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Wer dein Buch der Macht besitzt, bestimmt über dein Leben – und deinen Tod Epische High Fantasy von Bestseller-Autorin Liza Grimm: In »Eislotus. Wasser findet seinen Weg« trifft »Die Tribute von Panem« auf »Avatar – Der Herr der Elemente«; mit tödlichen Wettkämpfen, politischen Intrigen und Elementar-Magie, gebunden in beseelten Büchern. In Naras Welt beherrschen die Menschen die Magie der Elemente, indem sie sich an ein Seelenbuch binden. Nach ihrem Tod geht ihre Seele in das Buch ein und vergrößert dessen Macht. Diese sagenumwobene Technik beherrschen einzig die Buchbinder, die deshalb die am stärksten umkämpfte Ressource sind. Damit die Welt sich im Kampf um sie nicht selbst zugrunde richtet, wurde nach dem großen Krieg das Ritual des Lichts etabliert. Ein großes Spektakel, in dem entschieden wird, wer die Buchbinder und damit die wichtigste Ressource der Welt nach Hause bringen darf. Hierfür schicken die größten Städte ihre Elementgesandten in die Akademie, in der harte Wettkämpfe darüber entscheiden, wer sich letztendlich dem Ritual des Lichts stellt. Nara kommt als eine Elementgesandte des Wassers an die Akademie – ihr Ziel: den Sieg und damit nicht nur Ruhm und Ehre, sondern auch die kostbaren Buchbinder erringen, um ihre Heimat vor dem Ruin zu retten. Denn bei ihr Zuhause werden die Elementgebundenen immer seltener und die Menschen fliehen aus der Stadt aus Eis, die einst ein funkelndes Hafenjuwel war. Doch während Nara um die Zukunft ihrer Heimat kämpft, stellt sich heraus, dass weitaus mehr auf dem Spiel steht ... Mitreißende High Fantasy um magische Bücher und die Macht von Wasser, Feuer, Erde und Luft Entdecke auch Liza Grimms Fantasy-Bestseller »Talus« und ihre anderen magischen Geschichten: - Talus – Die Hexen von Edinburgh - Talus – Die Magie des Würfels - Talus – Die Runen der Macht - Talus – Pen & Paper in der magischen Welt von Talus - Die Götter von Asgard (Romantasy mit nordischer Mythologie) - Die Helden von Midgard (Romantasy mit nordischer Mythologie) - Hinter den Spiegeln so kalt (schauriges Fantasy-Märchen, inspiriert von »Die Schneekönigin«) - Unfollow me. Vom Fluch gezeichnet, von Liebe verfolgt (romantische Fantasy meets Manga)
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Seitenzahl: 527
Veröffentlichungsjahr: 2025
Liza Grimm
Wasser findet seinen Weg
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
In einer Welt, in der die Verbindung zu Seelenbüchern ihren Trägern die Macht über Elemente schenkt, begibt Nara sich auf eine Reise, um ihrer aussterbenden Heimat im ewigen Eis neues Leben zu geben. Dafür muss sie sich zu der Akademie begeben, die im Zentrum der vier Reiche seit Jahrhunderten für andauernden Frieden sorgt. Dort entscheiden harte Wettkämpfe, wer im nächsten Zyklus über die Kaste der Buchbinder bestimmt – die am härtesten umkämpfte Ressource, die in der Vergangenheit der Grund für ländervernichtende Kriege war.
Nara betritt die Hallen als Elementgesandte des Wassers, um nicht nur Ruhm und Ehre, sondern auch die Buchbinder heimzubringen. Doch bevor sie am Ritual des Lichts teilnehmen zu kann, muss sie sich zunächst gegen viele Konkurrenten durchsetzen – und sich Konflikten stellen, mit denen sie nicht gerechnet hätte.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
Danksagung
Für jene, deren Seele einem Buch gehört.
Die Worte ihrer Vorfahren starrten auf Nara herab, als sie den Beratungssaal betrat. Ein riesiger Raum aus Eis, in dessen Mitte mehrere Felle um eine Feuerstelle lagen. Darauf standen kleine Tonschüsseln. In der Decke darüber waren Gestirnskonstellationen festgehalten, die ihr Volk seit Jahren über das Meer leiteten. Der Löwenstern prangte besonders groß an diesem eisigen Himmel, in dessen Zentrum die Schriftzeichen im goldenen Licht der untergehenden Sonne schimmerten. Ihre Strahlen fielen durch die dünnen Fenster aus klarem Eis, die einen Blick auf die Stadt Kori freigaben.
Wasser findet seinen Weg.
Für Nara bedeutete dieser Satz Hoffnung. Die Aussicht darauf, am Ende an dem Punkt zu sein, den der Mond für sie vorsah.
Für ihre Gegner war er eine Drohung. Das Versprechen, von einer Welle überrollt zu werden, ganz gleich, wie sehr sie sich auch wehrten.
Naras Kleidung aus dicken Fellen schützte sie vor der Kälte, dennoch machte sie sich daran, das Feuer zu entzünden. Sie schichtete die Kohlen auf, goss Tran darüber und nutzte dann die Feuersteine, um einen Funken zu entzünden. All das tat sie mit routinierter Ruhe, und als die Flammen in die Höhe schossen, kamen auch schon die ersten Menschen Koris, um die wichtigste Wahl dieses Zyklus zu treffen.
Kori, das einst glänzende Juwel ihrer Nation. Eine große Hafenstadt, geschaffen aus Eis, umschlossen von der weiten Schneewüste, die vom Tod regiert wurde.
Nara kannte die breiten, glitzernden Wasserkanäle in- und auswendig, auf denen aus dunklem Holz geschnitzte Kanus trieben, hatte jede der 1204 Brücken im Stadtkern ungezählte Male überquert. Sogar in den bewegten Distrikten war sie schon untergetaucht, um die Menschen dort besser zu verstehen. Draußen am Stadtrand, wo Brücken, Häuser und Kanäle keinen festen Ort kannten, sondern sich fließend bewegten wie das Wasser, das sie formte.
Sie hatte mit ihren eigenen Händen auf dem weiten Ozean die Netze eingeholt, in denen silberne Mondmuscheln funkelten wie ihr namensgebendes Gestirn, und hatte mit einem abgewetzten Messer die silbernen Schalen aufgebrochen, um an das süße, dunkle Innere zu gelangen.
»Nara.« Eine alte Frau trat auf sie zu, das Gesicht gezeichnet von den Entbehrungen, die sie seit so langer Zeit ertrug. Sie hielt Nara ihre runzligen Hände entgegen, und Nara griff nach ihnen, woraufhin sie zu ihrer Überraschung etwas Kühles spürte.
Tränen der Dankbarkeit stiegen in Naras Augen.
»Dafür, dass du meinen Enkel aus der Schneewüste gerettet hast«, erklärte die alte Frau und schenkte ihr ein zahnloses Lächeln.
»Dies ist meine Aufgabe«, erwiderte Nara und schloss die Faust um die Perle.
»Und doch nicht selbstverständlich«, lautete ihre traditionelle Antwort, bevor sie sich mit einem Nicken verabschiedete.
Nara warf einen Blick auf das silbern schimmernde Perlmutt, in dem sich ein kleines Loch befand. Voller Dankbarkeit begann Nara, dieses Schmuckstück in ihr weißes Haar zu flechten, wo es sich bei unzähligen anderen einreihte. Jede dieser Perlen stand für eine herausragende Tat, die sie als Beschützerin Koris vollbracht hatte.
Der Raum füllte sich mit immer mehr vertrauten Gesichtern, die Nara allesamt anlächelten, doch die fröhliche Stimmung schwand dahin, als Airell den Raum betrat. Die Menschen wandten die Blicke ab, sahen zum Feuer, zur Decke, nur nicht zu ihm.
Seine weißen Haare, die blasse Haut und die hellen Augen erinnerten Nara immer an frisch gefallenen Schnee. Er war ohne Frage schön, aber das waren auch die einzig netten Worte, die Nara jemals über ihn verlieren würde.
Wie er im Beratungssaal stand, mit erhobenem Kinn und einem Leuchten in den Augen, umgeben von spiegelndem Eis, auf dem die untergehende Sonne glänzte, wünschte Nara sich einmal mehr, er würde heute gewählt werden. Doch sie wusste, wie unwahrscheinlich das war. Sein Haar zierte eine einsame Perle, deren Herkunft Nara nicht kannte.
Er kam ohne Umschweife auf sie zu, packte sie am Ellbogen und zog sie zur Seite, abseits der anderen. Sofort wurde Nara kälter, was nicht nur an dem Abstand zum knisternden Feuer lag.
»Wer zur Akademie geschickt wird, muss sein Seelenbuch mitnehmen. Wusstest du das?«
Nara befreite sich sanft aus seinem Griff, strich ihre Felle glatt und sah ihn dann geradeheraus an. »Nein.«
»Du musst also heute gewählt werden«, erklärte er.
»Das wird Kori entscheiden.« Der Gedanke, die Stadt zu verlassen, schmerzte sie.
»Sie werden dich wählen.«
»Und ich werde tun, was auch immer sie entscheiden«, erwiderte Nara und ignorierte den stechenden Schmerz in ihrer Brust. Der Gedanke, von hier fortzumüssen, hielt sie schon seit vielen Monden wach. Sie war eine Beschützerin Koris, war dazu auserwählt, die Stadt und ihre Bewohner zu behüten. Auch ihr Bruder war ein Beschützer, doch er verlor sich in der Jagd nach einer Wahrheit, die nie gefunden werden würde. Ihn und die Stadt zurückzulassen, erschien ihr wie eine schlechte Idee, aber sie wusste auch, dass sie die Wahl nicht ablehnen konnte, denn das wäre eine zu große Beleidigung gegenüber allen, die an sie glaubten.
