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Was geschieht mit der Welt der Hexen nach dem Fall des Würfels? »Talus – Die Runen der Macht« ist die Fortsetzung des Urban-Fantasy-Bestsellers »Talus – Die Magie des Würfels« von Liza Grimm: mitreißende Hexen-Fantasy um ein magischen Reich unter Edinburgh. Durch Talus wurden die Gesetze der Hexen zum ersten Mal seit Jahrhunderten verändert. Das uralte Gleichgewicht der Hexenzirkel ist zerstört und Machtkämpfe toben unter der scheinbar friedlichen Oberfläche, die der Rat mit aller Macht aufrechterhalten will. In diesem Chaos sucht Emily nach einer Rettung für ihre Schwester, die von einer mysteriösen Krankheit befallen ist. Jessica sieht in der Kraft verschollener Runen die Lösung und setzt bei ihrer Suche danach nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel. Währenddessen muss sich Maxwell seiner Vergangenheit stellen, um die Gegenwart zu verstehen und Hoffnung auf eine Zukunft zu haben. Nur gemeinsam können sie herausfinden, was der Rat der Unterwelt noch vor ihnen geheim gehalten hat. Doch manche Antworten bleiben besser verborgen … Die deutsche Fantasy-Autorin Liza Grimm begeistert mit lebendigen Charakteren und einer detaillierten, liebevoll ausgearbeiteten magischen Welt, in der alles möglich scheint. Die Urban-Fantasy-Reihe »Die Hexen von Edinburgh« um einen Zirkel junger Hexen und Hexer, ein unheimliches magisches Artefakt und die Gefahr, die von Wünschen ausgehen kann, ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Talus – Die Hexen von Edinburgh - Talus – Die Magie des Würfels - Talus – Die Runen der MachtEntdecke auch Liza Grimms romantischen Fantasy-Romane »Die Götter von Asgard« und »Die Helden von Midgard« und das düstere Fantasy-Märchen »Hinter den Spiegeln so kalt«, eine Neuinterpretation des Märchens »Die Schneekönigin«
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Seitenzahl: 453
LIZA GRIMM
Die Runen der Macht
Knaur eBooks
Was geschieht mit der Welt der Hexen nach dem Fall des Würfels?
»Talus – Die Runen der Macht« ist die Fortsetzung des Urban-Fantasy-Bestsellers »Talus – Die Magie des Würfels« von Liza Grimm: mitreißende Hexen-Fantasy um ein magischen Reich unter Edinburgh.
Durch Talus wurden die Gesetze der Hexen zum ersten Mal seit Jahrhunderten verändert. Das uralte Gleichgewicht der Hexenzirkel ist zerstört und Machtkämpfe toben unter der scheinbar friedlichen Oberfläche, die der Rat mit aller Macht aufrechterhalten will.
In diesem Chaos sucht Emily nach einer Rettung für ihre Schwester, die von einer mysteriösen Krankheit befallen ist.
Jessica sieht in der Kraft verschollener Runen die Lösung und setzt bei ihrer Suche danach nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel.
Währenddessen muss sich Maxwell seiner Vergangenheit stellen, um die Gegenwart zu verstehen und Hoffnung auf eine Zukunft zu haben.
Nur gemeinsam können sie herausfinden, was der Rat der Unterwelt noch vor ihnen geheim gehalten hat. Doch manche Antworten bleiben besser verborgen …
Die deutsche Fantasy-Autorin Liza Grimm begeistert mit lebendigen Charakteren und einer detaillierten, liebevoll ausgearbeiteten magischen Welt, in der alles möglich scheint. Die Urban-Fantasy-Reihe »Die Hexen von Edinburgh« um einen Zirkel junger Hexen und Hexer, ein unheimliches magisches Artefakt und die Gefahr, die von Wünschen ausgehen kann, ist in folgender Reihenfolge erschienen:
Talus – Die Hexen von Edinburgh
Talus – Die Magie des Würfels
Talus – Die Runen der Macht
Entdecke auch Liza Grimms romantischen Fantasy-Romane »Die Götter von Asgard« und »Die Helden von Midgard« und das düstere Fantasy-Märchen »Hinter den Spiegeln so kalt«, eine Neuinterpretation des Märchens »Die Schneekönigin«
Widmung
1 Eine Rückkehr
2 Der Neubeginn
3 Das Diamantfieber
4 Der Plan der Caradain
5 In der Bibliothek
6 Olivias Zukunft
7 Ein wichtiger Fund
8 Der Auftrag
9 Familienbande
10 Ein Kennenlernen
11 Unerwarteter Besuch
12 Unter Freundinnen
13 Das Wiedersehen
14 Die Flucht
15 Ein unerwartetes Angebot
16 Der Hinweis
17 In der alten Heimat
18 Unerwarteter Verrat
19 Der Ausweg
20 Talus
21 Bei Alister
22 Weitere Geheimnisse
23 Der Aufstieg des Tarotzirkels
24 Die Versuchung
25 Eine Überraschung
26 Acherons Wahrheit
27 Entführt
28 Verständnis
29 Die Nachbarin
30 Die Erkenntnis
31 Im Mitternachtscafé
32 Die Suche nach Maxwell
33 Altes Wissen
34 Die richtige Spur
35 In Gefangenschaft
36 Der Aufspürzauber
37 In der Dunkelheit
38 Daisy
39 Echte Dankbarkeit
40 Ein waghalsiger Plan
41 Die Bedeutung der Runen
42 Vergessen
43 Neugier
44 HOffnung
45 Die Brüder
46 Im Baumhaus
47 Alte Schuld
48 Anas Wahrheit
49 Weitere Gefangene
50 Folge dem Waldweg
51 Verlockung
52 Unerwartete Hilfe
53 Die Suche nach Sicherheit
54 Ausflüchte
55 Bei Jessica
56 Ein neuer Plan
57 Jessica Bain
58 Emilys Berufung
59 Neues Vertrauen
60 Komplikationen
61 Das schlafende Mädchen
62 Anverbaile
63 Bei Alister
64 Alisters Macht
65 Alte Bekanntschaften
66 Unbekannte Magie
67 Die Macht der Karten
68 Olivia Ward
69 Familienangelegenheiten
70 Wahre Freiheit
71 Alte Wunden
72 Eine schwere Entscheidung
73 Der Runenzirkel
74 Maxwells Eltern
75 Gebrochenes Vertrauen
76 Ein wahr gewordener Herzenswunsch
77 Übergriff der Schattenleser
78 Die Zeremonie
79 Schuld
80 Sir Craigs Wahrheit
81 Die neue Großmeisterin
82 Getarnt
83 Der Ausbruch
84 Olivias Flucht
85 Maxwells Mutter
86 Das Wiedersehen
87 Thishas Vergangenheit
88 Vereint
89 Die Magie der Geschichte
90 Acherons Ziel
91 Der letzte Kampf
Die Zukunft
Epilog
Danksagung
Für jene, die zurückkehren.
1
Die eisigen Temperaturen in der Höhle vermochten es nicht, Jessica aufzuhalten. Sie zog lediglich den mit Pelz gefütterten Umhang enger und hob das Glas mit dem magischen Feuer etwas in die Höhe.
In Ballymaguire herrschte die ewige Polarnacht. Am Himmel tanzten bunte Lichtbänder. Dunkelgrün, Purpur, Indigo. Doch Jessica kümmerte sich nicht darum, starrte stattdessen mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne, suchte nach dem spitzen Berg, den die Überlieferung beschrieben hatte.
»Ein Zacken wie der Zahn eines Drachen«, flüsterte Jessica.
Neben ihr stapfte Emily durch den Schnee, ebenfalls in eine dicke Jacke gehüllt, das Gesicht von einem Schal verborgen. In der blauweißen Landschaft leuchteten ihre feuerroten Haare beinahe so hell wie die Flammen in Jessicas Hand.
»Wir sollten wirklich nicht hier sein«, wiederholte sie den Satz, den sie seit ihrem Aufbruch schon mehrmals geflüstert hatte. Sie befanden sich in einer der alten Höhlen, tief unter Edinburgh. Magie hatte diese Gänge zu einem Abbild der Oberfläche geformt, jede Höhle etwas Einzigartiges, Besonderes.
Ballymaguire galt als unsicher, zu löchrig war der Vorhang, jene mystische Kraft, die den Vortex und damit die Magie von ihrer Welt trennte. In diesen alten Höhlen brach die Macht zu oft hindurch, forderte ihren Tribut.
»Du hättest nicht mitkommen müssen«, erklärte Jessica erneut, doch sie war insgeheim froh, dass ihre Mitbewohnerin an ihrer Seite war. Auch, wenn sie entschlossen voranging, kämpfte sie mit jedem Schritt gegen die Angst in ihrem Herzen, die sie wie ein Anker zurück in die Sicherheit zog.
