitsgemäß und hoffte, dass Tyr klug genug war, nicht an diesem Ort aufzutauchen. Sicher war er nach dem Kampf direkt nach Asgard zurückgekehrt. Arns Augen funkelten.
»Dein Bruder ist unauffindbar, unsere Männer sind tot, und du kamst heute früh zu spät.« Arn trat auf sie zu, die Armmuskeln angespannt, eine Hand auf seinem Schwertknauf. »Welch seltsame Zufälle.«
Erik machte Anstalten, zwischen sie zu treten, aber Kára warf ihm einen warnenden Blick zu, und er hielt inne.
»Ich glaube nicht an Zufälle«, gab Kára unbeeindruckt zurück. Ihr Zugeständnis brachte Arn sichtlich ins Straucheln, doch er fing sich schnell wieder.
»Seid ihr verflucht?«, fragte er. »Ein Familienfluch, durch den der Tod an euren Spuren haftet? Sind es keine Plünderer, sondern eure Feinde? Habt ihr es euch mit den Göttern verscherzt?«
Kára kniff die Lippen zusammen und hielt Arns eindringlichem Blick stand.
»Ich wüsste von keinen Feinden«, sagte sie schlicht. »Und die Götter waren bis zu dem Überfall immer auf unserer Seite.«
»Oder bist du eine Hexe?«
Die Anschuldigung hing zwischen ihnen in der Luft. Kára war bewusst, dass die Männer um sie herum jede einzelne ihrer Regungen genauestens studierten. Es fiel ihr leicht, einen Mundwinkel nach oben zu ziehen.
»Eine Hexe?«, wiederholte sie und schüttelte den Kopf. »Du hast noch nie eine Hexe getroffen, oder? Sonst würdest du mich nicht mit einer verwechseln.«
Ihre Worte saßen. Arns Augen wurden größer, seine Hand glitt am Schwertknauf ab.
»Hast du …?«
»… mal eine Hexe gesehen?«, fiel sie ihm ins Wort. »Ja, habe ich. Und sie hat mich nicht verflucht.«
»Wir müssen zurück«, sagte einer der Krieger. »Unsere Familien sind wehrlos. Wer weiß, wo die Plünderer sind. Wir müssen sofort umkehren.«
»Er hat recht.« Erik wandte den Blick von den Leichen ab und sah in die Runde. »Aber wir können unsere Brüder und Schwestern nicht so zurücklassen.«
»Wir müssen ins Dorf und uns überlegen, wie wir die Plünderer aufhalten«, sagte Arn. »Danach kehren wir zurück und kümmern uns um die Toten.«
»Wir können sie nicht so liegen lassen!« Erik deutete auf die offenen Wunden, an denen sich bereits Fliegen angesammelt hatten. »Wenn die Aasfresser kommen…«
»Wenn die Lebenden unsere Hilfe brauchen«, unterbrach Arn ihn, »müssen die Toten warten. Es hilft unseren Frauen nicht, wenn wir hier aufräumen, während sie vom Feind geschändet werden.« Er spuckte aus und ging los. Einige Männer folgten ihm, ohne Erik auch nur anzusehen. Die meisten von ihnen blieben stehen und blickten ihn unschlüssig an. Er öffnete den Mund, aber Kára bedeutete ihm mit einem Kopfschütteln, zu schweigen.
Mit wenigen Schritten stand Erik dicht vor ihr.
»Ich kann das nicht zulassen«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sein Atem war warm, seine Stimme zitterte. »Wenn wir die Krieger nicht ordentlich bestatten …«
Káras Herz wurde schwer. Sie wusste, worauf Erik anspielte. Sein Glaube an die Asen war sehr stark.
»Odin wird uns verzeihen«, sagte sie.
»Aber wie sollen diese Helden nach Walhall kommen, wenn wir ihnen nicht die letzte Ehre erweisen?«
Kára schluckte.
