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Die Hex vom Dasenstein ist ein Fantasy-Roman mit historischem Hintergrund und wurde 1975 von der Autorin Gudrun Leyendecker erstmalig geschrieben. Erste Fassungen erschienen 1999 und 2007 Die Neufassung erzählt eine Liebesgeschichte aus dem idyllischen Städtchen Kappelrodeck am Rande des Schwarzwaldes. Zu Anfang des 13. Jahrhunderts verliebt sich das Burgfräulein Gertrudis in den reichen Bauernsohn Hannes, aber die Standesunterschiede erlauben ihnen keine gemeinsame Zukunft. Allein in einer Höhle lebend sucht Gertrudis ihren eigenen Weg. Es ist die Geschichte einer Frau, die durch die Umstände gezwungen wird, anders zu leben als die Frauen ihrer Zeit und gleichzeitig eine Liebeserklärung an den durch edlen Wein bekannten Ort Kappelrodeck und das Achertal.
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Seitenzahl: 244
Dieses Lied wird in Kappelrodeck gesungen:
Hex vom Dasenstein
woher der Name kommt
Auf Rodeck litt vor langer Zeit
Ein Burgfräulein viel Herzeleid
Es liebte einen Bauernknab
Drum jagt der Ritter sie hinab.
Die Arme haust im Dasenstein
Und pflanzte rings umher sich Wein.
Doch als sie hässlich war und alt
Man eine Hexe sie gar schalt.
Drum übte sie manch tollen Streich
Beim Dasenstein im Rebbereich
Und hauste in dem Felsenloch
Nach vielen Jahren immer noch.
Der Wein von dort nach ihr genannt
Ist heut bekannt im ganzen Land
Es ist die Hex vom Dasenstein
Ein köstlicher Burgunderwein.
Er hat ne Hexe, sagt man wohl
Trinkt einer mehr noch als er soll
So herrscht die Hex vom Dasenstein
Auch heute noch im Kappler Wein.
Winzergenossenschaft E. G.
Kappelrodeck E. V.
(mit freundlicher Genehmigung der
Winzergenossenschaft Kappelrodeck 1985)
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Zögernd legte der Kaplan die Feder aus der Hand. Er hätte gern noch ein paar Gedanken auf das Pergament geschrieben, aber die Pflicht rief ihn. Mit prüfendem Blick überflog er noch einmal kurz die in lateinischer Sprache geschriebenen Sätze.
Oben, am Briefkopf prangten als Datum die großen lateinischen Buchstaben MCC, die Abkürzung für Mille Centum Centum. Diese Datums-Anzeige stand für das Jahr Zwölfhundert nach Christi Geburt.
Den großen Anfangsbuchstaben des Textes zierten Blüten, Knospen und Blättchen, zierlich in schwarzer Tusche gezeichnet und deuteten auf den Beginn des Frühlings.
Die Gedanken des Kaplans wanderten hinaus in die Natur. Mit besorgter Miene dachte an er das Flüsschen Acher, das sich wie oft um diese Jahreszeit mit großen Wassermengen durch das frischgrüne Wiesental schob. Oben, auf den Höhen des Schwarzwaldes schmolz der Schnee, sammelte sich in Bächen und kleinen Wasserfällen, die herabschossen, um sich dem Treiben des Flüsschens anzuschließen.
Manche Wiese lag unter Wasser, mancher Baum und Busch reckte wie Hilfe suchend die Äste aus dem Wasser. Auch vor den kleinen Hütten der Tagelöhner machten Wassermassen keinen Halt. Der Sorge um diese armen Leute galten auch die letzten geschriebenen Worte des Kaplans.
Mit einem Seufzer legte er das Pergament auf den kleinen Holztisch und beschwerte es mit einem glitzernden Stein, den er im vergangenen Sommer oben beim Hochmoor gefunden hatte.
Er griff nach seinem warmen Umhang, legte ihn um die Schultern und betrat für ein kurzes Gebet die kleine Kapelle, die er in Gedanken stets zärtlich „seine Kapelle“ nannte.
Nicht etwa, dass er sie als Eigentum betrachtete. Nein, er fühlte sich mit ihr und seiner kleinen Gemeinde so eng verwachsen, sah sich für alles und jeden verantwortlich und legte seine ganze Kraft, seinen jugendlichen Schwung und Begeisterung in seine segensreiche Arbeit. Mit ganzem Herzen versuchte er die Natur zu pflegen und zu hegen, und mit aller Liebe, die er besaß, kümmerte und sorgte er sich um die ihm anvertrauten Menschen.
Der Kaplan trat aus der kühlen, dämmrigen Kapelle ins warme Licht.
Tief atmete er die von Blütendüften durchzogene Frühlingsluft ein.
Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, als er seinen täglichen Gang zur Burg, zum „Stein von Rodeck“ antrat.
Während er mit kräftigen Schritten den kleinen Berg hinaufstieg, eilten seine Gedanken voraus zu den Bewohnern der Burg. Sein Herz gehörte den beiden Kindern, die er dort unterrichtete.
Da waren der dreizehnjährige Rolf, der seinem Vater besonders ähnlich sah und die zarte, dunkelhaarige Gertrudis, deren äußerer Erscheinung man die zwölf Lebensjahre noch nicht recht abnehmen wollte.
Der Burgherr Dietrich von Roder war ein entfernter Verwandter des Kaplans und hatte ihn seinerzeit beauftragt, die beiden mutterlosen Kinder zu unterrichten. Mit Lesen und Schreiben hatten sie begonnen, inzwischen lehrte er die beiden den Umgang mit der schwierigen lateinischen Sprache.
„Klug sind die beiden“, sprach er vor sich hin, „und geschickt!“ Er schmunzelte.
Wie hatte ihm die alte Base Brigitte neulich erzählt? „Unsere kleine Gertrudis stellt sich gar fleißig an beim Sticken und Spinnen und Nähen. Sie ist doch ein echtes Burgfräulein! Und ein besonderes Händchen hat sie für die Pflanzen im Burggärtlein. Ja, unser Rolf zeigt sich auch schon sehr geschickt, da hat man die helle Freude an den Kindern. Da mag unser Herr Dietrich meckern, weil er nicht die Mittel hat, unsern Rolf in eine externe Klosterschule zu schicken, aber das Reiten und Jagen und aller Sport bei den ritterlichen Spielen kann er seinen Sohn doch am besten lehren.
Gut schaut er schon aus, unser Rolf, wenn er so stolz auf dem Pferd sitzt und mit wehenden Haaren hinter seinem Vater her reitet.
Aber, lieber Kaplan, um unsere Gertrudis müsst Ihr Euch einmal kümmern!“ Dabei machte sie ein sorgenvolles Gesicht. „Das junge Fräulein ist nicht wie sonst. Schaut sie Euch einmal genau an! Nehmt sie Euch einmal mit Strenge vor. Sie träumt mir gar zu viel. Beim Sticken fehlt ihr seit kurzem die Ausdauer. Oft ist sie nicht bei der Sache, sie muss manches wieder auftrennen, was sie fehlerhaft näht. Alle Arbeiten, für die man Geduld braucht, scheinen ihr keine Freude mehr zu machen. Wenn ich nur wüsste, was mit ihr los ist?! Ich bitte Euch, redet ein ernstes Wort mit ihr!“
Er hatte lange über ihre Worte nachgedacht. Hatte sich das kleine Fräulein verändert?
„Irgendwie schon“, musste er zugeben. Früher war Gertrudis im Unterricht sehr eifrig gewesen, hatte sich stets bemüht, den Bruder zu übertreffen. Seit ein paar Monaten saß sie oft still über ihr Pergament gebeugt. Manchmal hatte es ausgesehen, als schliefe sie.
Aber er hatte es auf Müdigkeit geschoben oder gedacht, der Winter schaffte eben solche Erscheinungen bei manchen Menschen.
Doch jetzt, wo der Frühling hervorbrach und selbst den sonst etwas gelangweilten Rolf in einen wachen, aber zappeligen Junker verwandelte, fiel das stille und meist träumende Mädchen noch mehr auf.
Was fehlte ihr nur?
Das Mädchen war sehr zutraulich zu ihm. Sollte er sie einmal fragen?
Gewiss, ohne Mutterliebe aufzuwachsen war nicht das Beste, aber die etwas einfältige Base Brigitte passte schon auf, dass die Kinder lernten, den Tag nutzbringend zu leben.
„Arbeiten und beten“, hießen ihre häufigsten Worte.
Und streng war sie, die gute Brigitte! Sie duldete bei der Arbeit nur die ganz fehlerfreien Sachen.
Vater Dietrich übertraf diese Strenge noch bei Weitem. „Die strenge Hand der Mutter fehlt“, meinte Dietrich von Roder häufig. Da muss ich die Zügel bei den Kindern noch straffer fassen.“
Über den saftig grünen Wiesen lag trutzig die kleine Burg, nur noch ein paar Wegkehren trennten den Kaplan vom Burgtor.
Drinnen in der Burghalle saßen zur selben Zeit der Burgherr Dietrich von Roder und sein Vetter Dietrich, der ihn seit einigen Wochen häufig besuchte.
Friedrich leerte seinen halbvollen Becher Wein mit einem Zug, entschlossen blickte er seinen Vetter an.
„Du solltest deine Tochter bald verheiraten!“ schlug er ihm vor.
