Die Hexe und der Leichendieb - Helga Glaesener - E-Book

Die Hexe und der Leichendieb E-Book

Helga Glaesener

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Beschreibung

Die Eifel im Dreißigjährigen Krieg: Burgherrin Sophie muss von der Wildenburg fliehen, bevor ihr gewalttätiger Mann sie umbringt. Bei Nacht und Nebel läuft sie davon und versteckt sich in den Wäldern der Eifel. Da begegnet sie einem Ritter, der selbst auf der Flucht ist. Er ist ein verurteilter Mörder. Die Leute nennen ihn den Leichendieb. Aber ist er wirklich ein kaltblütiger Verbrecher? Fürsorglich kümmert er sich um die verängstigte Frau. Da wird Sophie aufgespürt. Ihr Mann lässt sie in den Kerker werfen und klagt sie als Hexe an. Ausgerechnet der Leichendieb will Sophie retten. Doch damit begibt er sich selbst in die Hände seiner Henker.

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN 978-3-8437-0320-8

© 2012 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten

Satz und eBook bei LVD GmbH, Berlin

Für Lena, die im rechten Moment zur Stelle war.

Danke!

Wildenburg in der Eifel, im Januar 1632

er Mann, den sie hinrichten wollten, war schön. Er hatte safrangelbes, lockiges Haar, das ihm der Wind aus dem Gesicht blies, so zärtlich, als wollte er ihn das Grauen der letzten Tage vergessen machen. Seine Augen spiegelten das gläserne Blau des Winterhimmels wider. Sein Lächeln – er lächelte, trotz der Schmerzen, die er litt – wirkte aufgekratzt. Natürlich ging er krumm, kaum dass er sich auf den Beinen halten konnte. Langsam schlurfte er über die Steine, mit denen Marsilius den Innenhof beim Palas hatte pflastern lassen. Sein Arm war gebrochen, und die Fetzen, die ihm am Leib hingen, starrten vor Schmutz und Blut. Er wusste, dass er sterben würde. Und er tat, als machte ihm das nichts aus.

Fröstelnd zog Sophie ihren Mantel enger um das Wollkleid. Ihr Blick folgte der grauen Katze, die auf der äußeren Burgmauer stolzierte und nach einer Stelle suchte, von der aus sie über den Hang hinab in die Felder klettern konnte. Sophie wünschte sich von Herzen, dass sie ihr folgen könnte. Rennen und rennen, bis sie nach Hause kam. Aber das ging natürlich nicht. Sie war jetzt verheiratet und musste auf dem Burghof ausharren, wie Marsilius, ihr Ehemann, es angeordnet hatte. Ich weiß, Mutter, dachte sie, ich weiß.

Der Morgen war sonnig. Von der Dachrinne des Palas tropften die Eiszapfen, und auf dem Wohnturm quietschte der Wettervogel. Unter dem Wehrgang, der sich vom Hexenturm um den Burghof zog, versuchten einige verwurmte Köter, ­ein­ander einen Knochen abzujagen. Ein alter Mann, der als verrückt galt, pinkelte gegen die windschiefe Wand der Brenn­holzhütte. Mein Reich, dachte Sophie, und ihr strich eine Gänsehaut über den Rücken. Sie war siebzehn Jahre alt – und fühlte sich wie hundert.

Beklommen sah sie zu, wie der Verurteilte stehen blieb. Er hob das Gesicht zu dem Gerüst, das Marsilius im Schatten des Palas hatte errichten lassen. Auf dem Holzblock, auf den man gleich seinen Kopf drücken würde, lag eine Schicht flauschiger Schneeflocken. Ein sanftes, kaltes Kissen. Neben dem Block stand der von Eisenringen umfasste alte Holzeimer, in den der Henker seinen Kopf werfen würde, nachdem er ihn triumphierend vor dem Publikum in die Höhe gehalten hatte. Hatte der Mann dieses Bild ebenfalls vor sich? Sophie sah, wie seine Lippen sich kräuselten.

Sie zuckte zusammen, als sich mit wildem Geschrei ein Krähenschwarm vom Dach des Palas hob. Es war, als wüssten die Vögel, dass ihnen eine Mahlzeit bevorstand. Ihr wurde übel. Nicht nur ein bisschen schwummrig, sondern richtig mit einem Würgen. Verkrampft atmete sie in den Bauch hinein. Himmel, das fehlte noch, dass sie sich vor dem versammelten Gesinde übergab! Sie war seit drei Wochen Herrin der Burg, aber niemand gehorchte ihr, und ihr Mann platzte vor Ungeduld, weil sie nichts richtig machte. Sie musste sich zusammenreißen. Marsilius hatte befohlen, dass jeder Burgbewohner bei der Hinrichtung anwesend sein sollte, also würde sie es durchstehen.

Sie sah, wie der Henker dem Verurteilten einen Stoß in den Rücken versetzte. Der Mann gab einen Schmerzenslaut von sich und murmelte, während er sich wieder in Bewegung setzte: »Wozu die Eile, Dreckskerl? Dein Herr ist noch nicht da. Soll er den besten Teil verpassen?« Obwohl er leise sprach, drangen die Worte über den Hof. Einige vom Gesinde lachten.