»Wir können sie und ihre Reichtümer später dem Feuer übergeben«, sagte sie. »Auch dann nimmt Odin sie noch zu sich auf.«
Die Lüge kam ihr leicht über die Lippen. Manchmal fand sie den Glauben der Menschen befremdlich. Sie glaubten an die Asen und daran, dass Odin ihnen als Wanderer erscheinen könnte. Sie fürchteten sich vor Loki und Ragnarök. Ihre Waffen waren mit Runen verstärkt, die ohne Odins Segen nutzlos waren, aber den Kriegern Hoffnung gaben.
Die meisten Menschen wussten um den Weltenbaum Yggdrasil und die Aufgabe der Walküren. Und doch hatten sie im Laufe der Jahrhunderte der Wahrheit eigene Bräuche hinzugefügt, die nichts mit den Asen zu tun hatten.
Weshalb sollte die sterbliche Hülle zunächst verbrannt werden, damit die Walküren die unsterbliche Essenz nach Walhall bringen konnten? Das war ein Aberglaube, der sich in den Köpfen der Männer so festgesetzt hatte, dass die Götter nicht mehr dagegen anredeten. Es kümmerte sie nicht, was mit dem Leib oder den Habseligkeiten der Helden geschah. Das hatte sie noch nie interessiert.
»Bist du dir sicher?« Sein Blick machte sie nervös.
»Ja«, sagte sie mit fester Stimme. »Und denk an Irik.«
Eriks Miene wurde härter.
»Du hast recht.« Er wandte sich den Männern zu, die nicht sofort Arns Anweisung befolgt hatten. »Wir gehen sofort zurück.«
Tyr fluchte, als er auf dem glitschigen Boden ausrutschte und sich mit einer Hand an der Felswand abstützen musste. Als der Rabe im Gras vor ihm gelandet war, hatte er geahnt, dass er die Menschen zurücklassen musste. Die gekrächzte Botschaft hatte es bestätigt. Die Nornen hatten den Helden gefunden und Tyr mit sofortiger Wirkung zu sich bestellt. Nun hoffte er, dass die Plünderer den Helden nicht töten würden, bevor Tyr seinen Namen erfuhr.
Je tiefer er in die Wurzeln des Weltenbaums vordrang, desto kälter und feuchter wurde es. Seine Schritte hallten in dem Tunnel, und es klang, als hätte er mehrere Begleiter. Er wusste, dass ihn hier niemand verfolgen konnte.
Als sich endlich die Höhle der Nornen vor ihm öffnete, hielt er kurz inne. Der Anblick überwältigte ihn immer wieder aufs Neue. Der See lag so glatt da, als hätte jemand Glas über den grauen Felsen vergossen. Unter der Wasseroberfläche schimmerte helles Licht, und Tyr wusste, dass es aus dem Loch kam, hinter dem die Unendlichkeit lag.
Mitten im Wasser stand ein gigantischer Webstuhl, den die drei Göttinnen umkreisten.
»Endlich«, wisperten sie. Tyr wusste, dass sie ihn meinten, obwohl sie ihn nicht einmal ansahen. Ihre Körper und Gesichter waren von schwarzen Kapuzenumhängen verhüllt.
»Sieh«, sagte eine von ihnen und deutete auf das Geflecht aus bunten Fäden. Tyr trat näher. Ohne die Schuhe auszuziehen, stieg er in das Wasser, das angenehm warm war. Ehrfürchtig näherte er sich dem Webstuhl, der das Schicksal der Welt umfasste. Tausende Fäden waren miteinander verwoben, und Tyr konnte in dem Gewirr keine Bedeutung erkennen. Die Nornen verstanden jeden einzelnen Knoten.
Der Finger der Norne war auf einen dunkelroten Faden gerichtet. Er schimmerte leicht golden. Es war mehr der Hauch eines Glanzes und kein wirkliches Glitzern. Dennoch erahnte Tyr, dass der Faden im weiteren Verlauf gold werden könnte.
Die zweite Schicksalsgöttin hielt ebenfalls ihren Finger über das Geflecht, gefolgt von der dritten. Ein Summen erfüllte die Luft, vibrierte in Tyrs Brustkorb. Er erschauderte, hielt aber still, den Blick gebannt auf den Faden gerichtet.
Für wenige Augenblicke tauchte ein Gesicht auf, das Tyr nur allzu gut kannte. Er knirschte mit den Zähnen. Kára hatte die ganze Zeit recht gehabt. Das Schicksal hatte Erik ausgewählt.