„Gertrudis? Warum?“ Der Gastgeber zog erstaunt die Brauen hoch. „Alt genug ist sie schon mit ihren zwölf Jahren. Viele junge Frauen werden in diesem Alter verheiratet. Aber sie wirkt noch sehr kindlich. Bisher habe ich daran noch nicht gedacht.“
„Natürlich meine ich Gertrudis. Wen sonst?! Meines Wissens hast du nur diese eine Tochter.“ Er lachte schallend. „Sie ist nicht nur längst alt genug und hübsch......Nein, unterbrich mich jetzt nicht! Sie ist auch schon Frau genug. Dietrich, ich weiß genau, alter Junge, du sähest deine Tochter am liebsten in einem Kloster. Dann könntet ihr Männer hier ungestört schalten und walten. Dein Sohn Rolf hätte die Burg hier für sich allein.
Mein lieber Vetter, ich bin viel in der Welt herumgekommen. Ich kenne auch die Frauen. Deine Tochter, - lass es mich einmal ganz offen sagen -, ist nicht für das Leben im Kloster geschaffen.“ Er sah seinen Vetter voller Ernst an. „Ich gebe dir einen guten Rat: Verheirate sie schnell!“
„Und wie kommst du darauf?“ Dietrich sieht ihn ungläubig an.
„Ich weiß, wovon ich spreche. Als ich Gertrudis vor einiger Zeit sah, war sie noch ein liebes, munteres, kleines Dingelchen. Gestern, als ich sie begrüßte, habe ich sie zuerst gar nicht wieder erkannt. Sie hat jetzt so ein Glitzern in den Augen, - wie aus gesprühten Sonnenfunken. Es ist ein so geheimnisvolles Funkeln, - und will mir gar nicht gefallen. Ein ähnliches, abenteuerliches Funkeln sah ich bisher nur einmal in meinem Leben.
Das war damals in Bologna. Da begegnete mir eine junge Frau, die einem mir bekannten Ritter in den Kreuzzug folgte. Sie kehrte nie zurück.
Auch sie hatte so einen wilden Ausdruck in den Augen wie deine Tochter. Nimm mir meine Worte nicht übel, Vetter. Deine Gertrudis kommt mir vor wie ein ungebändigter Hund. Schaff ihr einen Mann herbei, der sie zähmt!“
Dietrich schüttelt Kopf, er füllte die Becher erneut mit Wein.
„Wenn sie so wild ist, wie du sagst, werde ich es mir nie verzeihen, sie nicht ins Kloster gesteckt zu haben. Ich hätte die Mittel irgendwie auftreiben müssen!“ machte er sich zum Vorwurf.
„Lieber Vetter, du verstehst mich falsch. Das Beten allein wird der Gertrudis nicht genügen. Ich glaube aber, dass sie einem zünftigen Ritter eine gute Frau sein kann. Auch als Burgherrin kann ich sie mir gut vorstellen. Sie ist geschickt, sie ist fleißig. Sie kann die Gäste gut bewirten. Jeder Ritter wird sich glücklich schätzen, sie zur Frau zu haben. Es ist nichts Böses an ihr. Sie ist halt reif für die Ehe. Und wenn du es selbst nicht siehst..., einer muss es dir ja einmal sagen.“
Dietrich nahm einen großen Schluck. „Es ist sicher nur, weil ihr die Mutter fehlt. Die Base ist nicht streng genug.“
„Aber da muss ich dir energisch widersprechen, Dietrich.“ Friedrichs Stimme klang erregt. Ich glaube, es ist die Strenge, die ihr nicht gut tut. Die Base ist nicht die richtige Frau. Hättest du Gertrudis nicht zu der Schauenburgerin oder irgendeiner anderen edlen Dame geben können? Deine Brigitte ist auch gar so ernst. Und sie hat keinen Sinn für die schönen Dinge und schönen Künste. Nie fand sie einmal Freude an Gesang oder Tanz. Sie schimpfte darüber, als sei das etwas zur Gotteslästerung. Und selber tat sie es schon gar nicht!“
Dietrich von Roder seufzte. „Die Zeiten sind hart, Friedrich. Auch auf den Burgen müssen die Hausfrauen arbeiten können. Sie müssen wirtschaften können und die Kleider anfertigen. Das ist die Zeit. Wir leben hier nicht an einem großen feinen Hof, wo es viele Helfer gibt. Hier in den kleinen Burgen wird oft hart gearbeitet. Da geht es oft nicht viel anders zu als bei den Bauern im Tal und in den umliegenden Gehöften.“
Er hob den Becher. „Schau! Diese paar Zinnbecher, unsere Ausrüstung für den Kampf und ein paar Seidenstoffe, die wir von den fahrenden Kaufleuten erwerben, sind das Einzige, was uns in unseren Behausungen von denen der Bauersleute unterscheidet. Ansonsten geht es bei uns zu wie bei den Bauern. Und wir arbeiten ebenso hart wie sie.“ „Da du gerade von Seide sprichst“, versuchte es Friedrich erneut, „ich möchte deine Tochter nicht an dich verraten. Aber es ist mir noch etwas aufgefallen. Du musst es wissen, damit du mich endlich verstehst.“
„Dann erzähle es! Du kannst ja doch deinen Mund nicht halten, und findest sonst keine Ruhe, stimmt es?“
Unbeirrt begann Friedrich zu berichten: „Gerade heute morgen sah ich deiner Base Brigitte zu, wie sie von einem Kaufmann, der dein Haus besuchte, einige Stoffe erstand.