»Wenn du das Seelenbuch bekommst«, fuhr Airell eindringlich fort, »kannst du mit Mutter sprechen und …«
»Genug«, unterbrach Nara ihn wirsch. Er war ihr älterer Bruder, doch hatte er sich nie entsprechend verhalten, und es schmerzte sie, dass er nicht einmal heute dieses alte Thema ruhen lassen konnte. Ihre Eltern waren schon lange tot, verschollen auf dem Meer, und niemand konnte sie zurückholen. Airell verlor sich in der Jagd nach einer Antwort, die niemandem helfen würde.
Ihre Eltern waren fort, aber die Bewohner Koris waren hier, und wenn sie heute falsch wählten, würden sie die einzige Heimat verlieren, die sie je gekannt hatten.
»Lass uns mit der Wahl beginnen«, sagte sie deshalb und wandte sich von ihm ab, schritt auf die Mitte des Raumes zu, wo die Menschen sich um das Feuer drängten.
Einst war Kori voller Leben gewesen, doch davon war nicht viel geblieben. Die Menschen, die noch hier waren, waren dünn und ausgemergelt. Der Fischfang lief immer schlechter, und der Handel war schon vor langer Zeit zum Erliegen gekommen. Die heutige Wahl war ihre Hoffnung auf Besserung.
»Danke, dass ihr alle gekommen seid, um diese Entscheidung zu treffen«, begann Nara und warf ein Lächeln in die Runde, das dankbar aufgenommen wurde. »Wir wählen heute den Elementgesandten. Jene Person, die zur Akademie nach Lort reisen wird, um das Ritual des Lichts zu bestreiten und die Buchbinder endlich wieder nach Kori zu bringen!«
Jubel brandete auf, und Nara ließ die Euphorie einen Moment wirken, bevor sie fortfuhr: »Nehmt eure Muschel, und platziert sie in der Schüssel mit dem Namen der Person, die ihr für diese Aufgabe als geeignet seht.«
Dann trat Nara einen Schritt zurück. Die Schüsseln standen auf den Fellen, kleine Tonschalen mit eingravierten Zeichen. Eine trug ihren Namen.
Sofort setzten sich alle in Bewegung, und mit jeder Muschel, die in ihre Schale fiel, wurde ihr Herz schwerer, während sie sich zeitgleich um ein dankbares Lächeln bemühte.
Sie wollte nicht gehen. Wollte diesen Ort nicht verlassen und um die Ehre kämpfen, die Buchbinder als Preis nach Hause zu holen.
Nara war eine Kriegerin, aber sie wollte in Kori bleiben, wollte die Menschen hier beschützen. Lieber zog sie noch ein Dutzend Mal in die Schneewüste und rettete dort ihre Leute vor wilden Bestien, als die Waffe gegen Menschen zu erheben.
Die Akademie war eine grauenvolle Institution, und doch rettete sie auf absurde Weise ganzen Völkern das Leben.
Eine weitere Muschel in ihrer Schale. Nara lächelte das Kind an, das sie dort platziert hatte. Es war erschreckend dünn und blass.
Sie brauchten die Buchbinder. Wo sie waren, florierten der Handel und das Leben. Ihre Macht war herausragend und das Einzige, was Kori vor dem Untergang retten konnte.
Dieser Gedanke brachte Nara dazu, das Kinn etwas höher zu heben. Es war wichtig, dass eine Person nach Lort reiste, die alles dafür tat, Kori zu retten.
Und das war es, was die anderen in ihr sahen.
Die letzte Muschel fiel.
Sie alle waren in Naras Schüssel gelandet.
Es war schon schlimm genug, dass die Zukunft seiner Stadt von dieser Auswahl abhing, aber noch viel stärker belastete Katso der Gedanke, dass bei seinem Scheitern seine Familie alles verlieren würde.
Sie standen aufgereiht in einem Innenhof, um sie herum erhoben sich Säulengänge aus schwarzem Basalt. In den Bögen schimmerten rotorangefarbene Glasarbeiten in der Form unzähliger Sonnen.
Als wäre der glühende Feuerball über ihnen nicht schon heiß genug. Erbarmungslos brannte er auf die Wüste nieder, und obwohl er ein Sonnengebundener war, wünschte Katso sich Regen, der hier in der Wüste viel zu selten fiel. Die Wolken verloren ihr wertvolles Wasser bereits an den Hängen der Vulkankette, und der Fluss, an dem die Stadt Sa einst entstanden war, war mittlerweile nur noch ein kleines Rinnsal. Eines Tages würde die ganze Stadt weiterziehen müssen, und die Häuser, die ihre Ururgroßmütter und -väter mühevoll aufgebaut hatten, würden vom Wüstensand verschluckt werden.
Doch bis dahin würde die Sonne noch oft am Himmel stehen, und Katso kümmerte sich wenig um eine Zukunft, die er nicht mehr erleben würde.
Viel wichtiger war ihm das Hier und Jetzt.
Das Gewicht seines Seelenbuches war ihm nie schwerer erschienen. Es hing an einem Lederband um seine Hüfte, verborgen unter dem roten Kaftan, den er nur noch selten trug, da er viel zu kostbar war, um ihn an gewöhnliche Tage zu verschwenden.
Ihm stand ein Kampf bevor, und Katso war klar, dass der Kaftan nicht ohne Risse überleben würde, aber er durfte sich an diesem besonderen Tag keine Blöße geben.
Sein letztes teures Kleidungsstück war ein kleiner Preis für das, was er gewinnen konnte.
»Die Sonne strahlt hell«, begann das Oberhaupt der Stadtwache. Er war ein hochgewachsener Mann mit dunklen Augen und einem Blick so scharf wie das Schwert, das an einem Gürtel um seine Hüfte hing. Hinter ihm standen vier Wachen, die Gesichter so leer wie ihre Hände, die normalerweise schwere Speere trugen.
»Ihr Licht spendet Leben«, antworteten sie im Gleichklang.
Mit Katso waren sieben andere bis hierher vorgedrungen. Seit vielen Sonnen kämpften sie bereits gegeneinander.
Sie hatten Hindernisläufe absolviert, und ihre Kampffiguren waren von erfahrenen Stadtwachen begutachtet worden.
»Ihr seid die verbleibenden acht«, fuhr das Oberhaupt fort und maß jeden Einzelnen mit einem intensiven Blick. Katso kannte die anderen, immerhin war er mit vielen von ihnen aufgewachsen. Da war die hochgewachsene Zeri, der in ihrer Kindheit die meisten Jungen Avancen gemacht hatten, die sie allesamt abgeschmettert hatte. Der verschmitzte Irit, der klein, aber wendig war und so für viele im Kampf schwer zu schlagen. Und auch Tramot, ein stämmiger Kerl, der Katso seit langer Zeit das Leben zur Hölle machte.
»Heute findet ein letzter Kampf statt.« Das Oberhaupt begann, in langen Schritten auf und ab zu schreiten, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Ein Turnier. Zwei gegen zwei. Wer gewinnt, darf in die nächste Runde. Die erste Aufstellung wird ausgelost.« Er hielt einen ledernen Beutel in die Höhe. »Darin sind eingefärbte Glasperlen. Zieht.«
Er positionierte sich vor Zeri, die direkt neben Katso stand. Sie griff ohne Umschweife in den Beutel und holte eine dunkelgrün schimmernde Glasperle hervor, hielt sie kurz in die Höhe und schloss dann die Faust darum.
Als Nächstes war Katso an der Reihe. Er zog die Farbe Türkis. Dann lief das Oberhaupt weiter, bot jedem den Beutel an, und Katso wartete gespannt darauf, dass sein Gegenstück gefunden wurde.
Als Tramot an der Reihe war, hielt Katso den Atem an. Der Hüne grinste Katso an, während er in den Beutel griff. Beinahe triumphierend hielt er seine Perle empor, doch als er ihre dunkelgrüne Farbe sah, sanken seine Mundwinkel nach unten. Zeri stieß einen kaum hörbaren Fluch aus, und Katso verstand sie nur zu gut.
Katsos erster Gegner war einer der Neuen. Ein unscheinbarer Kerl, der erst vor knapp einem Zyklus nach Sa gezogen war. Gerüchten zufolge war er hierhergekommen, weil er in seiner alten Heimat bei der Auswahl gescheitert war und sich jetzt in einer neuen Stadt beweisen wollte. Katso kannte nicht einmal seinen Namen, doch das war ein großer Vorteil.
Es war leichter, gegen einen Unbekannten zu kämpfen, als gegen jemanden, mit dem man eine Geschichte teilte. Sowohl Zuneigung als auch Wut trübten den Blick.
»Nun denn.« Das Oberhaupt vollführte eine ausladende Handbewegung. »Wir haben vier Kampfplätze vorbereitet, sodass die erste Runde zeitgleich ablaufen kann und ihr nicht die Möglichkeit habt, eure zukünftigen Gegner zu analysieren.«
Theoretisch eine gerechte Lösung, wenn die meisten nicht schon gemeinsam trainiert hätten und deshalb ihre Schwächen und Stärken ganz genau kannten.
Katso ging zu einem der Kampfplätze, ein in Staub gezeichnetes Quadrat. Auch die anderen teilten sich auf, jede Wache begab sich zu einem Kampfplatz und positionierte sich dort. Als Katso sich nach seinem Gegner umsah, erblickte er ihn direkt neben Tramot, der Katso triumphierend angrinste, während er schnell etwas erzählte.