»Du musst ihm helfen, seinen Weg zu finden«, sagte eine Norne. »Dieser Held hat sich lange vor uns verborgen. Es ist ungewöhnlich, dass das Schicksal so vage ist.«
Er unterdrückte ein sarkastisches Schnauben. Für ihn war das Schicksal immer unberechenbar. Außerdem ahnte er, warum Erik so lange unsichtbar geblieben war. Kára.
Wenn ein göttliches Wesen sich bei einem Menschen aufhielt, konnten die Nornen seinen Faden nicht mehr lesen. Das lag an der Natur der Götter. Ihre persönliche Zukunft wollte der Webstuhl nicht offenbaren, und so verschwieg er auch das Schicksal derer, die mit ihnen verwoben waren. Dieses Unwissen hatte schon oft zu Problemen geführt. Das war einer der Preise, den sie für ihre Unsterblichkeit zahlen mussten. Manchmal offenbarte der Webstuhl jedoch ein Ereignis, das ganz Asgard heimsuchen würde. Das genaue Datum oder Einzelheiten verriet er dabei nie. Und so lebten sie in ständiger Angst vor ihrem Untergang, der ihnen schon lange prophezeit worden war.
»Wir meinen es ernst.« Die Göttinnen huschten durch das Wasser und stellten sich nebeneinander auf. Der Webstuhl stand zwischen ihnen und Tyr. »Großes Leid steht uns bevor.«
Sie klangen sehr beunruhigt, und in seinem unsterblichen Leben hatte Tyr gelernt, dass beunruhigte Schicksalsgöttinnen niemals ein gutes Zeichen waren.
»Großes Leid für wen?«, fragte er nach. Die Nornen sahen sich an, dann schüttelten sie den Kopf.
»Das wissen wir nicht.«
Erleichterung breitete sich in Kára aus, als Irik ihnen zuwinkte.
»Ihm ist nichts geschehen«, sagte sie, und Erik atmete sichtbar auf.
Als sie den Platz betraten, hatten sich die Frauen und Kinder bereits um Arn geschart. Er wartete nicht, bis Erik etwas sagen konnte.
»Unsere Männer sind tot.« Einige der Frauen schrien entsetzt auf, andere begannen zu weinen. Die Kinder klammerten sich an die Beine ihrer Mütter. »Sie starben im Kampf gegen die Plünderer, die uns angekündigt wurden.«
»Alle?«, fragte eine Frau zaghaft nach. Ihre Stimme zitterte ebenso wie ihre Unterlippe.
»Niemand hat überlebt«, sagte Arn ohne emotionale Regung. »Leifs Siedlung ist ausgelöscht. Frauen, Kinder und unsere tapferen Männer, die sie verteidigen wollten. Wir haben die Leichen nicht untersucht, aber wir haben keine Überlebenden gefunden.«
»Ihr seid gegangen, ohne nachzusehen, ob dort Verletzte sind?«
Káras Kehle war wie zugeschnürt. Sie hatte schon oft Helden nach Walhall geführt – aber sie hatte nie ihre zurückgelassenen Familien besucht. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte es getan, denn dann wäre sie auf diesen Anblick besser vorbereitet gewesen.
Arn erwiderte die fassungslosen Blicke mit eiserner Miene.
»Wir mussten hierher zurück, um euch zu warnen und zu schützen.«
»Ich werde nachsehen!«, rief eine der Frauen und lief los. Arn machte eine Kopfbewegung, und einer seiner Männer eilte ihr hinterher. Gewaltsam zerrte er sie zurück. Sie stemmte die Füße in den Boden, schlug um sich und versuchte, in die Hände des Kriegers zu beißen. Er ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Seid vernünftig«, sagte Arn und sprach lauter, um die wüsten Beschimpfungen zu übertönen.
»Du hast kein Recht, uns hier festzuhalten!«, rief eine blonde Frau in einem dunkelbraunen Stoffkleid, und zustimmendes Gemurmel setzte ein.