Dein schönes Töchterlein schlich sich hinzu, ohne dass es die schwerhörige Brigitte bemerkte. Mit brennenden Augen sah sie auf die schönen, bunten Seiden. Der Kaufmann blieb von den dunklen Augen deiner Tochter nicht unbeeindruckt. Er schenkte deiner Tochter nicht nur einen schönen Stoff, nein, er wagte es sogar, frech zu sein.
Er sagte ein paar kecke Worte über die Augen deiner Tochter. Und die kann ich dir nur verraten, weil der Kaufmann schon weit fort ist. Wäre er noch in der Nähe, würdest du ihn sicherlich ins Burgverlies werfen.“
Das Gesicht des Herrn von Roder färbte sich rot vor Zorn. „Wo ist der Kerl? Was wagte er zu sagen? Ich werde ihn schon fangen“, rief er drohend aus.
Friedrich lächelte. „Das wirst du nicht. Denn er ist es ja nur halb schuld. Dein Töchterlein trifft, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, ebenso die Schuld. Sie hat ihn aber auch gar zu lieblich angeschaut. Da reichte er ihr die Seide und sagte: „ Ich lege Euch den Stoff zu Füßen, edles Fräulein. Der ist für Eure wunderschönen Augen. Auch in fernen Ländern werde ich mich immerfort an sie erinnern. Und des Nachts im Traum.....“
„Schweig! Ich will es nicht weiter wissen. Ich werde ihn verfolgen, ich werde ihn fangen. Ich werde ihn...“
„Ach was!“ unterbrach ihn Friedrich. „Nimm es dir nicht zu Herzen. Vergiss es. Verheirate Gertrudis und alles ist gut.“
Doch Dietrich ließ sich nicht besänftigen. „Ich mag es nicht, wenn man überall schlecht von meiner Tochter spricht. Noch weniger mag ich es, wenn dabei auch mein Name erwähnt wird. Bis jetzt ist unser Name ehrbar, niemand hat ihm Schande gemacht. Du wirst dich erinnern, Friedrich, schon als kleiner Knabe hatten Ruhm und Ehre bei mir den höchsten Wert. Ein unbescholtener Name ist mir das Höchste.
Ich kann das einfach nicht verstehen. Wie kann sich Gertrudis so benehmen?!
Schließlich haben ich es den beiden Kindern schon von der Wiege an gepredigt: Seid stolz, denn nur dann könnt ihr mit Stolz euren Namen tragen.
Der Rolf hat das schon begriffen, mit stolzer Haltung sitzt er auf seinem Pferd. Kühnheit und Stolz blitzen aus seinen Augen, wenn er kämpft.
Aber für dieses Kind, diese Gertrudis werde ich mir eine Strafe ausdenken müssen. Wahrscheinlich muss ich sie für eine Weile einsperren. Ich werde...“
„Still!“ mahnte Friedrich. „Der Geistliche kommt. Ich höre schon seine Stimme.“
Im selben Augenblick wurde der Kaplan von Brigitte hereingeführt.
Dem Herrn von Roder lag noch ein zorniges Wort auf der Zunge, aber sein Vetter Friedrich kam ihm zuvor.
Er begrüßte den Geistlichen wortreich, verwickelte ihn zuerst in ein kurzes Gespräch über das Wetter. Geschickt bezog er auch den Burgherrn mit ein, den er so von dem heiklen Thema abbrachte. Dietrich von Roder beruhigte sich allmählich.
Wieder wandte sich Friedrich an den Kaplan: „Jetzt, wo es Frühling wird, geht es bestimmt auch mit dem Bau der Allerheiligen - Kirche gut voran, nicht wahr? Ein schönes Plätzchen für eine Kirche. So nah bei den Wasserfällen!
