Die Informantin - William Ryan - E-Book

Die Informantin E-Book

William Ryan

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

In der Kälte der Nacht

Alexei Koroljow, Hauptmann der Moskauer Kriminalmiliz, wird zu einem Mordfall an ein Filmset gerufen. Die allmächtige Staatssicherheit erwartet rasche Aufklärung des Falls und insbesondere Diskretion, da die Tote eine Geliebte des wichtigen Tschekisten Rodinov war. Koroljow, dem die junge Kommissarin Slivka zur Seite gestellt wird, weiß, was ihm blüht, wenn er diesen Fall nicht aufklärt. Doch schon bald stellen sich ihm mächtige Widersacher entgegen.

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Seitenzahl: 456

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Die Originalausgabe The Bloody Meadowerschien 2011 bei Macmillan, London
Copyright © 2011 William Ryan
Copyright © 2012 by Wilhelm Heyne Verlag, Münchenin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Tamara RappUmschlagfoto: © Max Dereta/Workbook Stock/Getty ImagesUmschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, MünchenSatz: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-11193-9V002
www.heyne.dewww.randomhouse.de

Zum Buch

Der Moskauer Kriminalkommissar Alexei Koroljow wird zu einem Mordfall an ein Filmset gerufen. Die Staatssicherheit erwartet rasche Aufklärung des Falls. Koroljow, dem die junge Kommissarin Sliwka zur Seite gestellt wird, weiß, was ihm blüht, wenn er diesem Wunsch nicht entspricht. Unter Hochdruck machen sich die beiden an die Ermittlungen. Ein erster Verdächtiger ist bald gefasst, der jedoch kurz darauf unter mysteriösen Umständen zu Tode kommt. Koroljow findet schnell die Verbindung zwischen beiden Mordfällen, doch dann kommt er einer Intrige auf die Spur, die ihn das Leben kosten könnte.

Zum Autor

William Ryan, 1965 in London geboren, ist in Irland aufgewachsen. Er hat als Anwalt und Justiziar gearbeitet, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Nach Russisches Requiem ist Die Informantin William Ryans zweiter Roman um Kriminalkommissar Alexei Koroljow.

Inhaltsverzeichnis

Zum BuchZum AutorWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29PERSONENVERZEICHNISANMERKUNGEN DES AUTORSCopyright

Für Alexander. Zu seinem ersten Geburtstag.

1

Wie Rauch wirbelte Schnee oder Schneeregen oder irgendetwas dazwischen um sie herum und schien bei der Berührung mit Stoff sofort festzufrieren, denn auf ihren Kleidern bildete sich ein weißer Guss. Schon seit Tagen regnete oder schneeregnete es, je nachdem, wie man es betrachtete, und sie mussten ihre Schritte vorsichtig wählen, um ihr Ziel zu erreichen.

Mit unguten Vorahnungen folgte Hauptmann Alexei Dimitrjewitsch Koroljow dem Direktor des Mikojan-Kombinats für Landmaschinen – zusammen mit zwei Uniformierten und seinem Kollegen Jasimow. Koroljow wusste, dass ihm eine unangenehme Aufgabe bevorstand. Es roch einfach danach. Das hatte auch der Direktor angedeutet, als sie ihm mitteilten, dass sie einen von seinen Leuten verhören wollten. Zunächst hatte er sich sehr hilfsbereit gezeigt, doch als sie ihm den Namen des Mannes nannten  – Schischkin – und er nachgesehen hatte, wo sie ihn finden konnten, änderte sich auf einmal seine Haltung.

»Schischkin, Schischkin, Schischkin.« Er ging die Karteikarten in seinem Aktenschrank aus Holz durch. »Ah, da haben wir ihn. Arbeiterwohnheim sieben. Das hätte ich mir denken können.«

Koroljow konnte keine Gedanken lesen, doch die Vermutung lag auf der Hand, dass das Arbeiterwohnheim sieben einen gewissen Ruf hatte, und während sie darauf zumarschierten, verdichtete sich in ihm ein düsterer Verdacht. Der Direktor deutete auf ein langes, einstöckiges Holzgebäude, dessen Schrägdach sich unter dem dicken Schneebelag zu biegen schien. Das Heim hatte keine Regenrinnen, und an den Seiten reichte ein Vorhang aus gefrorenem Schmelzwasser hinunter zu den Schneewehen, die sich bis auf halbe Höhe der Außenwände türmten. Die wenigen kleinen Fenster lugten hoch unter dem Dachvorsprung hervor, und mehrere Scheiben waren mit dem Erstbesten ersetzt worden, was man gefunden hatte. Es war ein Ort, an dem die frisch vom Land eingetroffenen Arbeiter sich nach innen wandten und versuchten, auf einer Fläche von der Größe einer Viehscheune ihr Heimatdorf wiederzuerschaffen.

