Talus - Liza Grimm - E-Book
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Liza Grimm

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Beschreibung

Eine skeptische Studentin, die plötzlich einem echten Geist gegenübersteht. Ein begabter Tarotleger, der sich vor der Zukunft fürchtet. Eine junge Hexe, die ihre Begabung verflucht. Ein stolzer Wasserhexer, der die Wahrheit sucht. Sie alle haben einen Herzenswunsch - und als das sagenumwobenene Artefakt Talus auftaucht, scheint die Erfüllung ihrer größten Träume zum Greifen nah. Aber ein so mächtiger Gegenstand ruft auch böse Mächte auf den Plan. Und je näher sie Talus kommen, desto dunkler werden die Geheimnisse, die das Artefakt enthüllt. Ein Magiekonzept, das ebenso unwiderstehlich ist wie der Zirkel junger Magier: Lassen Sie sich von den Hexen von Edinburgh verzaubern! »Eine Geschichte, die so magisch ist, dass die Realität plötzlich ziemlich langweilig erscheint.« - Lea vom Buchblog Liberiarium

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Seitenzahl: 460

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Liza Grimm

Talus

Die Hexen von Edinburgh

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Manchmal findet uns unsere Bestimmung erst, wenn wir nicht mehr nach ihr suchen

Erin arbeitet als Guide in Edinburgh. Sie führt Touristen in den Tunneln unter der Stadt herum, um sie dort mit Geistergeschichten zu unterhalten, aber natürlich glaubt sie selbst nicht an übernatürliche Kreaturen – bis sie eines Tages einem echten Geist gegenübersteht. Eine Begegnung, die sie beinahe das Leben kostet.Für Erin beginnt damit eine Reise mitten hinein in echte Magie und zu gefährlichen Geheimnissen, die seit Jahrtausenden sicher bewahrt werden.Dabei trifft sie auch auf den jungen Hexer Noah, den unerklärliche Katastrophen in der magischen Unterwelt zu Erin führen.Könnte ein uralter Würfel mit ungeahnten Kräften der Auslöser für die Unglücke sein?

Je mehr Nachforschungen sie anstellen, desto tiefer verstricken sich Erin und Noah in ein Netz aus Lügen und Verrat, aus dem es kein Entkommen mehr zu geben scheint …

Inhaltsübersicht

Widmung

Auszug aus den Talus-Chroniken

Fast ein Anfang

Auszug aus den Talus-Chroniken

1 Die Unschuldige

2 Karens Ghost & Witchery Tours

3 Die Farben des Vortex

4 Ein holpriger Start

5 Ein unwürdiger Auftrag

6 Die Finsternis der Vaults

7 Erinnerungen

8 Ein seltsames Treffen

9 Ausgesperrt

10 Rauch ohne Feuer

11 Der Sohn des Ratsherrn

12 Die schwarze Frau

13 In Schwierigkeiten

14 Entkommen

15 Der Pakt

16 Greyfriars Kirkyard

17 Das Geständnis

18 Das Opfer

19 Die Warnung der Karten

20 Im Mitternachtscafé

21 Im Haus des Tarotzirkels

22 Das Tagebuch der Hexe

23 Vor dem Rat

24 Der Einbruch

25 Sir Craigs Auftrag

26 Das Abenteuer beginnt

27Die Frau auf dem Foto

28 Der Feuerhexer

29 Ein seltsames Treffen

30 Feuerfunken

31 Eine neue Verbündete

32 Widerstand gegen Richard

33 Die Schatten der Vergangenheit

34 Eine unglaubliche Chance

35 Die Wahrheit der Runen

36 Im Reich der Magie

37 In der Unterwelt

38 Die Akten

39 Auf dem Hexenfriedhof

40 Die Rache der Hexen

41 In letzter Minute

42 Das Erbe der Hexe

43 Gefährlicher Tratsch

44 Der Aufspürzauber

45 Das verlorene Gedächtnis

46 Der Überfall

47 Hoher Besuch

48 Der Spion

49 Eine böse Überraschung

50 Verfolgt

51 Der Würfel

52 Dem Wunsch so nah

53 Die Würfel sind gefallen

Auszug aus den Talus-Chroniken

Danksagung

Für alle, die Magie im Herzen tragen

Zu Beginn war sie eine der Guten. Sie glaubte an Barmherzigkeit. Gerechtigkeit. Bis ihr beides genommen wurde.

Auszug aus den Talus-Chroniken

Fast ein Anfang

Magie wird in Dunkelheit geboren.

Zumindest war es das, was Erin glaubte. Damit kam sie der Wahrheit einerseits sehr nah, war aber gleichzeitig unendlich weit davon entfernt. Magie wurde nicht in der Dunkelheit geboren. Dunkelheit entstand durch Magie.

Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie vielleicht einen anderen Weg gewählt. Möglicherweise wäre dann alles anders gekommen. Aber als Erin mit kribbelnden Fingerspitzen über die vergriffenen Buchrücken fuhr, ahnte sie nicht, was die Magie für sie im Sinn hatte.

Das kleine Antiquariat, in das sie vor einem plötzlichen Regenschauer geflohen war, roch nach Druckerschwärze, Holz und altem Leder, was eine willkommene Abwechslung zum penetranten Gestank des Desinfektionsmittels in den Krankenhausfluren war. Hunderte Bücher standen scheinbar ohne System und nicht gerade ordentlich in den unzähligen Regalen, und selbst auf dem alten Holzboden, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, stapelten sich Romane, Sachbücher und uralte Atlanten.

Die Besitzerin, die hinter einer schmalen und bücherüberhäuften Ladentheke stand, trug ihre grauen Haare in einem strengen Dutt und eine Lesebrille mit Tigermuster. Ihr schmaler Körper war in eine gelbe Strickjacke gehüllt, die Erin an die Sonnenblumen erinnerte, die sie Tante Charly letzte Woche als Abschiedsgeschenk ins Krankenhaus gebracht hatte.

»Pass auf dich auf«, hatte Charly gesagt und ihr mit erschreckend kalter Hand über die Wange gestrichen. Ihre einstmals strahlend blauen Augen waren dumpf und leblos.

Erin hatte genickt und gelächelt und war in Tränen ausgebrochen, sobald sie alleine im Flur stand. Seitdem verfolgten sie die Erinnerungen an Desinfektionsmittel, quietschendes Linoleum und gelbe Sonnenblumen. Jeden Tag, den sie in der Stadt ihrer Träume verbrachte, wurden die Schuldgefühle schlimmer. Sie wünschte, sie wäre zu Hause geblieben, aber Tante Charly hatte es nicht zugelassen. »Viel Erfolg beim Studium in der großen Stadt. Du schaffst das.«

Die Ladenbesitzerin hatte Erin einmal ausgiebig von oben bis unten gemustert. Nun zog sie sich wortlos hinter einem nach kaltem Räucherwerk riechenden Vorhang zurück. Offensichtlich hatte sie Erin als ehrlich genug eingestuft, um sie unbeaufsichtigt stöbern zu lassen.

Erin senkte den Blick. Sie mochte es nicht, aufgrund ihres Äußeren unterschätzt zu werden. Weder die zerrissene Jeans noch das dunkle Top oder die schwarze Lederjacke vermochten es, ihr unscheinbares Auftreten zu ändern. Sie war ein »nettes Mädchen«, wie Tante Charly mit Stolz zu sagen pflegte, verhielt sich stets zuvorkommend und scheute Konflikte. Die dunkelbraunen Haare, die hellen Augen und die zaghaften Sommersprossen ließen Erin zusammen mit ihrem runden Gesicht und dem höflichen Lächeln deutlich jünger wirken, als sie eigentlich war.

Trotz ihrer vierundzwanzig Jahre musste sie noch immer den Ausweis vorzeigen, wenn sie sich im Pub einen Whisky bestellte. Wahrscheinlich würde ihr noch nicht einmal ein Gesichtstattoo ein Respekt einflößendes Aussehen verleihen – nicht dass Erin jemals auch nur mit dem Gedanken gespielt hätte, sich etwas ins Gesicht tätowieren zu lassen. Zumindest nicht ernsthaft. Sie strich über ihren Jackenärmel, unter dem sich auf der Innenseite ihres Unterarms ein verschnörkelter Schriftzug verbarg. Magic.

Sie wagte sich tiefer in das Antiquariat vor und achtete darauf, mit ihrer nassen Kleidung keine Wassertropfen auf den Büchern zu hinterlassen. Ihr Pferdeschwanz klebte ihr kalt im Nacken, und sie widerstand dem Drang, ihn auszuwringen. Auch wenn ein Teil von ihr gerne das schockierte Gesicht der Besitzerin gesehen hätte.

Ihre Finger glitten weiter über die Buchrücken, fühlten jeden der Risse, die dem Leder bei ungezählten Besitzer- und Ortswechseln unabsichtlich zugefügt worden waren. Sie strich über fast verblichene Goldfarbreste, die Buchtitel und Autorennamen hervorheben sollten, und über kunstvolle Ornamente, die noch immer kräftig rot, blau und grün leuchteten.