»Der kommt schon noch, halt uns nicht auf«, brummte der Henker. Es gab in der Wildenburger Herrschaft noch keinen Scharfrichter. Marsilius hatte einen der Söldner, die der Krieg vor sein Burgtor geschwemmt hatte, mit der Hinrichtung beauftragt. Der Mann war jung. Er hinkte stark und schien betrunken zu sein. Sie hörte ihn verdrossen fluchen. Wer einen Menschen hinrichtete, fiel so tief, wie ein Christ nur fallen konnte. Er wurde ehrlos und durfte kein Handwerk mehr ausüben und nicht einmal bei anständigen Männern in der Schenke am selben Tisch sitzen. Vielleicht bekümmerte den Burschen das. Aber vielleicht wurmte ihn auch nur das harte Stück Arbeit, das ihm bevorstand. Es würde Kraft kosten, dem Blonden den Kopf vom kräftigen Hals zu schlagen, und wenn es nicht auf Anhieb gelang, vielleicht nicht einmal beim dritten oder vierten Hieb, richtete sich der Zorn der Menge oft gegen den Henker selbst. Aber hier nicht, dachte Sophie. Dafür hatten die Burgmannen zu viel Angst vor ihrem Herrn. Und Marsilius würde es vielleicht sogar gefallen, wenn die ersten Hiebe nicht gar zu genau saßen.

Die graue Küchenkatze kam über den Hof gelaufen und strich dem Verurteilten um die Beine. Die Berührung reichte aus, ihn ins Stolpern zu bringen. Er stürzte auf die Knie, und während der Henker ihn auf die Beine zurückzerrte, erblickte er die beiden leeren Stühle, die Marsilius neben dem Brunnen hatte aufstellen lassen. »Holt euren Herrn aus dem Bett seiner Hure. Sagt ihm, gefrorenes Fleisch zerlegt sich schlecht!« Seine Stimme klang wie zerbrochen, aber der Blick war voll wilden Hochmuts. Erst Augenblicke später bemerkte Sophie, dass die Leute verstohlen zu ihr hinüberblickten. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Die Hure, natürlich. Der Verurteilte spielte auf Edith an. Nicht, dass er ein Geheimnis verriet. Marsilius gab sich keine Mühe zu verbergen, mit wem er seine Nächte teilte. Aber der Gefesselte war der Erste, der den Namen in ihrer Gegenwart aussprach, und einen Moment lang hasste sie ihn für die Demütigung.

Dirk Wolpmann, der Burgvogt, verschaffte sich Platz und schlug den Kerl zu Boden, wie es einem treuen Gefolgsmann zukam, dessen Herr beleidigt wurde. »Scheißer!«, brüllte der Henker und zerrte ihn wieder auf die Füße.

Der Delinquent hieß Marx, fiel Sophie plötzlich ein. Marsilius hatte seinen Namen durch den Palas gerufen, als er am vergangenen Abend betrunken aus dem Südturm zurückgekommen war, wo er ihn eigenhändig gefoltert hatte. Die Hände und der wollene Rock ihres Ehemanns waren mit Blut besudelt gewesen, und er hatte gelacht, als hätte er den Verstand verloren. »Der Dickschädel! Er will den Mord nicht gestehen«, hatte er gejohlt, während er die Hände am Rock der alten Märthe abwischte. »Aber ich komme wieder, Marx von Mengersen. Irgendwann wird deine Zunge sich lösen.«

Dass er persönlich die Folterinstrumente in die Hand genommen hatte, sorgte in der Burg für Erstaunen. Auch diese schmutzige Arbeit überließ man normalerweise ehrlosen Leuten. Aber Marsilius war mit dem Opfer entfernt verwandt gewesen, und damit erklärten sie sich seine Wut. Im Übrigen war den Leuten egal, was Marsilius mit dem Gefangenen anstellte. Der Kerl verdiente kein Mitgefühl. Er hatte einen jungen Mann ermordet, seinen eigenen Herrn, um an dessen Geldbörse zu gelangen. Glücklicherweise hatte der Müller von der Bannmühle in Manscheid die Untat beobachtet. Er war zur Wildenburg geeilt, und Marsilius und Dirk hatten den Mörder gestellt und zur Burg hinaufgeschafft.

Man hatte den toten Jüngling in der kleinen Kapelle im Obergeschoss des Wohntrakts aufgebahrt, und Sophie wusste, dass Marsilius Marx an seinen Sarg gezerrt hatte, in der Hoffnung, er würde, mit dem Leichnam konfrontiert, zu seiner Tat aussagen. Aber Marx hatte sich unter gotteslästerlichen Flüchen geweigert. Natürlich half ihm das nicht, weil es ja Zeugen gab. Es war gerecht, dass er starb. Nur wollte sie es nicht mit ansehen müssen.

Der Verurteilte hatte den Podest erreicht. Er blieb davor stehen und hob das Gesicht zur Sonne. Sein Haar glänzte, sogar die bräunlichen Stellen, in denen es mit Blut verklebt war. Wieder kroch Sophie der Mageninhalt die Speiseröhre hinauf, und plötzlich war ihr gleich, was das Gesinde dachte oder Marsilius mit ihr anstellen würde. Der Drang zu flüchten wurde übermächtig. Sie rannte mit geschürztem Rock aus dem Burghof, taumelte an der Remise und dem geweißten Treppenturm vorbei und lief über die Brücke, die die Hauptburg von der Vorburg trennte.