»Wenn ihr jetzt geht und euch die Plünderer erwischen, war der Tod eurer Männer umsonst«, erwiderte Arn kalt. »Ich möchte euch beschützen, nicht als Gefangene nehmen.«
»Wo ist denn der Unterschied?«, fragte sie. Arn schwieg.
»Erik, ist es wahr?« Eine Frau trat auf sie zu. Sie trug ihre dunkelblonden Haare kurz, Sommersprossen sprenkelten ihre helle Haut. In ihren Augen glitzerten Tränen. »Ist er wirklich tot?«
Ihre Hände zitterten.
»Asa.« Erik legte eine Hand auf ihre Schulter. »Dein Mann starb ehrenvoll. Er hat sicher tapfer gekämpft und …«
Sie entzog sich seiner Berührung und wandte sich Kára zu. Ihre Miene war wie versteinert, die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders und ging. Kára begann zu zittern. Asa musste ihre Gedanken nicht aussprechen, damit Kára verstand. Die Menschen hielten sie für die Schuldige.
Kára streckte die Schultern zurück und hob das Kinn. So leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. Sie sah, wie die Kinder in die Hütten getrieben wurden und Arn von drei Männern flankiert auf sie zukam. Sein Gesichtsausdruck glich einer Kampfesansage.
»Du bist eine Hexe.« Arn rümpfte die spitze Nase und erinnerte Kára mehr denn je an ein schlecht gelauntes Wiesel. »Gestehe.«
Kára zog amüsiert einen Mundwinkel nach oben und verschränkte die Arme.
»Schon wieder diese Anschuldigung?«
Ihr Herz schlug wild. Nicht weil sie Angst vor Arn und seinem Gefolge hatte, sondern weil sie fürchtete, dass Erik sich gegen sie wenden könnte. Er stand neben ihr, und es war das erste Mal, dass er sich nicht instinktiv vor Kára stellte. Sie hoffte, dass er inzwischen einfach aufgegeben hatte, sie bevormunden zu wollen.
»Solange du mir keinen anderen Grund lieferst, bist du es, die Unheil über uns bringt. Bevor du aufgetaucht bist, war alles gut. Jetzt ist die Hälfte unserer Männer tot. Du hast selbst gesagt, dass du mal einer Hexe begegnet bist. Vielleicht hat sie dich verflucht … Oder du hast einfach nur in das spiegelnde Wasser gesehen.« Er trat näher an sie heran, der Geruch seines Schweißes stieg ihr in die Nase. Sie kniff die Lippen zusammen. Etwas in Arns Blick ließ sie aufmerksam werden. Es glitzerte Triumph in seinen Augen.
»Du hast dir nicht einmal die Mühe gemacht, deinen Bruder unter den Toten zu suchen«, sagte er betont langsam. »Nicht einmal, als ich dich gefragt habe, wo er ist.« Kára lief es eiskalt den Rücken herunter. Arn hatte sie erwischt. Jeder Mensch hätte sich in dieser Situation anders verhalten als sie.
»Ich …« Auf einmal fühlte sich Káras Zunge unglaublich pelzig an. Er hatte sie reingelegt.
»Du bist einfach davon ausgegangen, dass er überlebt hat«, fuhr er fort »Das Dorf war voller Leichen, aber selbst als ich mich nach ihm erkundigt habe, hast du dich nicht umgesehen. Dabei ist er doch alles, was dir angeblich geblieben ist, nachdem euer Dorf von den Plünderern überfallen wurde.«
Die Männer griffen nach ihren Waffen. Kára hob beschwichtigend die Hände.
»Ich war verwirrt«, sagte sie und beobachtete Erik aus den Augenwinkeln. Schmerz zeichnete sein Gesicht und grub sich direkt in ihr Innerstes. Er zweifelte an ihr. Etwas Schlimmeres konnte Kára sich nicht vorstellen.
Tyr stand hinter einem Baum und beobachtete die Szene im Dorf beunruhigt. Sein Instinkt wollte ihn zu Káras Rettung schicken, aber die Worte dieses einen Mannes hielten ihn zurück. Wenn er jetzt auftauchte, würden die Menschen sie für schuldig erklären, und er würde Erik nicht mehr problemlos zur Seite stehen können.