Erin wusste nicht genau, wonach sie suchte. Wie so oft hatte sie auf ihr Bauchgefühl gehört, als die Eingangstür mit ihrer abgeblätterten roten Farbe und dem dunkelgrünen Schild darüber in ihr Blickfeld geraten war. Dieses Gefühl, über das ihre Mutter so oft leicht abfällig gescherzt hatte, wenn Erin es erwähnte. Tante Charly war stets auf Erins Seite gewesen, hatte ihr Bücher und Kristallketten geschenkt und sie ermutigt, nach Geheimnissen zu suchen. »Ohne Träume gibt es keine Hoffnung«, war einer ihrer Lieblingssätze.

Zuletzt hatte Tante Charly ihr diesen Satz kurz vor ihrem elften Geburtstag ins Ohr geflüstert, als Erin sich sicher gewesen war, dass sich in ihrem Kleiderschrank der Eingang zu Narnia befand. Ihre Mutter hatte nur gelacht, als sie es ihr aufgeregt erzählt hatte. Bis heute hatte Erin sich nicht durch Pelzmäntel in eine andere Welt gekämpft, und dennoch war die Hoffnung auf mehr in ihrem Herzen nicht auszulöschen. Sie war sich sicher, dass etwas auf sie wartete. Ein Abenteuer. Magie. Irgendetwas Großes.

Wenn jemand sie fragen würde, würde sie niemals sagen, dass sie lediglich die Flucht vor dem Regen in das Antiquariat geführt hatte. Für Erin war der Regen ein Zeichen dafür, dass sie genau jetzt in diesem Laden sein sollte. So begannen doch gute Geschichten, oder? Ein regennasses Mädchen mit Fantasie und Angst im Herzen, das in einem nach Büchern und Tinte riechenden Antiquariat stand und sich hilflos umsah. Das waren die Zutaten, die eine große Abenteuergeschichte brauchte. Erin hatte viele von ihnen gelesen.

Ein lautes Rumpeln, gefolgt von einem Fluch, ertönte. Offenbar war der Besitzerin etwas heruntergefallen. Erin ignorierte es, ihr Blick war weiterhin fest auf die Buchrücken gerichtet. Vielleicht würde sie endlich finden, wonach sie suchte. Eine Möglichkeit, Tante Charly von diesem bösartigen Tumor zu befreien, der ihr das Leben und die Hoffnung aus den Adern saugte.

Je weiter Erin ging, desto intensiver roch es nach Papier und Druckerschwärze, als hätte sich der Geruch im hinteren Teil des länglichen Ladens gesammelt. Vermutlich lag es daran, dass die Luft an diesem Ort schon seit Jahren stillstand. Unwillkürlich fragte Erin sich, wann hier zuletzt ein Kunde vorbeigekommen war. Sie mochte den Gedanken, Orte zu entdecken, die schon lange einsam waren. Als warteten die Gegenstände darauf, Erin ihre Geschichte zu offenbaren, die sie eine Ewigkeit für sich behalten hatten müssen, weil ihnen niemand Gehör schenkte. Aber egal, wie stark sie sich auf das alte Holzregal mit den durchgebogenen Brettern vor ihr konzentrierte, es blieb stumm.

Es schepperte erneut, und Erin zuckte zusammen. Dabei fielen ein paar Regentropfen von ihrer Jacke auf das oberste Buch eines Stapels, der neben ihr auf dem Boden stand. Die glänzende Flüssigkeit auf dem dunkelgrünen Einband bereitete ihr Unbehagen. Schuldgefühle.

Erin ist so ein nettes Mädchen.

Die liebevolle Stimme ihrer Tante im Ohr, hob Erin das Buch hoch, um es abzutrocknen. Da sie komplett nass war, öffnete sie den Reißverschluss ihrer Lederjacke, aber selbst das dunkle Top war leicht feucht. Schließlich wischte sie die Tropfen notdürftig mit ihrer Hand ab. Ihr Blick fiel auf den schwarz geprägten Titel. Narnia.

Das Buch hatte sie bereits unzählige Male gelesen. Es war das erste gewesen, das Tante Charly ihr geschenkt hatte. Sie legte es zurück auf den Bücherstapel. Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Mit schnellen Schritten ging sie die engen Gänge zurück in den vorderen Teil des Ladens.

Das Prasseln des Regens war verstummt. Vor dem Fenster hingen graue Wolken tief über der Stadt, die ersten Passanten wagten sich wieder ohne Regenschirm auf die Straße. Erin sah zur Ladentheke, doch von der Besitzerin war nichts zu sehen. Sie rief ein »Danke« Richtung Vorhang, dann vergrub sie ihre Hände in den Taschen ihrer Lederjacke und trat durch die Tür, ohne das kleine braune Buch zu bemerken, das ihr Schlüssel in eine andere Welt gewesen wäre.

Die Magie hatte beschlossen, dass Erin nicht bereit für sie war. Noch nicht.

Dinge, die Verdammnis über die Welt bringen, entstehen meist aus einem einzelnen Gedanken. So war es auch mit Talus.

Auszug aus den Talus-Chroniken

1 Die Unschuldige

Zwei Jahre später

Die dunklen Flecken breiteten sich so langsam aus wie Tinte auf Papier. Sie krochen unter der Haut entlang, bildeten Muster, näherten sich dem Herzen. Tätowierungen des Todes.

Noahs Haut juckte, sein Brustkorb kribbelte, und er kämpfte gegen das Bedürfnis, davonzustürzen, sich komplett zu entkleiden und sich vor dem nächsten Spiegel nach Anzeichen abzusuchen. Wenn er dem Verlangen einmal nachgab, würde es zu einer Gewohnheit werden, das wusste er. Ein ungesunder Tick, den er wahrlich nicht gebrauchen konnte. Vor allem, da er die Irrationalität seiner Angst erkannte. Als Schattenleser begegnete er der dunklen Seuche regelmäßig. Sie befiel Hexen, die mit ihrer Magie andere verletzten, und sorgte so für Ordnung in der Unterwelt. Simpel. Effektiv.

»Ich habe wirklich nicht …«, flüsterte die Frau und sah Noah aus großen dunklen Augen an. In ihnen spiegelte sich wie in einem schwarzen See das Licht der Feuerkugel, die über ihnen schwebte. »Bitte hilf mir.«

Noah wusste, dass ihr Flehen sinnlos war. Ihre Handschellen schabten leise über das Holz, als sie sich über den Tisch leicht nach vorne lehnte. Noah zuckte zurück, überprüfte den Sitz seiner schwarzen Lederhandschuhe. Die Drachenhaut war angenehm warm und gab ihm das trügerische Gefühl von Sicherheit. Sie waren ebenso nutzlos wie die Handschellen, die ihn zwar vor magischen Angriffen schützten, aber die Seuche nicht im Griff hielten.

Noah schüttelte den Kopf und tippte ungeduldig mit der behandschuhten Fingerspitze auf das leere Pergament, das vor ihm lag. Daraufhin vergrub die Frau das Gesicht in ihren Händen und weinte hemmungslos. Ihr ganzer Körper zitterte. Die langen blonden Haare fielen ihr über die entblößten Schultern, auf denen sich die Seuche unaufhaltsam ausbreitete. Pechschwarze Nacht auf weißer Haut. Die Handschellen klirrten im Takt ihrer Schluchzer.

Wenn Noah etwas nicht für diese Frau verspürte, dann war es Mitleid. Sie musste etwas Furchtbares getan haben, um diesen Fluch auf sich zu ziehen. Die dunkle Seuche war vieles: grausam, schmerzhaft, unerbittlich, tödlich. Aber eines war sie nicht: unfair. Seit sie das erste Mal registriert worden war, hatte sie nur jene Hexen befallen, die von dunkler Magie Gebrauch machten. Jene Abtrünnigen, die mit ihrer Macht andere verletzten.

Für Noah blieb nur noch eines zu tun. Er strich über die Runenkette an seinem Hals, prüfte, ob sie noch da war. Auch sie konnte ihn nicht vor der Seuche schützen, aber irgendetwas musste er tun, um die Angst in seinem Inneren zu beruhigen.

»Was war es?«, wollte er wissen und sah auf die wimmernde Frau, die mit dem Kopf auf dem Tisch zusammengesunken war, hinab. Er blieb auf Abstand, fixierte die Schwärze und sah sie vor seinem inneren Auge von ihrer Haut auf die seine springen wie ein wildes Tier. Er schluckte, zog die Handschuhe zurecht, strich über das Pergament. »Mit welcher Tat hast du die Dunkelheit in dein Herz gelassen?«

Das Schluchzen der Frau wurde wieder lauter, hallte von den kahlen Wänden des kleinen Raumes zurück, und Abscheu stieg in Noah hoch.