Aber sie hatte ihren Entschluss zu spät gefasst. Als sie die Pferdetreppe erreichte, die zur unteren Brücke hinabführte, tauchte plötzlich ihr Ehemann auf. Marsilius ritt auf dem Schimmel des Fremden, einem temperamentvollen Schlachtross, unter dessen schneeweißem Fell die Muskeln spielten. Das also hatte ihn aufgehalten. Er war ein Pferdenarr und hatte den sonnigen Wintermorgen für einen Ausritt genutzt.

Und offenbar nicht allein. Ihm folgte, ein wenig langsamer, die Hure, auf die der Mörder im Hof angespielt hatte. Es versetzte Sophie einen Stich zu sehen, wie elegant Edith im Sattel saß. Sophie war selbst eine gute Reiterin. Dass Edith ihr auf ihrem ureigensten Territorium Konkurrenz machte, verletzte sie fast noch mehr als die Dreistigkeit, mit der sie ihr den Gatten stahl.

»Was treibst du hier?«, hallte Marsilius’ Stimme über den Weg. Er hatte getrunken. Nicht so viel, dass er lallte oder sich unsicher bewegte, aber er sprach langsamer als gewöhnlich. In seinem jungen Gesicht mit dem Schnauzbart – er war nur wenige Jahre älter als Sophie – löste Ungeduld seinen Übermut ab. Sie sah ihm an, dass er den Ausritt genossen hatte und wie sehr es ihn anödete, jetzt auf seine frischgebackene Ehefrau zu treffen. Gereizt hob er die Gerte.

Sophie wich gegen die Mauer zurück. Sie hasste sich für ihre Unterwürfigkeit, besonders als sie sah, wie Ediths schönes, weißes Gesicht sich höhnisch verzog. Die Frau war wenigstens zehn Jahre älter als Marsilius. Und trotzdem war es ihr gelungen, sein Herz zu erobern. Gut, gar so rätselhaft war das nicht. Ihre Haare fluteten wie flüssiger Weizen unter dem Federhut hervor. Ihr Busen wölbte sich schneeweiß aus dem Mieder. Ihre Lippen glänzten. Auf Sophie wirkte sie wie eine Amazone. Kühn und dabei trotzdem weiblich. Kein Wunder, dass Marsilius sie ihr selbst, die nur wenig Busen, schmale Hüften und ein Allerweltsgesicht besaß, vorzog.

»Marsch, in den Hof zurück«, schnauzte Marsilius und trieb sein Pferd auch schon selbst um die Hausecke. Edith folgte ihm mit einem letzten spöttischen Blick auf das Mädchen, das sich eingebildet hatte, ihr den Platz nehmen zu können, den sie bereits seit Jahren innehatte. Wen würde er wohl gleich an seine Seite bitten, wenn es darum ging, über die Hinrichtung zu präsidieren? Die Hure oder die Ehefrau? Edith natürlich, dachte Sophie niedergeschlagen.

Sie hörte Marsilius’ Stimme vom Hof. »Hoch aufs Podest mit dem Dreckskerl!« Unter dem Gesinde machte sich eine aufgeräumte Stimmung breit. »Nicht gar zu schnell, das hat er nicht verdient«, stachelten sie den Henker an. »Hackt ihm zuerst die Hand ab, mit der er den Jungen erstochen hat! Auge um Auge, Hand um Hand!«, forderte eine Stimme, vielleicht die von Theiß, dem Koch, oder von Jössele, der zur Wachmannschaft gehört. In Sophies Magen begann es erneut zu rumoren. Sie rannte zum Tor und winkte dem Wächter, der es gerade wieder schließen wollte. Aber er schien sie misszuverstehen, denn er ließ den Riegel fahren und kam ihr entgegen.

Aus dem Hof dröhnte Marsilius’ Stimme. »Fang an und bettle um dein Leben, Marx von Mengersen!«

»Wenn du deine Hure küsst, soll sie an der Scheiße ersticken, die aus deinem Mund kommt!«, brüllte der Verurteilte erstaun­lich klar.

Sophie wusste nicht, was danach geschah, sie hörte nur einen entsetzlichen Schrei – und dann gar nichts mehr. Entsetzt lief sie weiter. Vierundzwanzig breite Pferdestufen führten zum unteren Tor. Auf halbem Weg, dort wo es links zur Schmiede und zum Brandweiher ging, traf sie mit dem Wächter zusammen. Er blickte sie fragend an. Sie wies zum Hof hinauf. Marsilius wird mich prügeln, dachte sie, aber was tat’s. Nur weiter, hinaus ins Freie.

Als sie das äußere Tor fast erreicht hatte, gellte ein vielstimmiger Schrei in ihrem Rücken. Das Schwert des Henkers hatte zugeschlagen. Der Mörder war also tot. Klopfenden Herzens stützte Sophie sich an der Mauer ab. Das Blut dröhnte in ihren Ohren. Durch den Torspalt sah sie die Häuser, die zur Burgfreiheit gehörten und die wegen des Spektakels der Hinrichtung verwaist waren, und dahinter die schneebedeckten sanften Berge der Eifel mit den schwarzen Bäumen, den Feldern und den kleinen Dörfern, die sich in die Täler schmiegten. Alles sah so friedlich aus. Die Sonne ließ den Schnee bis zum Horizont glitzern.

Und wenn sie nun hinausliefe? Und sich zumindest ein paar Stunden Aufschub gönnte? Ihr wurde kalt, als sie an Marsilius dachte.