Für Außenstehende hatten diese Leute garantiert nichts übrig. Wahrscheinlich mochten sie nicht einmal die Bürger, die in den umliegenden Wohnheimen lebten. Nein, dieser Ort war eine winzige Insel im weiten Meer der Großstadt. Und im Grunde genommen lag diese Insel gar nicht in Moskau und nicht einmal in der Sowjetunion  – sie lag in einer völlig anderen Sphäre.

»Ich setze da keinen Fuß hinein, Genosse.« Der Direktor blieb stehen. »Und auch Ihnen möchte ich davon abraten. Ich habe Ihnen gezeigt, wo er nächtigt. Aber an Ihrer Stelle würde ich warten, bis er rauskommt.«

Achselzuckend warf Koroljow einen Blick auf Schischkins Fotografie und zeigte sie noch einmal den anderen, um ihr Gedächtnis aufzufrischen. Ein breites, glattrasiertes Gesicht mit einem dichten blonden Haarschopf, ein rundes, stark wirkendes Kinn, gerade Lippen. Wie ein Mörder sah er nicht aus – eigentlich hatte sein Gesicht sogar etwas Offenes und Frisches. Doch offenbar hatten Schischkin und sein Bruder miteinander getrunken, und Koroljow wusste nur allzu gut, dass Alkohol einen Heiligen in einen Teufel verwandeln konnte. Der Bruder war Vorarbeiter einer Gummifabrik im Stadtbezirk Frunse gewesen und hatte anscheinend Schischkins Bitte um eine Stelle abgelehnt. Wenn Wodka durch die Adern von Männern floss, konnte eine kleine Zurückweisung zu einer tödlichen Beleidigung werden. Koroljow hatte einmal einen Fall gehabt, in dem zwei Männer wegen einer Essiggurke zerstückelt worden waren.

»Wie viele Leute sind da drin?«, erkundigte sich Koroljow.

»Fünfhundert Seelen, ein paar mehr oder weniger«, antwortete der Direktor.

Koroljow war klar, was er meinte. Es gab Freunde und Verwandte, die nicht bei der Genossenschaft arbeiteten, dazu kamen Todesfälle und Geburten. Vor dem Wohnheim trieben sich rund zwanzig abgerissene Kinder herum, und bestimmt war mehr als die Hälfte davon auf keiner Liste eingetragen, die dem Direktor vorlag.

»Sie müssen schon verstehen.« Mit einem Nicken deutete der Direktor auf einen Pulk Männer, die beim nächsten Eingang aufgetaucht waren. »Dort endet meine Autorität. Über diese Schwelle trauen sich nicht einmal Parteiaktivisten. Die Bewohner haben ihre ganz eigenen Regeln, und es ist für alle Beteiligten das Beste, wenn wir ihnen ihren Willen lassen.«

Koroljow spähte hinüber zu den Arbeitern an der Tür – ölverschmierte, zähe, rabiate Muskelpakete, die bestimmt nicht besonders gut auf die Miliz zu sprechen waren. Noch einmal schielte er auf Schischkins Schnappschuss. »Trotzdem. Wir müssen rein und mit ihm reden.«

Die Laune seiner beiden uniformierten Begleiter schien nicht unbedingt gestiegen zu sein seit dem letzten Blick, den er ihnen zugeworfen hatte. Jasimow wirkte schicksalsergeben, und Koroljow ertappte ihn dabei, wie er auf die Jackentasche klopfte, in der sein Revolver steckte. Sie alle kannten solche Wohnheime, in denen ganz andere Gesetze herrschten als im Rest der Stadt, geduldet von Männern wie dem Direktor, die verzweifelt darum rangen, die Fabrikquoten einzuhalten. Koroljow steuerte auf den Eingang zu und hoffte, dass ihm die Uniformierten folgten. Als sie sich näherten, machten die Arbeiter Platz, aber in ihren harten Augen leuchtete kein Funke von Freundlichkeit, und er konnte hören, wie sie sich hinter ihnen zusammendrängten und ihnen den Rückweg abschnitten.

Er drückte die Tür des Wohnheims auf und trat ein.