Emily schnaubte. »Dann hättest du mir nicht davon erzählen dürfen.« Ein kurzes Lächeln. »Ich lasse dich doch nicht allein.«
Gemeinsam standen sie in dieser unendlichen Schneewüste, die Gebirgskette erhob sich vor ihnen in den farbenprächtigen Himmel. Beeindruckende Gipfel, die tanzende Polarlichter küssten. Am Fuß der Berge duckten sich kleine Hütten in den Schnee. Kalt und verlassen lagen sie da. Vergessene Zeugen einer vergangenen Zeit, in der hier noch Hexen gelebt hatten.
Jessica wusste, dass dies bereits einige Hundert Jahre her war, und Eisklauen schlossen sich um ihr Herz. Alles war vergänglich, selbst die einst größten Errungenschaften der Hexengemeinde.
»Das müsste er sein.« Jessica deutete auf einen der Gipfel, der deutlich spitzer als die anderen war und zudem leicht gekrümmt. Es wirkte, als würde er die Polarlichter erdolchen wollen.
»Sieht gut aus«, stimmte Emily zu und setzte sich wieder in Bewegung. Jessica folgte ihr, stapfte durch den hohen Schnee. Sie fragte sich, ob die hastig gekritzelte Anmerkung, die sie in einem halb zerfallenen Runenlehrbuch gefunden hatte, wirklich zu gebrauchen war. Eigentlich war das Risiko, das sie eingingen, viel zu groß, wenn sie bedachte, wie unsicher ihr einziger Anhaltspunkt war. Aber die Vorstellung, heute wahrhaftig in das magische Herz einer Höhle einzudringen, ließ ihre Schritte zielsicherer werden.
Sie wusste nicht, wie dieses Herz aussah. Dieses Wissen war für die Hexenwelt vor vielen Jahren aus ungeklärten Gründen verloren gegangen. Mittlerweile glaubte Jessica eher, dass der Rat ihnen die Wahrheit absichtlich verheimlichte. Durch den Vorfall mit Talus und Lus Tod war ihr klar geworden, wie perfide der Rat die ganze Unterwelt beeinflusste.
Deshalb hatte sie beschlossen, auf eigene Faust nach dem verlorenen Wissen zu suchen, obwohl der Rat dies ausdrücklich verboten hatte. Sie würde ihrem Zirkel zurückholen, was ihm zustand.
Gemeinsam erreichten sie das verlassene Dorf. Aus der Nähe sah es deutlich heruntergekommener aus. Die Fensterläden hingen schief in den Angeln, der Wind pfiff durch Löcher in den Wänden. Bei einem Haus war die Tür herausgerissen, und gähnende Schwärze starrte Jessica entgegen. Sie trat auf die Schwelle, lehnte sich nach vorne und hielt die Laterne etwas höher. Das Licht kämpfte sich durch die Finsternis, beleuchtete einen Tisch, Stühle, Geschirr.
Emily trat neben Jessica und runzelte die Stirn. »Sieht so aus, als wären sie übereilt aufgebrochen.«
»Die Bewohner der Höhle wurden von einem Orkan überrascht«, erklärte Jessica. »Die Hexen mussten während des Schneetreibens evakuiert werden. Es gab zweiundvierzig Tote.«
»Nur ein Orkan?«, hakte Emily nach, und Jessica schüttelte so abrupt den Kopf, dass ihre Runenohrringe klimperten.
»Unwahrscheinlich.« Sie setzte sich wieder in Bewegung, machte sich daran, den Berg zu erklimmen. »Aber die Aufzeichnungen verraten uns nicht, was im Sturm lauerte.«
»Weil die evakuierten Hexen es nicht wussten?«
»Oder weil es niemand erfahren sollte«, vermutete Jessica. »Dementsprechend vorsichtig sollten wir sein. Was auch immer damals die Evakuierung erzwang, könnte noch hier sein.«
»So etwas habe ich mir schon gedacht.« Emily wirkte nicht wirklich besorgt. Sie zog eine Flasche aus ihrem kleinen Rucksack und reichte sie Jessica.
»Was ist das? Drachenabwehrmittel?« Es sollte ein Scherz sein, aber die Vorstellung, dass hier ein Drache lauerte, ließ die Frage ohne Lachen verhallen.
»Etwas gegen die Kälte.« Emily zog die Jacke enger. »Je höher wir kommen, desto mehr friere ich. Du nicht?«
»Doch«, stimmte Jessica zu und nahm einen Schluck. Der Tee war nicht mehr warm, aber das magische Chili, das Emily auf ihrer Fensterbank gezüchtet hatte, funktionierte auch ohne Hitze. Sofort begannen Jessicas Zehen zu kribbeln, und sie spürte ihre Nasenspitze wieder. Sie gab Emily die Flasche zurück. »Danke.«
Emily lächelte und nahm dann ebenfalls einen Schluck. Als sie vorausging, holte Jessica unter ihrer Jacke eine Kette mit schwarzem Onyx hervor. Der Stein fühlte sich kalt auf ihrer Haut an, obwohl er sie wärmen sollte. Allein Emilys Chili verdankte sie es, dass sie nicht komplett verfroren den Rückzug antrat. Jessica fragte sich, ob die Notizen fehlerhaft gewesen waren. Mit einem Seufzen steckte sie die Kette zurück und setzte sich wieder in Bewegung.
Schweigsam liefen sie den Pfad entlang und warfen dabei immer wieder Blicke zu dem Gipfel, den sie erklimmen wollten. Der Weg führte zwischen kahlen, toten Bäumen hindurch. Die abgestorbenen Stämme leuchteten dank der Polarlichter seltsam grün. Das Dorf hinter ihnen wurde immer kleiner, bis sie eine Bergkuppe umrundeten und es komplett außer Sicht geriet. Irgendwie bereitete Jessica das Sorgen. Dieses Dorf war ihr visueller Anker gewesen, seit sie die Höhle betreten hatten. Nun war es der Drachenzahn-Berg, um den die Lichter tanzten.
Je höher sie stiegen, desto kälter wurde es, und auch die Erschöpfung hielt langsam Einzug. Wann immer Jessica den Kopf hob, schien der Gipfel nicht näher gekommen zu sein.
»Können wir ihn überhaupt erreichen?« Emily blieb stehen und hielt sich die behandschuhten Hände vor den Mund, hauchte hinein, um ihr Gesicht zu wärmen. »Es könnte ein Zauber sein.«
»Davon stand nichts in den Notizen«, erwiderte Jessica und war sich dabei genau bewusst, dass das keine Rolle spielte. Solch eine Schutzmaßnahme würde nicht in einem Buch stehen, da sie sonst nahezu zwecklos wäre.
»Wir sollten gehen und mit einem Gegenzauber wiederkommen.« Mit einer ausladenden Bewegung deutete Emily auf den Drachenzahn-Berg. »Einfach weiterzulaufen bringt uns ausnahmsweise nicht voran.«
»Aber …« Jessica fiel kein Gegenargument ein. Ihre Schultern sackten ein Stück nach unten. Sie dachte erneut an die nutzlose Kette auf ihrer Haut. Bei diesem Ausflug war sie alles andere als eine Hilfe gewesen. »In Ordnung.«
»Hey«, flüsterte Emily und trat auf sie zu, legte ihr eine Hand auf den Oberarm. »Es war einen Versuch wert, und das nächste Mal werden wir näher herankommen.«
Das nächste Mal. Morgen würde Jessica direkt in die Bibliothek gehen und weitere Nachforschungen anstellen, das nahm sie sich fest vor.
Emily fuhr fort: »Selbst wenn sich uns dann ein neues Hindernis in den Weg stellt, werden wir eine Lösung finden. So lange, bis wir das Ziel erreichen. Okay?«
Obwohl Jessica sich nicht danach fühlte, nickte sie. Es war ein gutes Gefühl, Emily an ihrer Seite zu haben.
2
Ein Tarotleger zu sein, hatte sich nie besser angefühlt. Er war nicht nur mächtiger, auch die anderen Zirkel nahmen ihn endlich ernst. Maxwell tauchte die Füße in den kühlen Fluss, der sich durch seine neu bezogene Höhle schlängelte.
Noch vor wenigen Monaten hatte er in von Feuern erhellter Dunkelheit gelebt, jetzt spannte sich ein hellblauer Himmel über ihn. Diese Höhle besaß jedoch nicht nur Tag und Nacht, sondern auch Jahreszeiten, die sich an der Oberwelt orientierten. Gleichzeitig verschonten ihn lästige Wetterphänomene wie Gewitter, Schnee oder Hagel. Es gab bloß leichte Frühlingsregen und sanfte Herbstböen. Diese Höhle war perfekt und das Wohnen hier außerordentlich teuer.
Maxwell seufzte und warf einen stolzen Blick zu dem kleinen einstöckigen Häuschen mit der Veranda, auf der bunte Blumen in Kübeln blühten.
Sein neues Haus war vielleicht nicht groß, doch die Umgebung dafür umso besser.