Er musterte den zukünftigen Helden eingehender. Zugegebenermaßen verstand er, was Kára an ihm fand, und es wurmte ihn, dass er sein Heldenpotenzial nicht ebenso früh erkannt hatte wie sie. Die selbstsichere Körperhaltung und der energische Blick sprachen Bände. Tyr hatte schon viele Menschen zu Helden werden sehen, und er musste sich eingestehen, dass er vor Eriks Potenzial die Augen verschlossen hatte, damit er Kára nicht zustimmen musste. Seine Halbschwester stand mit erhobenem Kinn vor den Männern. Seine Brust füllte sich mit Stolz. Er ahnte, dass es ihr schwerfallen musste, in dieser Situation die Nerven zu bewahren. Vor allem, nachdem sie so einen fahrlässigen Fehler gemacht hatte. Tyrs Magen zog sich zusammen. Es tat ihm leid, dass er Kára durch seine überstürzte Reise zu den Nornen in diese Situation gebracht hatte. Sein Verstand suchte fieberhaft nach einem Ausweg.
»Verwirrt«, wiederholte der Mann, dessen Namen Tyr entfallen war. »Ich glaube dir kein Wort.«
Tyr ballte die Hände zu Fäusten. Ihn ärgerte es, dass Erik nichts tat, um sie in dieser Situation in Schutz zu nehmen.
Mut gehörte zur Grundausstattung eines Helden, daran konnte es also nicht liegen. Wenn Erik nicht einschritt, dann nicht, weil er sich nicht traute, sondern weil er schlicht und ergreifend nicht wollte. Ein kleiner Junge stürmte auf die Gruppe zu.
Lasst Kára in Ruhe!«
Irik stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor sie, als wolle er sie vor einem wilden Tier beschützen. Verblüfft sah sie auf den schmächtigen Rücken. Der Junge ging ihr kaum bis zur Brust, und doch strahlte seine Körperhaltung eine Selbstsicherheit aus, die sie von seinem Bruder kannte.
Arn hob die Augenbrauen.
»Du stellst dich auf ihre Seite?« Er schnalzte mit der Zunge. »Wie niedlich.«
Einige seiner Begleiter lachten. Kára konnte Iriks Gesicht nicht sehen, aber sie war sich sicher, dass es rot angelaufen war. Vereinzelt lugten Menschen aus ihren Hütten.
»Niemand von euch hat das Recht, sie so zu behandeln!«, fuhr Irik unbeirrt fort. Nicht einmal seine Stimme zitterte. Kára wollte etwas sagen, aber ihr Mund war trocken. Sie wusste nicht, wie sie diese Situation entschärfen sollte.
»Du weißt nicht, worum es hier geht«, erwiderte Arn kalt. Das Lachen seiner Männer wurde lauter.
»Doch. Ich habe alles gehört, und deine Geschichte ergibt keinen Sinn«, sagte Irik selbstsicher und reckte das Kinn in die Höhe. »Natürlich hat Kára nicht nach ihrem Bruder gesucht. Sie weiß, dass er noch lebt.«
Das Lachen der Männer verstummte ebenso wie das Gemurmel der Zuschauer aus den Häusern. Arn kniff die Augen zusammen. Er beugte sich nach vorne, sodass er auf einer Höhe mit dem Jungen war. Seine spitze Nase zuckte, die dünnen Lippen teilten sich zu einem höhnischen Lächeln.
»Und woher weiß sie das, wenn sie doch keine Hexe ist?«
Dieses Mal lachte niemand. Alle Blicke waren starr auf den kleinen Jungen gerichtet, der den Kopf schief legte.
»Ich wüsste, wenn mein Bruder stirbt.« Seine Stimme ließ keine Zweifel zu. Er klang, als würde er Arn eine offensichtliche Lektion erteilen. »Das würde ich fühlen. Ihr geht es sicher genauso.«
Arn öffnete leicht den Mund, schloss ihn aber direkt wieder. Er richtete sich auf, und sein Blick huschte zwischen Irik, Kára und seinen Männern hin und her. Kára war vollkommen überrumpelt.