'...die in vollkommenster Weise Erlöste' - Die Frage nach einem mariologischen Grundprinzip bei Karl Rahner - Magnus Kerkloh - E-Book

'...die in vollkommenster Weise Erlöste' - Die Frage nach einem mariologischen Grundprinzip bei Karl Rahner E-Book

Magnus Kerkloh

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  • Herausgeber: GRIN Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2005
Beschreibung

Diplomarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Theologie - Systematische Theologie, Note: 1,0, Universität Münster (Ökumenisches Institut der Kath.-Theol. Fakultät), Sprache: Deutsch, Abstract: Die Beschäftigung mit Karl Rahners Theologie ist nach wie vor Gegenstand einer breiten theologischen Forschungstätigkeit. Seine mariologischen Schriften hingegen finden heute relativ wenig Beachtung. Dies liegt nicht nur daran, dass Rahner andere theologische Themen ausführlicher behandelt hat und dass sein umfangreichstes mariologisches Werk, eine umfangreiche Studie zum Assumptio-Dogma, erst kürzlich veröffentlicht wurde, sondern ist als allgemeines Phänomen anzusehen. Besteht diese Vernachlässigung zurecht? Oder kann nicht gerade Rahners Mariologie, quasi kondensiert in seinem mariologischen Grundprinzip, einen leichteren Zugang zu seiner Theologie liefern, wenn Mariologie der erste Teil einer christlichen Anthropologie ist und wenn Rahners Theologie gerade als „anthropologisch gewendete“ eben jenen oben angedeuteten Einfluß gewinnen konnte? Und kann nicht umgekehrt diese anthropologisch gewendete Theologie Rahners, wie sie sich auch in seinem mariologischen Grundprinzip niederschlägt, zu einer neuen Wertschätzung der Mariologie beitragen? Auch diesen Fragen soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden - und zwar in folgenden Schritten: Zunächst wird der Begriff „mariologisches Grundprinzip“ näher in den Blick genommen, und zwar hinsichtlich seiner historischen Entwicklung, hinsichtlich seiner genaueren inhaltlichen Bestimmung (Bedeutung, Berechtigung und Leistungsanspruch) und hinsichtlich eines systematischen Überblicks über verschiedene Lösungsvorschläge, wobei sich zwangsläufig Überschneidungen ergeben werden. Im Anschluß an diese Grundlegung wird Rahners eigener Ansatz untersucht: Nach einigen Worten zu seinen für die Frage nach dem mariologischen Grundprinzip einschlägigen Schriften werden diese genauer im Hinblick auf die in ihnen enthaltene Entwicklung des Grundprinzips der vollkommen Erlösten analysiert, wobei auch grundsätzliche Aspekte von Rahners theologischen Denken mit einbezogen werden. Sodann wird die „Durchführung“ dieses Grundprinzips an den einzelnen theologischen Aussagen über Maria vorgenommen. Nach einer kritischen Rückfrage hinsichtlich der Vorteile wie auch der Problematik von Rahners Grundprinzip wird schließlich der Ertrag von Rahners mariologischem Grundprinzip für eine heutige Mariologie - gerade angesichts der heutigen grundsätzlichen Anfragen an dieses Teilgebiet systematischer Theologie- wie auch für Rahners Gesamtwerk aufgezeigt.

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zum Begriff „mariologisches Grundprinzip“