Es war genau so, wie er es erwartet hatte – wie das Innere eines Ameisenhaufens –, sofern man sich im Jahr des Herrn 1937 in Moskau lebende Menschen als Ameisen vorstellte. Überall Leute und ihre Habseligkeiten. An einer Wand waren kleine, stallartige Verschläge für Familien errichtet worden, in deren leere Türrahmen die glücklichen Besitzer Decken oder Laken gehängt hatten, um ein wenig für sich sein zu können. Ansonsten jedoch war jeder Zentimeter Boden mit Betten, Matratzen und Sackleinen bedeckt, auf denen die restlichen Bewohner des Heims schliefen, saßen, Karten spielten, tranken, rauchten oder anderen Beschäftigungen eines zufriedenen Bürgers in seinen eigenen vier Wänden nachgingen – nur dass er diese Wände hier mit einem halben Tausend anderer teilen musste. Über den Menschen baumelten an kreuz und quer durch den Raum gespannten Wäscheleinen feuchte Kleidungsstücke und Bettzeug und machten jeden Blick zur Decke unmöglich. Koroljow hielt kurz inne, um die Szenerie auf sich wirken zu lassen. Als er schließlich langsam seinen Weg fortsetzte, musterte er im Vorbeigehen jedes einzelne Gesicht und wurde umgekehrt genauso sorgfältig in Augenschein genommen.

Sanft, aber beharrlich, schob sich Koroljow vorbei an den Leuten, die vor den Betten und Schlafplätzen herumstanden, und hielt nach Schischkin Ausschau. Wenigstens war es warm, auch wenn es die Wärme eines vollen Viehstalls war. Wahrscheinlich gaben die Gussöfen, die auf halber Höhe des Raums alle sieben oder acht Meter aufgestellt waren, weniger Hitze ab als die zusammengepferchten Bewohner. Es hatte keinen Zweck, nach dem Mann zu fragen. Hier würde ihm niemand Auskunft geben. Schon jetzt wirkte die Anwesenheit von Milizionären wie ein Stein, der in einen Teich gefallen war: Vor ihnen rollte eine Welle der Stille her, bis es ihm vorkam, als wäre das lauteste Geräusch im ganzen Heim der schwere Tritt seiner genagelten Absätze auf den Holzdielen. Er verwünschte diese Stiefel, erst vier Monate alt und von erlesener Qualität, die hier so fehl am Platz waren wie ein Kronleuchter aus Kristall. Außerdem drückten sie ihm einen Stempel auf, und es war ein Stempel, den er nicht mochte. Wenigstens wandten sich ihm die Gesichter, die sich weiß von der fleckigen Arbeitskleidung abhoben, eines nach dem anderen stumm zu und erleichterten ihm dadurch die Suche nach Schischkin ein wenig.

Das Wohnheim war in zwei Haupträume aufgeteilt, dazwischen lag ein Koch- und Waschbereich. Je weiter sie zur Mitte des Gebäudes vordrangen, desto weniger waren seine Stiefel zu hören. Andere Geräusche wurden stärker: Husten, das Rascheln von Kleidern, das Schnarchen schlafender Arbeiter, tropfendes Wasser, das Gackern eines zwischen den Betten herumtrippelnden Huhns. Noch immer keine Spur von Schischkin, aber das war im Moment wohl das geringste Problem. Frauen und Kinder wurden in die Schlafnischen gewinkt und jüngere Männer geweckt, damit sie aufstanden und das Vorrücken der Milizionäre aus trüben Augen beobachten konnten. Koroljow registrierte, dass ihnen Leute durch den ganzen Bau folgten, doch er wandte sich nicht um. Denn dann hätte er ihnen die Stirn bieten und sich auf Scherereien gefasst machen müssen. Mit straff gespannten Schultern marschierte er weiter durch die plötzliche Wärme aus dem Kochbereich, wo sich Frauen mit roten Gesichtern über Petroleumkocher beugten, die brausten wie Hochöfen.

Der zweite Raum war genauso wie der erste, und auch hier zog ihre Ankunft deutliche Auswirkungen nach sich. Ein Bursche mit zerzaustem Haar spielte Akkordeon, doch die Musik brach jäh ab, als er die spitzen braunen Budjonowkamützen der beiden Uniformierten bemerkte. Andere graue Wintergesichter wandten sich um, und in ihren wachsamen Augen leuchtete die Frage, was die vier Eindringlinge hier wollten. Hinten in einer Ecke las ein weißhaariger Greis mit dünnem Bart unter der Hakennase einem Kreis von Männern und Frauen vor, die den Kopf geneigt hielten. Koroljow ging es nichts an, aber er hätte einen ganzen Monatslohn darauf verwettet, dass der Alte ein ehemaliger Priester war und aus einer Bibel vortrug. Er blickte auf und sprach, ohne den Blick von den Eindringlingen zu nehmen, ein paar ruhige Worte, die zur stillen Auflösung der Zuhörer führten. Dann steckte der Mann das Buch in eine Tasche und setzte sich auf ein Bett, um abzuwarten. In seinen Augen lag keine Furcht, doch Koroljow schaute trotzdem weg, um ihm zu zeigen, dass er es nicht auf ihn abgesehen hatte.