Seine Hündin sprang mit einem freudigen Bellen ins Wasser. Sie war kein kleiner Hund, aber auch nicht riesig. Ihr dunkelbraunes Fell lag eng an ihrem schmalen Körper an, als sie wieder aus dem Fluss kam. Sie schüttelte sich direkt neben Maxwell, sodass er genervt aufstöhnte.
»Daisy!« Er wollte es wie eine Rüge klingen lassen, lachte aber dabei. Das hier war genau das Leben, das er sich immer für sie erträumt hatte. Ein Leben auf einer grünen Wiese mit kühlem Wasser, kein Dasein in einer dunklen Höhle ohne Sonnenlicht.
Daisy hatte sich nie beschwert, und auch jetzt legte sie sich zu Maxwell, drückte ihren feuchten Körper gegen seine dunkle Hose, als wäre seine Anwesenheit das Einzige, was wirklich für sie zählte.
Ihm wurde warm ums Herz, und er kraulte sie hinter den Ohren. »Gefällt es dir hier?«
Als Antwort gähnte die Hündin, bevor sie die Schnauze zwischen die Pfoten bettete und die Augen schloss. Maxwell tat es ihr gleich, aber die Ruhe war nicht von langer Dauer.
»Der Neue also.« Die Stimme gehörte zu einer Hexe, die ein sehr weites, schwarzes Kleid und einen sehr dominanten gelben Stoffschal trug. Eine Lufthexe. Sie war etwa in Maxwells Alter und trug ihre braunen Locken offen. In ihren dunklen Augen lag ein unangenehmes Glitzern.
»Ich bin Maxwell«, stellte er sich vor und reichte ihr eine Hand, die sie nicht nahm.
»Ich weiß genau, wer du bist«, sagte sie und fixierte den purpurfarbenen Pin an seiner Brust. »Tarotleger, 27 Jahre alt, bisher gescheitert, aber durch das dem Zirkel kürzlich beschiedene Glück aufgestiegen. Deine Eltern sind vor knapp zwanzig Jahren verschwunden, vermutlich weggelaufen. Niemand weiß, wer deine Mutter war. Aufgewachsen bist du bei deiner Großmutter, Olivia Ward, die kurz nach deiner Volljährigkeit ebenfalls verschwand.« Die Hexe lächelte. »Habe ich etwas vergessen?«
Maxwell schwieg. Sie hatte nicht einmal im Kern erfasst, wer oder was er war. Aber das war besser so. Also lächelte er, wartete. Er wusste, dass die meisten Stille nicht ertrugen und sie deshalb allzu leicht mit sensiblen Informationen füllten.
»Mein Name ist Zendaya. Ich wohne im Haus nebenan.« Erneut hielt sie inne, als erwartete sie, dass er ihren Namen erkannte. »Zendaya Bissett.«
Obwohl Maxwell der Nachname etwas sagte, schwieg er. Lady Bissett war ein Ratsmitglied. Eine der Hexen, die über die Belange der Unterwelt bestimmten. Das hier musste ihre Tochter sein.
Daisy hob den Kopf und wedelte leicht mit dem Schwanz.
»Dein Hund?«, fragte Zendaya.
»Nein, sie liegt nur zufällig neben mir«, antwortete Maxwell, ohne mit der Wimper zu zucken. Daisy schleckte ihm über die Hand, die er ihr hinhielt, und Zendaya verzog angewidert das Gesicht.
»Räum ja ihre Scheißhaufen weg.«
»Aber im eigenen Garten darf ich sie liegen lassen, oder? Ist guter Dünger.« Maxwell lächelte freundlich. Er liebte es, Hexen mit seinem Sarkasmus auf die Palme zu bringen. Es war viel zu leicht.
Zendayas Gesicht färbte sich leicht rot. »Du bist also ein Spaßvogel.«
»Das wusstest du nicht über mich?«, fragte er und stützte sich mit dem Ellbogen ins Gras. »Dabei ist das doch die erste Sache, die den meisten auffällt.«
»Das Erste, was auffällt«, entgegnete Zendaya, »ist dein Zirkel.« Sie strich über ihren Stoffschal, der locker um ihre Schultern hing. »Ganz gleich, wie unauffällig du ihn zur Schau trägst.« Ihre Augen blitzten auf. »Ich bin froh, dass der Rat vor vielen Jahrhunderten beschlossen hat, dass wir unsere Zirkel durch unsere Kleidung offenbaren müssen. Es sorgt dafür, dass man direkt weiß, wem man gegenübersteht, nicht wahr?«
»Das bemerkt man spätestens dann, wenn das Gegenüber den Mund aufmacht«, erwiderte Maxwell süffisant. »Es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Zendaya. Auf eine gute Nachbarschaft.«
Ihr Gesicht wurde noch dunkler, und sie antwortete mit einem Seitenblick auf Daisy: »Halt einfach deinen Köter von meinem Grundstück und dich von mir fern.«
Damit stapfte sie davon.
Vor vielen Jahren wäre Maxwell diese Art von Zusammenstoß unangenehm gewesen. Während die meisten Hexen die Tarotleger vor dem Fall des Würfels lediglich belächelt hatten, gingen sie sie nun offen an. Es war ihre Art, mit der Bedrohung umzugehen, und sie merkten nicht, dass sie dadurch erst wahre Probleme und Fronten schufen.
Es war Zendayas Glück, dass Maxwell sich nicht für solche Dinge interessierte. Seine Ziele waren weitaus größer als dieses Geplänkel der Unterwelt. Er streichelte Daisys Kopf, dann stand er auf, und sie trotteten gemeinsam zurück ins Haus. Der kurze Moment der Ruhe war von seiner Nachbarin zerstört worden, aber er hatte keine Zeit, sich weiter auszuruhen, immerhin stand ein wichtiges Treffen mit den Caradain bevor.
3
Es schmerzte Emily, ihre beste Freundin so zu sehen. Seit Lus Tod schien es ihr, als suchte Jessica verzweifelter als je zuvor nach einem Lebenssinn. Zumindest hoffte sie, dass das der Grund für ihre eifrige Suche war. Sie wünschte, sie könnte ihr dabei helfen, einen zu finden. Seufzend strich sie sich eine der roten Locken hinter das Ohr und räumte ihren Winterumhang in den Kleiderschrank. In ihrem Zimmer war es angenehm warm, denn die Blumen und Kräuter mochten Kälte nicht, und Emily schlief besser, wenn sie von Grün umgeben war. Von ihrem Bett aus sah sie deshalb auf einen Himmel an Blättern verschiedenster Kletterpflanzen, die Fenster waren beinahe vollkommen zugewuchert und ließen gerade so viel Licht herein, wie die Gewächse benötigten.
Zwar hätte Emily auch dieses Bedürfnis mit Magie ausgleichen können, aber sie war kein Fan davon, bei Lebewesen alles mit ihrer Kraft zu lösen. Deshalb standen auch einige Wasserschalen in den Ecken, um für eine höhere Luftfeuchtigkeit zu sorgen.
Direkt neben ihrem Bett befand sich ein länglicher Holzkasten mit dunkler Erde. Nachdem Emily den Umhang verstaut hatte, trat sie zu dem Kasten und ging in die Hocke. Sie legte den Ringfinger an den Daumen, schloss die Augen, konzentrierte sich. Der Vortex empfing sie mit gleißend hellem Licht. Strahlendes Weiß, das durch ihre Finger floss. Sie öffnete die Augen und beobachtete, wie die Funken von ihrer Hand zu den Samen tief in der Erde tanzten. Sie spürte, wie die Magie durch die weichen Schalen nach innen drängte und der zukünftigen Pflanze zuflüsterte, was die Welt von ihr erwartete. Größe. Hilfe.
Seit sie die Samen vor wenigen Tagen eingebracht hatte, wandte Emily jeden Morgen und jeden Abend ihre Magie an, denn leider war sie zu schwach, um mit einem einzigen Zauber eine Pflanze zu beeinflussen. Sie benötigte mehrere Tage, meist sogar Wochen, um ihre Kräuter dazu zu bewegen, ihre Wünsche zu erfüllen. Aber dafür waren die Ergebnisse es die meiste Zeit wert. Zumindest, solange es nicht um das Heilmittel ging. Dabei war dieses Mittel das, was Emily wirklich wichtig war. Ihre Schwester wartete schon viel zu lange darauf.
Mit routinierten Schritten verließ Emily ihr Zimmer und stieg die steile Treppe zum Dachboden empor. Am Geländer rankte sich immergrüner Efeu empor, den Emily verzaubert hatte, sodass er weder weiter wucherte noch verwelkte. Es war, als wäre er eingefroren.
Das Gleiche galt für das Mädchen, das inmitten eines Blumenparadieses auf dem Bett lag. Um sie herum blühten die wunderschönsten Blumen, während warmes Licht auf ihr Gesicht fiel. Rubinrot, Karmesin, Türkis, Creme, Lavendel.