Dann scheuchte das Oberhaupt sie auseinander, und sobald sie alle auf ihren Plätzen standen, ergriff es erneut das Wort. »Die Regeln sind einfach: Wer über die Linie tritt, verliert. Wer dreimal auf den Boden klopft, gibt auf.« Sein Grinsen wurde breiter. »Waffen sind nicht erlaubt. Ebenso wenig wie Feuer.«
Während einige sichtlich empört dreinblickten, fiel eine riesige Last von Katso ab.
»Ein Vorteil für dich, nicht wahr?«, raunte sein Gegner und hob die schmalen Augenbrauen. Katso runzelte die Stirn, und ein Grinsen erschien auf dem Gesicht seines Feindes. »Ich weiß vieles über dich, Katso. Bastard von Laoik. Du hast dich zwar an das Seelenbuch deines Urgroßvaters und an die Sonne gebunden, aber beide ignorieren dich. Tramot hat mir alles erzählt, damit ich dich fertigmachen kann.«
»Das wundert mich nicht«, erwiderte Katso ruhig, obwohl sein Herz schmerzhaft schnell schlug. Denn der Fremde hatte recht: Schon oft hatte Katso gehört, dass sich angeblich Buchstaben auf dem Papier von Seelenbüchern formten. Dass sich Gesichter aus dem Pergament schälten und ihre Weisheit teilten. Angeblich flüsterten die Verstorbenen, ihre Stimmen kaum lauter als das Rascheln von Seiten.
Doch sein Seelenbuch blieb stumm, verweigerte ihm den Kontakt und somit den Zugriff auf uraltes Wissen, das den anderen viele Vorteile bot. Doch hier waren sie auf sich allein gestellt, mussten ohne die Sonne und ihre Flammen kämpfen. Katso zog einen Mundwinkel nach oben. »Tramot hatte schon immer Angst vor mir.«
Der große Moment war gekommen. Bald schon würde der Mond aufgehen, und die Menschen in Kori würden ihren Alltag aufnehmen. Nara stand am Fenster des Beratungssaals und sah hinaus auf die schlafende Stadt, die sie verlassen musste, um sie zu retten.
Vertraute Schritte erklangen hinter ihr. Das Eis dämpfte die Geräusche, aber Nara war eine Kriegerin, und seit vielen Jahren war es niemandem mehr gelungen, sich an sie anzuschleichen.
»Du solltest bereits auf dem Weg ins Bett sein.«
»Ich weiß.«
»Weshalb bist du es dann nicht?« Airell klang mitfühlend, aber Nara kannte ihn zu gut, um auf dieses Spiel hereinzufallen. Er war nicht gekommen, weil er sich um sie sorgte. »In der Akademie wird die Sonne dein Leitgestirn sein.«
»Ich weiß«, erwiderte sie mit gepresster Stimme.
»Du musst dich anpassen, um zu gewinnen. Ganz Kori …«
»Ich weiß!«, fiel sie ihm energisch ins Wort und wirbelte herum.
Airell stand ihr gegenüber, und sein rechter Mundwinkel zuckte verräterisch, als er ein süffisantes Grinsen unterdrückte.
»Sag doch einfach, weshalb du so früh schon hier bist.«
Eigentlich stand Airell erst auf, wenn der Löwenstern am Himmel prangte. Es würde noch einige Zeit dauern, bis sich sein rotes Leuchten über den Horizont erhob.
»Ich weiß, was du vorhast.« Seine Worte spülten wie eine eiskalte Welle über sie hinweg, und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte damit gerechnet, dass er sie auf das Seelenbuch ansprechen würde, aber nicht damit, dass er sich zum ersten Mal seit Jahren wie ein besorgter Bruder verhielt, den sie sich so lange gewünscht hatte. Naras Reaktion verriet ihm alles, was er wissen wollte. Kummer verzerrte sein Gesicht. »Also stimmt es.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Ihre Ausflüchte kamen zu spät.
»Nara, man hat mir erzählt …«
»Wasser findet seinen Weg«, unterbrach sie ihn.
Er hob die Augenbrauen. »Das ist deine Begründung?«
»Mir ist klar, dass du von unseren Bräuchen nicht viel hältst.«
»Eine Sonnenmuschel zu finden, ist kein Brauch. Es ist ein alter Aberglaube.«
Sie schnaubte. »Vor 84 Sonnenzyklen fand Zi1 in der Nacht vor seiner Abreise eine Sonnenmuschel und …«
Da trat Airell energisch auf sie zu. »Hör wenigstens dieses eine Mal auf mich.« Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde milder, beinahe ehrlich besorgt. »Das Meer hat bereits unsere Eltern geholt. Es darf nicht auch noch dich bekommen. Bitte, kleine Glimmerlibelle.«
Seit langer Zeit hatte er Nara nicht mehr so genannt. Ein Kosename, entstanden in einer dunklen Zeit, als er sie als sein Licht bezeichnet hatte. Es tat weh, so kurz vor ihrer Abreise das zu bekommen, was sie schon so lange gewollt hatte.
Sie schluckte und senkte den Kopf. »In Ordnung.«
Mit einem triumphierenden Lächeln trat Airell zurück. »Danke. Ich könnte mir nicht verzeihen, wenn du wegen einer alten Geschichte dein Leben riskierst. Vor allem nicht, wenn du so kurz davor bist, dein Seelenbuch zu bekommen, wodurch wir endlich erfahren, was damals wirklich geschehen ist.«
Wut spülte die Dankbarkeit hinweg. Er war nicht gekommen, weil er sich um seine kleine Schwester sorgte, sondern weil sie der Schlüssel zu der Antwort war, die er schon so lange suchte.
»Ich werde sie nicht fragen«, erwiderte sie kühl.
»Aber warum?« Er sah sie flehend an. »Wir könnten endlich …«
»Weil ich mich mehr um Koris Zukunft sorge als um eine Vergangenheit, die wir nicht ändern können«, sprudelte es aus ihr heraus, und etwas löste sich in ihr. Es tat gut, endlich einmal das auszusprechen, was sie schon seit vielen Zyklen mit sich herumtrug. »Weil ich das tue, was du als mein großer Bruder hättest tun sollen. Ich kümmere mich um das, was unsere Eltern uns hinterlassen haben.« Sie deutete auf das Fenster, hinaus zu den Gebäuden, von denen allzu viele leer standen. »Kori stirbt.« Tränen traten in ihre Augen. »Und ich werde alles tun, was nötig ist, um das zu verhindern.«
»Aber unsere Eltern …«
»Schluss damit!«, unterbrach sie ihn wütend. »Sie sind tot, und das ist traurig. Sehr. Auch ich vermisse sie jeden Tag. Aber ich vermisse auch meinen großen Bruder, der sich um mich kümmert.«
»Nara, ich …« Airell verstummte. Dann ballte er die Hände zu Fäusten und hob den Kopf, eine überraschende Kälte lag in seinem Blick. »Dir ist also egal, was mit ihnen geschah? Du glaubst diese Geschichte von einem Unglück, die man uns erzählt? Unsere Eltern waren Mondgebundene! Sie würden niemals einfach ertrinken!«
»Unfälle passieren.« Nara knirschte mit den Zähnen. »Ich werde jetzt nach der Sonnenmuschel suchen und danach Kori retten, während du weiter der Vergangenheit nachtrauerst.«
Mit diesen Worten setzte sie sich in Bewegung, und ein Teil von ihr wünschte, dass Airell sie aufhielt. Dass sie miteinander redeten und friedlich auseinandergingen.
»Du verhältst dich wie ein Kind!«, rief er ihr hinterher, während sie den Beratungssaal durch die prunkvollen Eingangstüren verließ, die fast so hoch waren wie die Wände selbst. Ihre Oberflächen glänzten wie das Meer an einem ruhigen Tag, geprägt von sanften Wellenbewegungen.
Zu ihrer Linken führte der eisblaue Flur zu den Privatgemächern ihrer Familie. Blaue Lichter tanzten in kleinen Laternen. Glimmerlibellen, gefangen in den Weiten der Schneewüste. Kleine Tiere mit unkelnden Leibern und schillernden Flügeln. Sie summten ganz leise.
Zu Naras Rechten befand sich die Tür zum Kochsaal, dahinter führte eine Treppe nach oben in die Kammern der Weisen.
Das letzte Festmahl im Kochsaal hatte zu ihrer Ernennung als Beschützerin stattgefunden. Eine große Feier mit wichtigen Gästen aus ganz Kori. Sogar der Hafenmeister Rihan hatte seinen Posten verlassen. Gemeinsam hatten sie an einem der unzähligen Feuer gesessen, auf denen die unterschiedlichsten Suppen in riesigen Töpfen köchelten.
Rihan war ein Mann, groß wie ein Eisberg und ebenso unerschütterlich. Er wachte über den Hafen, sammelte Geschichten, und an guten Tagen erzählte er sie weiter. Er war auch derjenige gewesen, der Nara die Geschichte des ersten Seelenbuches erzählt hatte. Eine voller Liebe und Traurigkeit, die Nara allzu gern hörte. Doch an diesem Abend erzählte Rihan von der Sonnenmuschel.
»Hätte Zi damals nicht die Sonnenmuschel gefunden, wäre der Lauf der Geschichte ein anderer gewesen, und wir säßen heute nicht an einem gemütlichen Feuer, sondern in der Dunkelheit. Er hat Kori damit gerettet. Seitdem ist es Brauch, dass ein jeder Elementgesandter sich auf die Suche nach einer Sonnenmuschel begibt.«
»Hat jemals jemand eine gefunden?«, hatte Nara gefragt und sich interessiert nach vorn gelehnt, obwohl sie die Antwort kannte. Aber sie hatte die Geschichte ein weiteres Mal hören wollen.