Er hatte bereits viele Seuchen-Opfer gesehen. Viele hatten die Hoffnung, dass ein Geständnis vor einem Schattenleser sie heilen könnte, und Noah zählte zu den besten. Dabei waren Schattenleser nicht mehr als eine elitäre Einheit, deren Macht auf ihrem Ruf beruhte. Und auf der Angst, die vor ihnen herrschte. Eine Angst, die der Rat mit Gerüchten gezielt schürte. Als Noah bei seiner Vereidigung erfahren hatte, dass er die dunkle Seuche weder heilen noch bannen konnte, brach eine Welt für ihn zusammen. Er hatte wirklich geglaubt, dass er als Schattenleser diese Fähigkeit erlangen würde. Stattdessen war er ihr nun Tag für Tag ausgesetzt, und da er dieses geheime Wissen hatte, gab es keinen Weg zurück. Die Schattenleser verließ man nicht lebend.

Das verzweifelte Flehen der Hexe holte ihn in die Gegenwart zurück.

»Nichts. Ich verspreche es. Nichts. Gar nichts! Ehrlich!«

Jedes ihrer Worte eine Lüge. Noah rümpfte die Nase. Obwohl er instinktiv von ihr zurückweichen wollte, lehnte er sich nach vorne. Ihr Gestank nach Angstschweiß verursachte ihm Übelkeit. Die Finsternis kroch über ihren Hals wie Schlangen.

»Du wirst sowieso sterben«, flüsterte er. Ihre Schultern bebten. »Also erleichtere dein Gewissen und sag mir, was du getan hast. Bist du Teil der Caradain?«

Sie hob den Kopf. Dunkle Augen voll Verzweiflung. Tränen liefen über ihre Wangen. Noah blinzelte. Etwas war anders als bei seinen anderen Befragungen. Ihr verständnisloser Blick brannte sich in sein Innerstes. Ein seltsam beklemmendes Gefühl erfasste ihn, und er spürte den Drang, ihr die strähnigen Haare aus dem Gesicht zu streichen. Sofort zuckte er zurück, erhob sich. Mit einer fahrigen Bewegung schob er sich die blonden Haare aus dem Gesicht.

»Ich habe nichts getan«, flüsterte sie. Die dunklen Linien erreichten ihren Mund, krochen über ihre Wangen. »Gar nichts.«

Ihre Lippen bebten. Dann sackte die Frau zusammen. Sie atmete nicht mehr.

2 Karens Ghost & Witchery Tours

»Oh, ein Geschäftsausflug am Freitag. Touren außerhalb des regulären Plans liebe ich ja besonders. Und schon wieder die Samstagstour?« Erin stieß einen Schwall Luft aus.

»Wenigstens sind wir zusammen«, bot Leo, der neben ihr stand, als Trost an und zog einen Mundwinkel nach oben. Erin warf ihm einen zweifelnden Blick zu, während er weiterhin den Zettel studierte, der mit einer Reißzwecke an eine Korkwand gepinnt war.

Leos Haare schimmerten schwarzblau wie das Gefieder der Raben, die auf den Dächern Edinburghs thronten. Seine Augen waren ebenso dunkel, die Lippen voll, seine Ohren ein klein wenig zu groß, aber irgendwie mochte Erin das. Sie gaben seinem sonst perfekten Gesicht einen Akzent Besonderheit. Sein sehniger Körper steckte in einem langen schwarzen Mantel.

Plötzlich drehte er den Kopf zu ihr, und sie sah schnell wieder auf die Tabelle mit den Namen, die in Karens krakeliger Handschrift auf dem Papier standen.

»Wenigstens das«, bestätigte sie und wurde das Gefühl nicht los, dass er sich nicht wirklich darüber freute. Obwohl sie seit einem Dreivierteljahr wöchentlich gemeinsam eine Tour veranstalteten, wusste Erin kaum etwas über Leo. Er tauchte erst dann auf, wenn bereits Kunden anwesend waren, und verabschiedete sich, sobald der letzte neugierige Fragesteller ging. Zu gemeinsamen Pubabenden mit den anderen Angestellten kam er nie, und heute war erst das zweite Mal, dass Erin ihn zufällig bei Karens Ghost & Witchery Tours sah.

In dem kleinen Ladenbüro gab es nicht mehr als einen alten, länglichen Tisch, zwei Stühle auf jeder Seite und mehrere Broschüren, welche die angebotenen Touren mit mehr oder weniger professionellen Bildern illustrierten. Menschen mit angemalten Gesichtern und weißen Bettlaken, Vampire mit falschen Zähnen und Kunstblut am Kinn, ein unbearbeitetes Foto eines verwitterten Grabsteins.

Die namensgebende Karen saß, ein Buch lesend, auf einem der Stühle und würdigte sie keines Blickes. Sie war gut zehn Jahre älter als Erin, hatte sehr helle Haut, viele Sommersprossen und eisgraue Augen. Ihr rotblonder Pony fiel ihr ins Gesicht, aber das schien sie nicht zu bemerken, so gefesselt war sie von dem Thriller auf ihrem Schoß.

Erin kam einmal in der Woche vorbei, um ihren Dienstplan zu überprüfen und mit Karen einen Tee zu trinken. Sie hielt es für klug, sich regelmäßig mit der Geschäftsführerin auszutauschen. So dachte Karen an sie und gab ihr die guten Schichten, in denen es wenig betrunkene Touristen gab. Letzte Woche hatte Erin Karens Tee wegen eines Dates abgelehnt, und prompt wurde sie nun mit der Samstagabendschicht bestraft.

»Dann bis morgen«, sagte Leo. Er tippte sich mit Zeige- und Mittelfinger an die Stirn, zwinkerte und ging, bevor Erin antworten konnte.

Karen war noch immer in ihr Buch vertieft, deshalb klopfte Erin zaghaft auf den Holztisch, um sich bemerkbar zu machen. Ihre Chefin schreckte auf, ihr Blick irrte kurz umher, dann fixierte sie Erin und seufzte.

»Es war gerade spannend.« Sie deutete mit dem Kinn auf das Buch und hob die Augenbrauen, um zu signalisieren, dass sie nicht viel Zeit hatte. »Ist was?«

Eigentlich hatte Erin von ihrem missglückten Date erzählen wollen. Der Kerl hatte sie abgesägt, weil ihr Sternzeichen Skorpion war. Skorpione seien ihm zu unterkühlt, stellte er in einem zehnminütigen Monolog klar, während Erin verzweifelt ihren Salat in sich hineinschaufelte, um der Situation schnellstmöglich zu entkommen. Als er leicht hoffnungsvoll nach ihrem Aszendenten fragte, da der ja noch alles ändern könne, hatte sie gerade die letzte Tomate in den Mund geschoben. Als sie beinahe gelacht hätte, hatte sie sich verschluckt und einen Hustenanfall bekommen, der sie so rot wie das Gemüse im Gesicht zurückließ.

Eigentlich eine Geschichte, die Karen zu würdigen wusste, aber so, wie sie Erin ansah, war heute ein denkbar schlechter Tag dafür. Sie war noch immer beleidigt. Also schwieg Erin und nahm sich vor, nächste Woche von ihrem Skorpion-Tomaten-Debakel zu erzählen. Vielleicht konnte sie sich damit eine Donnerstagmittagführung erkaufen.

»Schon okay«, sagte die deshalb, zuckte mit den Schultern und zwang sich zu einem Lächeln. Karen erwiderte es nicht und wandte sich wortlos wieder ihrem Buch zu.

Karens Ghost & Witchery Tourslag in der Lady Lawson Street, also nicht im Zentrum, aber immerhin so günstig, dass sich regelmäßig Touristen in das kleine Ladenbüro verirrten. In der Nähe gab es einen Supermarkt, reichlich Restaurants und kleine Läden sowie mehrere Hotels. Allerdings war die Umgebung nicht gerade sehenswert. Die Gebäude waren grau und hoch, einige Geschäfte versuchten, mit hölzernen Fassaden im Erdgeschoss das Aussehen der berühmten Victoria Street zu imitieren. Vergeblich. Sie wirkten trotz des verwitterten Holzes leblos modern.

Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb Erin so ungern hier vorbeikam. Sie liebte die alten und verwunschenen Ecken Edinburghs. Jene Orte, an denen sie sich leicht vorstellen konnte, dass Magie wahrhaftig existierte. Zumindest früher.

Die Hoffnung auf Magie hatte Erin an jenem Tag vor Monaten verloren, als ihre Mutter ihr mitteilte, dass es für Tante Charly aus Sicht der Ärzte keine Hoffnung mehr gab.

Die Faszination für mystische Orte war geblieben.