2.1 Der theologiegeschichtliche Weg zur Idee eines mariologischen Grundprinzips

2.2 Begriffsbestimmung, Berechtigung und Anforderungen für ein mariologisches Grundprinzip

2.2.1 Begriffsbestimmung: Was ist unter einem mariologischen Grundprinzip zu verstehen?

2.2.2 Berechtigung: Warum ist es sinnvoll, nach einem mariologischen Grundprinzip zu suchen?

2.2.3 Anforderungen: Was muß ein mariologisches Grundprinzip leisten?

2.3 Versuch einer Systematisierung verschiedener Ansätze

2.3.1 Die christologisch ausgerichteten Ansätze

2.3.2 Die ekklesiologisch ausgerichteten Ansätze

2.3.3 Die gnadentheologisch-anthropologisch ausgerichteten Ansätze

3. Rahners eigene Konzeption eines mariologischen Grundprinzips

3.1 Ein Überblick über die für die Entwicklung von Rahners Grundprinzip einschlägigen mariologischen Schriften

3.1.1 Die Assumptio-Arbeit

3.1.2 Maria, Mutter des Herrn

3.2 Die Entwicklung des Grundprinzips der „vollkommen Erlösten“

3.2.1 Biblische Grundlegung

3.2.2 Systematisch-theologische Entfaltung

3.2.3 Die Durchführung des Grundprinzips an den einzelnen mariologischen Wahrheiten

3.2.3.1 Die Unbefleckte Empfängnis

3.2.3.2 Die stete Jungfräulichkeit

3.2.3.3 Die Sündenlosigkeit

3.2.3.4 Die Aufnahme in den Himmel

3.2.3.5 Die Gnadenmittlerschaft

3.3 Untersuchung des Rahnerschen Ansatzes hinsichtlich seiner Vorteile und Probleme gegenüber anderen Entwürfen

4. Schluß

Literaturverzeichnis

 

1. Einleitung

 

„Weil wir von ihm, Christus, reden müssen, dürfen wir von ihr, Maria, nicht schweigen.“[1]  - Diese Aussage aus dem Vorwort zur Dissertationsschrift des Brixener Dogmatikers Ivo Muser, die das „Reden von Maria“ - und somit auch die „Mariologie“ - thematisiert und in engste, ja unaufgebbare Nähe zum Reden von Christus (auch, aber sicher nicht nur im Sinne von „Christologie“) rückt, soll auch am Beginn dieser Arbeit stehen. Denn sie eignet sich m. E. als Ausgangspunkt für eine nähere Beschäftigung mit Karl Rahners mariologischer Konzeption mindestens eben so gut wie für die von Muser in o. g. Arbeit behandelte, ähnliche Thematik bei Matthias Josef Scheeben, vgl. Muser: „Für M. J. Scheeben und seine Theologie ist Maria [...] in ihrer einzigartigen Christusbeziehung der begnadete Mensch schlechthin und damit das Urbild des in der Gnade stehenden Menschen, das Urbild der Kirche.“[2] Rahner selbst „bezeichnet die Mariologie als den 1. Teil jener christlichen Anthropologie, die mit der Christologie in einer ‚ungetrennten’ Einheit steht.“[3] So geht es auch und gerade ihm, wenn er Mariologie betreibt, nicht darum, „den hintersten Winkel eines an sich schon recht abgelegenen Hauses“[4] zu durchstöbern, sondern vielmehr „um die Behaustheit des Menschen schlechthin.“[5]

 

Damit ist bereits die Höhe der Fragestellung erreicht, die den erkenntnisleitenden Hintergrund dieser Arbeit bilden soll, nämlich die Frage nach der Berechtigung, Bedeutung und Verortung einer eigenständigen Mariologie angesichts der heutigen theologischen Situation. Denn diese nimmt sich ihrer Grundtendenz nach im wesentlichen noch so aus, wie sie Klaus Riesenhuber bereits 1973 beschrieben hat: „Während in den fünfziger Jahren eine Blüte mariologischer Studien, mit bedeutenden Ansätzen auch im protestantischen Raum, zu verzeichnen ist, verschwanden die mariologischen Themen seit dem Zweitem Vatikanischen Konzil fast völlig aus der theologischen Diskussion.“[6] Zwar sind inzwischen durchaus neuere Konzeptionen v. a. in der feministischen Theologie und der Befreiungstheologie entstanden.[7] Diese nehmen jedoch (im Gegensatz gerade zu den von der Suche nach einem mariologischen Grundprinzip geprägten Entwürfen) nur einen aus ihrem spezifischen Interesse her begründeten Teilaspekt Marias bzw. der Mariologie in den Blick, „insofern diese im Kampf gegen patrialistische [sic!] Repression die Autonomie der Frau anschaulich macht“ oder „zum meditativ-kämpferischen Prototyp des Christlichen wird“[8]. Daher läßt sich zur aktuellen theologischen Situation sagen: „Die traditionelle Mariologie befindet sich derzeit in einem Umbruch, so daß man einzelne Strömungen, aber noch keinen einheitlichen Gang der Forschung feststellen kann.“[9]