In diesem Moment vernahm sie Getrappel hinter sich. Schleppend drehte sie sich um. Und hörte auf zu atmen. Es war unmöglich, was sie sah. Es musste eine Einbildung sein. Der Schimmel, das Schlachtross des Fremden, galoppierte den Weg hinab, auf seinem Rücken hing der Mörder. Sophie starrte wie hypnotisiert auf die Gestalt, die sich mit auf den Rücken gefesselten Händen über den gestreckten Hals des weißen Tieres beugte, ums Gleichgewicht rang und jeden Moment zu stürzen drohte.

Und plötzlich war es, als würde alles langsamer. Der Blonde hob den Kopf. Er bemerkte das Tor, er registrierte, dass seine Flucht zu Ende war. Sophie sah das Erkennen und die Enttäuschung in seinem schmerzverzerrten Gesicht. Sie meinte, auch etwas wie Furcht aufblitzen zu sehen, aber da war sie sich nicht sicher.

Dann drehte sich das Tor in den Angeln. Sie selbst musste es sein, die die schweren Bohlen beiseitedrückte, um den Spalt zu erweitern. Warum tue ich das?, dachte sie entsetzt, aber gleichzeitig spürte sie einen wilden Funken Triumph.

Der Mörder donnerte heran. Der Atem des Schimmels streifte Sophies Hals. Der Flüchtling war so frech, die Lippen zu einem Kuss zu formen, als er an ihr vorüber stob. Und schon war er draußen. Die Hufe hämmerten über die Brücke, der Schimmel galoppierte durch die Vorburg der Freiheit entgegen.

Benommen schaute Sophie die Pferdetreppe hinauf. Das Gesinde, das eben noch im Hof gestanden hatte, rannte auf sie zu, allen voran Dirk, und als Nächste merkwürdigerweise Edith. Ich bin verloren, dachte sie. Marsilius prügelte das Gesinde bei jeder Gelegenheit, ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit oder sein eigenes Wohl, das ja von ihrer Arbeitskraft abhing, einfach weil er jähzornig war. Er würde auch seine Ehefrau nicht verschonen, die ihn im Angesicht des gesamten Hausstandes gedemütigt hatte. Er schlägt mich tot, dachte sie.

Im nächsten Moment sackte sie in sich zusammen. Über ihr stand die weiße Sonne und blendete sie.

ber dann schlug er sie doch nicht. Gott hatte Erbarmen. Es wurde wie durch ein Wunder alles gut.

»Wie durch ein Wunder wurde alles gut«, erklärte Sophie fünf Wochen später ihrer Mutter Ursula und ihrer Schwester Christine, die aus Breitenbenden angereist waren, um zu schauen, wie es der Jungvermählten ging, und die nun mit ihr zusammen in der kleinen Stube im Untergeschoss des Palas saßen. Ihre Familie war zum ersten Mal seit der Hochzeit auf der Wildenburg. Die Frauen hatten es sich in der Fensternische auf den Bänken gemütlich gemacht und lauschten angespannt Sophies Bericht über die Schwierigkeiten, die den Beginn ihrer Ehe überschattet hatten.

Marsilius regt sich leicht auf, man darf ihn nicht reizen, hatte sie ihnen erzählt, und Mutter hatte bekümmert genickt. So waren die Männer. Was war sonst geschehen? Sophie hatte vom Gesinde gesprochen, das viele ihrer Anweisungen ignorierte oder nachlässig ausführte. Auch das war nicht ungewöhnlich, bei Sophies Jugend, musste aber natürlich unverzüglich bestraft werden, damit klar wurde, wer jetzt Herrin im Haus war. Und weiter?

Sophie hatte gezögert. Sollte sie von dem Mörder berichten, dem sie Fluchthilfe geleistet hatte? Nein, das behielt sie lieber für sich. Ihr schwante, dass Mutter dieses Verhalten unentschuldbar finden würde. Dafür begann sie von Edith zu erzählen, die ihr das Leben schwermachte, die Dienerschaft gegen sie aufhetzte und dafür sorgte, dass Marsilius seine Nächte in ihrem Lotterbett verbrachte.

»Der Herr möge sie dafür strafen«, regte Ursula sich auf. »Aber nur Geduld, Sophie, am Ende schützt er die Gottesfürchtigen und bringt die Sünder zu Fall.«

Christine, die neben ihrer Mutter saß, zwinkerte Sophie aufmunternd zu. Sie hielt ihren kleinen Sohn im Arm, Jürgen, einen Schreihals von sechs Monaten mit einem schwarzen Haarflaum, der sich ein Vergnügen daraus machte, von einem Arm zum anderen zu wandern. Im Moment schlief er allerdings, und Ursula, die Kinder über alles liebte, strich sanft mit dem Zeigefinger über den kleinen, rosigen Mund des Enkelsohnes.