 

Zu Hause angekommen, hängte Erin ihre Jacke an den Haken an der Wohnungstür, schlüpfte aus den Turnschuhen und stand zwei Schritte später in ihrem Zimmer. Da die Küchenzeile im Raum war, roch es meistens nach Essen, ganz egal, wie oft Erin lüftete. Die Schlafcouch klappte sie nur ein, wenn Besuch kam, was sehr selten der Fall war. Auf dem kleinen Wohnzimmertisch stapelten sich drei Pizzakartons, die sie definitiv nach unten bringen sollte.

Zwei schwere schwarze Bücherregale waren bis in den letzten Winkel mit Büchern vollgestopft. Mit einem Klick auf die kleine Fernbedienung gingen die Lichterketten an und tauchten die Bücher in ein warmgoldenes Licht. Durch die grauen Vorhänge drangen nur wenige Sonnenstrahlen in die Wohnung. Erin trat zum Fenster und schob sie beiseite, aber das änderte nicht viel. Der Himmel hatte sich zugezogen, und bald würde es regnen.

Erin überlegte, was sie mit dem Tag anfangen sollte, und entschied sich für einen gemütlichen Lesenachmittag. Der Wohnungsputz konnte warten. Eigentlich musste sie dringend wieder den dunkelblauen Teppich saugen, Müll in den Innenhof bringen und ihre Regale abstauben, aber da sie die Unordnung nicht störte und sie keinen Besuch erwartete, schnappte sie sich einen Mysterykrimi und legte sich auf ihr Schlafsofa. Sie las viele dieser Bücher, um sich Inspiration für neue Geistergeschichten zu holen. Neben ihr lag ein Notizbuch, das bereits zur Hälfte gefüllt war, im Bücherregal stand ein weiteres. Eines Tages wollte sie eine eigene Geistertour eröffnen, die Menschen begeisterte und jede Woche Abwechslung bot.

Wenn sie nicht wie jetzt in Geschichten abtauchte, verbrachte sie jede freie Minute in den Vaults oder auf Friedhöfen, um neue Gruselorte zu finden. In einem dritten Notizbuch standen bereits neun Geistertouren, komplett geplant und mit ausgefeilten Geschichten und Friedhofsrouten versehen.

Gerade als sie sich in ihre Decke gekuschelt hatte, klingelte ihr Handy. Es gab nur einen Menschen, dem sie diesen speziellen Klingelton verpasst hatte, und so wusste Erin, wer anrief, noch bevor sie auf das Display sah.

»Hey.« Sie legte das Buch zur Seite und zog sich ein Kissen auf den Schoß, an dem sie sich festklammerte. »Wie ist die Lage bei euch?«

»Wie immer«, erklang die bemüht fröhliche Stimme ihrer Mutter. »Luca und Finn geht es sehr gut. Sie werden jeden Tag wilder. Finn hat heute in der Schule einen Ausflug gemacht, und Luca ist im Kindergarten hingefallen, es ist aber nichts Schlimmes passiert. Dein Vater hat einen guten Tag und war sogar draußen. Wie läuft es mit dem Studium?«

»Gut.« Mittlerweile kam Erin die Lüge leicht über die Lippen. Am Anfang war es ihr schwergefallen, aber in den letzten Monaten war es zur Gewohnheit geworden, bei den wöchentlichen Anrufen ihrer Mutter eine heile Welt vorzuspielen.

»Lernst du fleißig?«

»Ja.« Sie sah zu den Geschichtsbüchern in ihrem Regal, die sie seit knapp einem Jahr nicht mehr angerührt hatte. Es herrschte kurz Stille, und Erin ahnte, welche Frage als Nächstes kam.

»Finanziell klappt auch alles?«

»Natürlich, Mama.« Sie spürte einen säuerlichen Geschmack auf ihrer Zunge und schluckte ihn schnell hinunter. Da ihr Studium auf Eis lag und sie nur arbeitete, verdiente sie genug Geld, um ihrer Mutter finanziell nicht zur Last zu fallen. Außerdem waren es mittlerweile die Geistertouren, in denen sie ihre Zukunft sah. »Karen zahlt wirklich gut.«

Im Hintergrund schrie ein Kind, kurz darauf weinte ein zweites.

»Luca, ich habe doch gesagt, dass …« Der restliche Satz wurde gedämpft, als Erins Mutter den Telefonhörer gegen ihr Oberteil drückte. »Entschuldige. Die Jungs haben viel Energie.« Erneut war es kurz still. »Von Charly gibt es keine Neuigkeiten. Sie ist weiterhin stabil, sagen die Ärzte.«

Erin schluckte. Seit sie die beiden Kinder ihrer jüngeren Schwester bei sich aufgenommen hatte, klang ihre Mutter müde und erschöpft, auch wenn sie versuchte, es vor ihrer Tochter zu verbergen. Ihre Mutter liebte Charly über alles und hoffte nach wie vor auf ein Wunder.

»Es freut mich, dass es Papa heute gut geht«, lenkte Erin das Gespräch schnell auf etwas Positives. Sie spürte, dass ihre Mutter lächelte.

»Er war heute am Wasser und hat mir Blumen mitgebracht.«

»Oh, wie schön.« Erin freute sich wirklich. Es kam viel zu selten vor, dass ihr Vater seine schwere Depression niederringen konnte. Aber wenn er es schaffte, tat er stets etwas, um seine Frau zum Lächeln zu bringen.

»Vergiss neben der ganzen Arbeit dein Studium nicht. Dieser ganze Geisterquatsch hat doch keine Zukunft.«

Ihre Mutter hatte schon immer alles Übernatürliche abgelehnt. Nur dank Tante Charly kannte Erin sich mit Kräutern und Edelsteinen aus, wusste um die Eigenschaften der Sternzeichen und konnte Tarotkarten legen. Nachdem aber weder Bergkristalle noch Räucherwerk ihre Tante gerettet hatten, sah Erin die Esoterik als das, was sie war: Unterhaltung und Weltflucht.

Sie seufzte. Sie glaubte nicht mehr daran, dass Magie wirklich existierte, aber sie liebte die Illusion nach wie vor, liebte die Geschichten, die sie auf den Geistertouren erzählte, und wusste, dass ihre Mutter das niemals verstehen würde.

In diesem Moment ertönte das Anklopfzeichen. Erin warf einen Blick auf ihr Display. »Wenn man vom Teufel spricht. Mama, ich muss auflegen. Karen ruft an.«

»Denk an die Prüfungen!«

»Mach ich. Wir telefonieren nächste Woche. Ich hab dich lieb!«

 

»Du musst heute einspringen«, kam Karen direkt zum Punkt. »Tina ist krank.«

»Aber …« Erin warf einen Blick nach draußen. Die ersten Regentropfen klatschten gegen die Scheibe.

»Du willst doch sonst immer die Tour am Donnerstagmittag«, sagte Karen. Erin glaubte, an ihrer Stimme zu hören, wie sie die Augen verdrehte. »Wenn du nicht willst, fein. Dann suche ich mir jemand anderen.«

»Nein«, erwiderte Erin hastig und wiederholte noch einmal ruhiger: »Nein. Ich übernehme gerne«

»Warum nicht gleich so? 15 Uhr, wie immer.«

3 Die Farben des Vortex

»Verdammte Scheiße aber auch!«

Die Flamme zuckte in die Höhe und verfehlte ihre Hand nur knapp. Lu griff routiniert nach dem kleinen Tonteller und ließ ihn mit einem lauten Klack auf die Schüssel fallen, in der die misslungene Mixtur vor sich hin schwelte. Stinkender Rauch tanzte durch die Luft, die Mischung aus Schwefel und verbranntem Haar stieg ihr direkt in die Nase. Als Lu das zum ersten Mal gerochen hatte, war ihr so übel geworden, dass sie ihrer Großmeisterin direkt vor die Füße gekotzt hatte. Das war noch einer ihrer glanzvolleren Momente gewesen.

Lu erhob sich aus dem Schneidersitz, ging zum Fenster und riss das davorhängende schwarze Stofftuch herunter. Graues Licht fiel ihr ins Gesicht. Sie fluchte erneut und schirmte ihre Augen mit der Hand vor der Helligkeit ab. Dann öffnete sie das Fenster.

Sofort drang Stimmengewirr in verschiedenen Sprachen in das Zimmer. Baulärm dröhnte wie das Summen eines Bienenschwarms und verursachte ein unangenehmes Kribbeln in ihrem Hinterkopf. Lu warf einen kurzen Blick auf die geschäftige Straße unter ihr. Seit einigen Jahren wurde Edinburgh – und vor allem die South Bridge – nicht nur an Wochenenden von Touristen überrannt. Sie verzog das Gesicht.

»Scheiß drauf.« Obwohl der Gestank noch immer penetrant war, knallte sie das Fenster zu. Sofort war alles ruhig. Der Stillezauber funktionierte ausgesprochen gut und war damit eine der wenigen Sachen, die ihr seit ihrem Einzug gelungen war. Sie verstand nicht, wie die Radain ohne Magie überlebten.