»Hallo, Caroline.« Emily redete sich gern ein, dass die Nennung ihres Namens irgendwie dazu führte, dass ihre Schwester sie trotz des Diamantfiebers wahrnahm.
Das Diamantfieber war eine brutale Krankheit, nach deren Gegenmittel Emily schon seit vielen Jahren suchte. Seit es ihre Schwester befallen hatte. Caroline war ein kleiner Diamant, gefangen in der ewigen Blüte ihrer Jugend. Regungslos, bewusstlos. Emily strich ihr eine rote Strähne aus dem Gesicht, streichelte ihre kühle Wange. Caroline war wie eine wunderschöne Porzellanpuppe.
»Leider habe ich keine Neuigkeiten.« Emily setzte sich auf den Stuhl, der neben Carolines Bett stand. »Ich war mit Jessica in einer der alten Höhlen. Du weißt schon: jene, die wegen Magieausbrüchen evakuiert wurden. Aber keine Sorge, mir ist nichts passiert.« Emily lachte leise. »Wie du siehst, immerhin bin ich hier. Leider habe ich auch nicht das gefunden, worauf ich gehofft hatte.« Bei diesen Worten musste Emily schlucken. Sie begleitete Jessica nicht nur wegen ihrer Freundschaft, sondern auch, weil sie jede Möglichkeit wahrnahm, die zu Carolines Heilung führen konnte.
Also hatte sie vorab recherchiert und herausgefunden, dass es in Ballymaguire angeblich ein seltenes Kraut namens Feamainn-teine gab, dem belebende Kräfte zugesprochen wurden. Bisher hatte Emily keine dieser Pflanzen in die Hände bekommen, und die Hoffnung darauf, mit ihnen zu experimentieren, hatte sie in die Höhle getrieben.
»Es war alles zugeschneit«, erklärte Emily ihrer Schwester und nahm dabei ihre Hand. »Sogar bei den Häusern war alles verdeckt. Wenn dort mal Feamainn-teine wuchs, so ist es jetzt schon lange erfroren.« Kummer verzerrte ihre Gesichtszüge. »Es tut mir leid.« Dann schüttelte sie den Kopf, setzte ein gezwungenes Lächeln auf. »Aber das macht nichts. Ich werde weitersuchen, ja? Und wenn es diese Pflanze nicht ist, dann die nächste …«
Sie legte ihren Kopf auf Carolines stillen Brustkorb, schloss die Augen und erinnerte sich daran zurück, wie sie gemeinsam im Garten Verstecken gespielt hatten. Carolines Lachen war mittlerweile bloß eine blasse Erinnerung.
Als sie sich wieder aufrichtete, wischte Emily sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich gebe nicht auf, Caroline. Versprochen.«
4
Maxwell zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und vermisste schon jetzt seinen Hund. Aber es war besser, Daisy während der Treffen zu Hause zu lassen, immerhin waren Hunde in der Unterwelt selten und dementsprechend auffällig. Maxwell musste in solchen Momenten unbemerkt bleiben. Ein flauschiges Tier, das jeden Fremden um Streicheleinheiten anbettelte, war dem nicht gerade zuträglich. Also saß Daisy in ihrem neuen Haus und kaute friedlich auf einem Knochen herum, während Maxwell durch die Gänge der Unterwelt eilte und nach der richtigen Tür suchte.
Er fand sie recht schnell: ein unauffälliger Holzrahmen mit einer ebenso unscheinbaren Tür. Wenige Runen darüber kennzeichneten sie als Höhle ohne Himmel, ohne Pflanzen, ohne Licht.
Maxwell trat ein und sah im Dämmerlicht geduckte Häuser stehen. Die Dächer waren löchrig, aber da es hier weder Wind noch Regen gab, kümmerte sich niemand darum. Gusseiserne Laternen säumten die Wege, und kleine Flammen tanzten darin. Die Straßen selbst waren leer. In dieser Höhle wohnten nicht viele Hexen, und jene, die es taten, hatten nirgendwo anders Obdach gefunden, weil sie aus ihrer alten Heimat vertrieben worden waren.
Je mehr Höhlen den magischen Ausbrüchen zum Opfer fielen, desto mehr Hexen fanden sich an solchen Orten, die eigentlich nur gescheiterte Experimente früherer Runenhexen waren. Im Laufe der Jahrhunderte waren so viele Höhlen unbewohnbar geworden, und Gerüchten zufolge schritt der Verfall immer schneller voran. Auch, wenn der Rat dies dementierte, so waren doch immer mehr Höhlen evakuiert worden, und der Platz in der Unterwelt wurde begrenzter. Für Maxwell war die einzig logische Konsequenz, die Caradain in ihrem Bestreben zu unterstützen, damit Hexen nicht mehr an solchen dunklen Orten hausen mussten.
Das Treffen der Caradain fand in einem kleinen Haus am Rand der Höhle statt. Es war kaum mehr als eine Hütte, wenige Holzbretter aneinandergenagelt und mit maroden Ziegeln gedeckt. Die Fenster hatten keine Scheiben, und innen brannte Licht, dennoch war es still.
Erst, als Maxwell die Tür öffnete, drang ihm Stimmengewirr entgegen. Einige Caradain warfen ihm einen Seitenblick zu, aber die meisten blieben in ihre Gespräche vertieft. Sie waren entspannt, rechneten nicht mit einem Angriff, immerhin hatte ihr Alarmsystem nicht ausgeschlagen. Sollte jemand, der nicht Teil der Caradain war, dieses Haus betreten wollen, würden die Runen am Eingang ihn aufhalten.
Maxwell wusste nicht, wie diese Magie funktionierte, sie war ihm ebenso ein Rätsel wie die Stillezauber, die auf die Fenster und Wände gelegt worden waren, sodass nichts nach außen drang. Andere Zirkel hatten ihn noch nie sonderlich interessiert.
»Maxwell!« Eine ältere Frau kam auf ihn zu. Sie lief gebückt, ihre Wangen waren rosig und das Gesicht voller Falten. Mit ihrer bunten Kleidung fiel sie innerhalb dieser Versammlung aus schwarz gekleideten Hexen besonders auf.
Sobald sie bei Maxwell angekommen war, zog sie ihn in eine herzliche Umarmung, und er atmete den Geruch seiner einsamen Kindheit ein. Maxwell war schon immer ein Einzelgänger gewesen, immerhin hatten seine Eltern ihn fernab der restlichen Unterwelt großgezogen, und seine Großmutter gehörte seit Jahren den Caradain an. Sie hatte ihn schon sehr früh in diese Gemeinschaft eingeführt, weshalb er als Kind Abstand zu anderen gehalten hatte. Für die Sicherheit der Gruppe. Es gab kein anderes Kind bei den Caradain, und so war er bei den Treffen lange einsam gewesen. Als Maxwell irgendwann alt genug war, sodass auch Gleichaltrige Teil der Caradain waren, hatte ihn das stets irritiert, da es so fernab seiner Gewohnheiten war. Er war immer der Jüngste gewesen. Einsam. Nicht ganz ernst genommen, aber immer beschützt.
»Wie geht es dir?« Olivia drückte ihn von sich weg, begutachtete ihn von oben bis unten. Er schlug die Kapuze zurück und zeigte ihr ein strahlendes Lächeln.
»Es tut gut, dich zu sehen, Oma.« Neugierig sah er sich in dem Haus um. Innen erweckte es nicht den Eindruck von Zerfall, im Gegenteil: Die Möbel waren frisch poliert, der Boden geputzt, Bilder hingen an den Wänden. In einer Vase standen farbenfrohe Blumen, und zwei Türen gingen von diesem Zimmer ab, versprachen weitere Räume mit mehr Platz. »Hier wohnst du jetzt?«
»Es ist so gut wie jedes andere Haus auch«, erwiderte Olivia mit einem Schulterzucken. »Allerdings werde ich nicht mehr lange bleiben.«
Maxwell runzelte die Stirn. »Du bist doch erst seit ein paar Wochen hier.«
»Und du hast mich in der Zeit kein einziges Mal besucht.« Sie sagte es im Scherz, aber Maxwell verspürte trotzdem Schuldgefühle. Zerknirscht senkte er den Blick. »Ach, Max, ich meine es doch nicht so.« Seine Oma tätschelte ihm liebevoll die Wange. »Immerhin hattest du sehr viel zu tun, nicht wahr? Und ich war auch nicht untätig. Aber mehr dazu, wenn die Versammlung offiziell anfängt.«
In diesem Moment trat ein Feuerhexer vor die Menge. Er war komplett in Rotgold gekleidet, an seinem Ohr baumelte ein glitzernder Rubin. Er breitete die Arme aus und schickte ein strahlendes Lächeln in die Runde. Schlagartig senkte sich Stille über den Raum, und alle Blicke wandten sich Alister zu.