»Das Schlimme ist, dass Marsilius keine Mutter hat, die ihm den Kopf zurechtrückt«, erklärte sie dabei. »Sonst hättest du eine Verbündete in der Burg.« Sie hob den Blick, um ihre Tochter anzusehen. »Aber du kannst zuversichtlich sein. Männer gleichen einander wie Eicheln. Sie naschen an fremden Töpfen, doch sobald sie auf einen Sohn hoffen dürfen, kehren sie in die eigene Küche zurück. Deshalb heiraten sie uns schließlich. Wir erfüllen ihren Herzenswunsch.«

Und genau darin bestand das Wunder. Sophie war nämlich schwanger geworden. Sie selbst hätte es wahrscheinlich gar nicht so rasch bemerkt. Es kam heraus, als Marsilius sie nach der Flucht des Mörders in die Halle schleppte, um sie zu ­prügeln, weil sie sich auf dem Hof rumgetrieben und den Flüchtigen nicht aufgehalten hatte. Edith hatte ihm dafür eine Reitpeitsche gereicht, die sie berechnend von draußen mit hin­­eingetragen hatte. Sie hatte ihre Nebenbuhlerin mit einer Grausamkeit angestarrt wie eine Katze, die ein Mäusenest wittert – eine unheimliche, eine entsetzliche Frau. Marsilius hatte Sophie befohlen, das Kleid und ihr Hemd auszuziehen, und als sie nicht schnell genug gehorchte, die Peitsche fortgeworfen und selbst Hand angelegt.

Und da hatte sie sich auf seine Stiefel übergeben.

Vielleicht hatte Marsilius der Anblick, wie sie das Essen hervorwürgte, an die Schwangerschaft irgendeines Weibes erinnert. Jedenfalls hatte er sie am Arm hochgerissen und gefragt, ob ihre Blutung ausgeblieben sei. Sie hatte ihm nicht antworten können, weil sie immer noch würgen musste. Dann war sie auf eine Bank gesunken und hatte gewartet, während er eine Hebamme holen ließ, die ihm angstvoll versicherte, dass sein Weib vermutlich schwanger sei. Die Frau hatte in seiner Anwesenheit eine Untersuchung durchführen müssen – die er fasziniert beäugte – und schließlich ihre Meinung wiederholt. Aber natürlich war es noch viel zu früh, um wirklich etwas Sicheres sagen zu können. Überzeugt wurde Marsilius wohl erst von Ediths wuterfülltem Schrei.

Das Weib war totenblass geworden, und der unverhohlene Zorn, mit dem sie auf die Schwangere stierte, hatte Marsilius auflachen lassen. Er wünschte sich so sehr einen Nachfolger. Seine schlechte Laune verflog, und in seinem jungenhaften Gesicht malte sich reines Entzücken. Er hatte Sophie befohlen, sich wieder anzukleiden und sich in ihre Kammer zu begeben. Dann war er gegangen, um mit Dirk auf sein Glück anzustoßen.

»Alles, was du jetzt tun musst, ist, deine Stellung zu fes­tigen«, holte Ursula ihre Tochter aus der Erinnerung zurück. »Du bist die Mutter seines Kindes, das gibt dir die Macht, die du brauchst, um wirklich zur Herrin der Burg zu werden. In deinem Bauch wächst sein Glück. Pass nur auf – wenn du dich nicht gar zu ungeschickt anstellst, hat er seine Hure in wenigen Wochen davongejagt.«

Sophie blickte zu der Tür, die in den Wohnturm führte. Über ihrer Kammer lag die Schlafkammer von Marsilius, und von dort waren es nur wenige Schritte zu dem Zimmer, in dem Edith wohnte. Sie hörte jede Nacht die Türen knarren, wenn Marsilius zu seiner Gespielin ging. Und wenn sie ehrlich war, dann war sie sogar froh darüber. Dass Marsilius seine Bedürfnisse nicht in ihrem Bett erfüllen wollte, war der einzige Vorteil, den Ediths Existenz bot. Mit Grauen dachte Sophie an ihre Hochzeitsnacht zurück – und verdrängte die Erinnerung sofort. Wenn sie diesen Bildern Raum gab, würde sie verrückt werden.

»Auf jeden Fall darfst du nicht mehr auf ein Pferd«, dozierte Ursula, der es stets ein Dorn im Auge gewesen war, dass ihr Mann ihre Jüngste reiten und schießen gelehrt hatte – und zwar nicht in dem sittsamen Umfang, in dem es einer jungen Frau zukam, sondern mit sportlichem Ehrgeiz. Sophie ahnte, dass ihre Mutter vor allem ihr unweibliches Wesen für die Schwierigkeiten verantwortlich machte, die ihre Ehe überschatteten. Dass sie die dürre Gestalt eines Jungen besaß, konnte man leider nicht ändern. Auch die spitze Nase und das unweiblich harte Kinn gehörten zu den Prüfungen, die Gott ihr auferlegt hatte. Aber man hätte die körperlichen Mängel ja nicht dadurch hervorheben müssen, dass man das Mädchen wie einen Knaben großzog – bloß weil der ersehnte Stammhalter ausgeblieben war. Ursula hatte das hin und wieder ange­deutet, aber sie war zu wohlerzogen gewesen, um ihren Mann ernsthaft zu kritisieren.