»Noch nie.« Er tippte sich an die Schläfe. »Aber allein die Suche macht etwas mit dir. Sie bereitet dich auf das vor, was dich in der Akademie erwartet. Wer sich auf den Weg macht, zeigt, dass er bereit ist, alles zu geben. Es ist ein Zeichen des Mutes und der Tapferkeit. Eine besondere Geste für ganz Kori.«
Naras Blick glitt erneut nach links, den langen Flur entlang. Ganz dahinten wartete ihr Bett auf sie. Bequeme Bärenelchfelle. Wärme.
Und eine unruhige Zeit, weil sie sich selbst vorwerfen würde, es nicht versucht zu haben. Also hob sie das Kinn und schlüpfte durch die Tore nach draußen.
Die untergehende Sonne malte die Eisgebäude golden. Als Kind hatte Nara in den engen Gassen Verstecken gespielt, als Jugendliche war sie dort für wenige Momente der Verantwortung ihres Erbes entkommen. Jetzt schlich sie zwischen Wänden aus schimmerndem Eis umher, um ebendieses Erbe pflichtbewusst zu erfüllen. Sie kam an einem Laden vorbei, der früher einmal Felle verkauft hatte, und an einer kleinen Taverne, deren Spezialität einst ein Heißgetränk namens Sternenschnee gewesen war. Es schmeckte nach Vanille und Zimt, und Nara liebte es. Die Zutaten dafür waren schwer zu besorgen, und die Besitzerin der Taverne hatte lediglich das Glück gehabt, dass ihre Tochter sich in eine fahrende Händlerin verliebte und mit ihr ging. Zu Beginn kehrte sie häufig zurück und brachte die Zutaten mit, doch heutzutage blieb sie Kori fern.
Während Nara durch die Straßen schlich, breitete sich die Kälte in ihrem Herzen aus wie Eisblumen. Immer mehr Menschen verließen Kori und zogen in andere Städte, folgten dem Geld und dem Wachstum. In Kori gab es nichts als Eis und Schnee, und das enorme Wachstum, das dank Zis Sieg die Stadt nach langer Zeit endlich wieder groß gemacht hatte, schwand dahin wie Wasser unter einer heißen Wüstensonne.
Mit den behandschuhten Fingerspitzen strich sie über das Geländer einer Brücke und spürte den wellenförmigen Ornamenten nach, dachte an das letzte Mondfest, an dem über der ganzen Stadt Laternen in die Lüfte gestiegen waren, um dem Mond ihr Licht zu bringen, damit er ewig weiterleuchtete.
Nara hatte genau auf dieser Brücke gestanden, umgeben von den Menschen Koris, und hatte die erste Laterne steigen lassen, ein Zeichen ihrer Stellung als Beschützerin. Sie war diejenige, die für Kori voranging.
Der Gedanke festigte ihren Vorsatz, und sie beschleunigte ihren Schritt, ignorierte die Erinnerungen, die hinter jeder Straßenecke lauerten und sie mit sich ziehen wollten. Sie flüsterten verheißungsvolle Momente voller Glück, aber Nara hatte nicht die Zeit, darin zu schwelgen. Sie musste auf dem Meer sein, wenn der letzte Sonnenstrahl den Horizont berührte. Dann strahlte die Sonnenmuschel für einen Moment in der Dunkelheit2.
Diesen Augenblick durfte Nara nicht verpassen. Das Gespräch mit Airell hatte ihr bereits zu viel Zeit geraubt.
Sie eilte zum Hafen, an dem reger Betrieb herrschte. Mehrere kleine Kanus trieben auf dem von einer hohen Hafenmauer umgebenen Wasser. Darin tummelten sich die Fischersleute, die sich die Sonnenzeit um die Ohren geschlagen hatten, um die Stadt mit Nahrung zu versorgen. Dabei lag die Hälfte der Boote verloren da, manche hatten bereits Risse und versanken halb im Wasser. Die verbliebenen Fischersleute säuberten ihre Haken, flickten ihre Netze und grüßten Nara mit einem knappen Nicken, als sie an ihnen vorbeilief. Mit einem freundlichen Lächeln erwiderte Nara die Geste. Airell würde von ihrer Unternehmung erfahren und wütend sein, dessen war Nara sich bewusst.
Es kümmerte sie wenig.
Ihr Bruder war selten mit ihren Entscheidungen einverstanden gewesen, und bald würde sie sowieso weit weg sein. An einem fremden Ort. Mit fremden Menschen. Für einen Moment geriet sie ins Stocken, sog den Anblick des Hafens in sich auf: die Fischerleute, deren Gesichter Nara besser kannte als ihr eigenes. Den vertrauten Anblick der kleinen Boote und der imposanten Hafenmauer aus Eis. Dahinter der Horizont, hinter dem ihr neues Leben auf sie wartete. Naras Herz wurde schwer, aber sie schob den Gedanken zur Seite und konzentrierte sich auf die vor ihr liegende Aufgabe. Die Sonnenmuschel.
Ihre Schritte führten sie zu Rihans Turm, der sich an die Hafenmauer schmiegte, als wäre er ein Teil davon. Ein seltsam gewachsener Eiszapfen, an dessen Spitze in Bodennähe sich eine Holztür befand. Verwitterte Stufen führten nach oben und knarzten leise unter Naras Schritten.
Wie vereinbart klopfte sie, und Rihan öffnete die Tür so schnell, als habe er bereits die ganze Zeit auf sie gewartet. Vermutlich hatte er das auch. Auf seinem bärtigen Gesicht lag ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit.
»Du bist wirklich gekommen.«
»Hast du daran gezweifelt?«, fragte Nara und hob die Augenbrauen, als wäre sie ernsthaft verletzt. »Als ob ich mich vor der Suche nach der Sonnenmuschel fürchte. Das Meer macht mir keine Angst. Es ist mein Element. Ich werde nicht verlieren.«
Rihan brummte leise. »Falsche Formulierung. Du wirst gewinnen.«
»Wo ist der Unterschied?« Verwirrt runzelte Nara die Stirn, aber dann formulierte sie ihre Aussage neu: »Beim Ritual des Lichts treten 32 Elementgesandte aus der ganzen Welt an, aber den Sieg wird nur eine Person erringen. Und das werde ich sein. Ich werde die Buchbinder nach Kori holen und somit den Wohlstand zurückbringen.«
Bei diesen Worten erhellten sich Rihans Gesichtszüge. »Das ist die richtige Einstellung. Du wirst den Sieg davontragen, da bin ich mir sicher.«
»Und ich werde die Sonnenmuschel finden«, fügte Nara mit stolzgeschwellter Brust hinzu.
»Dann los. Wir dürfen keine Zeit verlieren, es ist bald so weit.«
Tatsächlich war nur noch eine Handbreit Sonne über dem Horizont zu sehen. Sie tauchte Kori in rotes Licht, und für einen Moment wirkte das Meer wie flüssiges Feuer.
»Ich bin bereit«, erwiderte Nara.
Rihan griff neben den Türrahmen und hob einen Ledersack hoch. »Darin ist alles, was du brauchst.«
»Hab Dank.«
Ein seltsames Schimmern trat in Rihans Augen. »Es ist mir eine große Ehre, dich an diesem Tag zu unterstützen, Nara.«
Diese Worte lösten ein seltsames Gefühl in ihr aus. Eine Mischung aus Stolz und Dankbarkeit und Trauer. Sie vermisste Kori schon jetzt. Und Rihan. Seine beruhigende Ausstrahlung und die schlauen Worte hatten ihr schon in vielen Situationen geholfen.
»Ich werde dich nicht enttäuschen«, erklärte Nara, dann schulterte sie den Ledersack und eilte zum Steg, wo bereits ein kleines Kanu auf sie wartete. Es war aus dunklem Holz, und helle Halbmonde und Sterne überzogen die Oberfläche. Gezeichnet waren sie mit einer Farbe aus Schimmerperlen, die Mondstrahlen absorbierten und selbst dann sanft leuchteten, wenn der Himmel von Wolken bedeckt war. Nara und Airell hatten sie als Kinder gezeichnet.
Dieses Kanu war das erste gewesen, das ihre Mutter ihnen geschenkt hatte, und aus Sentimentalität hatte Nara es bis heute behalten, obwohl sie selten die Gelegenheit hatte, hinaus aufs Meer zu fahren.
Doch verlernt hatte sie den Umgang mit dem Paddel nicht. Sobald sie saß und den Griff hielt, übernahm die Routine, und sie navigierte das Kanu hinaus aufs Meer, der untergehenden Sonne entgegen.
Ihr Atem hing in kleinen Wolken vor ihrem Gesicht, und ihr Herz hämmerte laut in ihren Ohren. Die goldenen Strahlen färbten das Meer, und obwohl Nara in ihrem Element war, fühlte sie sich verloren.
Sie drehte sich um. Kori lag ausgebreitet vor ihr. Schneeweiße Gebäude in einer Landschaft aus Eis. Aus dieser Perspektive wirkte ihre Heimat so zerbrechlich.
Es schmerzte Nara, sie zurücklassen zu müssen, aber es gab keinen anderen Weg. Alle verließen sich auf sie.
Also wandte sie sich wieder der Sonne zu und atmete tief durch. Sobald der letzte Sonnenstrahl das Meer berührte, würde sie das goldene Leuchten der Sonnenmuschel sehen. Dann würde sie tief hinabtauchen und das wertvolle Fundstück den Menschen Koris präsentieren.