Erst durch dieses Abwenden des Blicks wurde er auf den schlafenden Schischkin aufmerksam. Der blonde Haarschopf war der gleiche wie auf dem Bild, aber das Gesicht war nicht mehr so offen. Offenbar hatte Moskau den lächelnden Jungen nicht gut behandelt. Nach ein oder zwei Fausthieben war seine Nase schief geblieben, und eine halb verheilte Narbe hatte den größten Teil seiner linken Augenbraue ersetzt. Ohne auf die von hinten herandrängenden Männer zu achten, die den einzig sichtbaren Ausgang versperrten, beugte sich Koroljow vor, um Schischkin wachzurütteln. Um das andere Problem konnte er sich kümmern, wenn es an der Zeit war.

»Aufwachen, Bürger.«

Der junge Bursche stank nach Alkohol und hatte sich seit ein oder zwei Tagen nicht mehr rasiert. Als er sich im Schlaf umdrehte und eine Hand ans Gesicht hob, fielen Koroljow die dunklen Flecken auf den Kleidern und das schwarz verkrustete Blut am Handgelenk auf. Koroljow schüttelte ihn erneut, und plötzlich riss Schischkin die Augen auf – als wäre er aus einem bösen Traum hochgeschreckt.

»Schischkin, Iwan Nikolajewitsch – das sind Sie doch, oder?«

Der Blick des jungen Mannes wurde ein wenig klarer, und er nickte langsam, obwohl er sich seiner Sache offenbar nicht ganz sicher war.

»Ich bin Hauptmann Koroljow von der Moskauer Kriminalmiliz. Petrowka-Straße.«

Er hörte, wie seine Worte durch den Bau weitergegeben wurden. Die Petrowka-Straße kannten sie natürlich, sie war berühmt. Ein sowjetischer Scotland Yard, zumindest hieß es so.

»Was wollen Sie?« Schischkins Aussprache war noch immer undeutlich vom Alkohol.

»Wo waren Sie gestern Abend, Bürger?«

In den Augen des jungen Mannes regte sich etwas. Noch keine richtige Erinnerung, aber Unbehagen. »Hier. Ich war hier.«

»Was haben Sie denn da an der Hand, Bürger? Ist das Blut?«

»Ich weiß nicht. Ich hab was getrunken. Na und? Vielleicht bin ich in eine Schlägerei geraten.«

»Waren Sie bei Ihrem Bruder? Haben Sie dort getrunken? Bei Tolja?«

»Nein, ich war hier.« Seine Worte schienen nicht einmal Schischkin selbst zu überzeugen.

»Sein Nachbar hat beobachtet, dass Sie um acht Uhr die Wohnung betreten haben. Später hat er gehört, wie Sie sich mit Ihrem Bruder streiten. Dann ein Getümmel. Zuletzt Stille. Das waren Sie doch, oder?«

Schischkin stritt es nicht ab. Sein Blick konzentrierte sich auf die vergangene Nacht, auf eine Erinnerung, die er fürchtete.

»Er ist tot, Bürger.«

Aus Schischkins Gesicht wich jede Farbe. Vielleicht war ihm etwas eingefallen, vielleicht war ihm das Gesicht seines Bruders erschienen, kurz bevor er ihn mit dem ersten Schlag getroffen hatte.

»Das Blut an Ihrer Hand – wo kommt es her?«, fragte Koroljow erneut.

»Blut? Welches Blut?« Endlich richtete der Junge die Augen auf die eingetrockneten Flecken am Handgelenk und an der Jacke. Er schluckte schwer.

Sofort setzte Koroljow nach. »Wie sind Sie wieder hierhergekommen? Zu Fuß?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie waren also dort?«

»Nein.« Schischkins Blick wich Koroljow aus.

»Sie müssen mitkommen, Bürger. Wir wollen Ihnen einige Fragen stellen.«

»Das ist alles eine Lüge. Der Nachbar lügt. Ich war hier. Wahrscheinlich hat ihn der Nachbar umgebracht. War scharf auf sein Zimmer – ein gutes Zimmer. Für ein Zimmer einen Menschen töten, nicht mal der Teufel brächte so was fertig.«

Koroljow wandte sich um und bemerkte den Schreck in den Gesichtern der Umstehenden. »Kann jemand bestätigen, dass dieser Mann gestern Abend zwischen acht und elf hier war? Irgendjemand?«

Koroljow sah sich um. Vielleicht bestand doch die Chance, dass die Sache ohne Ärger abging. Eine ganz kleine Chance.