»Freunde«, grüßte er, und seine Stimme drang in jeden Winkel des Raums. Sofort stellten sich Maxwells Nackenhaare auf. Er kannte Alister schon sehr lange, und doch packten ihn seine Reden jedes Mal aufs Neue. Er bewunderte die Art, wie Alister es vermochte, sein Publikum mit einem einzigen Wort zu fesseln. »Ich freue mich, dass ihr heute so zahlreich erschienen seid, obwohl die Zeiten so schwer sind.« Er senkte die Stimme leicht, und Maxwell schien es, als würde es im Raum noch stiller werden, obwohl er das nicht für möglich gehalten hatte. Er und seine Oma lehnten sich gespannt nach vorne, hingen an Maxwells Lippen. »Unser letztes großes Ziel, Talus in unsere Gewalt zu bringen, ist gescheitert.«
Maxwell senkte den Blick. Er war vor vier Monaten nicht dabei gewesen, aber er wusste, dass einige von Alisters Freunden damals ihr Leben verloren hatten.
»Doch hatte dieser Fehlschlag auch etwas Gutes: Wir haben zueinandergefunden.« Jetzt hob Maxwell den Blick, sah sich im Raum um. Damals war Alister kein Teil der Caradain gewesen, hatte sich dagegen entschieden, weil ihr damaliger Anführer auf der falschen Seite gekämpft hatte. »Sir Craig mag uns schon vor langer Zeit verlassen haben.« Leichtes Gemurmel erhob sich. »Und es hat uns schwer erschüttert, dass eine andere Hexe so lange unbemerkt seinen Körper führen konnte. Trotzdem müssen wir uns daran erinnern, wofür Sir Craig stand. Damit meine ich ihn. Den Mann, der sich als Ratsmitglied auf die richtige Seite stellte.« Er breitete die Arme weiter aus. »Nicht die Hexe, die uns spaltete und dafür sorgte, dass wir einander bekämpften, obwohl wir einander helfen sollten. Diese Runenhexe, die nicht einmal unsere Welt kannte und trotzdem meinte, darüber bestimmen zu können.« Ein zustimmender Ruf flog durch die Luft, gemischt mit vereinzeltem Klatschen. »Wir dürfen nicht vergessen, was unser eigentliches Ziel war: unter den Radain zu leben. In Frieden.«
Applaus brandete auf, und Maxwell stimmte mit ein. Das war der Grund, weshalb er selbst im Erwachsenenalter den Caradain die Treue hielt.
Auch wenn sein Leben als Tarotleger seit dem Fall des Würfels besser geworden war, so erinnerte er sich allzu gut an die dunklen Momente. An die finstere Höhle, in der er mit seiner Oma, die ebenfalls zu seinem Zirkel gehörte, gelebt hatte. An die Jahre in Dunkelheit. An die Schikanen der anderen Hexen während des Unterrichts. Seit Maxwell in Edinburgh gelebt hatte, verstand er zu gut, weshalb Olivia die Ziele der Caradain teilte. Sein Leben unter den Radain war weitaus entspannter gewesen. Dort hatte er Daisy gefunden und nie das Gefühl gehabt, sich irgendwie eingliedern zu müssen. Bei den Radain erwartete er, nicht dazuzugehören, und das war herrlich befreiend.
Selbst wenn es ihm jetzt besser ging, so blieb das System falsch, und die Stadt über ihren Köpfen war eine Verlockung, die stetig nach ihm rief. Er wollte dort leben und seine Magie ausüben können, ohne Angst vor den Schattenlesern oder den Radain zu haben. Er wollte auf belebten Marktplätzen die Radain mit seiner Magie verblüffen, ihnen helfen. Und er wünschte sich, dass seine Oma dasselbe tun konnte. Sie würden gemeinsam in einem kleinen Haus wohnen, und während sie den Garten pflegte, würde er mit seiner Magie genügend Geld verdienen, um ihr alles zu ermöglichen, was sie sich wünschte. Die Radain würden seine Magie schätzen und ihn deshalb verehren und nicht so in den Staub treten, wie die anderen Zirkel es taten.
Maxwell stieß eine Faust in die Luft und jubelte.
5
Auch an diesem Morgen begab Jessica sich direkt zur Bibliothek und schritt die frei schwebende Wendeltreppe empor, über die die dreizehn Stockwerke miteinander verbunden waren. Das immerwährende Dämmerlicht des Morgens fiel durch die Glaskuppel in das weitläufige Foyer, in dem nur wenige andere Hexen waren. Vier Gebräuhexen standen in einer Ecke zusammen, während in einer anderen eine Tarotlegerin mit einem Feuerhexer diskutierte.
Jessica überblickte die Szenerie, während sie die Treppe nach oben stieg, beobachtete, wie die Hexen unter ihr immer kleiner wurden, bis sie schließlich im siebten Stockwerk angekommen war. Die Bücherregale waren dicht bepackt, ledergebundene Wälzer neben dünnen Büchern mit Stoffeinbänden, kleine Schilder an den Brettern dazwischen.
Es war eine uralte Sammlung, zusammengetragen über Jahrhunderte und akkurat sortiert. So fiel es Jessica nicht schwer, das Buch zu finden, bei dem sie vor einigen Tagen ihre Suche vorerst beendet hatte.
Ein schmuckloses rotes Buch mit dem schwarz geprägten Titel »Die spektakulärsten Evakuierungen der Neuzeit«. Darin enthalten waren zahlreiche Zeichnungen, dunkle Tinte, von einer Wasserhexe in fotogetreue Form gebracht.
Jessica blätterte durch, bis sie bei Ballymaguire angekommen war, fuhr mit dem Finger über die Linien des Drachenzahn-Berges. Sie waren gestern definitiv in der richtigen Höhle gewesen. Dann ging sie zwei Stockwerke nach unten in die Runenabteilung und suchte nach dem halb zerfallenen Lehrbuch, in dem sie die Anmerkung gefunden hatte.
Sie fand es zwischen zwei dicke Atlanten gepresst, und als sie es hervorzog, landete einer mit einem lauten Knall auf dem Boden. Mit hochrotem Kopf stellte Jessica ihn zurück und verzog sich mit ihrer Ausbeute zu einem Lesetisch in einer Nische.
Dort brannte eine kleine Lampe, magisches Feuer, eingeschlossen in runengraviertes Glas. Doch heute hatte Jessica keinen Blick für solch alltägliche Gegenstände, die sie sonst nur zu gern in Augenschein nahm, um sie zu verstehen. Stattdessen blätterte sie direkt zu der Seite, die sie nach Ballymaguire geführt hatte.
Eine Abhandlung über Kälteschutzrunen. Daneben stand in krakeliger Handschrift:
Nützlich, um das magische Herz von Ballymaguire zu erreichen.
Jessica holte die Kette mit dem Onyx hervor, auf den sie diese Runen gewirkt hatte. Sie schimmerten silbern auf der nachtschwarzen Oberfläche, und der Stein war angenehm warm.
Sie verglich die Runen mit den Abbildungen und stellte fest, dass sie bei mindestens drei von ihnen einen falschen Strich gesetzt hatte. Ein lautloser Fluch kam ihr über die Lippen, und sie strich sich eine ihrer blonden Locken zurück.
Dann holte sie jene Kette raus, die sie Emily gegeben hatte, und fand dort ebenfalls vier Fehler. Kein Wunder, dass sie gestern derart gefroren hatten.
Jessica schloss die Augen und atmete tief ein. So fahrig kannte sie sich gar nicht, normalerweise saßen ihre Runen perfekt. Als sie ihr Notizbuch hervorholte, stellte sie fest, dass sie bereits dort falsch abgezeichnet hatte und bei der Übertragung auf die Steine weitere Fehler hinzugekommen waren.
Sie presste die Lippen zusammen und machte sich daran, die Runen erneut abzuzeichnen. Dieses Mal arbeitete sie äußerst gewissenhaft, überprüfte jeden Strich mehrmals. Erst als sie ihre Arbeit beendet hatte, erlaubte sie sich, darüber nachzudenken, wie das geschehen war.
Der Gedanke, das magische Herz einer Höhle zu finden, hatte ihr Herz flattern lassen. Sie erinnerte sich daran, wie dringend sie losgewollt, wie eilig sie gezeichnet und die Steine angefertigt hatte. Wie schnell sie Ballymaguire in den alten Aufzeichnungen gefunden hatte.
Vor wenigen Tagen war sie noch stolz auf ihre Schnelligkeit gewesen, jetzt kam sie ihr töricht vor. Sie hätte lieber genau arbeiten sollen, statt sich von der Euphorie mitreißen zu lassen. Emily und sie hatten Glück gehabt, dass der Zauber lediglich schlechter funktioniert hatte, immerhin konnte falsche Runenmagie fatale Konsequenzen haben.