Wenn ich mich recht erinnere, hattet Ihr doch einmal den Wunsch, dort begraben zu werden, stimmt es?“
Der Kaplan nickte. „Das habt Ihr noch gut in Erinnerung. Aber daraus wird wohl nichts werden. Die Zeit des Baues ist noch nicht abzusehen. Aber über mein Ableben muss ich mir früh Gedanken machen. Unsere Mutterkirche in Achern will demnächst Gespräche mit mir darüber führen. In St. Stephan sähe man es lieber, wenn meine Gebeine dort ruhten, oder aber hier bei der St. Nikolauskapelle.“
Dietrich nickte ernsthaft, aber Friedrich konnte sein Lachen nicht unterdrücken.
„Mein lieber Kaplan! Ihr seid noch etliche Jahre jünger als ich und denkt schon ans Sterben?
Nun gut, wenn ich mir Eure Einstellung so vorstelle.....Das richtige, schöne Leben gibt es doch für Euch erst da oben im Paradiesgärtlein. Da ist es schon vernünftig, wenn ihr Euch in Gedanken um ein schönes Plätzchen dort kümmert, und natürlich auch, was dann mit Euren restlichen Knöchelchen hier passiert.“ Er verschluckte sich fast vor Lachen. „Doch bei diesem guten Tropfen kann man unmöglich vom Tod reden. Genug davon, sagt mir lieber: Was gibt es Neues aus Rom?
Dort geschehen doch immer die interessantesten Dinge. Da ist mir doch zuletzt auch allerhand zu Ohren gekommen über den Innozenz, den Dritten und sein Mündel Friedrich, - meinen Namens - Vetter.“
„Was interessiert uns Rom?!“ unterbrach ihn der Herr von Roder. „ Für den Herrn Kaplan wird es Zeit für die Lateinstunden. Und, - bevor ihr geht, muss ich Euch noch etwas Wichtiges sagen. Nehmt Euch einmal besonders streng meine Tochter Gertrudis vor. Ihr Arbeitseifer hat sehr nachgelassen, da müsst Ihr etwas unternehmen.
Eigentlich sollte sie fleißig und sittsam sein, wie sie es ihrem Namen schuldig ist. Stattdessen begibt sie sich auf gefährliche Abwege.“
„Ich werde Gertrudis erklären, wie wichtig das Lernen ist“, versprach der Kaplan.
„Wie wichtig ihr Name ist“, verbesserte Dietrich.
„Ich werde mit ihr sprechen“, fuhr der Kaplan fort. „Und zu Euch, Herr Friedrich. Vielleicht kann ich Euch bei Gelegenheit Eure Fragen beantworten. Ich darf mich von Euch verabschieden?“ Er wandte sich an den Hausherrn. „Ich werde von Gertrudis berichten“, versprach er nochmals.
Nachdem der junge Geistliche noch ein paar weitere Ratschläge und Empfehlungen für eine strengere Erziehung beim Unterricht empfangen hatte, verabschiedete er sich mit Segenswünschen und begab sich in den kleinen Unterrichtsraum, in dem seine beiden Schüler schon, - unter der Aufsicht der Base Brigitte, auf ihn warteten.
Rolf eilte mit strahlendem Gesicht auf seinen Lehrer zu und teilte ihm begeistert mit, er habe am frühen Tag schon von seinem Vater einen Pfeil und einen Bogen erhalten.
„Vater hat beides selbst gemacht“, berichtete der Junge stolz. „Und nur für mich. Jetzt schenke ich Euch meinen alten Pfeil und Bogen.“ schloss er seinen Bericht und blickte den Kaplan erwartungsvoll an.
„Ich danke Euch, Rolf!“ Der Kaplan lächelte.
„Es freut mich, dass Ihr dabei an mich gedacht habt.“
Sein Blick wanderte zu Gertrudis, die ihn mit großen unschuldigen Augen ansah.
Er versuchte aus ihrem Blick zu lesen. Es lag darin eine eigenartige Mischung aus Melancholie und Sehnsucht.
Sie lächelte ihn an, wie verwandelt blitzten ihre Augen, lebenslustig, abenteuerlustig und heißblütig.
„Jetzt hat sie hungrige Augen“, überlegte er. „Es sind nicht Essen und Trinken, die ihr fehlen. Es könnte Vater - und Mutterliebe sein, die sie braucht. Oder ist es einfach Lebenshunger? Hunger nach Freude? Nach einem fröhlichen, unbeschwerten Tagesablauf?“
„Wir wollen nun mit dem Lateinunterricht beginnen. Habt Ihr fleißig gelernt, Rolf?“ wandte er sich an den Junker.