»Warum sollte ich Tolja umbringen?« Schischkins Frage durchschnitt die Stille. »Ihr wisst doch, wie diese Kerle sind, Brüder. Die saugen sich irgendwelche Lügen aus den Fingern, um einen anzuschwärzen. Ich will nicht für das Verbrechen eines anderen bezahlen.«

Stumm ließen sich die Arbeiter das Gehörte durch den Kopf gehen.

Koroljow spürte förmlich, wie sich das Blatt gegen ihn wendete. »Auf dem Hammer sind Fingerabdrücke, Bürger. Wenn sie nicht von Ihnen stammen, wird Ihnen nichts passieren. Mein Wort darauf.«

Ein älterer Mann mit leuchtend blauen Augen in einem hochroten, bärtigen Gesicht bahnte sich gefolgt von einer Frau einen Weg durch die Menge. Die Frau hatte ein ovales Gesicht, die Haut war rau von jahrelanger Arbeit auf den Feldern und das glatt nach hinten gebundene graue Haar bedeckt von einem weißen Kopftuch. Allem Anschein nach die Heimältesten.

»Wanja, schwöre uns, dass du nichts damit zu tun hast.« Die Stimme der Frau war fast so tief wie die eines Mannes. Eine angenehme Stimme, aber fest wie ein Fels.

»Nicht das Geringste, ihr müsst mir glauben. Ich war die ganze Zeit hier. Keiner kann sich erinnern, weil ich geschlafen habe.«

»Warum sind Sie dann nicht bestürzt, Bürger? Ihr Bruder wurde ermordet, und Sie streiten nur ab, dass Sie es waren. Trauern Sie denn nicht um Ihren Bruder?« Koroljows Worte hingen schwer in der Luft, und aus dem Augenwinkel bemerkte er hier und da ein beifälliges Nicken. Im Moment war jedoch entscheidend, dass er ausschließlich Schischkin ansah, warum, wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht weil es darauf ankam, den Mann mit kaltem Blick zu beeindrucken.

»Sie verdrehen alles – das macht ihr Teufel doch immer so. Er war mein Bruder. Kein Haar hätte ich ihm krümmen können.«

»Und was ist mit dem Blut, Bürger?« Koroljow ritt auf dieser Frage herum, weil ihm klar war, dass auch sein Publikum eine Antwort darauf erwartete.

»Welches Blut? Nur eine Rauferei, sonst nichts. Aber natürlich, so springt ihr mit den Leuten um. Weckt sie auf und erzählt ihnen irgendwelche Geschichten. Um sie zu verwirren. Womöglich lebt er noch.«

»Er ist tot.« Koroljows Stimme war tonlos. »Er wurde mit einem Hammer umgebracht. Mit drei Schlägen. Der erste hat das linke Jochbein zertrümmert.« Koroljow legte Schischkin den linken Daumen aufs Gesicht, um zu demonstrieren, wo der Hammer getroffen hatte.

»Der nächste ist von seiner rechten Wange abgerutscht und hat ihm das Schlüsselbein gebrochen.« Wieder ahmte Koroljow den Hieb nach und klopfte dem Burschen leicht auf die Schulter.

»Der letzte … die Reihenfolge stimmt vielleicht nicht, aber das spielt keine Rolle … Jedenfalls hat ihn der dritte Schlag hier getroffen. Hat ein fünf Zentimeter großes Loch hinterlassen und den Schädel von vorn bis hinten gespalten. Ich war dabei, als ihn der Arzt untersucht hat. Ihr Bruder ist tot, kein Zweifel.«

Bei jeder Berührung Koroljows zuckte Schischkin zusammen, und seine Antwort war nicht viel mehr als ein Flüstern. »Ich habe Tolja nichts getan. Ich habe ihn geliebt, das schwöre ich.«

»Vielleicht waren Sie wütend auf ihn?«

»Alles nur Lügen, ich hab ihn schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Er lebt noch, bestimmt.«

Der Bärtige wandte sich an Koroljow. »Tolja ist also tot?«

»So tot wie ein Mann mit einem Hammer im Schädel nur sein kann.«

»Trotzdem. Das kann jeder Raufbold von der Straße getan haben. Es gibt keinen Grund, warum es unser Wanja gewesen sein soll.«

»Bloß dass man ihn gesehen hat, wie er kurz vor Toljas Tod dessen Zimmer betreten hat und es bald danach verlassen hat. Wenn die Fingerabdrücke von jemand anders stammen, dann müssen wir noch mal neu nachdenken. Aber im Augenblick sieht es ganz danach aus, dass Wanja unser Mann ist. Ich muss ihn mitnehmen.«

In der Menge entstand Bewegung – bedrohlich angespannte Schultern, hier und da ein Schritt nach vorn, finstere Gesichter. Zumindest einige der Männer wollten nicht zulassen, dass er Schischkin abführte. Fragend schaute er die Heimältesten an, um herauszufinden, was in ihren Köpfen vorging. Sicher hatten sie sich in dieser armseligen Unterkunft eine gewisse Unabhängigkeit erkämpft, aber selbstverständlich war ihnen klar, dass sie Schischkin früher oder später ausliefern mussten.