Lu schritt über den knarrenden Holzboden zurück zu dem niedrigen schwarzen Tisch, der in der Mitte des Raums stand, und wich dabei einem Kreis aus grauem Pulver aus, den sie in der Mitte des Raumes gezogen hatte. Sie beugte sich zur Schüssel hinunter, hob vorsichtig den kleinen Tonteller an und warf einen Blick hinein. Die Haare waren nicht mehr als Asche, die Kräuter ebenfalls. Der Schwefel glühte noch leicht vor sich hin.

Lus Mundwinkel wanderten nach unten. Die Zutaten waren alle hinüber. Wenn sie die Beschwörung wiederholen wollte, musste sie zunächst in die Unterwelt und neue Totenhaare besorgen. Das war besonders ärgerlich, da sie ihr dieswöchiges Besuchsrecht bereits aufgebraucht hatte, um über die Ausgrabung zu recherchieren. Leider erfolglos: Das stundenlange Umherstreunen in der Unterwelt hatte ihr keine neuen Informationen gebracht. Es gab viele Gerüchte über das wiederentdeckte Grab von Abaigeal Dubh, inzwischen kannte Lu sie alle.

Sie hob die Schüssel hoch und trug sie zum Waschbecken neben der Tür. Die Armatur war verkalkt, das einstmals weiße Becken bereits gelblich. Die dunkelbraunen Kacheln mit Blumenmuster waren schon lange außer Mode.

Lu störte das nicht. Wenn es ihr Wunsch wäre, könnte sie ihre Wohnung mit Leichtigkeit modernisieren, aber sie liebte es, sich vorzustellen, welche Hexen vor ihr hier gelebt hatten. Nicht dass sie je eine davon getroffen hätte oder auch nur ein Detail über sie wusste. Das machte den Reiz aus. In Lus Vorstellung waren ihre Vorgängerinnen allesamt mächtige Großmeisterinnen aus allen Zirkeln: Elementhexen. Runenhexen. Kräuterhexen. Tarotleger. Keine erbärmlichen Gebräuhexen wie sie selbst.

Sie kippte den Inhalt der Schüssel in das Becken und deutete mit einer Hand auf den Wasserhahn. Dabei hatte sie Daumen und Ringfinger aneinandergelegt, die restlichen Finger kerzengerade ausgestreckt.

Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, das leise Flüstern des Wassers zu vernehmen. Ihr Arm begann vor Anstrengung zu zittern. Schließlich gab sie auf und drehte an dem kleinen Rad. Sofort schoss Wasser hervor und spülte die stinkenden Reste davon. Bittere Galle stieg ihren Rachen hoch, und sie widerstand dem Drang, das Wasser anzubrüllen. Es war herabwürdigend, dass es lieber auf die Gesetze der Physik hörte als auf sie.

Lu atmete tief durch. Irgendeinen Weg musste es geben, um Elementarmagie auch ohne Geburtsbegabung zu erlernen, da war sie sich sicher. Sie musste nur herausfinden, wie sie ihre innere Magie umlenkte, wie sie den Vortex dazu brachte, eine andere Sprache mit ihr zu sprechen. Bisher hörte sie, wenn sie auf das Flüstern jenseits des Weltenvorhangs lauschte, nichts als das Murmeln des Gebräus.

Es kursierten viele Vergleiche darüber, was der Vortex eigentlich sei. Mal war er ein gewaltiger Farbstrudel, und jeder Zirkel konnte eine Farbe sehen und mit ihr zeichnen. Mal war er eine Symphonie, und jede Hexe spielte nur ein Instrument im Gefüge des Seins. Oder der Vortex war ein Raum voller Wunder in den Sprachen des Universums, und jede Hexe wurde mit einer Muttersprache geboren. Diese Analogien gefielen Lu am besten, denn sie bedeuteten, dass es theoretisch möglich war, eine andere Art der Magie zu lernen.

Sie hielt nichts von dem Gerede, dass der Vortex seine Macht den Hexen zuteilte, wie es ihm gefiel. Dass er ein launisches Ding sei, das Magie gab und nahm wie eine Göttin. Für sie war er etwas, das man sich zunutze machen konnte. Wenn sie nur endlich wüsste, wie.

Auf ihr Nachfragen hatte die Großmeisterin immer den Kopf geschüttelt. »Jeder Hexenzirkel nutzt einen anderen Strom des Vortex. Sei dankbar für das, was du hast. Wir Gebräuhexen sind wichtig für die Unterwelt. Der Wunsch, seinen Zirkel zu wechseln, grenzt an Größenwahn, Luzia. Keine Hexe hat das bisher getan, und so sollte es bleiben.«

Aber Lu wusste, dass es bereits einmal geschehen war. Dass es eine Hexe gab, die sich die gesamte Macht des Vortex angeeignet hatte. Eine Hexe, die alle Sprachen kannte, mit allen Farben des Lebens malte und virtuos mit der Realität spielte. Bis zu ihrem Tod. Lu knirschte mit den Zähnen.

Wenn die Lebenden nicht mit ihr sprachen, gab vielleicht die Tote ihr Geheimnis preis. Geister hatten nicht viel zu verlieren. Lu drehte den Wasserhahn ab und schloss kurz die Augen. Die nächste Beschwörung würde klappen. Ganz sicher.

4 Ein holpriger Start

Erin liebte die Donnerstagmittag-Tour, weil es die einzige der Woche mit nur einem Guide war. Die meisten Menschen wollten die Vaults erst nach Einbruch der Dunkelheit sehen, was Erin noch nie verstanden hatte. Bei den Vaults handelte es sich um Katakomben, unterirdische Kammern unter der South Bridge. Sobald man sie betrat, spielten weder Wetter noch Tageszeit eine Rolle – sie waren jederzeit gleich gespenstisch.

Da Erin mit dieser Meinung ziemlich alleine war, bot Karens Ghost & Witchery Toursnur eine Mittagstour an. Noch lohnte sich der Slot mit nur einem Guide. Da die Tour aber oft sehr schlecht besucht war, überlegte Karen, sie ganz zu streichen.

Erin hoffte, dass sie das nicht tun würde. Für sie war diese Einzeltour eine wunderbare Möglichkeit, neue Dinge auszuprobieren. Bei Geisterführungen kam es vor allem auf die Inszenierung des Guides an. Während sie und die anderen Guides die Touristen durch die dunklen Gänge führten, erzählten sie schaurige Geschichten. Wenn Erin eine Partnerin oder einen Partner hatte, musste sie sich strikt an Karens Vorgaben halten. Es gab einen genauen Plan, in welcher Reihenfolge sie die Besucher durch die Räume schleusten, wann sie welche Geschichte erzählten und wie sie die Sätze betonen mussten. Sie konnte Karen keinen Vorwurf machen, immerhin funktionierte ihre Choreografie seit vielen Jahren. Trotzdem … die Donnerstagmittag-Tour war die perfekte Gelegenheit, ihre eigenen Ideen auszuprobieren, ohne dass der zweite Guide und damit Karen davon Wind bekam.

Erin sah auf die Uhr. Es war bereits 15:01 Uhr. Ungeduldig tippte sie mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand gegen den Stock ihres Regenschirms. Mit der rechten hielt sie ein laminiertes Schild hoch, damit die Touristen, die die Tour gebucht hatten, sie fanden. Der Treffpunkt war entweder an der South Bridge oder, wie heute, an der St. Giles Kathedrale. Von hier aus ging es dann in die dunklen Ecken Edinburghs.

Trotz des leichten Regens war der Platz vor der Kathedrale gut besucht. St. Giles war die Hauptkirche der Church of Scotland und eine der wichtigsten kulturellen und christlichen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Als ob die Erbauer dies betonen wollten, erinnerte der höchste Turm an eine Krone. Erin sah an der Fassade hinauf. In den gotischen Bögen der hohen Fenster spiegelte sich die graue Wolkendecke. In ihren Augen hatte St. Giles immer etwas Bedrohliches an sich, ein gigantisches Bauwerk mit riesigen Steinen und einschüchternden Zinnen. Auf ihrer eigenen Gruseltour wäre ihr erster Halt definitiv diese Kathedrale in finsterster Nacht, wenn sich lediglich dunkle Regenwolken in den Glasscheiben spiegelten.

Karen hatte ihr per SMS die Namen der Tourteilnehmer geschickt. Es waren nur drei, und alle schienen ausländische Touristen zu sein, aus Schweden oder Deutschland vielleicht. Ein schüchtern aussehendes Paar trat auf Erin zu, und sie schenkte ihnen ihr freundlichstes Lächeln. Beide trugen Jack-Wolfskin-Jacken, wasserdurchlässige Turnschuhe und keine Regenschirme.

Definitiv Deutsche.

»Hey, ich bin Erin und euer Guide heute«, grüßte sie.