Jessica beschloss, Emily nichts davon zu erzählen, zu sehr schämte sie sich dafür, ihre Freundin in Gefahr gebracht zu haben. Sie mit in eine verlassene Höhle zu nehmen, war eine Sache, aber immerhin Emilys freie Entscheidung. Ihr eine Kette mit falschen Runen zu geben, auf deren Wirkung Emily vertraute, eine ganz andere. Zum Glück hatte Emily den Tee mitgenommen.
Sie packte die Steine ein, dann brachte sie die Bücher zurück in ihre Regale. Ihre Aufgabe war noch nicht erfüllt, eigentlich suchte sie nach einer Erklärung für das, was ihnen auf dem Berg geschehen war.
Es gab unzählige Möglichkeiten, weshalb sie dem Gipfel nicht näher gekommen waren, denn die Magie war so vielfältig wie ihre Anwender. Trotzdem musste sie irgendwo anfangen, und sie entschloss sich, mit dem zu beginnen, was sie kannte: Runen.
Also blätterte sie in ihrem Notizbuch zu der Seite, auf der sie die Runen über dem Eingang zu Ballymaguire notiert hatte. Die meisten Zeichen waren ihr bekannt, versprachen einen klaren Himmel, Schnee und Tageszeiten. Eine schöne Höhle, ein wundervolles Zuhause.
Aber einige hatte sie noch nie gesehen, und Jessica beschloss, ihre Bedeutung zu erforschen. Dafür wälzte sie die nächsten Stunden alte Bücher, in denen Höhlenrunen beschrieben waren. Sie wurde nicht fündig. Natürlich nicht.
Da das Wissen verloren war, wusste niemand, ob die Runen über den Eingängen überhaupt von magischer Bedeutung waren oder ob sie lediglich den Ort beschrieben.
Die Unterwelt lag direkt unter Edinburgh, verborgen in einem Tunnelsystem, das auf magische Weise viel größer war, als es nach Begriffen der Radain möglich sein sollte. Die Nicht-Hexen ahnten nichts von der Welt, die sich unter ihren Füßen durch die Stadt schlängelte. Unzählige Flure mit ebenso unzähligen Pforten, die allesamt in magische Höhlen führten.
Mithilfe der Runen hatten die Hexen vor vielen Jahrhunderten ganze Welten in kleinste Felsspalten gequetscht.
Dieses Wissen war verloren gegangen, und da der Vorhang mit der Zeit dünner wurde, wurde der Lebensraum knapper, da keine neuen Höhlen erschaffen werden konnten, während immer mehr unbewohnbar wurden.
Die magischen Ausbrüche, Energie, die direkt aus dem Vortex in die Realität strömte, hatten schon viele Todesopfer gefordert. Durch sie wurden kleine Echsen zu Drachen, Schneestürme zu Eismonstern, kleine Kiesel zu gigantischen Riesen. Für die meisten dieser Geschichten gab es keine Beweise, denn die Schattenleser sorgten dafür, dass die Wesen in ihren abgesperrten Höhlen und damit der Hexenwelt fernblieben.
Jessica wusste nur zu gut, dass sie ebenso wie der Rat viele Dinge verschwiegen, und selbst wenn einst ein Riese diese Bibliothek auseinandergenommen hätte, gäbe es dafür heute keinen Beweis mehr. Also blieben vage Geschichten, die der Rat als Märchen abtat. Möglicherweise waren sie auch nur das: Geschichten, die vertriebene Eltern ihren Kindern erzählt hatten, um ihnen die Situation zu erklären.
Doch da Jessica nun von Drachen wusste, hielt sie auch all die anderen Erzählungen für real.
Frustriert schlug sie ein weiteres Buch zu und legte es auf den großen Stapel, der sich bereits auf ihrem Tisch gebildet hatte. Da die Tageszeit sich in dieser Höhle nie änderte, hatte Jessica keine Ahnung, wie lange sie schon hier saß, aber ihr Kopf dröhnte, und ihre Augen fühlten sich seltsam trocken an.
Sie beschloss, eine kurze Pause einzulegen und sich etwas zu trinken zu holen. Ihr Magenbrummen forderte jedoch nicht nur Wasser, sondern direkt eine ganze Mahlzeit ein.
Im Foyer der Bibliothek gab es einen kleinen Tresen, an dem ein junger Hexer sichtlich gelangweilt in einem Buch blätterte. Er trug die blonden Haare bis zum Kinn, seine helle Haut stand im starken Kontrast zu der schwarzen Kleidung mit dem feuerroten Pin in Form einer Rose am Kragen. Ein Feuerhexer.
Jessica trat an die Theke und legte die Unterarme auf dem polierten Holz ab. Ihre Runenarmbänder klackerten dabei leise, und der Feuerhexer zog beide Augenbrauen nach oben, während sein Blick zu dem orangefarbenen Anhänger um ihren Hals wanderte, der sie als Runenhexe auswies. Als ob die ganzen Ketten und der lederne Beutel, der sich an einem Band um ihren Hals befand und eng an ihre Brust schmiegte, nicht auffällig genug gewesen wären. Aber so waren die Regeln in der Unterwelt: Die Hexen trugen stets Schwarz und wurden angewiesen, auf ihren Zirkel farblich abgestimmte Accessoires zu tragen, damit jeder erkannte, mit wem man es zu tun hatte.
Jessica war schon lange klar, dass dies vor allem die mächtigeren Zirkel nutzten, um mit ihrer Gabe anzugeben. Dabei teilte der Vortex willkürlich den Zirkel zu, und ihrer Ansicht nach brauchte sich niemand etwas auf eine Geburtsgabe einzubilden, für die er nichts geleistet hatte.
Trotzdem gab es in der Unterwelt deutlich zu viele, die genau das taten.
»Was kann ich dir bringen?«, fragte der Feuerhexer. Seine Stimme war angenehm weich, aber sein Blick strahlte Verachtung aus. Jessica war davon nicht überrascht.
»Ein belegtes Brot und eine Flasche Wasser, bitte.« Sie schenkte ihm ihr freundlichstes Lächeln, um zu zeigen, dass sie keine Runenhexe war, die sich aufgrund ihrer Gabe besser als andere fühlte. Offensichtlich zeigte es keine Wirkung, denn der Feuerhexer wandte sich einfach ab, holte die gewünschte Bestellung und nannte dann einen Preis. Jessica zahlte mit kleinen Silbermünzen und setzte sich auf einen Hocker. Essen war in der Nähe der Bücher nicht erlaubt, von Getränken ganz zu schweigen.
»Arbeitest du schon lange hier?«, fragte sie betont freundlich.
»Natürlich nicht«, entgegnete er barsch, und da wurde Jessica ihr Fehler bewusst. Als Feuerhexer war er vor dem Fall des Würfels ein angesehener Hexer gewesen, doch Harriettes größte Angst war der Verlust ihres Ansehens gewesen, und als Lufthexe waren die Konsequenzen absehbar gewesen. Denn Talus erfüllte nicht nur den wahren Herzenswunsch, sondern auch die größte Angst der Menschen, die ihn benutzten.
Als Harriette dafür sorgen wollte, dass ihr Sohn, ein Tarotleger, endlich mehr Ansehen erhielt, besiegelte sie gleichzeitig ihren Untergang. Und den der anderen Elementzirkel. Jessicas Blick wanderte zu der Steinwand hinter dem Tresen, wo früher ein magischer Wasserfall gewesen sein mochte und jetzt versiegt war. Statt glitzernden Regenbögen starrte ihr grauer Stein entgegen.
»Gefällt es dir hier denn?«, fragte Jessica, um das Gespräch am Laufen zu halten. Es interessierte sie aufrichtig, wie es Hexen seit dem Fall des Würfels erging. Für sie hatte sich nichts geändert, ebenso wenig wie für die Gebräu- und Kräuterhexen, aber die Tarotleger hatten an Macht gewonnen, und die vier Elementzirkel hatten sie verloren. Dieses Machtungleichgewicht zeigte sich in den kleinen Dingen des Alltags, und Jessica befürchtete, dass der Unmut irgendwann explodieren würde. Gerade deswegen war es ihr wichtig, zu wissen, was andere fühlten. Sie wollte vorbereitet sein. Die zunehmende Wohnraumknappheit sorgte ebenfalls dafür, dass die Lage immer angespannter wurde, und Jessica hoffte, mit ihren Nachforschungen zumindest dieses Problem zu lösen. Damit könnte sie sowohl die Unterwelt bereichern als auch einen Großteil der Caradain bekehren. Wenn der Runenzirkel wieder in der Lage war, wundersame Höhlen zu erschaffen, gäbe es für die meisten Caradain keinen Grund mehr, nach einem Leben unter den Radain zu streben, da war sie sicher.
»Es ist okay.« Die Antwort war kaum mehr als ein Murmeln, aber die Anspannung wich aus seinen Zügen, und er nahm die vor dem Körper verschränkten Arme nach unten, als begreife er langsam, dass Jessica sich nicht über ihn lustig machte.