„O ja, ich habe einiges aus den Schriften behalten. Über welchen Feldherrn soll ich etwas Berichten? Vielleicht über Cäsar? Öder möchtet ihr etwas lateinische Grammatik hören? Ich habe mächtig geübt. Ich habe viele Worte gelernt, die selbst der Vater nicht kannte.“
„Das freut mich, lieber Rolf!“ lobte der Kaplan. „Mach nur weiter so, dann werdet Ihr es weit bringen im Leben. Und Ihr, Gertrudis? Was habt Ihr gelernt? Habt Ihr noch etwas von gestern behalten?“
„Von gestern nicht“, antwortete sie leise. „Aber von neulich , - alles über das Wort „amare“. Amo - ich liebe, amas - du liebst, amat - er, sie, es liebt, amamus - wir lieben......“
Der Kaplan räusperte sich. „Nun...eh...hm... das ist ja schon recht gut. Recht gut. Dann wollen wir uns erst einmal wieder den römischen Feldherren zuwenden. Wo waren wir gestern stehen geblieben, Rolf?“
„Wir hatten über Hannibal gesprochen“, antwortete der Junker prompt.
„Könnten wie nicht lieber etwas aus der Bibel lesen?“ meldete sich das Mädchen zu Wort. „Ich höre so gern die Geschichte von Lea und Rahel, oder die von Maria Magdalena.“
„Nein, das ist heute nicht unser Thema“, entgegnete der Kaplan. „Rolf, was habt Ihr noch von Hannibal behalten?“
Der Junge begann zu erzählen. Ausführlich und mit Begeisterung in der Stimme erzählte er Hannibals Lebensgeschichte.
Bald begann Gertrudis mit offenen Augen vor sich hin zu träumen. Der Kaplan sah eine Weile zu, dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten, sie anzusprechen: „Ist es Euch nicht gut?“ Er sah sie besorgt an. „Oder langweilt Ihr Euch beim Unterricht? Wenn ich mich nicht irre, hattet Ihr früher viel Freude am Unterricht, auch an der lateinischen Sprache?!“
Es dauerte einen Augenblick bis Gertrudis antwortete. „Draußen zwitschern die Vögel so schön, stattdessen muss ich hier im dunklen Zimmer lernen.“ Leiser Vorwurf lag in ihrer Stimme.
„Gewiss“, antwortete er in vertrauter Sprache. „Denn es ist wichtig zu lernen. Man muss etwas wissen, über die Welt, in der man lebt. Auch will der Kopf immer wieder gebraucht werden. Aber hier geht es auch darum, dass Ihr lernt, etwas zu tun, was Euch gerade keine Freude macht. Ihr lernt hier zu sitzen, während Ihr lieber draußen in der Frühlingssonne wärt. Man kann im Leben nicht immer das machen, was man tun möchte. Ihr seid ein Burgfräulein, und gerade die müssen im Leben oft auf das verzichten, was sie gern hätten. Die müssen nach vielen Regeln leben. Eure Mutter war eine heißblütige Frau. Als sie krank war, konnte sie es dennoch nicht lassen, auf ihrem Pferd bei kühlem Wetter auszureiten. Ihre Krankheit verschlimmerte sich, bald danach starb sie. Und Ihr seid ihre heißblütige Tochter. Für Euch ist es wichtig, Eure Wünsche unter Kontrolle zu halten. Die kleinen blauen Flammen sind besser als die großen. Die kleinen Flammen sind heiß, wenn sie erst einmal groß aufschlagen, sind sie nicht mehr zu kontrollieren, dann machen sie sich selbständig, schnell wird ein Großfeuer daraus. Und das ist schwierig zu löschen.“
Gertrudis blickte ihn treuherzig und ein wenig verständnislos an.
„Nun gut, fahren wir mit dem Unterricht fort.“ Der Kaplan seufzte. Sie verstand ihn noch nicht, das bedrückte ihn.
Er versuchte, die Stunde etwas lebhafter zu gestalten, aber die großen römischen Feldherren schienen auch weiterhin keinen Eindruck auf Gertrudis zu machen.
Deshalb rief er sie am Ende der Stunde noch einmal zu sich.
Er wartete bis Rolf den Raum verlassen hatte. Die schwerhörige Brigitte saß mit ihrem Stickzeug unter dem Fenster, sie konnte nichts verstehen, als er Gertrudis zuflüsterte:
„Gertrudis, ich möchte Euch noch etwas sagen.“
Er räusperte sich verlegen. „Vorhin habe ich ein paar Worte mitbekommen, die nicht für meine Ohren bestimmt waren. Leider stand ich gerade vor der Tür, hinter der sich Euer Vater und Euer Oheim unterhielten. Sie sprachen über Euch. Der Onkel hatte zwar gut für Euch geredet, aber Euch auch bei dem Vater verpetzt. Es ging darum, dass Ihr dem Kaufmann, der die Seide verkaufte, zu kecke Worte erlaubtet. Ja, Friedrich behauptete sogar, Ihr hättet den Kaufmann durch Euer Verhalten dazu ermutigt. Ist das wahr?“
„Was meint Ihr?“ Gertrudis überlegte angestrengt. „Ach das! Jetzt weiß ich, wen Ihr meint. Ich erinnere mich an den Kaufmann, der die Seiden brachte. Aber ich habe nichts Unrechtes getan. Glaubt mir, ich habe wirklich nichts anderes gemacht, als die Seiden betrachtet. Und dabei kann ich wirklich nicht gut die Augen schließen, oder?