»Ich gebe Ihnen mein Wort: Wenn die Fingerabdrücke nicht übereinstimmen, kommt er zurück. Aber wir haben es hier mit einem Mord zu tun, Genossen. Er muss mit mir kommen.«

Bedächtig schüttelte der Bärtige den Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben, dass Wanja zu so etwas fähig sein soll.«

Nun trat der Bibelleser mit der Hakennase nach vorn. Er sprach mit leiser Stimme, aber es war deutlich zu erkennen, dass er im Wohnheim große Autorität genoss. Der bärtige Heimälteste wirkte regelrecht erleichtert.

»Wanja, sag uns, woran du dich von gestern Abend erinnerst und wo du warst.«

»Ich war die ganze Nacht hier.«

»Nein, Wanja. Du bist erst nach der dritten Schicht nach Hause gekommen. Hast du Tolja besucht?«

Das Gesicht des Jungen fiel in sich zusammen. »Ja, ich war dort.«

»Und du hast getrunken.«

»Ja, das habe ich, möge mir der Herr verzeihen. Aber ich weiß nicht mehr, was passiert ist. Es kann nicht sein, dass ich ihn umgebracht habe. Es kann einfach nicht sein.« Schischkin rieb sich mit den Händen übers Gesicht, und seine Worte waren kaum zu verstehen.

Doch Koroljow hatte genug gehört. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach mit leiser Stimme. »Stehen Sie jetzt auf, Schischkin. Kommen Sie mit zum Wagen.«

Schischkin folgte der Aufforderung, und Koroljow fasste ihn am Ellbogen, um ihn hinauszuführen. Ein oder zwei Arbeiter machten den Eindruck, als wollten sie sich ihnen entgegenstellen, doch der Bibelleser schüttelte den Kopf, und sie wichen zurück.

Draußen schlug ihnen die Kälte entgegen wie eine Ohrfeige, und Schischkin, der offenbar kurz davor war, die Nerven zu verlieren, wandte sich wieder zurück. Aber der Bibelleser nahm ihn am Arm und begleitete ihn hinaus. Hinter ihnen strömten Männer und Frauen aus dem Heim und folgten ihnen schweigend, ohne auf die treibenden Schneeflocken zu achten. Die einzigen Geräusche waren das Pfeifen einer Fabriksirene in der Ferne und das Knirschen von Schritten, die auf den wartenden Wagen zustapften. Schischkin ließ den Kopf hängen, und Koroljow spürte sein krampfhaftes Schluchzen.

»Was wird mit mir passieren, Hochwürden?«, flüsterte er dem Bibelleser zu, dessen Blick zu Koroljow huschte. Koroljow achtete darauf, sich keinerlei Reaktion anmerken zu lassen.

»Vertrau dich den Händen des Herrn an, Wanja. Bete zu ihm und zur Jungfrau Marie und zu den Heiligen. Bitte um Vergebung, und auch ich werde dich in mein Gebet einschließen. Wie wir alle.« Er sprach sehr leise, und Koroljow hoffte, dass ihn die Uniformierten nicht hören konnten.

Als sie am Wagen waren, schoben die Milizionäre Schischkin auf den Rücksitz und ließen sich zu beiden Seiten von ihm nieder. Der Junge wirkte klein zwischen ihnen.

Mit neutralem Gesichtsausdruck wandte sich Koroljow an den Geistlichen. »Danke, Genosse. Sie haben uns sehr geholfen. Wir werden Sie lobend beim Direktor erwähnen.«

Der Bibelleser drückte Koroljow die dargebotene Hand und fragte sich vielleicht, wie Koroljow das anstellen sollte, da er doch nicht einmal seinen Namen kannte. Aber Koroljow wollte den Namen des Priesters gar nicht erfahren. Er wollte nur nach Hause, um diesen Tag endlich hinter sich zu lassen.