 

Diese Grundsituation hängt sicherlich zum einen damit zusammen, daß die das geistige Klima des „Marianischen Jahrhunderts“ zwischen ca. 1850 und 1950 prägenden Ereignisse[10] im allgemeinen wie auch im

 

theologischen[11] Bewußtsein in den Hintergrund traten. Zum anderen bündelte die durch das II. Vatikanische Konzil angestoßene bzw. offiziell für legitim und notwendig erklärte Auseinandersetzung mit den aufgrund des modernen Welt- und Menschenbildes fundamental in Frage gestellten christlichen Grundwahrheiten die theologisch produktiven Kräfte.[12] Doch auch die Entscheidung des Konzils selbst, zwar Aussagen über Maria zu verabschieden, diese aber in die Dogmatische Konstitution über die Kirche einzuordnen, dürfte dazu beigetragen haben, daß sich die mariologische Produktivität abschwächte.[13]

 

Letztendlich führte dieses Bündel von Faktoren dazu, daß „Mariologie“ als solche  im Bewußtsein Vieler in der postkonziliaren Ära als unmodern, sogar überholt angesehen wurde und wird[14] und es daher „heute geradezu um die Frage ihrer Existenz“[15] geht.

 

Vor diesem Hintergrund nun soll im folgenden die gerade während der „mariologischen Sattelzeit“[16] vor dem II. Vatikanum „vielerörterte Frage nach dem Prinzip der Mariologie“[17] im Werk Karl Rahners dargelegt werden. Dabei spiegelt sich die skizzierte Entwicklung der Mariologie exakt wider: Die Beschäftigung mit Rahners Theologie ist nach wie vor Gegenstand einer breiten theologischen Forschungstätigkeit, wie sich gerade im zurückliegenden Jubiläumsjahr (100. Geburtstag, 20. Todestag) an einer Fülle neuer Literatur zu seiner Person und seinem Werk erkennen läßt. Dies verwundert angesichts seines überragenden Einflusses auf viele Bereiche der systematischen, aber auch der praktischen Theologie des 20. Jahrhunderts[18] nicht. 

 

Seine mariologischen Schriften hingegen finden - ebenso wie auch die Versuche anderer Theologen zur Formulierung eines mariologischen Grundprinzips[19] - heute relativ wenig Beachtung. Dies liegt also nicht nur daran, daß Rahner andere theologische Themen ausführlicher behandelt hat und daß sein umfangreichstes mariologisches Werk, eine umfangreiche Studie zum Assumptio-Dogma, erst kürzlich veröffentlicht wurde[20], sondern ist als allgemeines Phänomen anzusehen.[21]

 

Besteht diese Vernachlässigung zurecht?[22] Oder kann nicht gerade Rahners Mariologie, quasi kondensiert in seinem mariologischen Grundprinzip, einen leichteren Zugang zu seiner Theologie liefern, wenn Mariologie der erste Teil einer christlichen Anthropologie ist (vgl. o. S. 1) und wenn Rahners Theologie gerade als „anthropologisch gewendete“[23] eben jenen oben angedeuteten Einfluß gewinnen konnte? Und kann nicht umgekehrt diese anthropologisch gewendete Theologie Rahners, wie sie sich auch in seinem mariologischen Grundprinzip niederschlägt, zu einer neuen Wertschätzung der Mariologie beitragen? Auch diesen Fragen soll, wie bereits angedeutet, in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden, und zwar in folgenden Schritten:

 

Zunächst wird der Begriff „mariologisches Grundprinzip“ näher in den Blick genommen, und zwar hinsichtlich seiner historischen Entwicklung, hinsichtlich seiner genaueren inhaltlichen Bestimmung (Bedeutung, Berechtigung und Leistungsanspruch) und hinsichtlich eines systematischen Überblicks über verschiedene Lösungsvorschläge, wobei sich zwangsläufig Überschneidungen ergeben werden.

 

Im Anschluß an diese Grundlegung ist Rahners eigener Ansatz zu untersuchen: Nach einigen Worten zu seinen für die Frage nach dem mariologischen Grundprinzip einschlägigen Schriften sind diese genauer im Hinblick auf die in ihnen enthaltene Entwicklung des Grundprinzips der vollkommen Erlösten zu analysieren, wobei auch grundsätzliche Aspekte von Rahners theologischen Denken mit einbezogen werden müssen. Sodann ist die „Durchführung“ dieses Grundprinzips an den einzelnen mariologischen Dogmen vorzunehmen.

 

Nach einer kritischen Rückfrage hinsichtlich der Vorteile wie auch der Problematik von Rahners Grundprinzip gilt es schließlich, den Ertrag von Rahners mariologischem Grundprinzip für eine heutige Mariologie - gerade angesichts der oben skizzierten grundsätzlichen Anfragen - wie auch für Rahners Gesamtwerk aufzuzeigen.

 

2. Zum Begriff „mariologisches Grundprinzip“

 

Um Rahners eigenen Ansatz richtig einordnen zu können, wird im folgenden zunächst die historische Entwicklung hinsichtlich der Frage nach einem mariologischen Grundprinzip nachgezeichnet, sodann die grundlegenden systematischen Aspekte in Bezug auf ein solches Prinzip reflektiert und schließlich eine Systematisierung der verschiedenen vorhandenen Lösungsvorschläge versucht.

 

2.1 Der theologiegeschichtliche Weg zur Idee eines mariologischen Grundprinzips

 

Die Idee eines mariologischen Grundprinzips gehört - als explizit behandeltes theologisches Thema - zu den sehr jungen Entwicklungen innerhalb der Überlegungen über die theologische Bedeutung Marias.

 

Das heißt aber nicht, daß man über Maria nicht schon vorher systematisch-theologisch nachgedacht hätte. Bereits in der Vätertheologie wurden die beiden Hauptströmungen grundgelegt, die - je später, desto deutlicher - die Blickrichtung für eine theologische Reflexion über Maria vorgaben: Einerseits die wechselseitige Beziehung und Erhellung von Maria und Kirche (ekklesiotypische Richtung), andererseits die Rolle Marias im Hinblick auf die Menschwerdung und das Heilswerk des Logos (christotypische Richtung) - letzterer wurde (nach der Dogmatisierung der Gottesmutterschaft Mariens  auf dem Konzil von Ephesus (431)) für lange Zeit der Vorzug gegeben.[24] Seit jener Dogmatisierung war auch das Moment, welches schließlich zur Entwicklung eines mariologischen Grundprinzips führte, zumindest unbewußt wirksam, nämlich das Streben nach Einheitlichkeit in der Marienlehre.[25] In der Patristik und der folgenden Zeit wurde jedoch über Maria noch „nicht enzyklopädisch, sondern je über ein spez.[ielles] Thema“[26], das mit Maria im Zusammenhang stand, nachgedacht, und zwar weniger in systematischen Texten, sondern eher in Predigten, Gedichten und Hymnen.[27] In den mittelalterlichen Summen werden, der Grundentscheidung des Konzils von Ephesus folgend, die marianischen Themen im Rahmen der Christologie behandelt: „Zusammen mit der Inkarnation des Logos kam das Grunddogma der G[ottes]M[utter]schaft zur Sprache, um das sich dann die anderen damals schon entfalteten marian.[ischen] Lehren leicht gruppieren ließen.“[28] Das heißt aber auch, daß die Theologen zu dieser Zeit bereits bestrebt waren, sowohl die theologischen Aussagen über Maria an einem Ort zu sammeln als auch ihre Einordnung in das Gesamtgefüge des Glaubens zu beachten[29] - in „the Middle Ages [...] speculation about Mary began to assume the characteristics of an organized theological tract.“[30]