Ich bitte Euch, vertraut mir! Sonst weiß ich wirklich, was sich geziemt. Und ich verspreche auch, dass ich in Zukunft immer daran denken werde: Wenn ein Mann in der Stube ist, schlage ich bescheiden die Augen nieder, ganz, wie es sich gehört.“ Während dieser Worte sah sie ihn aus großen Augen an.
„Aber“, fuhr sie fort, - und bei diesen Worten stahl sich das Glitzern in ihre Augen, das der Oheim als „Sonnenfünkchen“ bezeichnet hatte, „ich sage Euch ehrlich, Die Worte haben mir schon gefallen, die der weit gereiste Kaufmann zu mir sagte. Seht doch, ist es nicht verwunderlich: Wenn das gleiche ein junger hübscher Ritter zu mir gesprochen, hättet Ihr es „Minne“ genannt. Da wäre nichts Verbotenes dran gewesen, wenn es schön geklungen, hätte man es gelobt. So kann es doch auch nicht ganz ein Unrecht gewesen sein.“
Wieder räusperte sich der Kaplan. „ Verzeiht mir, wenn ich Euch da nicht Recht gebe! Es war doch nicht gut, denn Ihr, Fräulein von Roder, dürft nie den Unterschied zwischen einem Kaufmann und einem Ritter vergessen!
Gerade das ist Euch schon von der Wiege an gesagt worden. Und nach Eurem edlen Namen müsst Ihr immer handeln.“
Gertrudis blickte ihn finster an. „Und doch will es mir nicht in den Kopf. Ihr kennt doch die Bibel am besten, und Ihr wisst, was darin steht. Ich glaube an die Bibel, ich glaube, dass die Worte darin wahr sind. Ihr selbst habt sie mir beigebracht. In der Bibel steht, dass vor Gott alle Menschen gleich sind.“
„Das versteht Ihr nur halb, Gertrudis. Man muss das anders sehen. Nehmt einmal das Beispiel einer bösen Tat.
Wenn Ihr etwas Böses tut, so ist es vor Gott das gleiche Unrecht, wie wenn das gleiche eine Tochter des Tagelöhners getan hätte. Aber gleich seid Ihr beide dennoch nicht. Ihr habt ganz andere Aufgaben als des Tagelöhners Tochter. Und Ihr seid mit Eurer Geburt in diese anderen Aufgaben hineingeboren.“
„Wenn ich aber dafür nicht tauge, und des Tagelöhners Tochter meine Aufgaben besser verrichten kann?!“ entgegnete sie trotzig.
„Das wird nicht der Fall sein, Ihr seid ja nicht nur dem Namen nach edler Herkunft, Ihr werdet gang anders erzogen und belehrt. Nein, runzelt nicht so die Stirn. Ihr solltet Eure Aufgabe schätzen lernen. Denn mit Eurer Stellung könnt Ihr auch viel Gutes tun, vielen Armen helfen und Liebe unter die Menschen bringen. Denkt einmal in Ruhe über meine Worte nach! Und ich verspreche Euch, ebenso über Eure Worte nachzudenken.“
Er verabschiedete sich, erst von Gertrudis, dann von der Base Brigitte, schnürte sein Bündel und machte sich auf den Heimweg. Doch seine Gedanken blieben noch in der Burg, bei dem jungen Fräulein.
„Gar nicht so einfach“, murmelte er vor sich hin. „Sie ist ein Burgfräulein, außerdem muss sie ihrem Vater gehorchen. Vielleicht werden einmal in späteren Zeiten die Kinder anders erzogen. Vielleicht dürfen dann die Kinder auch ihre Wünsche sagen. Und vernünftige Wünsche werden vielleicht erfüllt.........
Und in Gertrudis Augen steckt soviel verhaltener Frohsinn. Sie sehen so lebendig aus, als wolle sie noch heute in die Welt hinaus ziehen und etwas ganz Großes anfangen.“
So schritt er durch die Wiesen bis hoch zum Tannenwald. Die Luft schien ihm klarer und freier, er atmete tief.
„Die Natur ist immer wieder ein großes Wunder. Sie gibt ein ganz besonderes Gefühl von Wohlbefinden und Freiheit.“ Er setzte sich auf einen Holzstamm und sah in die Kronen der Bäume. Ganz oben schienen sie mit ihren Wipfeln in den Himmel hineinzuragen.