»Eine Zitronenlimonade.« Der Befehl kam so schneidend und schnell, dass Jessica zusammenzuckte. Ein Hexer trat mit ausladenden Schritten zur Theke und hatte die Bestellung durch die halbe Halle gebrüllt. Einige der anderen Besucher warfen ihm einen bösen Blick zu, andere steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.
Er war ein großer, hagerer Mann mit kantigen Gesichtszügen und einer ebenso scharfen Stimme. Sein schwarzer Mantel wehte hinter ihm her, die Ränder mit purpurfarbenen Schnörkeln bestickt. Ein Tarotleger.
»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, sagte er, als er den Tresen erreichte. Er stützte die Unterarme auf die Holzplatte, lehnte sich nach vorne und schnalzte mit der Zunge. Dann blieb sein Blick an Jessica hängen, und er lächelte, als er ihren Anhänger registrierte.
»Ich bin Jack.« Er hielt ihr eine Hand entgegen, und Jessica schlug widerwillig ein. Einer Runenhexe durfte man ihre Gefühle nicht ansehen. Niemals. Es galt, sie zu verbergen und zu kontrollieren. Auch – oder gerade wenn – ihr ein arroganter Hexer gegenüberstand.
»Jessica«, antwortete sie. Seine Hand war erstaunlich kühl. Er strich ihr kurz mit dem Daumen über die Innenfläche, bevor sie sich zurückzog.
»Bist du häufiger hier?«, fragte er, als der Feuerhexer ihm gerade das Glas hinstellte und seinen Preis nannte. »Ich unterhalte mich gerade.« Er sah den Kellner dabei nicht an, fixierte weiterhin Jessica, aber sie bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der Feuerhexer die Fäuste ballte.
»Du hattest es doch eilig«, erinnerte sie Jack mit einem höflichen Lächeln. Ihre Botschaft war unmissverständlich: Sie legte keinen Wert auf seine Gesellschaft. Freundlich ausgedrückt.
»Aber dann habe ich dich gesehen.« Der Tarotleger zeigte sich unbeeindruckt und schwang den Umhang so, dass die purpurfarbene Bordüre in Jessicas Sichtfeld geriet.
»Das schmeichelt mir«, erwiderte sie, ohne zu blinzeln. Er wollte sie mit seiner Zirkelzugehörigkeit beeindrucken, und das war etwas, das Jessica schon vor dem Fall des Würfels verabscheut hatte.
»Sei nicht so bescheiden«, fuhr Jack fort. »Du bist immerhin Jessica Bain, die begabteste Runenhexe der letzten Jahrhunderte, wenn ich dem Tratsch Glauben schenke. Was ich zugegebenermaßen nur selten tue, aber in deinem Fall hatten die Stimmen zumindest teilweise recht.«
»Bitte?«, fragte sie irritiert.
»Du bist wirklich so schön, wie sie sagen.« Er zwinkerte ihr verschmitzt zu, und Jessica hatte das spontane Bedürfnis, ihr Getränk in sein Gesicht zu schütten.
»Danke«, sagte sie stattdessen.
»Wollen wir mal essen gehen?« Er griff nach dem Glas, das er noch immer nicht bezahlt hatte. »Ich lade dich ein.«
»Nein danke.«
»Bist du dir sicher?« Er lehnte sich zu ihr. »Vielleicht informierst du dich einmal darüber, wer ich bin.«
»Sie hat doch klar und deutlich Nein gesagt«, mischte sich der Feuerhexer ein.
»Halt dich da raus«, sagte Jack knapp. »Oder möchtest du über die Luftpost Hilfe holen?« Er lachte höhnisch. »Ach ja, die funktioniert ja nicht mehr richtig, weil die meisten Lufthexen nicht mehr mächtig genug für solch eine Kleinigkeit sind. Ihr Glühwürmchen müsst echt dringend lernen, wo jetzt euer Platz ist.«
»Sagt ein Kartenmischer.« Die Antwort des Feuerhexers war schnell und präzise wie ein Peitschenhieb. Jack stellte sein Glas langsam auf den Tresen.
»Wie hast du mich genannt?«
Die Luft schien zu vibrieren, während die beiden einander wütend anstarrten.
»Es wäre besser, wenn du jetzt gehst, Jack.« Jessica drückte ihm sein Glas in die Hand. »Das Getränk geht auf mich.«
Ein triumphierendes Grinsen verzerrte sein Gesicht. »Das nehme ich als Ja zu unserem Date?«
»Ich melde mich«, log Jessica. »Aber jetzt muss ich leider weiterarbeiten.«
»Ich ebenso«, sagte Jack. Er prostete ihr zu und zog beschwingt von dannen, nachdem er dem Feuerhexer einen überheblichen Blick zugeworfen hatte.
»Danke, dass du mir helfen wolltest«, wandte Jessica sich an ihn. »Aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«
»Weil du jetzt doch mit ihm ausgehen willst?« Er schnaubte. »Ich kann nicht glauben, dass du sein Getränk bezahlst.«
»Ich wollte ihn einfach loswerden«, erklärte sie.
»Da wärst du aber die Erste.« Alte Frustration schwang in seiner Stimme mit.
»Jack ist also häufiger hier«, stellte Jessica fest.
»Dreh dich jetzt nicht um.« Der Feuerhexer wandte sich ab und tat so, als würde er eine weitere Tasse aus einem der Schränke holen. »Aber er hat seinen Stammplatz schon wieder bezogen. In der zweiten Etage gibt es einen Arbeitsplatz, von dem aus er den perfekten Blick hierher hat.«
Jessica ahnte Übles. »Und er kommt häufiger vorbei, um zu flirten?«
»Wann immer er eine hübsche Hexe sieht«, bestätigte der Feuerhexer.
»Muss ein entspanntes Leben sein.« Jessica knirschte mit den Zähnen. »Wenn man genügend Zeit hat, um in der Bibliothek den ganzen Tag Hexen aufzulauern.«
»Er ist sehr reich geworden«, erklärte er. »Seit sich alles verändert hat.« Kurz wurde sein Blick verklärt, als würde er in eine andere Zeit schauen. Dann setzte er ein Lächeln auf. »Mein Name ist Cole.«
»Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Cole. Ich bin …«
»Jessica Bain«, unterbrach er sie. »Ich weiß. Auch wenn Jack mich wie Luft behandelt hat, stand ich doch die ganze Zeit daneben.« Er legte den Kopf leicht schief. »Ich hätte dich eigentlich direkt erkennen sollen. Aber es ist schon einige Jahre her, seit wir uns zuletzt gesehen haben.«
Verwirrt runzelte Jessica die Stirn.
»Du erinnerst dich nicht an mich«, stellte Cole fest und seufzte. »Natürlich nicht.« Seine schmerzerfüllte Stimme bereitete Jessica ein unbehagliches Gefühl. Sie war in ihrem Leben so vielen Hexen begegnet. Die meisten hatten sich nicht für sie, sondern für ihre Macht interessiert.
Nur mit wenigen war es anders gewesen. Mit Lu beispielsweise.
»Tut mir leid«, sagte sie zerknirscht, woraufhin Cole ein Lachen ausstieß.
»Keine Sorge.« Er wischte ihre Schuldgefühle mit einer ausladenden Handbewegung weg. »Das sollte nur ein Scherz sein. Ich habe dich vor einigen Jahren mal auf einem Abendessen getroffen. Es ist sogar ziemlich gut, dass du dich nicht daran erinnerst. Mein Vater hat damals sehr penetrant versucht, deine Mutter von meinen … Vorzügen zu überzeugen.«
Jessica stimmte in sein Lachen mit ein. »Oh.«
»Ziemlich vergeblich«, fügte er hinzu. »Ganz offensichtlich. Ich stand die ganze Zeit daneben und hätte mich am liebsten selbst angezündet, um der Sache zu entkommen.«
»Wieso erinnere ich mich nicht daran?«
»Du hast dich relativ schnell aus dem Gespräch verabschiedet und bist mit einer Freundin abgezogen.«
Lu. Es gab keine Möglichkeit, dass er jemand anderen meinte, denn es war stets Lu gewesen, die sie aus solchen Situationen gerettet hatte. Die Erinnerung zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen.
»Seid ihr mittlerweile zusammen?«, fragte er und grinste. »Ich habe damals euch beiden sofort angesehen, dass ich niemals eine Chance bei dir haben würde.« Jessica zuckte zusammen, und er hob sofort entschuldigend die Hände. »So war das nicht gemeint. Also … Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Verzeih mir.«
»Schon gut.«
An seinem Blick erkannte sie, dass er sich seine eigene Geschichte zurechtlegte. Wahrscheinlich dachte er an ein gebrochenes Herz, an eine unglückliche Jugendliebe. Er konnte nicht wissen, dass Lu durchaus an Frauen interessiert gewesen und eine Zurückweisung nicht der Grund für das Loch in ihrem Herzen war.