 

Die bei der Entwicklung einer systematischen Mariologie (hier als Metadisziplin betrachtet)[31] zu entscheidende wissenschaftstheoretische Grundfrage, „ob die darin implizierten Perspektiven u. Gesichtspunkte jeweils in der althergebrachten, durch die Sentenzen des Petrus Lombardus fast allgemein akzeptierten Lehrstücken untergebracht od. in einer in sich geschlossenen mariolog. Gesamtdarstellung verarbeitet werden sollen“[32], wurde jedoch erst in der beginnenden Neuzeit zugunsten der zweiten Option beantwortet: Nun entsteht im Kontext der „Barockscholastik“ im 16. Jahrhundert die „Mariologie“ als eigenständiger dogmatischer Traktat, welcher sich von der vorangehenden Epoche in Selbständigkeit, Gründlichkeit und Umfang abhebt.[33] Neben späteren Autoren[34] können v. a. der Spanier Francisco Suarez mit seinem Werk „De mysteriis vitae Christi“ von 1592, das die bereits 1584/85 entstandenen 24 „Quaestiones de B. M. Virgine in summa contractae“ enthält[35], und der Italiener Placido Nigido mit dem ersten eigenständigen mariologischen Werk „Summae sacrae Mariologiae, pars prima“ von 1602 als Begründer des mariologischen Traktats gelten: Suarez wurde als erster systematischer Mariologe bezeichnet[36], Nigido verwendet wohl als erster den Begriff „Mariologie“, welcher jedoch erst im 19. Jahrhundert allgemeine Akzeptanz und Verwendung in der Theologie findet.[37] Seitdem hat sie als eigenständiger theologischer Traktat[38] - wenn auch an verschiedenen Orten innerhalb des Ganzen der Theologie - einen festen Platz in der Schultheologie.

 

Es zeichnet sich also, so ist festzuhalten, eine zunehmende Tendenz zu einer Systematisierung im theologischen Nachdenken über Maria ab: „In der dogmengeschichtl. Entwicklung zeigte sich, daß die in der Selbsterschließung Gottes implizierte Offenbarung über Maria eine Reihe von Glaubensaussagen über Maria erlaubt, die ihrerseits wieder zu einem geordneten Ganzen od. vielmehr zu einem Teilganzen innerhalb der Gesamttheologie vereinigt werden können“[39], wenn nicht sogar müssen.[40]

 

Genau diese Tendenz zu einem geordneten Ganzen führte schließlich im 19. Jahrhundert zur Entwicklung von explizit formulierten mariologischen Grundprinzipien. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklung der Mariologie hin zu einer allmählich wachsenden Systematisierung läßt sich auch gut verstehen, warum man in den einschlägigen Beiträgen ganz unterschiedliche Angaben zu impliziten „ersten Ansätzen“ für ein Grundprinzip findet: O. Semmelroth sieht schon bei den ersten von Maria sprechenden Vätern ein Grundprinzip - nämlich in ihrem „heilbringenden Gehorsam“ als „zweite Eva“ - gegeben.[41]  Für L. Scheffczyk erscheint in den Hymnen (!) Johannes Geometers (+ um 990) die „strahlende Jungfräulichkeit“ Mariens als ein solches Prinzip[42], H.-M. Köster erwähnt den Begriff zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem „Mariale“ des Pseudo-Albertus Magnus aus dem 13. Jahrhundert, in dem er Marias „Tugendfülle“ als Fundamentalprinzip ansieht[43]. Relative Einmütigkeit scheint darüber zu bestehen, daß mit Johannes Gerson (+1429) ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem mariologischen Fundamentalprinzip gemacht wurde, bei dem ein solches in Maria als dem „am vollkommensten erlösten Geschöpf“ (!) erhoben werden kann.[44] Wie ein roter Faden erscheint in der Theologiegeschichte immer wieder Mariens Gottesmutterschaft als Ausgangspunkt für die theologische Reflexion über sie (z.B. bei Eadmer [+1141], Thomas v. Aquin [+1274], F. Suarez [+1617])[45], worauf noch ausführlicher einzugehen sein wird.