Alle wären stolz. Der erste wichtige Schritt geschafft.
Immer weiter senkte sich die Sonne, bis sie kaum mehr war als ein roter Schimmer über der Wasserlinie. Nara lehnte sich nach vorne, starrte konzentriert auf das Wasser und hatte gleichzeitig Angst, in die falsche Richtung zu schauen. Sie fühlte sich wie in einer Sternschnuppennacht, wenn sie auf das viel zu große Himmelszelt starrte, um einen kurzen Blick auf einen leuchtenden Schweif zu erhaschen.
Wie eine Sternschnuppe war auch das Leuchten der Sonnenmuschel, als die Sonne ihren letzten Strahl schickte. Nara sah den Glanz aus dem Augenwinkel, zu ihrer Rechten, ganz in der Nähe3.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und auf einmal war die Welt viel klarer, jede Kontur schärfer. Langsam begann die Zeit des Mondes in Kori, und er erhob sich über die Stadt aus Eis, sodass Nara kaum etwas sah. Doch sie hatte ihm ihr ganzes Leben gewidmet, und es reichte ihr, das Wasser zu fühlen. Sie konzentrierte sich auf das sanfte Rauschen, auf den Rhythmus der Wellen und den Sog der Strömung. Zeichnete mit ihren Händen zwei Worte in die Luft. Für einen kurzen Moment flimmerten die Schriftzeichen wie silbernes Mondlicht.
Meer.
Verbundenheit.
Nara spürte die Kraft des Mondes und fühlte hinein in die Tiefe unter sich, fand einen Fischschwarm, der langsam nach unten sank, und ertastete schließlich den sandigen Boden, durchmischt mit größeren Steinen und Muscheln.
Es war, als würde sie in einem Waschzuber nach einem verlorenen Spielzeug suchen, dabei griff sie auf uralte Magie zu, um das Wasser zu durchforsten. Eine Kraft, die der Mond ihr schenkte, seit sie ihre Seele an ihr Seelenbuch gebunden hatte.
Sie wusste nicht genau, wonach sie suchte und wie sich die Sonnenmuschel anfühlte, aber sie glaubte daran, dass sie merkte, wenn sie ein solch mächtiges und seltenes Objekt erspürte.
Mit aller Kraft konzentrierte Nara sich auf den Teil des Meeres, in dem sie das Leuchten registriert hatte. Hier war der Boden mehr Fels als Sand, und Nara bemerkte einige Steinkrabben und Frostaale, die sich in den Spalten versteckten. Doch da war noch etwas anderes. Eine Wärme, die sie so nicht kannte. Nara atmete tief ein und konzentrierte sich auf diesen einen Punkt. Eine Muschel.
Das entlockte ihr ein ungläubiges Lachen. Sie hatte es wirklich geschafft. Das musste sie sein. Die Sonnenmuschel. Seit Zi hatte sie niemand mehr gefunden, aber ihr, Nara, war das Unmögliche gelungen. Stolz wärmte ihre Wangen, und sie schrieb ein weiteres Wort mit fließenden Bewegungen in die Nacht.
Oben.
Die Sonnenmuschel bewegte sich nicht. Naras Mundwinkel sackten nach unten.
Sie versuchte noch ein Schriftzeichen.
Heimat.
Nichts geschah.
Verwirrt zog Nara sich zurück, konzentrierte sich auf einen Stein, der unweit davon lag, und verwendete die Zeichen für Bewegung und klein. Das Element gehorchte, der Stein rutschte.
Da realisierte Nara, dass die Sonnenmuschel sich nicht mithilfe ihrer Macht an die Oberfläche holen lassen würde4.
Sie musste selbst hinabtauchen.
Obwohl sie mit dem Wasser auf besondere Art verbunden war, würde sie in der Kälte nicht lange überleben. Ihre Gedanken rasten, sie öffnete die Augen, ihr Blick irrte umher. Mittlerweile stand der Mond etwas höher, und sein vertrautes silbernes Licht spendete Nara Trost. Immerhin war er der Quell ihrer Kraft, gemeinsam mit ihrem Seelenbuch, das tief im Eis verborgen lag5.
Der Lederbeutel. Voller Hoffnung griff Nara danach und zog an der Schnur, um ihn zu öffnen. Runde Früchte fielen ihr entgegen. Im fahlen Licht des Mondes wirkten sie schwarz, aber Nara wusste, dass sie eigentlich dunkelrot waren. Feuerorangen.
»Rihan, du …« Nara grinste. Er hatte es gewusst. Oder geahnt. Feuerorangen waren teure Früchte, die von weit her kamen, von der östlichen Vulkaninsel. Dort wuchsen sie an den Hängen zwischen den Felsen und waren enorm schwer zu ernten. Die Bewohner der Vulkaninsel hatten zudem keinerlei Verwendung für sie, denn bei ihnen war es stets warm und trocken. Doch hier, im kühlen Norden, waren die Feuerorangen eine Delikatesse und obendrein ziemlich nützlich.
Nara streifte die Handschuhe ab, und sofort biss die kalte Luft in ihre Finger. Sie begannen zu zittern, aber das hinderte sie nicht daran, die Schale der Feuerorange zu öffnen, um an das saftige Fruchtfleisch zu gelangen. Es roch gleichermaßen süß und scharf, und als sie hineinbiss, schmeckte es auch so. Das vertraute Gefühl breitete sich auf der Zunge aus, strahlte bis in ihre Fingerspitzen und vertrieb die Kälte. Es war, als wäre Nara in ein wohlig warmes Bad gestiegen. Ihre Finger zitterten nicht mehr, und sie entfernte die restliche Schale, aß die ganze Frucht. Dann nahm sie eine zweite und schälte sie ebenfalls, ließ sie aber auf dem Leder liegen, um sie bei ihrer Rückkehr direkt essen zu können.
In einer routinierten Geste schrieb Nara ein weiteres Wort in die Nacht.
Schwimmerin.
Dann noch eines. Ihren Namen. Ein weiteres.
Schnell.
Sie hatte diese Kombination so häufig verwendet, dass die Schriftzeichen beinahe ineinander übergingen, und doch spürte sie, wie die Macht des Mondes wirkte. Sie floss durch ihre Glieder, stärkte ihr ganzes Sein.
Anschließend streifte sie ihre Kleidung bis auf die Unterwäsche ab und sprang ins Wasser.
Ihr Element umfing sie mit angenehmer Stille und einem sanften Willkommenslied. Mit einer kleinen Bewegung ihrer Arme katapultierte Nara sich durch das Wasser bis zum Meeresgrund. An die Stelle, an der sie die Sonnenmuschel erspürt hatte.
Einer alten Gewohnheit folgend, hielt Nara die Augen geschlossen, immerhin hatte sie das Wasser und sein leises Flüstern. Sie konzentrierte sich ganz darauf und tastete sich so durch die Dunkelheit zu ihrem Ziel.
Da.
Ganz deutlich. In der Nähe. Nara streckte die Hände aus und griff danach. Ihre Finger schlossen sich um eine glatte, warme Oberfläche. Vorsichtig tastete Nara den Rand ab. Wäre sie nicht unter Wasser, hätte sie ihren Triumph laut hinausgebrüllt. Stattdessen öffnete sie die Augen und starrte auf den sanft glühenden Gegenstand.
Eine Muschel. Golden wie der Schmuck ihres Vaters. Sie strahlte wie die Sonne selbst. Es gab keinen Zweifel daran, dass Nara die Sonnenmuschel in der Hand hielt.
Eine weitere kleine Geste, und sie wäre zurück an der Oberfläche. Aber als Nara die Hand bewegte, geschah nichts. Trotz der Wärme der Feuerorange wurde ihr innerlich eiskalt.
Sie konnte die Sonnenmuschel nicht mithilfe des Wassers bewegen. Nicht einmal dann, wenn sie sie selbst in der Hand hielt. Die Wasseroberfläche war weit entfernt, und obwohl Nara eine gute Taucherin war, erschien es ihr unmöglich, so lange die Luft anzuhalten.
Aber sie musste es versuchen. Ihr Herz raste und pumpte den kostbaren Sauerstoff schneller als nötig durch ihren Körper. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Nara Wasser als bedrohlich.
Es konnte sie erdrücken, oder sie könnte gar erfrieren, wenn sie nicht rechtzeitig zurück bei ihrem Kanu war. Wenn sie die Sonnenmuschel fallen ließ, könnte das Wasser sie nach oben bringen, aber … Nein, das war keine Option6.
Also strampelte Nara unbeholfen mit den Beinen und den Armen, strebte zurück zur Oberfläche. Sie hatte nie richtiges Schwimmen gelernt. Wofür auch? Sie hatte ihr Seelenbuch. Schwimmen war für die anderen. Jene, die nicht diese Bindung mit dem Wasser eingegangen waren.
Also strampelte Nara um ihr Leben. Sie kam kaum voran. Das Licht des Mondes blieb in weiter Ferne, der Sauerstoff ging ihr aus. Das Glühen der Sonnenmuschel drang nicht weit durch die Dunkelheit, und für einen Moment fühlte sich Nara, als wäre sie nicht im Meer, sondern am Himmel. Als hielte sie die Sonne in der Hand und versuchte, sie von ihrem Platz in der Ewigkeit zu reißen.
Ein unmögliches Unterfangen. Das Wasser drückte sie hinab, ganz gleich, wie wild sie mit den Beinen trat. Die Dunkelheit um sie herum wurde intensiver, selbst das Licht der Sonnenmuschel verlor an Intensität, und der Drang, einzuatmen, wurde übermächtig.