2

Vielleicht hatten die Schlaglöcher, über die der Wagen geholpert war, das Gehirn des Burschen wachgerüttelt, jedenfalls war seine Erinnerung zurückgekehrt, als sie ihn in die Petrowka-Straße brachten. Schluchzend verfluchte er sich und schlug sich die Fäuste an den Kopf. Koroljow nahm das Geständnis entgegen, das aus dem Jungen heraussprudelte, und unterbrach ihn nur hin und wieder, um einzelne Punkte klarzustellen. Es war eine deprimierende Geschichte, und nachdem er geendet hatte, rieb Schischkin an seinen blutverkrusteten Ärmeln und stellte sich die Frage, deren Beantwortung auch Koroljow interessiert hätte. »Warum?« Doch letztlich standen sie beide vor einem Rätsel. Sicher, er hatte auf eine Stelle in der Gummifabrik gehofft, aber das genügte nicht als Motiv, um deswegen seinen eigenen Bruder umzubringen. Wie auch immer, inzwischen war seine Erinnerung an die Tat wieder da, und Koroljow schrieb alles nieder. Zuletzt reichte er ihm das Protokoll zum Unterschreiben. Tränen ließen die Tinte zerfließen, als Schischkin seinen Namen unter das Geständnis setzte. Koroljow klopfte dem Burschen auf die Schulter und ließ ihn dann von den Uniformierten hinunter zu den Zellen bringen.

Kein besonders schwieriger Fall, trotzdem machte sich Koroljow mit einem Gefühl von Zufriedenheit daran, die Akte für das Staatsanwaltsbüro zusammenzustellen. Doch seine Genugtuung über die schnelle Aufklärung verflog schlagartig, als die Seite in seiner Hand laut zu rascheln begann. Schnell drückte er sie flach auf den Schreibtisch und starrte auf seine weißen Knöchel. Anders konnte er sein Zittern nicht unterdrücken. Es lag einfach nur daran, dass ihm auf einmal alles so zusetzte. Mehr war es nicht. Der Winter war lang gewesen, und bei Gott, selbst die Tapfersten verloren in den Wintermonaten manchmal den Mut. Wann hatte er denn zum letzten Mal frei geatmet? Er erinnerte sich an einen Sommertag – es war schon ewig her –, als er an einem Fluss gelegen hatte, den Arm um Schenja geschlungen, während Juri unter einem schattigen Baum schlief. Wann war das gewesen? Die Scheidung lag über zwei Jahre zurück, und schon einige Zeit davor hatte ihr Glück Risse bekommen. Sein Sohn war noch klein gewesen, ganz klein, mit flaumigem Haar. Vielleicht vor drei Jahren?

»Verdammt.« Soeben war ihm klar geworden, dass es mindestens fünf Jahre her war. Als er bemerkte, dass Jasimow erstaunt von dem Bericht aufblickte, den er gerade schrieb, rang sich Koroljow ein Lächeln ab, das an seinen Lippen zerrte.

Jasimow erwiderte es und nickte ihm anerkennend zu. »Einen Moment lang dachte ich dort im Heim schon, dass meine Frau heute noch eine schlechte Nachricht kriegt. Das hast du wirklich gut gemacht, Ljoschka.« Jasimow streckte sich und stieß ein befriedigtes Seufzen aus. »Aber weißt du was? Wenn man so knapp davonkommt, riecht die Luft auf einmal wieder süß.«

»Stimmt.« Koroljow war überzeugt, dass die Luft noch viel süßer riechen würde, wenn er endlich einmal wieder eine ganze Nacht durchschlafen konnte. In letzter Zeit war es so weit gekommen, dass er sich gefragt hatte, ob es sich überhaupt noch lohnte, die Kleider auszuziehen, so wenig Zeit verbrachte er im Bett. Aber heute Abend freute er sich schon aufs Waschen, eine warme Mahlzeit und acht volle Stunden Schlaf.

»Den eigenen Bruder umzubringen.« Jasimow schüttelte den Kopf.

»Alkohol kennt keine Verwandten.« Koroljow griff nach einer anderen Akte, an der er arbeitete.

»Trotzdem, nichts ist durch und durch schlecht.« Jasimow hatte anscheinend vor, auf dem Nachhauseweg noch irgendwo einzukehren.

»Da kann ich dir nicht widersprechen«, antwortete Koroljow. »Die Welt besteht nicht bloß aus Schwarz und Weiß.«

Allerdings. Die Welt war in erster Linie grau. Grau wie das Zwielicht, grau wie der Anbruch der Nacht.