 

Es dürfte jedoch der katholische Dogmatiker Johannes Heinrich Oswald (+ 1903) gewesen sein, der schließlich die explizite Suche nach einem mariologischen Fundamentalprinzip einleitete, und zwar mit seinem Werk „Dogmatische Mariologie“ von 1850. Darin kritisiert er an den „neueren“ Dogmatiken „die nur beiläufige Erwähnung Mariens anläßlich der Inkarnation, anläßlich der Erbsünde und anläßlich der Heiligenverehrung“ und die daraus folgende Zerrissenheit, an den „älteren“ monographischen Darstellungen, „daß sie unter vielen Details vermissen lassen, worauf es ankommt und was allein die Rolle Mariens in Liturgie und Frömmigkeit der Kirche erkläre“.[46] „Wir können sagen, daß hier (vielleicht zum ersten Mal!) die Forderung nach einer mariologischen Grundidee oder nach einem mariologischen Fundamentalprinzip erhoben wird.“[47]

 

Inhaltlich erfüllt wird diese Forderung jedoch von Oswald noch nicht, denn: „Erst seit Scheeben gibt es ein bewußtes Suchen nach einem Grundprinzip für die Mariologie“[48], erst Scheeben bringt dafür ein eigenes Konzept. In Bezug auf Oswald sollte aber noch festgehalten werden, daß sich in seiner Kritik zumindest ein „Bedürfnis nach einem organischen Gesamtverständnis Mariens [meldet], das über die Mutterschaft hinausgreift“[49]. 

 

2.2 Begriffsbestimmung, Berechtigung und Anforderungen für ein mariologisches Grundprinzip

 

Nachdem im obigen historischen Überblick der Weg bis hin zur Schwelle der Epoche einer  expliziten Suche nach einem mariologischen Grundprinzip beschritten worden ist, muß nun die inhaltliche Bestimmung dessen, um was es bei dieser Suche überhaupt geht, näher in den Blick genommen werden.

 

2.2.1 Begriffsbestimmung: Was ist unter einem mariologischen Grundprinzip zu verstehen?

 

Die Frage nach einem mariologischen Grundprinzip ist, wie in der Einleitung bereits angedeutet, Teil des dreigliedrigen wissenschaftstheoretischen Grundproblems, „an welcher Stelle innerhalb der Gesamttheologie von Maria gesprochen werden soll.“[50] Der erste  Teil betrifft die bis heute immer wieder neu umstrittene Frage, ob und warum überhaupt ein eigenständiger theologischer Traktat über Maria entwickelt werden soll. Der zweite Teil betrifft die Frage nach dem Ort der Mariologie im Ganzen der dogmatischen Theologie und der dritte schließlich die Frage nach einem mariologischen Grundprinzip[51], wobei man bzgl. dieser letzten Frage mit K. Rahner noch differenzieren kann zwischen der Frage nach einem „Grundprinzip seiner [sc. des mariologischen Traktats; M.K.] inneren Struktur“[52] und der Frage nach dem mariologischen Grundprinzip überhaupt, die zwar „ungefähr sachlich“ aber „formal nicht ganz“[53] übereinstimmen. Das dürfte mit dem über ein rein innermariologisches Ordnungskriterium hinausgehenden Fragekomplex, in dem sich das Problem eines mariologischen Grundprinzips befindet, zusammenhängen.[54]