Wie der Kaplan befürchtet hatte, brachte die Schneeschmelze riesenhafte Wassermengen und damit große Überschwemmungen ins Tal. Die „wilde Acher“, wie man sie zu dieser Jahreszeit zu Recht nannte, hatte das Tal in zwei Teile geteilt. Geröll schob das Flüsschen mit sich, Gehölz und manchen Stamm trug es hinab ins Tal, wo er - zum breiten unbarmherzig wälzenden Fluss geworden - alles mitriss, was in seiner Reichweite lag.
Mehrmals am Tag, wenn der Kaplan in der Nikolaus - Kapelle zu heiligen St. Nikolaus betete, begann er mit dem lieben Gott Gespräche zu führen. „Warum“ darf ich nicht fragen. Ich weiß, Du weißt es besser. Und Du weißt immer, warum Du uns diese Prüfungen schickst. Aber ich bitte Dich inständig: Verschone wenigstens die ganz Armen, damit ihre Not nicht noch größer wird. Ich weiß, Du sagst, Du strafst die hart, die Du liebst. Und Du sagst auch, Du gibst uns nur so viel, wie wir auch tragen können. Und dennoch, Du sagst auch, dass wir um Wunder beten dürfen, bitte sei barmherzig mit denen, die in größter Not sind!“
Ein paar Male am Tag sah er nach dem Wasser, um nachzuschauen, ob sich der Wasserspiegel zu senken begann, ob seine Gebete Gehör fanden.
Die Nachricht vom Hochwasser war schnell in die Burg gedrungen. Während Rolf mit Begeisterung seinen neuen Bogen ausprobierte, hatte sich Gertrudis heimlich aus der Burg geschlichen. Sie liebte die Acher mit ihren unterschiedlichen Gesichtern: den stillen, romantischen Bach des Sommers, das weise träge Wasser des Herbstes, das glucksende, hoffnungstragende, glasklare Bächlein des Winters, das sich oft murmelnd unter den Eisinseln und Eislandschaften versteckte. Und auch die gewaltigen grünbraun trüben Wassermassen des Frühlings, die ihr zeigten, welche Kräfte Gott der Natur verliehen hat.
Gertrudis stand unweit der Brücke, die sonst den Weg, der aus den Bergen kam, von der rechten auf die linke Uferseite führte. Jetzt ragte sie wie eine Insel aus dem Wasser und trotzte den Fluten.
Wie gebannt starrte Gertrudis in das brausende Wasser, das so kraftvoll vorbei strudelte und einen so krassen Gegensatz zeigte zu den sanft ergrünenden Wiesen, den zarten Frühlingsblumen, den ersten weiß und rosa blühenden Bäumen und der milden, süßen Luft, die zu dieser Jahreszeit stets das Talfleckchen erfüllte.
Ein leichter Wind zauste an ihren Haaren. Sie hielt das große Tuch, das ihre Schultern bedeckte, über der Brust eng zusammen.
„Nehmt Euch in Acht! Ihr fallt gleich ins Wasser“, ertönte eine tiefe melodische Stimme hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um und blickte in das Gesicht eines jungen, hübschen Burschen.
„Ich bin der Hannes“, stellte er sich vor. „Meinem Vater gehört der große Hof da drüben.“ Dabei wies er mit der Hand auf einen großen Hof, der weiter westlich im Tal auf einem kleinen Hügel lag.
„Nein, nicht so weit! Wo Ihr hinschaut, mündet die Acher fast schon in den Rhein. Gleich da drüben, das schmucke Gehöft ist es.“
Sie sah ihn etwas unsicher an, und wusste nicht, ob sie einfach mit ihm reden sollte.
„Ihr seid da oben von der Burg“, fuhr er fort. „Wir alle kennen Euch. Wir kennen alle, die auf der Burg wohnen. Aber Ihr kennt uns meist nicht. Nur Euer Vater, wenn er mit uns zu tun hat. Und selbst wenn ich jetzt nicht wüsste, wer Ihr seid. Mit solchen feinen Kleidern kann man nur von einer Burg kommen. An diesen Kleidern erkennt man Euch überall.“
Gertrudis stand immer noch stumm und sah ihn an. In sich spürte sie ein Gefühl, halb Furcht, halb Neugier, war sie doch noch nie mit einem fremden jungen Mann allein gewesen.
Sie sah sein glänzendes, schwarzes Haar, entdeckte, dass er fast ebenso dunkle, temperamentvoll sprühende Augen hatte, deren Blick sie sich kaum entziehen konnte. In den einfachen, alten Kleidern sah sie einen Menschen, so schön, wie sie vorher noch