Auch wenn Lus Beerdigung öffentlich stattgefunden hatte, war sie als Hexe unbekannt gewesen. Eine Gebräuhexe von vielen. Der Gedanke daran ließ in Jessicas Kehle bittere Galle aufsteigen. Lu war alles andere als eine von vielen gewesen. Niemand war das.
Der Appetit war ihr vergangen, und sie schob das Sandwich unangetastet zur Seite.
6
Die Stimmung in dem kleinen Haus war aufgeheizt. Jubel tobte durch den Raum, Maxwells Oma klatschte freudig in die Hände, ein Leuchten in den Augen. Sie stupste Maxwell mit dem Ellbogen in die Seite. »Gleich kommt der beste Teil!«
Maxwell fragte sich, wie diese Ansprache noch mehr Begeisterung auslösen sollte. Dann sprang Alister elegant auf einen Stuhl, stieg weiter auf den Tisch, verbeugte sich und hielt dabei einen Zeigefinger vor die Lippen, um zur Ruhe zu gemahnen.
Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis es leise wurde, zu aufgedreht waren die Anwesenden. Erst, als sich absolute Stille über den Raum gelegt hatte, richtete Alister sich mit einem freudigen Grinsen auf. Der Rubin an seinem Ohr schwang umher, fing das Licht der Flammen ein.
»Es gibt eine weitere Ankündigung«, erklärte er mit bedeutungsschwangerer Stimme. Olivia richtete sich auf, soweit ihr alternder Körper es erlaubte. »Wir haben beschlossen, es einfach anzugehen. Eine der Unseren wird nach oben ziehen.« Alle im Raum blieben angespannt und totenstill.
Maxwell kniff die Lippen zusammen. Das klang nach einem absurden Plan. Ja, unter den Radain zu leben, war sein Traum, aber dafür mussten noch so viele Dinge geschehen. Es brauchte Pläne, wie mit den Radain umgegangen werden sollte. Offizielle Annäherungen der magischen Gemeinschaft und der Sterblichen. Keine einzelne Hexe, die einfach in die Stadt zog und dort ihre Magie zur Schau stellte. Maxwell kannte die Geschichten von Hexenverfolgungen und Scheiterhaufen, als damals einige Hexen versuchten, unter den Radain zu leben. Sie hatten an die Gutmütigkeit der Menschen geglaubt und waren dafür gestorben. Und jene, die nicht von den Radain vernichtet worden waren, hatten die Schattenleser geholt und für immer weggesperrt. Es kursierten so viele Geschichten über das, was mit jenen Gefangenen geschehen war, dass der Scheiterhaufen im Vergleich nahezu gnädig wirkte. »Ihr alle kennt Olivia Ward. Vor Jahren verschwand sie von der öffentlichen Bildfläche, um vor den Schattenlesern zu fliehen, die sie zu Recht als Teil der Caradain im Auge hatten.«
Maxwells Oma setzte ein breites Grinsen auf. »Und sie haben mich nie gefunden, obwohl ich so frech vor ihrer Nase gelebt habe.«
»Weil sie nicht in die Schatten sehen«, ergänzte Alister und rümpfte die Nase. »Weil die Schattenleser und der Rat glücklich sind, solange ihre polierte Welt perfekt bleibt. Sie haben dich nie in der Dunkelheit gesucht, und das war ihr Fehler.«
»Es war ein hartes Leben«, stimmte Olivia zu, ihre Schultern sackten leicht nach unten. »Ich hätte es viel lieber mit meinem Enkel Maxwell verbracht.« Sie deutete auf ihn, und plötzlich sah Maxwell sich zu vielen neugierigen, mitleidigen Blicken ausgesetzt.
Er erwiderte sie mit einem überdrehten Lachen. »So durfte ich wenigstens so lange aufbleiben, wie ich wollte, Omi.«
Einige lachten über seinen Witz, doch die meisten wandten sich wieder Alister zu.
»Dieses harte Leben ist nun vorbei. Olivia wird in die Stadt der Radain ziehen. Nach Edinburgh, direkt über uns. Und sie wird ihr Leben als Hexe leben, wird mit ihren Karten Geld verdienen.«
Olivia wedelte mit ihrem Tarotdeck durch die Luft. »Ich werde die Radain mit meinem Wissen um ihre Zukunft und Segen beschenken. Zumindest diejenigen, die sich meine Dienste leisten können.«
Aufgeregtes Gemurmel setzte ein. Maxwell packte seine Oma am Arm. »Bitte?«
Alister erhob seine Stimme über das einsetzende Gemurmel. »Es erscheint seltsam, dass wir eine Frau nehmen, die bereits von den Schattenlesern gesucht wurde, nicht wahr? Aber das Unterfangen ist risikoreich.« Er wich Maxwells schockiertem Blick aus. »Und Olivia war bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen.«
»Ich verstecke mich schon viel zu lange«, rief sie den aufbrandenden Fragen entgegen. »Sie halten mich wohl schon für tot. Dieses Verstecken ist kein Leben, und wenn ich zurück in die Öffentlichkeit trete, so tue ich es mit einem Knall.«
»Aber Oma …«, flüsterte Maxwell, seine Stimme ging im allgemeinen Getöse unter.
»Es war mein Vorschlag«, fuhr sie fort, und damit verebbten die meisten Rufe. »Ich kam mit der Idee zu Alister und bat um Unterstützung. Ich erwarte nicht, dass weitere von euch mir zur Seite stehen. Aber ich würde mich sehr darüber freuen, denn ich kann jede Hilfe gebrauchen, die ich kriegen kann.«
»Die Zeit ist günstig«, erklärte Alister. »Der Rat ist sich uneins, die Unterwelt kämpft mit eigenen Problemen rund um die Mächte der Zirkel. Der Aufstieg der Tarotleger kostet die Ratsmitglieder so viel Zeit und Energie.« Er zog einen Mundwinkel nach oben. »Sie können nicht alle Feuer gleichzeitig bekämpfen.« Eine kurze Pause. Niemand wagte es, zu sprechen. Unschlüssige Blicke wurden getauscht, Maxwell verlagerte das Gewicht auf sein anderes Bein. Er verstand, dass die Gefahr, die von den Schattenlesern ausging, aktuell gering war, aber es blieben die Radain mit ihrer Angst. Menschen, die Angst hatten, taten unbeschreiblich grauenhafte Dinge.
Tausende Fragen schossen ihm durch den Kopf. Seit wann plante seine Oma das? Wieso hatte sie nicht vorher mit ihm darüber gesprochen? War er schuld daran, weil er sich in letzter Zeit so wenig um sie gekümmert hatte?
Alister holte tief Luft, dann brüllte er: »Wir werden das Feuer sein, das sie niederbrennt!«
Dabei hob er eine Hand empor, und eine Flamme tanzte über seine Handfläche, züngelte nach oben und tauchte seine rotgoldene Erscheinung in helles Licht.
Einige Caradain brüllten euphorisch auf, reckten die Fäuste in die Luft. Es waren deutlich weniger als beim ersten Teil seiner Rede. Viele betrachteten Olivia, und Maxwell versuchte, seine Oma durch ihre Augen zu sehen.
Nicht mit den Erinnerungen, die er an ihr jüngeres Ich hatte. An eine Frau mit geradem Rücken und erhobenem Kinn. Sosehr Olivia sich auch bemüht, sie war nun eine alte Frau, tiefe Falten durchfurchten ihre Haut, und sie wirkte irgendwie … gebrechlich. Maxwell schluckte. Er erkannte den Schmerz in ihren Augen, weil die von ihr erwartete Begeisterung ausblieb. Sicher, viele der Caradain nickten ihr mit breitem Lächeln und funkelndem Blick zu, aber es gab auch die anderen. Jene, die fest den Boden fixierten oder gar hinter vorgehaltener Hand miteinander flüsterten.
Maxwell spürte den Drang, seine Oma beiseitezuziehen und mit ihr unter vier Augen über die Sache zu sprechen, aber er wusste, dass er damit warten musste, bis dieses Treffen vorüber war. Wenn er sie jetzt vor aller Augen zur Rede stellte, würde ihr das schaden.
Also jubelte er, obwohl er am liebsten weinen wollte. Seine Oma einer derartigen Gefahr auszusetzen, erschien ihm töricht. Alister verschaffte sich mit einem lauten Räuspern erneut Gehör. »Wer gehen will, darf dies tun. Niemand, der uns heute verlässt, muss uns für immer verlassen. Wir verstehen allerdings, wenn ihr dieses gewagte Experiment nicht unterstützen wollt oder könnt.« Einige traten unruhig auf der Stelle, und Alister sprach schnell weiter. »Seid euch jedoch darüber im Klaren, dass wir die Welt nur gemeinsam ändern können. Jede Unterstützung ist wertvoll und bringt uns dem Ziel näher, endlich frei zu leben. Wer also bleibt, trägt zu dem Ziel bei, das wir schon seit Jahren verfolgen. Das wahre Ziel der Caradain.«