 

In dieser Differenzierung klingt schon die Schwierigkeit einer einheitlichen Definition dessen, was unter einem „mariologischen Grundprinzip“ eigentlich genau zu verstehen ist, an. Allein schon die Benennungen sind vielfältig[55]: Neben „Grundprinzip“ finden sich auch „Fundamentalprinzip“, „Grundwahrheit“, „Leit- und Ordnungsidee“, „Grundidee“, „erstes Prinzip“, „Einheitsprinzip“, wobei „Grundprinzip“ und „Fundamentalprinzip“ die beiden am häufigsten verwendeten Bezeichnungen sein dürften. Gelungen - und für den weiteren Fortgang dieser Arbeit nicht unwichtig - scheint die von M. Schmaus vorgenommene Unterscheidung „zwischen der Grundfunktion, welche Maria im Heilsgeschehen ausübt, und dem Grundgesichtspunkt eines mariologischen Traktates“[56] zu sein.

 

Da die Frage nach einem solchen Grundprinzip nur in der Mariologie einschlägig ist[57] - zumindest gibt es in den anderen dogmatischen Traktaten keine vergleichbaren ausführlichen Auseinandersetzungen über ein solches Prinzip[58] - liegt die Frage nach der Ursache dieses Phänomens auf der Hand. Zeigt sich darin vielleicht eine prinzipielle Schwäche der Mariologie - z. B. ein „angeblich stark spekulativ-systematischer Charakter“[59], resultierend aus ihrem materiell schwachen Offenbarungsfundament? Dies kann jedoch nicht die alleinige Ursache sein, denn bei „genauem Zusehen würde sich ähnliches wohl auch bei anderen Punkten, etwa in der Sakramentenlehre, zeigen.“[60]

 

Vielmehr hängt die Antwort mit der Tatsache zusammen, daß die Mariologie als solche, wie oben unter 2. 1 skizziert, ein relativ junger theologischer Traktat ist, der sich in das bereits längst vorgegebene System der Gesamttheologie einfügen mußte (ganz zum Stillstand gekommen ist dieser Einfügungsprozeß ja bis heute nicht). Dieses Problem stellt gewissermaßen die äußere Stoßrichtung für die Frage nach einem mariologischen  Grundprinzip dar. Die innere Stoßrichtung ergibt sich aus folgendem Sachverhalt: Vor (im zeitlichen und ontologischen Sinn) der theologischen Reflexion auf Maria steht die marianische Frömmigkeit.[61] Aus ihr ergibt sich aber notwendig die Frage, wo denn der innere Sinn der Mariengestalt liegt. „Diese Frage drängt sich auf, weil man ahnt, daß es einen solchen Sinn geben muß. Geht man dann an die Theologie [...] so ist man enttäuscht, wie wenig diese Frage beantwortet wird. In der Mariologie noch weniger als in anderen theologischen Traktaten.“[62] Diese unbefriedigende Situation zu verbessern kann als ein inneres Moment hinter der Suche nach einem mariologischen Fundamentalprinzip angesehen werden.[63] Ein zweites inneres Moment ist von noch fundamentalerer theologischer Natur. Es folgt „aus dem Reichtum der Prärogativen M[aria]s und der geschichtlichen Prägung ihres Werkes, die von Gottes freier Gnade und der zeitlichen Kontingenz allen Heilsgeschehens bestimmt ist. Soll der göttlichen Freiheit der Anschein der Willkür genommen und die geschichtliche Kontingenz des an M[aria] Geschehenen vor dem Verdacht des Zufälligen bewahrt werden, so stellt sich die Frage nach einer einheitsstiftenden Idee der marian.[ischen] Wahrheiten“[64].