»Hörst du mir überhaupt zu, Kind?«

»Nicht reiten, ja. Marsilius lässt mich sowieso nicht.«

»Dietrich hat die Nachricht von meiner Schwangerschaft in der Kirche verkünden lassen«, kicherte Christine. »Ich wusste gar nicht, wohin ich schauen sollte. O süße Jungfrau, es ist alles so aufregend.«

Sophie lächelte ihr mechanisch zu. Christine war seit einem Jahr Witwe, aber das hatte ihre Stimmung nicht lange trüben können. Sie würde bald erneut heiraten und ein weiteres Kind bekommen und glücklich sein. Sophie war klar, dass sie sich über das Kind in ihrem eigenen Bauch ebenfalls freuen müsste. Doch statt aufgeregt auf den Tag zu warten, an dem sie es endlich im Arm hielt, dachte sie nur: Herrgott, nimm’s weg, ich will es nicht. Ihr war, als hätte Marsilius etwas in sie hinein­gestopft, das schmutzig war und … und sie von innen her auffraß. Konnte man das glauben – so eine schreckliche Vorstellung?

Über sich selbst beschämt, zwang Sophie sich, auf ihren schlafenden Neffen zu schauen, der so niedlich war, dass keine Magd vorübergehen konnte, ohne ihn anzulächeln. »Wart nicht zu lange«, drang Ursulas Stimme an ihr Ohr. »Umschmei­chle deinen Mann, koche ihm etwas Gutes, sei ihm gefällig – und dann verlange, dass er Edith fortjagt!«

Sophie nickte.

»Verstehst du mich?«

»Ja.«

»Gut. Dann würde ich nämlich vorschlagen, dass du sogleich damit beginnst!«

»Womit?«, fragte Sophie verwirrt.

Mutter seufzte. »Mit der guten Mahlzeit. Schau doch Kind.« Sie wies zum Fenster. »Die Männer kommen heim. Sie reiten in den Hof ein! Du musst dich schon kümmern, Sophie, wenn du eine zufriedene Ehe führen und den Respekt deines Ehemannes erlangen willst. Er ist hungrig, er will essen. Biete ihm ein Glas Wein, um die Zeit zu überbrücken, bis die Mahlzeit auf dem Tisch steht. Hast du nie zugeschaut, wie ich es mache? Ach Herzchen, bist du langsam.«

Es brauchte den Wein nicht. Die Dienerschaft hatte den Tisch auch ohne Anweisung der Hausherrin gedeckt. Die Wildenburg war so lange ein Junggesellenhaushalt gewesen, dass die Leute genau wussten, was zu tun war. Ich bin hier völlig überflüssig, dachte Sophie niedergeschlagen. Sie nahmen an dem Tisch in der Saalkammer Platz, die im oberen Geschoss neben Marsilius eigenen Räumen lag. In dem wagenradgroßen Leuchter waren zu Ehren der Gäste Kerzen entzündet worden. Eine weiße Tischdecke, die zu Sophies Aussteuer gehört hatte, bedeckte die zerschrammte Tischplatte. In der Mitte standen ein Salzfass und vier Jahreszeitenplatten, auf denen Theiß Dörrobst drapiert hatte – Birnen, Aprikosen, Äpfel, dazwischen lagen Nüsse.

»Nun sei doch nicht so still!«, wisperte Ursula ihrer Tochter zu, während Sophies Vater und Marsilius über Kaiser Ferdinand sprachen, der mit den protestantischen Schweden Krieg wegen des heiligen katholischen Glaubens führte und seinen Generalissimo Wallenstein erneut zu seinem Heerführer gemacht hatte, um die Eindringlinge aus dem Land zu jagen. Sophie rang um einen Satz, aber ihr Kopf war wie leer gefegt. Sie wusste doch auch gar nichts über diesen Krieg, der schon so lange andauerte, wie sie zurückdenken konnte. Stumm sah sie zu, wie Theiß auf einem runden Messingtablett Pastetchen hineintrug. Es roch nach geröstetem Schwarzbrot und Nelkengewürz. Marsilius und ihre Familie plauderten in bester Stimmung. Entrüstet hörte sie ihren Vater Franz fragen: »Im Ernst? Den Leichnam?« Und da merkte sie auf.

»Aus dem noch frischen Grab«, bestätigte Marsilius. Das Grübchen, das in der Mitte seines Kinns saß, vertiefte sich, wie immer, wenn ihn etwas aufregte. »Irgendwie hat dieser Marx es heimlich auf unseren Friedhof geschafft. Der Teufel selbst muss ihm die Tollkühnheit verliehen haben, dorthin zu gehen, denn er liegt ja inmitten des Gesindedorfes, und viele Fenster gehen in diese Richtung hinaus. Aber er hat es gewagt und das Grab geöffnet und den Toten gestohlen.«

»Ein Leichendieb«, kommentierte Franz. Er war ein groß ge­wachsener Mann mit einem einfachen, gutmütigen Gesicht, in dem jetzt allerdings blanke Empörung saß.

»Weiß man, was den Kerl zu der schändlichen Tat getrieben hat?«, erkundigte sich Ursula, um das Schweigen ihrer Tochter zu übertünchen.

Marsilius zuckte mit den Schultern. »Was tut solches Pack mit einem Leichnam? Sie werden ihn zerlegt und Stück für Stück an die Apotheker oder gar an Hexengesindel verkauft haben. Für Leichenteile – gerade von Menschen, die bei bester Gesundheit gestorben sind – werden hohe Preise gezahlt.«

Christine schrie angeekelt auf, und Marsilius schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. Sophies Schwester war hübsch, er mochte hübsche Frauen.

»Du sagst sie? Hatte der Mann denn Komplizen?«, wollte Franz wissen.