Trotzdem hielt sie ihren Fund fest umklammert, weigerte sich, ihn aufzugeben. Ihr Körper wurde immer schlaffer, ihr Blickfeld kleiner, die Gedanken wirr.
Da fiel ihr die Sonnenmuschel aus der Hand, und die Stimme des Wassers kehrte zu ihr zurück, brüllte sie an, bewahrte sie davor, ohnmächtig zu werden. Mit nur einer Handbewegung katapultierte Nara sich nach oben. Sie durchbrach die Oberfläche, flog darüber hinaus, schlug erneut auf, japste nach Luft, orientierte sich.
Das Boot lag nicht weit entfernt, und so nutzte Nara ihre letzten Kräfte, um sich in einem Schwung vom Wasser auf das Boot heben zu lassen. Durchnässt und zitternd landete sie auf dem Holz, griff nach der bereits geschälten Feuerorange. Sie stopfte sich die süß-scharfe Köstlichkeit in den Mund, kaute begierig und wartete auf die Wärme. Sofort durchströmte sie das bekannte Gefühl, und Nara atmete erleichtert aus. Sie lebte.
Ein Kloß in ihrem Hals. Ihre Brust wie zugeschnürt. Tränen bahnten sich einen Weg nach oben. Ja. Sie lebte. Aber die Sonnenmuschel lag auf dem Meeresgrund. Es war ihr nicht gelungen, diesen wichtigen Schatz zu bergen.
Nara, Beschützerin Koris, hatte versagt.
Trotz regte sich in ihrer Brust. Die Nacht war noch lang. Die Tasche voller Feuerorangen. Und sie war nicht bereit, aufzugeben. Also nahm sie einen tiefen Atemzug und sprang erneut in das eiskalte Wasser.
Langsam verblassten die Sterne, und feine Morgenröte überzog das Land. Wie ein Flächenbrand zog sie sich über die Stadt und tauchte die aus dunklem Vulkangestein gebauten Häuser in rotes Licht. Noch war es still in Sa, aber schon bald würden die Menschen erwachen, um den neuen Tag mit großer Freude zu begrüßen. In dieser Gegend waren die Gebäude mit prunkvollen Glasarbeiten verziert. In Rot und Gold überzogen sie den dunklen Stein, bildeten Flammen, Sonnen, Lichtstrahlen, und sobald das Sonnenlicht sie traf, blitzten sie auf, als wären sie nicht Glas, sondern echtes Feuer.
Mit der Morgenröte kam der Vorgeschmack auf die Hitze, die der heutige Tag mit sich bringen würde.
Zwischen zweien dieser Häuser duckte sich in einer Gasse eine Gestalt in einem dunklen Umhang. Lauernd. Hoffend. Der Sand knirschte unter ihren Füßen.
Da kam der Wagen heran, auf den sie gewartet hatte. Zwei Glutziegengeier zogen den Karren, Tiere mit roten Augen und dunklen Federn, die friedlich voranschritten, wobei ihre langen Hälse bei jedem Schritt wippten. Ein junger Knecht saß auf dem Gefährt, die Augen halb geschlossen, als würde er bereits dösen. Er erwartete keinen Überfall, nicht hier, in diesem gut bewachten Viertel der Stadt.
Die Waren hinter ihm waren mit Seilen gesichert. Kisten, einige Säcke, vermutlich Lebensmittel.
Katso zögerte nicht lange. Sobald der Knecht auf seiner Höhe war, sprang er heraus. Der Junge keuchte überrascht auf, da hatte er schon eine behandschuhte Hand auf dem Mund und den Geldbeutel an seinem Gürtel verloren.
Mit der Beute sprang Katso vom Wagen und verschwand in den Gassen. Er verschmolz mit der Dunkelheit, das Adrenalin rauschte durch seinen Körper, schärfte seine Sinne.
Als er gerade um die zweite Ecke bog, schrie der Junge.
»Wachen! Ein Überfall!«
Katso zögerte nicht lange, er entledigte sich des Umhangs und des Gesichtsschleiers, faltete den Stoff im Gehen so klein wie möglich und stopfte ihn dann mitsamt dem gestohlenen Geldbeutel in seine Umhängetasche.
Darunter kam ein Mann mit dunklen Haaren zum Vorschein. Seine Augen hatten die Farbe von Bernstein, und an seinem Hals wanden sich tätowierte Schriftzeichen hinab in den dunkelroten Kragen seiner Kleidung. Der knielange Kaftan war durchwirkt mit goldenen Fäden, ein Zeichen für seinen hohen Stand. Mit erhobenem Kinn schritt er voran und trat zurück auf die Hauptstraße, auf der sich der Überfall ereignet hatte.
Immer mehr Menschen strömten aus den umliegenden Häusern, und auch Katso setzte eine besorgte und verwirrte Miene auf, während er zum Karren eilte.
»Ein Überfall? Hier?«, raunte eine ältere Dame.
Vom Ende der Straße kamen vier Wachen herangeeilt. Sie trugen Lederrüstungen und hielten ihre langen Speere mit der Spitze zum Himmel gerichtet. Eine von ihnen war eine Frau in Katsos Alter, der andere ein deutlich älterer Mann. So wie er schwitzte, stand er kurz davor, den Dienst in der Wache endlich zu quittieren und ein gemütlicheres Leben in der Verwaltung einzuschlagen. Die meisten Wachen in seinem Alter taten das, und Katso bekam ein schlechtes Gewissen, dass er ihm solch einen Aufwand bereitete. Andererseits war es nötig gewesen.
Die Wachen traten zum Karren und befragten den Jungen, der nicht viele Details geben konnte. Eine verhüllte Gestalt, stark, präzise. Vielleicht ein Anhänger irgendeiner verbotenen Gilde. Jemand, der seiner Herrin schaden wollte. Ein angeheuerter Überfall.
Das passte nicht zu den zurückgelassenen Waren, und Verwirrung machte sich breit. Katso lauschte noch einige Minuten, dann zog er sich zufrieden zurück.
Sie würden ihn nicht finden.
Schnellen Schrittes eilte er um die nächste Ecke und dann zu einem Hauseingang, über dem Flammen aus Glas in die Höhe loderten.
Katso öffnete die Tür und trat in das angenehm kühle Innere. Obwohl die schwarzen Oberflächen sich unter der Sonne drastisch aufheizten, hielten sie die Wärme draußen, der Basalt bot die perfekte Isolation. Einige Stellen der Außenwand waren allerdings nicht aus Stein. Dort befand sich lediglich das kunstvolle Glas, und durch ebenjenes schienen die ersten Strahlen der Sonne in eine große Eingangshalle, deren dunkler Boden mit bunten Teppichen ausgelegt war. Die Möbel waren aus hellem Holz, das aus den Wäldern der Luftinseln importiert worden war. Ein weiter Weg. Teure Gegenstände.
»Herr!« Eine junge Frau eilte auf Katso zu. Sie trug ihre dunklen Haare in einem einfachen Zopf und ein schlichtes Leinenkleid. Katso kannte ihren Namen nicht, denn die Angestellten in diesem Haus wechselten ebenso schnell, wie die Schwarzsteinechsen bei Anbruch der Nacht in ihren Löchern verschwanden.
»Ja?« Er klang gelassen, beinahe gelangweilt, dabei wusste er genau, was sie wollte.
»Sie sind da.« Ihre Stimme zitterte leicht. »Ich habe sie in den Empfangsraum geführt.«
»Perfekt«, erwiderte Katso und zeigte eine Reihe weißer Zähne. »Ich habe bereits auf sie gewartet.«
Ohne Zögern trat er in den Empfangsraum, ein kleines Zimmer mit aufwendiger Glaskunst an den Wänden. Hunderte Sonnen überzogen die dunkle Wand, und das Feuer im Kamin spiegelte sich in ihnen wider, machte sie lebendig.
Auf einer Holzbank saßen zwei Menschen. Ein Mann, eine Frau. Beide waren hochgewachsen und durchtrainiert, ihre Züge wirkten wie vom selben Künstler gezeichnet.
Die Pira-Zwillinge.
»Habt Ihr das Geld?« Rai kam direkt zur Sache. Sie erhob sich, und ihre langen dunkelroten Gewänder raschelten. Stoff gefärbt mit den Feuerbeeren der Vulkangipfel. Katso wusste sehr genau, wie viel diese wert waren. Er registrierte, dass auch Rais Bruder Bao Kleidung derselben Farbe trug.
Neid wand sich wie Gift durch Katsos Eingeweide und zwang ihn zu einem grimmigen Lächeln.
»In der Tat«, erwiderte er und hielt dem durchdringenden Blick der beiden stand.
Verblüffung. Sie versuchten, sie zu verbergen, aber Katso bemerkte sie an der Art, wie Rais Augen sich kurz weiteten. »Tatsächlich?«
Als Antwort griff Katso in seine Tasche und zog die goldenen Münzen aus dem geraubten Beutel. Er war nicht unvorsichtig genug, um den Zwillingen den Geldbeutel zu zeigen.
Dann legte er seine Beute auf den runden Tisch.
Skeptisch beugte sich Rai nach vorne. Bao nickte zufrieden, dann strich er die Münzen ein.
»Sehr schön«, sagte Rai. »Einige weitere sichere Mondzyklen für euch.«
»Bis ich zurückkehre«, präzisierte Katso, und Rai schnaubte.