Der Mann war recht groß und trug einen Vollbart, in dem sich die Regentropfen verfingen, die Frau neben ihm war klein und zierlich. Ihre Haare hatte sie komplett unter einer schwarzen Wollmütze versteckt. Die beiden wirkten, als wären sie ungefähr in ihrem Alter. Sie hielten Händchen, als wären sie bereits in einem der finsteren Gemäuer und würden jederzeit mit einem Geisterangriff rechnen. Erin musste sich ein Grinsen verkneifen.

Das wird lustig.

»Hallo, schön, dich kennenzulernen«, grüßte die Frau, und an dem Akzent erkannte Erin, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag. Das Pärchen stellte sich als Lena und Simon aus Berlin vor.

»Oh, ich hätte euch für Briten gehalten«, schwindelte Erin, was den beiden sichtlich schmeichelte. Der erste wichtige Punkt bei Geistertouren war es, das Vertrauen der Teilnehmer zu gewinnen. Sie durften nicht merken, dass alles nur Show war. »Wir warten noch auf eine Person«, fügte Erin dann hinzu. »Heute sind wir eine kleine Gruppe. Das ist gut. Es erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Sichtung.«

Was natürlich Blödsinn war. Es gab in den Vaults zwar dokumentierte Sichtungen ungewöhnlicher Erscheinungen – was sie zu einem derart beliebten Touristenziel machten –, allerdings glaubte Erin nicht daran, dass diese Dokumentationen irgendetwas bewiesen, außer dass geschäftstüchtige Touristenguides die richtigen Leute bezahlt hatten. Wäre die Wissenschaft nicht völlig außer sich, wenn es dort eine echte Geistersichtung gegeben hätte?

»Hast du schon einmal einen Geist gesehen?«, fragte Lena und sah Erin aus großen rehbraunen Augen an. Die Angst stand ihr schon jetzt ins Gesicht geschrieben. Simon strich ihr beruhigend mit dem Daumen über die Hand.

»Mehrmals«, erwiderte Erin ernst.

Simon zog skeptisch die Augenbraue nach oben, während Lena sich enger an ihn drückte. Ein schlaksiger junger Mann kam auf sie zugelaufen. Erin schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Seine blonden Haare waren vom Regen durchnässt, er trug weder Kapuze noch Schirm, dafür aber ein breites Grinsen im Gesicht.

»Hello«, rief er schon von Weitem und sah erwartungsvoll in die Runde. »Karens Ghost und Witchery Tours?«

Seine Aussprache war so deutsch, dass Erin Mühe hatte, ihn zu verstehen. Trotzdem nickte sie und lächelte.

»Genau. Du musst Daniel sein?« Er runzelte die Stirn und nickte dann zögerlich.

»Herzlich willkommen. Dann sind wir jetzt vollzählig. Ich freue mich sehr, dass wir heute gemeinsam die berühmten Vaults von Edinburgh besichtigen. Ihr hättet euch kein besseres Wetter aussuchen können. Wenn es nass und kalt ist, ist der Vorhang zwischen den Welten dünner, und die Geister sind sichtbarer.« Sie machte eine kurze Kunstpause. »Es ist fast, als würde die Kälte sie an ihre Gräber erinnern.«

Wie beabsichtigt weiteten sich Lenas Augen, und sie sah ihren Freund an. Er strich ihr über den Rücken und zog die Mundwinkel nach oben.

»Was?«, fragte Daniel und fuhr sich verlegen durch die Haare. Dann sagte er einen kurzen Satz auf Deutsch, worauf Lena leise lachte.

»Er versteht kein Englisch«, erklärte sie Erin. Daniel fügte noch etwas hinzu, woraufhin Lena noch einmal lachte. »Er dachte, die Tour sei auf Deutsch.«

Verdammt, schoss es Erin durch den Kopf. Wie soll ich ihm Gruselgeschichten erzählen, wenn er kein Wort versteht?

Als der Regen stärker wurde, spannte Erin ihren Schirm auf und hob ihn so hoch, dass auch Daniel geschützt war. Lena und Simon zogen die Kapuzen ihrer Regenjacken über ihre Köpfe.

»Wir übersetzen«, bot Simon höflich an und lächelte Daniel zu, dem es sichtlich unangenehm war, als Lena ihm das Angebot auf Deutsch mitteilte.

»Okay«, sagte Erin, während der Regen auf sie herabprasselte und ihre Gedanken bereits fieberhaft um die bevorstehende Tour kreisten. Wenn Daniel nichts verstand und Simon damit beschäftigt war, den Dolmetscher zu spielen, blieb nur Lena als unfreiwillige Testperson, und Erin schien es keine große Kunst zu sein, die zierliche Frau in Angst und Schrecken zu versetzen. Plötzlich sehnte sie sich nach einer gut besuchten und routinierten Abendtour.

5 Ein unwürdiger Auftrag

Die dunkle Seuche befiel niemals Unschuldige. Kalte Furcht kratzte mit ihren Krallen über seinen Rücken und hinterließ Spuren in seiner Seele, durch die Angst sickerte. Noah versuchte, ruhig zu bleiben. Er besaß keine stichhaltigen Beweise für die Unschuld der Toten, und die dunkle Seuche war seit Jahrhunderten unverändert geblieben.

Und doch …

Die ewig brennende Feuerkugel, die sein Vater in einer Ecke des Bades platziert hatte, sandte ein unregelmäßiges Flackern über die Keramikwanne, die direkt darunter stand. An einer der mit dunklem Holz verkleideten Wände lehnte ein golden umrahmter Spiegel, vor dem er sich nun entkleidete und jeden Zentimeter seiner Haut untersuchte.

Er atmete tief aus, als er keine schwarzen Flecken fand. Seine Gedanken wanderten zurück zu der Frau, die vor nur weniger als einer Stunde vor seinen Augen an der dunklen Seuche gestorben war. Etwas war seltsam gewesen. Anders. Ihr Blick hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Ahnungslosigkeit. Panik. Ihr Wimmern dröhnte in seinen Ohren.

Er hatte schon oft Verdächtige befragt und war ein Meister darin, Lügen zu erkennen. Diese Frau schien die Wahrheit gesagt zu haben, als sie ihre Unschuld beteuerte. Doch war das möglich?

Noah massierte sich die Schläfen. Dann legte er Ringfinger und Daumen aneinander, machte sich aber nicht einmal die Mühe, die anderen Finger ordentlich durchzustrecken, und zapfte mit einer schnellen Drehung des Handgelenks die warme Energie des Vortex an. Die Magie antwortete ihm mit der unbändigen Freude eines Hundes, der seinen Besitzer begrüßt, und kurz darauf schoss ein Wasserstrahl aus dem goldenen Hahn der Badewanne. Eine weitere Handdrehung, und leichter Dampf stieg auf. Das Rauschen des Wassers lockte Noah; er stieg in die Wanne, als sie noch nicht einmal zur Hälfte gefüllt war.

Die Furcht saß ihm noch immer im Nacken, ein Kribbeln, das die Wirbelsäule entlangkroch, aber er zwang sich zur Ruhe. Verlangsamte seinen Atem. Schloss die Augen. Rief sich ins Bewusstsein, dass im Spiegel keine Anzeichen der dunklen Seuche zu sehen gewesen waren.

Ich bin sicher.

Erst als ein warmer Wasserschwall über sein rechtes Ohr lief, öffnete Noah die Augen und beobachtete seine rechte Hand, die mit routinierten Bewegungen das Wasser gegen die Gesetze der Physik in die Luft hob und über seinem Körper verteilte. Mehrere Wasserwirbel entstanden, die sich um ihn legten wie schützende Arme. Als er innehielt, versiegten die Ströme und klatschten laut zurück auf die Oberfläche, einige Tropfen landeten in seinen Wimpern.

Noah drehte den Wasserhahn ohne Magie ab und sank tiefer in das Wasser, den Blick auf die Feuerkugel über sich gerichtet. Ein pulsierender Lichtball, der aussah wie die Sonne und sich langsam drehte.

Als er von seinem Vater das erste Mal wissen wollte, wieso das Feuer niemals erlosch, lautete die Antwort: »Dafür bist du zu jung.«

»Dafür bist du zu unvorsichtig«, hieß es einige Jahre später.

»Ewig währende Elementarmagie wirst du niemals beherrschen«, war die letzte Abfuhr vor wenigen Monaten.

Noah setzte sich auf und betrachtete seine Hand. Er beherrschte das Wasser, fand den Zugang zum Vortex sogar mit schlampiger Fingerhaltung. Die Magie gehorchte ihm, war mittlerweile ein Teil von ihm. Er brauchte nicht einmal den Vortex. Noah fühlte tief in sich hinein. Obwohl er keinen Finger rührte, stiegen langsam einzelne Wassertropfen in die Luft und vereinten sich zu einem glänzenden Ball, einem nassen Abbild der Feuerkugel über ihm.

Regungslos saß Noah da, während die schillernde Blase immer größer wurde und er sich selbst bewies, dass er ein Meister seines Elements war. Schließlich wich die angenehme Wärme in ihm eisiger Kälte, und das Wassergebilde brach in sich zusammen.