»Das nehme ich an. Marx hätte nicht genügend Kraft gehabt, um auch nur ein Fingerchen des armen toten Jungen fortzutragen. Wir hatten ihn schließlich nicht gerade sanft behandelt.«

Nein, das hast du wahrlich nicht. Sophie schauderte, als sie an das blutdurchtränkte Hemd dachte, das Marsilius ihr nach einem der Verhöre im Hexenturm vor die Füße geworfen hatte, damit sie sich um die Reinigung kümmerte. Auf der Vorderseite des Hemdes war ein blutiger Gesichtsabdruck gewesen, als hätte ihr Ehemann den Kopf des Delinquenten an sich gepresst. Rasch verdrängte sie die Erinnerung.

»Wen hat dieser Unhold denn ermordet?«, wollte Christine wissen.

»Der Mann hieß Heinrich von Elverfeldt. Ein Freiherr mit einem stattlichen Besitz westlich von Witten. Ich bin entfernt mit ihm verwandt, von der mütterlichen Seite her, obwohl ich nicht viel Kontakt zu ihm hatte. Das Tragische ist, dass er wahrscheinlich noch leben würde, wenn er hier in der Burg sein Nachtlager genommen hätte. Aber er hatte es vorgezogen, im Wald zu schlafen. Sicher eine Neigung, die ihm aus der Zeit als Offizier beim Heer geblieben ist. Seine arme Mutter und sein Onkel konnten sich jedenfalls vor Schmerz kaum fassen, als sie von seinem Tod erfuhren.«

»Und was willst du nun unternehmen?«, erkundigte sich Ursula. Sie trat Sophie unter dem Tisch. Herr im Himmel, sagte ihr Blick, es kann doch nicht so schwer sein, ein wenig zur Unterhaltung beizutragen.

»Ihn jagen, bis ihn sein gerechtes Schicksal ereilt.« Marsilius hob den Becher und prostete seiner Ehefrau zu. Sophie zwang sich zu einem Lächeln. Dieses Mal gelang es sogar, denn sie musste an das einzig Komische denken, was ihr in den Monaten, seit sie auf der Wildenburg lebte, widerfahren war: Marsilius hatte gar nicht begriffen, dass sein eigenes Weib dem Mörder den Weg in die Freiheit geebnet hatte. Man hatte sie am Tor fallen sehen – und angenommen, dass Marx sie niedergestoßen hatte. Sonst wäre ich jetzt tot, dachte sie, schwanger oder nicht. Denn auch wenn Marsilius so entspannt tat, als wäre die ganze Episode kaum das Tischgespräch wert, wusste sie, dass er den Flüchtigen mit tiefstem Hass verfolgte. Seine Wutanfälle, wenn ein weiterer Tag verstrichen war, ohne dass er den Mann zu fassen bekam, bewiesen, wie sehr ihn die Sache kränkte.

Er darf niemals erfahren, was ich getan habe, schwor sie sich, während sie an dem Wein nippte. Das musste auf ewig ihr Geheimnis bleiben.

Nach dem Essen, als Marsilius bei einem kränkelnden Pferd war und Mutter und Christine in Sophies Schlafkammer den kleinen Jürgen in den Schlaf sangen, zog Vater Franz seine Tochter in einen stillen Kräutergarten, der auf einem abgesenkten Gelände hinter der Scheune lag. Die Beete waren von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die von toten Pflanzen durchstochen wurde. Der Blick über das Mäuerchen war traumhaft. Man konnte meilenweit schauen.

Sophie hätte den Garten trotzdem am liebsten gleich wieder verlassen, denn hier war Ediths Reich. Es kränkte sie, dass Marsilius ihr selbst ein Blumengärtchen, um das sie ihn gebeten hatte, abschlug, der Frau aber dieses Stückchen Land überließ, um darin Kräuter zu ziehen. Wie immer, wenn sie an ihre Nebenbuhlerin dachte, erfasste Sophie tiefer Groll. Ediths Stimme hallte durch die Räume, wenn sie das Gesinde scheuchte. Ihre Kleider bleichten auf dem Rasen beim Brandweiher neben denen der Burgherrin … Sie sorgte unablässig dafür, dass die Burgbewohner sich daran erinnerten, wer die wahre Herrin der Wildenburg war.

Aber ich bin Marsilius’ Ehefrau! In plötzlich aufwallendem Zorn setzte Sophie sich auf die Bank, die an dem Mäuerchen stand. Sie tat absichtlich entspannt, während ihr Blick über die Felder und die zarten Silhouetten vereinzelter Bäume glitt, die sich im Glanz der untergehenden Sonne scharf gegen den Himmel abhoben.

Franz nahm neben ihr Platz und berührte ihren Oberarm. Sein sonnenverbranntes Gesicht war plötzlich sorgenvoll. »Also, wie ist es?«

»Bitte?«

»Behandelt dein Mann dich gut?«, fragte Franz unumwunden. Er war ein Mensch, der sich am liebsten im Freien aufhielt. Seine hagere Gestalt war muskulös, seine Haut wie Leder. Er besaß die Kraft eines jungen Burschen, obwohl er schon auf die fünfzig zuging. In den braunen Augen lag Zärtlichkeit. Gott, ich liebe dich, dachte Sophie ungestüm, und ihr Herz füllte sich mit Wärme. »Sicher tut er das«, log sie.

»Aber du lächelst nicht. Früher konntest du kaum den Mund halten. Was hast du geschwätzt! Du warst wild und hast über alles deine Scherze gemacht. Und nun?« Forschend blickte Vater ihr in die Augen.