»Natürlich.«
Damit gingen sie. Sobald sie den Raum verlassen hatten und die Tür ins Schloss fiel, atmete Katso erleichtert aus, sackte leicht in sich zusammen. Zu knapp. Dieses Mal war es eindeutig zu knapp gewesen. Er hatte zu lange gewartet. Mit sich gerungen, ob er nicht doch lieber eins der Möbelstücke verkaufte, statt erneut jemanden zu überfallen.
Da klingelte die silberne Glocke und erinnerte ihn daran, weshalb das keine Option war. Er folgte der Aufforderung direkt, eilte zurück in den Flur und von dort aus in das Zimmer seines Vaters.
Hier brannte ein kleines Feuer in einer Schale neben der mit Wolle gefüllten Matte. Darauf lag sein Vater, die rechte Hand noch immer auf der Glocke.
»Wie laufen die Geschäfte?«
»Gut«, erwiderte Katso sofort. Eine Lüge. Immer weniger Menschen kamen in ihre Kampfschule, um sich mit ihrem Seelenbuch ausbilden zu lassen.
»Sehr gut.« Sein Vater richtete sich auf, hustete. »Und das, obwohl der Sultan die Tore seiner Schule geöffnet hat. Aber die Familie Sano ist eben bekannt. Uns vertreibt man nicht so leicht.«
Ein Grinsen vertiefte die Falten in seinem Gesicht. Die schlohweißen Haare waren lang und kräftig, ganz im Gegensatz zu seinem zerbrechlichen Körper.
Dennoch half Katso nicht, als Laoik sich aufrichtete, denn er wusste, dass er ihm das übel nehmen würde. Sobald er stand, gingen sie gemeinsam durch das Haus, das Katsos Ururgroßvater als Dank für seine Verdienste in der Kampfausbildung der Stadtwachen bekommen hatte.
»Diese Kiste hat mein Großvater eigenhändig von den Luftinseln hergebracht«, erklärte Laoik zum wiederholten Male und deutete auf eine Truhe aus dunklem Holz, die in einer Ecke des Flurs stand. Er erzählte gern die Geschichten der Gegenstände, und manchmal schien es Katso, als würde er dadurch die Zeit zurückdrehen wollen. Die Truhe war tatsächlich so alt und wertvoll, wie Laoik stets behauptete. Katso kannte ihren genauen Wert, 410 goldene Münzen, denn als die Geschäfte anfingen, schlechter zu laufen, hatte er sich unter dem Vorsatz größter Geheimhaltung die Werte seiner Besitztümer nennen lassen.
Doch diese Erbstücke zu verkaufen, würde nicht nur Aufsehen erregen und dem Familienruf schaden, sondern auch seinem Vater das Herz brechen. Das wusste Katso zu verhindern.
»Mein Großvater war ein herausragender Mann«, fuhr Laoik fort. »Er reiste oft im Auftrag des Sultans zu den Luftinseln. Wusstest du das?«
»Ich habe große Neuigkeiten«, sagte Katso, statt auf die immer gleiche Frage seines Vaters einzugehen. »Ich werde heute als Elementgesandter nach Lort reisen.«
Laoik hielt inne. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Du hast … die Auswahl gewonnen?«
Das war nicht die Reaktion, die Katso sich erhofft hatte. Doch genau jene, vor der er sich am meisten gefürchtet hatte.
»Ja. Ich breche heute zur Akademie auf.«
»Ich verstehe.« Mehr sagte Laoik nicht. Er setzte sich wieder in Bewegung, und als Katso ihm folgte, hob er eine Hand. »Dann hast du jetzt sicher viel zu erledigen.«
Damit ging er weiter und ließ Katso zurück.
Wütend ballte Katso die Hände zu Fäusten.
Ein kleiner Teil von ihm hatte gehofft, dass sein Vater sich freuen würde. Ein Elementgesandter zu sein, war eine große Ehre. Ein Sieg beim Ritual des Lichts versprach eine großzügige Belohnung des Sultans und eine Reputation, die sie brauchten, um ihre Kampfschule wieder in Schwung zu bringen. Zudem würde er damit die Buchbinder für einen ganzen Zyklus nach Sa bringen. Eine Ehre, die es der Stadt ermöglichte, die eigene Macht auszubauen.
Er hatte die letzten Mondzyklen mit allen möglichen Menschen gesprochen, hatte trainiert und sich bewiesen, hatte heimlich der Auswahlzeremonie beigewohnt, und trotzdem war sein Vater wütend.
Mit schnellen Schritten eilte Katso zur Küche, um seinen Proviant für die Reise vorzubereiten. Als er näher kam, hörte er aufgeregte Stimmen.
»Er ist heute Morgen wieder rausgeschlichen.« Der Dienstjunge kicherte. »Als ob dieser Bastard irgendwo einen Weg finden würde, damit das Buch endlich mit ihm spricht.«
Sofort versteifte sich Katso. Er griff nach dem Stoff, der im Türrahmen hing, zog ihn zur Seite. Wutentbrannt stürmte er in den Raum.
Angst verzerrte die kindlichen Züge des Dienstjungen, den Katso erst vor wenigen Nächten angestellt hatte.
»Raus hier.« In einer schnellen Bewegung deutete er auf die Tür, durch die er gerade gekommen war. Seine Worte unterstrich er mit einer Flamme, die von seinen Fingerspitzen loderte.
Der Dienstjunge gehorchte sofort, und selbst die Köchin, die mit ihm im Raum gewesen war, eilte hinaus.
Dieser Überfall war auch für sie gewesen. Dafür, dass er sie weiter bezahlen konnte. Damit die Pira-Zwillinge nicht alles in Schutt und Asche legten. Sie erpressten schon lange das Schutzgeld, und Katso schämte sich dafür, dass er ihren Forderungen nachkam. Doch sich gegen sie aufzulehnen, war keine Option. Sie waren mächtig, und wenn sie kein Feuer in der Schule legten, so verbreiteten sie Gerüchte und sorgten dafür, dass noch weniger Menschen kamen, um bei der Familie Sano zu lernen. Weder den Neuaufbau der Räumlichkeiten noch weitere Einbußen konnte er sich leisten, also kam er ihren immer höher werdenden Forderungen nach und leitete die spärlichen Einnahmen direkt an sie weiter.
Die Bediensteten rauszuwerfen war keine Option, denn die Nachbarn würden sofort merken, wenn Katso selbst kochte, und das Gerede wäre schlecht fürs Geschäft. Und für seinen Vater.
Während er die Schränke öffnete und Lebensmittel in seinen Beutel stopfte, dachte Katso über die Worte des Dienstjungen nach. Denn er hatte recht: Sein Seelenbuch sprach nicht mit ihm, obwohl es das sollte. Seit Generationen war es im Besitz der Familie. Vor Katso hatte es seinem Urgroßvater gehört, einem mächtigen General und Sonnengebundenen.
Dann war es an Katso weitergereicht worden, und obwohl es durchaus beachtliche Fähigkeiten in ihm freigesetzt hatte, so blieb es doch stumm. Verwehrte ihm den Zugang zu seinem Wissen, das es über so viele Generationen gesammelt hatte.
Vielleicht stimmten die Gerüchte. Vielleicht war er nicht Laoiks leibhaftiges Kind. Ein Bastard, von der ersten Frau untergejubelt, bevor sie elendig an den Feuerpocken starb.
Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass niemand im Raum war, dann holte er sein Seelenbuch aus dem Beutel, den er immer unter seiner Kleidung trug. Es war das Sicherste, diesen wertvollen Schatz bei sich zu halten, immerhin hatte ein Buchbinder Katsos Seele daran gebunden.
Der Umschlag war tiefschwarz, die Ränder mit blutroten und orangefarbenen Flammenlinien verziert. Die Ecken waren mit goldenen Beschlägen geschützt. Lilien.
In einer schnellen Bewegung schlug Katso das Buch auf. Leere Seiten.
»Rede endlich mit mir.« Katso bemühte sich um eine freundliche Tonlage, doch seine Stimme war rau und klang angespannt. »Bitte. Mit meinem Urgroßvater hast du stundenlange Gespräche geführt«, raunte Katso, und die Wut schwelte in ihm, drohte auszubrechen. »Warum nicht mit mir? Warum hasst du mich so?«
Die Seiten blieben leer. Vergilbtes Pergament. Eine Struktur, die Katso mittlerweile zu oft gesehen hatte. Frustriert schlug er das Buch zu.
Als Nara triefend nass nach Kori zurückkehrte, ging der Mond bereits unter, und eine sanfte Morgenröte zeigte sich am Horizont. Unter dem wachsamen Blick der Sterne war Nara in ihrem Kanu auf dem Meer getrieben und war immer wieder in die Tiefe des Meeres hinabgetaucht, um die Sonnenmuschel zu bergen.
Ihre Glieder schmerzten ebenso wie ihre Lunge, und das Gefühl der Machtlosigkeit ohne den Zugriff auf ihr Seelenbuch hatte sich tief in ihr Gedächtnis gegraben. Enttäuschung lähmte ihre Bewegungen, und Scham brannte auf ihren Wangen.
Als sie anlegte, kam Rihan auf sie zu. Seine Bewegungen waren angespannt, die Augenbrauen so dicht zusammengezogen, dass sie sich beinahe berührten.
Sie stieg aus dem Kanu und überreichte ihm wortlos den leeren Beutel.
»Hast du sie gefunden?« Ein seltsames Glänzen trat in Rihans Augen.
»Ja«, erwiderte Nara und wandte den Blick von ihm ab, sah hinaus auf das Meer, wo sie den größten Schatz, den sie je gefunden hatte, zurücklassen musste. Ein unangenehmer Kloß bildete sich in ihrer Kehle.