 

2.2.2 Berechtigung: Warum ist es sinnvoll, nach einem mariologischen Grundprinzip zu suchen?

 

Aus der soeben angeführten Formulierung ergibt sich m. E. auch die „Letztbegründung“ dafür, warum es überhaupt sinnvoll ist, nach einem mariologischen Grundprinzip zu suchen. Denn: „Gegen ein solches Fundamentalprinzip wird bisweilen eingewendet, es führe zu metaphysischen Spekulationen und weg von der konkreten Erfahrung des ‚Mysterium Marianum’.“[65] Dazu ist mit Paul Schmidt festzuhalten, „wie sehr gerade die marianische Frömmigkeit einer engen Wechselwirkung von Praxis (Frömmigkeit) und Reflexion (Theologie) bedarf, wenn sie nicht ins rein Gefühlshafte und Sentimentale abgleiten soll.“[66].

 

Weiterhin wird gefragt, „ob es überhaupt ein solches Grundprinzip geben muß; denn es besteht keineswegs eine Notwendigkeit für eine hierarchische oder logische Anordnung der Heilswahrheiten und ihre Ableitung aus einem einzigen Fundament.“[67]

 

Was jedoch ohne ein gemeinsames Fundament der Mariologie passiert, zeigt folgende Äußerung J. Stöhrs deutlich: „Manchmal betonte man [in den theologischen Handbüchern; M.K.] etwas einseitig den Aspekt der außerordentlichen Würde M[aria]s, so daß es zu einer bloßen Darstellung von Privilegien kam und die Gestalt M[aria]s weniger deutlich im Zusammenhang der Heilsgeschichte gesehen wurde. R. Laurentin wandte sich daher auf der anderen Seite kritisch sogar gegen die Wortbildung ‚Mariologie’ (auf dem Mariol. Kongreß in Rom, 1975) und gegen jede Isolierung eines entsprechenden mariol. Traktates.“[68] - Ohne ein mariologisches Grundprinzip als „Gravitationszentrum“ (vgl. die auch verwendete Bezeichnung „Einheitsprinzip“!) käme es zu einer wissenschaftlichen Regression[69] insofern, als sich die Mariologie buchstäblich in ihre Bestandteile auflösen würde. Die Frage nach der Existenzberechtigung eines eigenen mariologischen Traktates ist, wie in der Einleitung bereits angedeutet, mit der Frage nach dem mariologischen Grundprinzip aufs Engste verknüpft: „Sobald man aber einen eigenen Traktat über Maria schafft, muß sich die Frage erheben: Wie bauen wir diesen Traktat über Maria auf? Denn es stünde schlecht um die theologische Wissenschaft, wenn sie sich mit einem Aneinanderreihen von Einzellehren über die Gottesmutter zufrieden gäbe.“[70] - Ein solches „Aneinanderreihen von Einzellehren“ wäre nämlich keine „Mariologie“ mehr.[71] Des weiteren ist ein mariologisches Grundprinzip prinzipiell (und, je nach seiner inhaltlichen Bestimmung, auch materiell) ein echtes Gegengewicht zu einer freischwebenden „Privilegienmariologie“, welche (spätestens) mit dem 8. Kapitel der dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ des II. Vatikanischen Konzils theologisch überwunden ist[72] - insofern kann ein mariologisches Fundamentalprinzip auch als notwendiger Bestandteil einer modernen Mariologie angesehen werden. Auch im Hinblick auf die ökumenische Diskussion gilt es, das hinter der Suche nach einem mariologischen Grundprinzip stehende (nach „außen“ gerichtete) Anliegen, „alles, was sich in Theologie und Glaube auf Maria bezieht, zu sehen und mit möglichst vielen der übrigen Heilswahrheiten zu verbinden“[73], theologisch zu sichern. Kritiker eines mariologischen Fundamentalprinzips müßten die Frage beantworten, wie ihnen dies ohne ein solches Prinzip denn besser gelingen würde.