Sophie zögerte. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geworfen und losgeheult: Nimm mich mit nach Hause. Ich hasse das Ungeheuer, an das du mich verheiratet hast. Ich hasse das Kind, das ich bekommen werde. Aber was dann? Es gab keinen Grund, ihre Ehe aufzulösen. So etwas erlaubte die Kirche nur, wenn kein ehelicher Beischlaf stattgefunden hatte, weil der Ehemann dazu nicht in der Lage war. Dass Männer sich ihre Mägde ins Bett holten, war weit verbreitet. Sie würde ihren Vater nur unglücklich machen, wenn sie ihm beichtete, wie sehr sie ihr neues Leben verabscheute. Außerdem war sie inzwischen fast achtzehn Jahre alt – kein Kind mehr, das bei den ersten Schwierigkeiten zu Hause Schutz suchte. »Es ist nur die Übelkeit.«

»Ganz sicher?«

»Das Kind kommt nach mir. Es macht nichts als Scherereien«, scherzte sie.

Sie sah, wie ihr Vater sich entspannte. »Ich bin ein alter Kater, der sein Kätzchen nicht hergeben kann. Man sollte mir eins mit dem Knüppel überziehen«, lächelte er. Sein Kuss war stachelig und voller Liebe. »Ist wirklich alles in Ordnung?«

Wieder nickte sie.

»Und du schenkst mir ein Enkelsöhnchen?«

»Dein sechstes«, erinnerte sie ihn an den Nachwuchs ihrer Schwestern.

»Aber das aus deinem Bauch wird mir das liebste sein.« Franz legte den Arm um sie, und sie betrachteten gemeinsam das Land, über das Marsilius herrschte. Der Krieg hatte das Wildenburger Territorium bisher verschont. In den Scheunen lagerte genügend Saatgut, um im Frühjahr die Felder zu bestellen, und in den Ställen wurde Vieh gemästet. Eigentlich ging es ihnen gut. Wer weiß, dachte Sophie, vielleicht wird Marsilius mir erlauben, wieder zu reiten, wenn das Kind erst geboren ist. Das wäre doch ein Trost.

Franz begann leise zu lachen.

Sie drehte den Kopf zu ihm. »Was ist denn?«

»Denk dran, Mädchen: Wenn der Jäger ein Wild erlegen will, dann muss er einen Pfeil losschicken. Der Pfeil, den du im Köcher stecken hast, ist dein Mut. Und wenn du ihn lossendest, wenn du Mut hast, wird der Erfolg schon folgen.«

In der folgenden Nacht litt Sophie unter Übelkeit. Sie dachte sich nichts dabei. Sie schwitzte, übergab sich und schob es auf die Schwangerschaft. Von dem Tee, den ihr eine der Mägde gebracht hatte, hatte sie nur einen Schluck getrunken, weil sie den intensiven Minzgeschmack nicht mochte. Achtlos schüttete sie den Rest des Trankes aus und gab den Becher in die Küche zurück.

Als sie ihre Eltern verabschiedete, ging es ihr schon wieder besser.

ater Ambrosius litt. Hinten in seiner Kniekehle saß ein Eitergeschwür, und da er es mit dem Gebet genau nahm er betete zu jeder vollen Stunde, außer nachts zwischen Laudes und Komplet, behinderte ihn die Beule sehr. Zitternd vor Kälte rollte er den Strumpf herab und band, während seine Decke immer wieder von den Schultern rutschte, einen Leinenstreifen, den er aus einem zerschlissenen Unterhemd geschnitten hatte, um das Geschwür. Er staunte, dass Gott gerade seine Kniekehle ausgesucht hatte, um ihn zu strafen, saß doch der Körperteil, mit dem er sündigte, an einem ganz anderen Platz. Aber wie jedermann wusste, waren die Wege des Herrn unergründlich.

Die Sonne strahlte in seinen kleinen Garten, doch ohne Wärme zu verbreiten. Die zurechtgestutzten Äste im Gemüsebeet, an denen im Sommer die Stangenbohnen rankten, glitzerten von Raureif. Er spürte, wie das Holz der Bank, auf der er saß, seine Sutane durchfeuchtete. Sein Bett wäre ein bequemerer und vor allem wärmerer Ort für den Verbandswechsel gewesen, aber dort sündigte er, und deshalb suchte er es nur ungern auf. Selbst in den Nächten zitterte er oft auf dem Lehmboden seines ärmlichen Pfarrhauses, statt sich auf der Strohmatratze ein wenig Komfort zu verschaffen.

Er seufzte. Der Herr hatte einen langen Atem mit ihm. Trotz seines schwachen Fleisches hatte er ihm eine auskömmliche Pfarrstelle verschafft, mit nicht mehr Hunger als üblich. Er hatte ihn vor den schwedischen Horden bewahrt, die große Teile des Reiches unsicher machten, und ebenso vor den Verteidigern des katholischen Glaubens, die nicht weniger Schrecken verbreiteten. Im Sommer hatte er sogar die Schneckenplage beseitigt, die den Salat in Gefahr brachte und nicht einmal vor den Aschebarrieren haltmachte, die Ambrosius um seine Beete errichtet hatte. Aber irgendwann würde die züchtigende Hand Gottes über ihn kommen da gab er sich keinen Illusionen hin.

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