Eine Weile starrte er auf die Wasseroberfläche, spürte der Kälte in seinem Herzen nach, dann hob er die rechte Hand. Dieses Mal legte er Daumen und Ringfinger sauber aneinander, streckte die anderen Finger kerzengerade durch. Die Magie floss aus dem Vortex direkt in ihn, sammelte sich in seiner Brust, setzte sich fest. Er sog etwas mehr Magie als bei seinem letzten Training, dann ließ er die Hand sinken und spürte zufrieden der neuen Hitze in seinem Inneren nach. Sie pulsierte, als würden zwei Herzen in seiner Brust schlagen.

Als Noah vor einem Jahr in einem alten Lehrbuch über diese Praktik gestolpert war, hatten Neugier und Aufregung ihn dazu gebracht, heimlich zu üben. Er wusste um die unzähligen Hexen, die einst in jungen Jahren zu weit gingen, zu viel Magie in sich speicherten und starben. Wenn er es übertrieb, würde die Kraft ihn zerreißen, aus seinem Herzen nach außen drängen und ihn platzen lassen wie eine überreife Frucht. Diese Art der Magie war nicht verboten, sie war schlicht und ergreifend in Vergessenheit geraten, und Noah sah sich nicht in der Pflicht, sie den restlichen Hexen in Erinnerung zu rufen. Zu viel Wissen war für die anderen gefährlich. Sie wussten nicht, wie sie damit umgehen mussten. Er hingegen entstammte einer mächtigen Familie und übte gewissenhaft.

Der Magiespeicher lag direkt neben dem Herzen, und es hatte drei Monate gedauert, bis er ihn überhaupt zum ersten Mal spürte. Nach weiteren zwei Monaten hatte er gelernt, die Magie nicht wie gewohnt aus dem Vortex direkt durch die Fingerspitzen in die Realität zu leiten, sondern sie einen Umweg über sein Herz und den Magiespeicher nehmen zu lassen. Nach dem ersten geglückten Versuch fühlte sich sein Brustkorb eine Woche lang an, als würde dort ein Drache wüten. Danach machte er rasant Fortschritte, und mittlerweile war es für ihn ein Leichtes, genügend Magie zu speichern, um einen einfachen Zauber ohne Zugang zum Vortex auszuüben. Zugegeben, es gab nicht viele Situationen, in denen er nicht auf ihn zugreifen konnte, aber darum ging es Noah nicht. Er war bereits abhängig von den Launen seines Vaters und der Politik des Rates, und jeder Zauber, den er ohne Vortex übte, fühlte sich nach ungewohnter Freiheit an.

Er wollte die Übung gerade wiederholen, als jemand von außen energisch an die Tür klopfte.

»Noah?« Es war die Stimme seiner Mutter. »Irgendwelche Erdhexen haben sich einen Spaß erlaubt und den Fluss komplett zugewuchert. Dein Vater will, dass du dich darum kümmerst.«

Noah presste die Lippen zusammen und knirschte mit den Zähnen. Sein Vater hielt ihn ständig auf Trab, wenn nötig mit Angelegenheiten, die deutlich unterhalb der Familienwürde lagen. Wie die Reinigung eines Flussbettes.

»Wäre eine Erdhexe nicht eher geeignet, die Pflanzen verschwinden zu lassen?«, antwortete er schließlich bemüht gelassen. »Ich trainiere gerade.«

»Dein Vater hat den Auftrag ausdrücklich dir zugewiesen«, entgegnete seine Mutter ungeduldig. »Willst du ihn blamieren, indem du ihn abweist? Trockne dich ab, zieh dich an und tu, was der Rat dir aufträgt. Ich warte unten auf dich.«

In einer fließenden Bewegung stieg Noah aus der Wanne. Eine Handbewegung später war er komplett trocken, die kleinen Tropfen flogen in das Badewasser. Mit einer weiteren Drehung des Handgelenks entstand ein kleiner Strudel, der den Stöpsel zog. Dann verschwand das Wasser gemeinsam mit Noahs Freiheit im Abfluss. Er schlüpfte in frische Kleidung, eilte den Gang entlang und die Stufen nach unten, der dicke Teppich dämpfte seine energischen Schritte.

Am Fuß der Treppe stand seine Mutter mit verschränkten Armen und sah ihn eindringlich an. Ihre rot gefärbten Haare waren kunstvoll toupiert und mit blumenförmigen Goldnadeln festgesteckt.

Noah ahnte, worauf sie wartete.

»Sie hat es nicht erzählt«, sagte er, drückte sich an ihr vorbei zur Garderobe und griff nach seinem Mantel. »Der Tod war schneller als ihre Vernunft.«

»Du weißt also nicht, worin sie verwickelt war.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Seine Mutter folgte ihm in den Flur. Dabei wehte ihr ihr Rosenparfum voraus wie ein Schwarm Mücken. »Vielleicht ist sie eine Mörderin. Oder irgendwo leidet ein Radan, den sie entführt hat. Vielleicht sogar ein Kind, das Hilfe braucht. Außerdem war sie die Frau von Sir Drummond. Was, wenn er ihre Macht nutzte, um befördert zu werden? Wenn sie sich für ihn opferte?«

Noah rollte mit den Augen. Seine Mutter war schon immer gut darin, dramatische Geschichten zu spinnen. Seit er sich erinnern konnte, war das ihr einziger Lebensinhalt. Dramatische Geschichten über Verbrecher, reiche Hexen, selbst über Freunde. Wenn in der Unterwelt etwas geschah, wusste Isobel schneller darüber Bescheid als irgendjemand sonst. Und nur zu gerne erzählte sie ihre aufgebauschten Versionen bei den unzähligen Abendessen, Cocktailpartys und Beschwörungen, zu denen sie als Frau eines Ratsmitglieds eingeladen wurde.

»Vielleicht gehörte sie den Caradain an und hat einen Konkurrenten aus dem Weg geräumt, und wir haben das nur nicht bemer…«

»Genug jetzt«, unterbrach er sie unwirsch. »Ich möchte nicht über die Caradain reden. Ihre wachsende Macht ist ein Gerücht, nicht mehr. Nur Narren glauben an so etwas. Es reicht, dass ich jeden Seuchenfall dazu befragen muss, nur weil der unvernünftige Teil des Rates mittlerweile nervös geworden ist.«

Er legte sich die Lederjacke über den Arm und griff nach einem Glas und einer Karaffe, die beide auf einem goldenen Servierwagen standen, dessen Metall bereits leicht angelaufen war. Als er den Blick hob, sah er in sein eigenes glückseliges Gesicht. Damals, als er sechs Jahre alt gewesen war und an eine große Zukunft geglaubt hatte, hatte ihn ein Maler in einem großen Ölgemälde festgehalten, das seither hier hing. Hinter ihm stand seine Mutter, eine Hand auf seine Schulter gelegt. Daneben sein Vater, das Kinn stolz in die Höhe gereckt, die Hände am Kragen seines Mantels. In den Farbklecksen, die seine dunkelblauen Augen darstellten, lag keine Liebe, was allerdings nicht die Schuld des Malers war. Er hatte Richard Stewart perfekt eingefangen.

Noah goss sich Wasser ein und drehte sich zu seiner Mutter um, die direkt hinter ihm stand. Sie war inzwischen zwanzig Jahre älter, die Zeit und Sorgen hatten sich tief in ihr Gesicht gegraben.

»So redest du nicht mit mir.« Sie kniff die ohnehin kleinen Augen zusammen und hob einen Finger. »Und vor allem nennst du die Mitglieder des Rates nicht Narren. Die Caradain bereiten dem Rat schon seit Generationen Kopfzerbrechen. Sie wollen unsere Geheimhaltung zerstören. Tun es sogar regelmäßig und bringen uns alle in Gefahr. Wenn dein Vater hört, wie herablassend du …«

Noah schaltete auf Durchzug, während sie ihre Schimpftirade fortsetzte.

»Jede Information, die Schattenleser aus den Befragten ziehen, ist von äußerster Wichtigkeit. Er wird enttäuscht sein.«

Die letzten Worte holten ihn in den Flur seiner Eltern zurück. Nicht einmal seine Mutter wusste, dass die ach so mächtige Magie der Schattenleser gelogen war.

»Ich habe alles versucht«, antwortete er. Kurz zog er in Erwägung, seiner Mutter von dem glaubwürdigen Flehen der Frau zu erzählen, aber sie würde ihn lediglich für verrückt erklären. Er griff nach der Türklinke. »Ich bin nicht in Stimmung für diese Diskussion und muss einen Fluss reinigen. Glaub mir, ich habe sie ausführlich befragt. Ob es einen ungelösten Fall mehr oder weniger gibt, ist für den Rat sowieso nicht von Belang. Er schlägt sich gerade mit ganz anderen Dingen herum. Die Caradain stehen sehr weit unten auf seiner Sorgenliste.«

Er zog die Tür hinter sich ins Schloss.