»Und wo ist sie?« Seine Frage klang vorsichtig. Rihan hatte genug Geschichten gehört, um zu wissen, wie eine klang, die nicht gut ausging.
»Auf dem Meeresgrund.« Nara kniff die Lippen zusammen und kämpfte die Tränen nieder. »Wie hat Zi sie damals nach oben geholt?«
Ein raues Lachen. »Oh, sie hat das Meer nie verlassen.«
»Was?« Sofort wandte Nara sich Rihan zu, studierte sein Gesicht. Schalk lag in seinen Augen.
»Es ging nie darum, die Sonnenmuschel hierherzubringen. Das Ziel war immer die Suche nach ihr.«
»Aber …« Auf einmal fühlte Nara sich hinters Licht geführt. »Ich sollte sie bergen.«
Rihan schüttelte den Kopf. »Es ging immer um die Suche.« Energisch deutete er auf ihr Herz. »Dinge, die man wirklich will, geht man anders an als jene, die vielleicht ganz nett wären. Es steckt eine andere Energie dahinter, und diese Energie ist es, die du in der Akademie brauchen wirst, um Kori würdig zu repräsentieren.« Rihan setzte einen ernsten Ausdruck auf. »Du warst auf dich allein gestellt, nicht wahr? Ganz ohne die Kraft deines Seelenbuches.«
Bei der Erinnerung fröstelte Nara. »Ja.«
»Wie hat sich das angefühlt?«
Ihre Antwort kam sofort. »Unheimlich.«
Rihan nickte ernst. »Behalte dieses Erlebnis in deinem Herzen. Es wird dich in der Akademie daran erinnern, wie wichtig die Verbindung ist. Wie wertvoll. Diese Erfahrung hat Zi im entscheidenden Moment gezeigt, worauf es ankommt.«
»Also … habe ich …?«
»Ja, Nara, Beschützerin Koris. Du hast das Unglaubliche vollbracht: Du hast die Sonnenmuschel gefunden.«
Diese Worte wuschen all den Scham und Enttäuschung von ihr ab. »Ich muss zurück.« Sie blickte zum Himmel, um die Zeit abzuschätzen. »Danke für deine Hilfe, Rihan.«
Sie fiel dem großen Mann um den Hals. Seit ihre Eltern verschwunden waren, war es stets Rihan gewesen, bei dem Nara Rat gesucht hatte, und nie hatte er sie im Stich gelassen.
Er versteifte, überrumpelt von der plötzlichen Zuneigung, dann legte er ganz sacht eine Hand auf ihren Rücken.
»Es ist mir stets eine Ehre, dir zu helfen«, murmelte er.
Nara trat einen Schritt zurück und schenkte ihm ein letztes Lächeln, dann drehte sie sich um und eilte durch Koris Straßen zurück nach Hause.
Die Stadt lag ruhig da, die Menschen schliefen, müde von den Aufgaben, die sie im Mondlicht erfüllt hatten. Nara wandte das Gesicht zur Sonne, zu den hellen Strahlen, die sie ab heute jeden Tag begleiten würden.
Als sie das runde Gebäude mit den hohen Türmen erreichte, überkam sie eine Mischung aus Trauer und Vorfreude. Sie stieß die Türen auf und eilte zum Beratungssaal.
Dort saßen ihre Eltern auf ihren Plätzen, die Köpfe von Müdigkeit gebeugt. Ihr Vater war wie Airell. Ein hochgewachsener, wunderschöner Mann mit schneeweißen Haaren und einem eiskalten Blick. Allerdings waren seine Haare voll heller Perlen, und Sorge hatte in den letzten Jahren tiefe Falten in sein Gesicht gegraben. Ihrer Mutter war es nicht anders ergangen. Auch ihr Gesicht war vom Leben gezeichnet, sie trug die dunklen perlenbesetzten Haare hochgesteckt und einfache Kleidung. Lediglich der Ring an ihrem Finger verriet ihren hohen Stand. Ein Silberring mit dem Siegel Koris.
»Nara.« Ihre Mutter sah sie zuerst. Sie stand auf, breitete die Arme aus. Ohne nachzudenken, eilte Nara zu ihr und ließ sich in die Umarmung fallen. »Wo warst du nur?«
»Nara.« Airells Stimme. Als sie sich zu ihm umwandte, verschwand die Erinnerung. Ihre Eltern waren nicht hier. Natürlich nicht. Sie waren bereits vor vielen Jahren gestorben. Naras Bilder von ihnen waren geformt durch Erzählungen, die sie an sämtlichen Ecken Koris aufgeschnappt hatte.
Besonders heute saß der Schmerz tief. Sie war sich sicher, dass ihre Eltern stolz gewesen wären.
»Du hast dein Leben riskiert«, setzte Airell nach und kam näher. Wut verzerrte seine Gesichtszüge, und in diesem Moment hatte er nichts mehr mit ihrem Vater gemein.
»Du hast mir auch nichts zu sagen«, erwiderte Nara schlicht und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Hast du sie gefunden?« Er hob die Augenbrauen und betrachtete sie amüsiert. Ihre Kleidung war noch immer feucht und ihre Hände leer.
»Ja.« Stolz reckte Nara das Kinn. »Ich hielt die Sonnenmuschel in meinen Händen.«
Das überraschte Airell für einen Moment, doch er fing sich schnell und grinste süffisant. »Wo ist sie dann?«
»Am Meeresgrund«, antwortete Nara mit ruhiger Stimme. »Dort, wo sie hingehört. Bei der Sonnenmuschel geht es nicht darum, sie zu bergen. Es geht um die Suche.«
Bei diesen Worten fühlte sie sich überlegen. Als Airell lachte, verwandelte sich dieses Gefühl in Wut.
»Das klingt nach etwas, was dieser Rehan sagen würde.«
»Rihan«, betonte Nara seinen Namen, »hat schon sehr viele Geschichten gehört und weiß viel über das Leben.«
»Geschichten allein verraten dir gar nichts über das Leben.« Abfällig rümpfte Airell die Nase. »Man muss Dinge erleben, um wirklich etwas zu sagen zu haben.«
»Er hat mir geholfen, die Sonnenmuschel zu finden«, entgegnete Nara und unterdrückte die heiße Wut, die in ihr aufkochte. »Das ist deutlich mehr, als du in dieser Angelegenheit für mich getan hast.«
Als du jemals für mich getan hast.
»Jeder kann behaupten, die Sonnenmuschel gefunden zu haben.«
»Nennst du mich eine Lügnerin?« Nara trat einen Schritt auf ihn zu, kniff die Augen zusammen, und Airell hob sofort abwehrend die Hände.
»Ich sage nur, dass du keine Sonnenmuschel bei dir trägst.«
»Du musst das nicht verstehen«, schleuderte Nara ihm entgegen und schnaubte. »Ehrlich gesagt hätte es mich sogar überrascht, wenn du es verstanden hättest.«
Damit drehte sie sich weg und stapfte aus dem Beratungssaal, ließ Airell hinter sich. Sie würde ihn für eine sehr lange Zeit nicht sehen, doch der Abschied von ihm fiel ihr leicht.
Kori in seinen Händen zurücklassen zu müssen, war die wahre Herausforderung.
Sie eilte in ihr Zimmer und griff dort nach dem bereits gepackten Beutel. Darin befand sich ihre Kleidung, wobei sie nicht viel davon brauchen würde, denn die Akademie stattete sie mit allem aus, was sie benötigte. Das war Teil der Abmachung.
Ein letztes Mal sah sie sich um. Betrachtete die Feuerstelle, in der kein Feuer mehr brannte. Die Ecke aus Fellen, in die sie sich so oft zurückgezogen hatte. Die glänzenden Wände aus Eis und die Lampen mit Glimmerlibellen. Sie verströmten ihr sanftes Licht.
Ein Räuspern. Erschrocken fuhr Nara herum. Ein kleiner Mann stand gebeugt im Eingang zu ihrem Zimmer. Er trug eine dicke Pelzmütze und kniff die Augen zusammen, als habe er gerade in etwas sehr Saures gebissen.
»Hüter.« Sofort ging Nara auf die Knie. Sie ahnte, weshalb er hier war, und warf einen kurzen Blick zur Tür, um sich zu vergewissern, dass Airell nicht auftauchte.
»Erhebe dich, Kind«, erwiderte der Hüter. Sein Name war ein Geheimnis, sein Leben so untrennbar mit seiner Berufung verschmolzen, dass ihm nicht mehr als das geblieben war. »Hier.«
Ehrfürchtig starrte Nara auf das Buch, das der Hüter in der Hand hielt. Ein schmuckloser brauner Einband mit einem Wellenmuster darauf. Die Ecken waren mit Silber beschlagen. Ihr Seelenbuch. Sie hatte es seit der Zeremonie nicht mehr gesehen, denn es war im Herzen des Eispalastes eingefroren worden. An dem Ort, den nur der Hüter kannte.
An einem sicheren Ort, geschützt vor der Außenwelt, umgeben von dem Element, das ihm innewohnte.
Das Seelenbuch war der Ursprung ihrer Magie. Es beinhaltete alles, was sie ausmachte. Ihr ganzes Sein7.
Der Hüter trat näher, bot ihr das Buch dar. Nara zögerte. Ungeduldig schnalzte der alte Mann mit der Zunge. »Nun nimm es schon.«
»Aber gehört es nicht … in das Eis? Kann es nicht hierbleiben?«
Er schnalzte mit der Zunge. »Natürlich nicht. Die Tradition gebietet, dass alle Elementgesandten ihre Seelenbücher mitnehmen.«