6 Die Finsternis der Vaults

In dem alten Gebäude direkt unterhalb der South Bridge roch es nach feuchten Steinen, und wie jedes Mal jagte Erin der Geruch aufs Neue einen wohligen Schauer über den Rücken. Gemeinsam mit den drei Touristen zwängte sie sich in einen kleinen Raum, auf dessen hölzernen Fensterbänken zentimeterdicker Staub lag. Die dreckverschmierten Scheiben ließen nur wenig von dem grauen Tageslicht durch, und die Holzdielen knarzten. Karen wollte es so.

Sie standen in einem ehemaligen Studentenzimmer, zumindest erzählte Erin das ihren Zuhörern, während Lena nahezu simultan übersetzte.

»Ganz egal, was der junge Pete tat – der Gestank ging nicht weg.« Auf Deutsch hörte sich ihre Geschichte noch grausamer an, fand Erin und sprach mit düsterer Stimme weiter: »Eines Tages kam ein Wasserinstallateur auf die rettende Idee: Er brach die Wand auf, um zu sehen, ob es dort irgendwo schimmelte. Schon beim ersten Schlag mit dem Vorschlaghammer wehte ihm und Pete Verwesungsgestank entgegen.« Erin rümpfte die Nase, als wäre der Geruch durch ihre Worte zurückgekehrt. »Herbeigerufene Bauarbeiter öffneten die Wand und fanden die Vaults.« Sie deutete auf einen roten Vorhang, der an einer goldenen Stange mit Ringen hing und hinter dem sich ein Loch verbarg. »Unterirdische Räume voller Leichen. Abgemagert, abgestochen, aufgerissen. Verrottet. Tausende Menschen lebend eingemauert. Kein Wunder, dass es hier in diesem Zimmer bestialisch stank. Woher die Leichen kamen? Nun …« Sie sah jedem einige Sekunden in die Augen. Daniel senkte sofort den Kopf. Erins Mundwinkel zuckte nach oben. »Die Keller unter der South Bridge erzählen von einer sehr düsteren Vergangenheit. Ursprünglich wurden sie gebaut, um für die Geschäfte auf der Brücke als Lagerräume zu dienen. Leider ist die Brücke nicht wasserdicht. Die Vorräte wurden nass und die Kammern als Lager für die Händler unbrauchbar. Schnell sprach sich herum, dass es hier unten freie Zimmer fern von den Blicken der Obrigkeit gab, und die Vaults wandelten sich zu einem Rotlichtviertel.« Erin machte eine kurze Kunstpause. »Den Rest erzähle ich euch, wenn wir in den Katakomben sind. Bleibt bitte eng beisammen, und fasst nichts an.« Sie griff nach dem roten Stoff, der von vielen Berührungen abgenutzt war. »Jeder Hautkontakt mit Blutflecken an den Wänden könnte ungebetene Gäste einladen.«

Lena drückte sich enger an ihren Freund, während Erin mit einer dramatischen Geste den Vorhang zur Seite zog. Die Ringe rasselten und klangen dabei wie klackernde Knochen.

Vor ihnen lag der schmale Eingang in die unterirdische Anlage. Neonleuchten warfen ein schwaches graugelbes Licht auf die Steine, das die Dunkelheit kaum vertreiben konnte. Mehrere pechschwarze Öffnungen zweigten zur Seite ab, und am Ende des Ganges führten ein paar Stufen nach unten. Dort flackerten auf der rechten Seite Kerzen, die Erin aufgestellt hatte, bevor sie zum Treffpunkt gegangen war. Sie verströmten zuverlässig ihr tanzendes Licht.

Vorsichtig traten Erin und ihre Gruppe ein. Andächtige Stille legte sich über sie, fast wie auf einem Friedhof, und als der Vorhang zurück an seinen Platz fiel und Erin in die Gesichter vor sich blickte, sah sie, dass nicht nur sie sich fühlte, als hätte sie eine andere Welt betreten.

Wann immer sie hierherkam – in den Vaults spielte die Tageszeit keine Rolle, die Realität blieb hinter dem roten Stoff zurück, als fürchtete sie sich vor den Gräueltaten, die hier einst verübt wurden. Erins Nackenhaare stellten sich auf. Sie liebte dieses Gefühl.

»Mit der Zeit avancierten die Vaults zum Herzstück der Unterwelt Edinburghs. Im wahrsten Sinne des Wortes. Immer mehr Gauner kamen. Doch bevor wir gleich weitergehen, ist es mir wichtig, ein Codewort festzulegen.«

»Ein Codewort?«, fragte Lena, während nun Simon für Daniel übersetzte. Als er bei »Codewort« angelangt war, hörte Erin Daniel lachend etwas von »50 Shades of Grey« sagen.

»Genau«, sagte Erin gespielt ernst, und Daniel verstummte. »Angst ist Teil der Tour. Solltet ihr jedoch eine Panikattacke oder gar eine andere Präsenz spüren, könnt ihr mit dem Codewort jederzeit die Tour abbrechen.«

»Tomate«, schlug Lena vor, und Simon schüttelte leise glucksend den Kopf. Ein Insider, den Erin nicht verstand.

»Tomate«, wiederholte sie trotzdem und nickte. »Klingt nach einem guten Codewort. Also, wenn ihr die Vaults verlassen wollt, sagt einfach Tomate. Bitte seid euch aber bewusst, dass ihr die Tour danach nicht fortsetzen könnt, und benutzt das Codewort nur im äußersten Notfall.«

Sie schob sich an den dreien vorbei und führte sie bis zu einem kleinen Altar am Anfang des Flurs. Dabei berichtete sie von einem Wicca-Zirkel, der seit Ende der 90er-Jahre die Tunnel von bösen Geistern reinigte. Sie deutete zwischen Gitterstäben hindurch in eine Kammer mit verschlungenen Kreidezeichnungen auf dem Boden. Dort brannten ebenfalls Kerzen, und verschiedene Halbedelsteine lagen scheinbar willkürlich herum.

»Der Zirkel kommt noch immer regelmäßig hierher, um seinen Zauber zu erneuern. Die Stadt lässt ihn gewähren.« Erin grinste, als wäre ein Wicca-Zirkel im Anbetracht der Geisterbedrohung absolut lächerlich. »Oh, apropos.« Sie deutete den Flur entlang zu den Treppenstufen am Ende. »Dort unten ist unser aktivster Vault-Bewohner, ein alter Soldat. Wir kennen seine Geschichte leider nicht, aber jeder zweite Besucher berichtet uns von einer Sichtung.« Sofort wanden die drei die Köpfe dem Treppenabsatz zu. Lena schrie leise auf und wich mit aufgerissenen Augen einen Schritt zurück.

»Er trägt seine alte Uniform und hat eine Messerwunde am Hals.«

Lena nickte heftig, und ihr Freund kniff die Augen zusammen. Daniel war etwas blass, zeigte sonst aber keine Regung.

»Keine Sorge. Er ist ein freundlicher Geist und bewegt sich nie. Anders als das Wesen im nächsten Raum«, sagte Erin und führte die drei in eine kleine Kammer, in der lediglich über der Tür eine fleckige Neonröhre hing. Zufrieden registrierte sie, dass sich Lena an die Hand ihres Freundes klammerte, als bestünde Gefahr, auf offenem Meer auseinandergetrieben zu werden.

»Teilweise hausten bis zu 20 Menschen in einem dieser Räume«, erklärte sie, als Daniel sich mit gerümpfter Nase umsah. »Viele, die hier lebten und arbeiteten, starben an Krankheiten, hervorgerufen durch die miserablen Hygienezustände. Aber die Vaults waren auch dafür bekannt, gesetzlos zu sein. Drogen, Vergewaltigungen, Morde. Leichen lagen oft wochenlang in den Ecken und verrotteten dort.«

Die Blicke der drei Deutschen wanderten in die hinteren Ecken, in die kaum Licht fiel. »Bei den vielen Morden ist es wenig verwunderlich, dass die Geister der Opfer die Welt nicht verließen«, fuhr Erin fort und erzählte dann die Geschichte einer Prostituierten, die von einem Verehrer umgebracht worden war, nachdem er ihren Beruf herausgefunden hatte. »Nun lebt sie hier als Geist und hasst vor allem untreue Männer.«

Keiner von ihnen sah den Geist der Frau, und Lena entspannte sich etwas. Erin schmückte die Geschichte noch mit Erlebnissen von früheren Touren aus, bei denen untreue Männer plötzlich stechende Schmerzen verspürt hatten und in Tränen ausgebrochen waren. Dann winkte sie die Gruppe weiter. Vergnügt stellte sie fest, dass Simon erstmals etwas ängstlich wirkte und sich immer wieder unbehaglich umsah. Sie beschloss, noch eins draufzusetzen.