Koroljows Nerven hatten sich wieder ein wenig beruhigt, als er die breiten Stufen der Hausnummer 38 hinunterstieg und sich auf den Weg durch die immer noch belebten Straßen Moskaus machte. Er wählte die längere Strecke zum Kreml und über den Roten Platz, vorbei an dem erst kürzlich aufgestellten Sowjetstern, der den Spasski-Turm krönte und sich wie ein helles Fanal der Hoffnung vom schwarzen Himmel abhob. Dieser Anblick stärkte ihn, und plötzlich war er erfüllt von Stolz darauf, ein sowjetischer Bürger zu sein und in der Hauptstadt eines Landes zu leben, das der Welt mit leuchtendem Beispiel voranging. Doch dann fiel ihm die Angst ein, die in der Stadt umging, vor allem bei Parteimitgliedern. Die Betriebsversammlungen in der Petrowka-Straße verliefen nicht mehr friedlich wie noch vor einem halben Jahr, sondern wurden von Mal zu Mal hysterischer. Die Aktivisten warfen sich gegenseitig vor, es an Wachsamkeit fehlen zu lassen, die eigene Klassenherkunft zu verheimlichen und ehemalige Menschewiken oder, schlimmer noch, Anhänger des verbannten Trotzki zu sein. Und ab und zu verschwand einer seiner Kollegen spurlos.

Koroljow saß bei diesen Versammlungen möglichst unauffällig in der letzten Reihe und war dankbar, nie in die Partei eingetreten zu sein. Aber auch Nichtmitglieder waren nicht sicher, denn der Staat erwartete von allen Bürgern rückhaltlose Loyalität. Koroljow hatte zwar im Bürgerkrieg mit der Roten Armee gekämpft und unterstützte die Revolution nun schon seit zwanzig Jahren, doch er hatte immer noch Verbindungen zu Personen und Überzeugungen, deren Enthüllung ihn in große Gefahr bringen konnte.

Diese Ikonenaffäre vom vergangenen Jahr, die auf besonders schlagende Weise gezeigt hatte, wie zerrissen er innerlich in seiner Gefolgschaft war, hatte sich letztlich auf völlig unverhoffte Weise zu seinen Gunsten ausgewirkt. Die Angelegenheit wurde noch immer streng geheim gehalten, was aus Koroljows Sicht nicht das Schlechteste war. Doch allein die Verletzungen, die er im Verlauf der Ermittlungen erlitten hatte, bewiesen, wie bedrohlich das Ganze gewesen war. Außerdem trug Koroljow nun an der Brust den Orden des Roten Sterns, über den er nicht sprechen durfte. Jasimow zufolge glaubten die meisten Leute, dass er ein konterrevolutionäres Komplott aufgedeckt und dem NKWD – oder den Tschekisten, wie die Mitglieder der Staatssicherheit nach einer alten Abkürzung auch genannt wurden – dabei geholfen hatte, die Verschwörung niederzuschlagen. Im Grunde war das gar nicht so falsch, aber mit Ausnahme seines Vorgesetzten kannte niemand in der Petrowka-Straße die wahre Geschichte, und nicht einmal Popow wusste alles.

Immerhin hatte der dunkelrot emaillierte Stern, den er auf Popows Geheiß im Dienst immer an der Brust tragen musste, ob in Uniform oder in Zivil, eine Art Nimbus um Koroljow und sogar um Jasimow geschaffen. Doch Koroljow sah keinen Anlass zur Selbstgefälligkeit. Wenn seine Handlungsweise während der Ikonenaffäre je bekannt wurde, würde das sofort dazu führen, dass er seine Bekanntschaft mit dem Inneren einer Lubjanka-Zelle erneuerte. Daher hatte er sich für die nähere Zukunft vorgenommen, sich von allem fernzuhalten, was nach Tschekisten roch, bis sie seine Existenz vergessen hatten. Und solange er nicht davon überzeugt war, dass dies der Fall war, hatte er in seinem Schlafzimmerschrank eine kleine gepackte Tasche stehen, nur für den Fall, dass sie ihn eines Abends zu einem Ausflug nach Sibirien abholten.

Als Koroljow aus seiner Versunkenheit erwachte, befand er sich vor dem Eingang zu dem Haus an der Bolschoi-Nikolo-Worobinski-Gasse, in dem er wohnte. Er trat sich den Schnee von den Stiefeln, und als er die schwere Tür öffnete, fiel Licht hinaus auf die Straße. Wie zur Erinnerung daran, dass seine Sorgen nicht auf grundlosem Verfolgungswahn beruhten, erhaschte er einen Blick auf das im Luftzug flatternde rote Siegel, das die Staatssicherheit erst letzte Woche an Kotows Tür angebracht hatte. Vor seiner Verhaftung war der arme Kotow Verwaltungsbeamter bei einem Volkskommissariat gewesen, doch fast einen Monat davor war er bereits mit der gebückten Haltung und der grauen Blässe eines Todgeweihten herumgeschlichen. Jetzt waren sowohl er als auch seine Frau verschwunden, und die einzige Erinnerung an ihre Existenz war dieses verdammte rote Siegel, das dort hängen würde, bis die Wohnung geräumt und neu vergeben war. Koroljow rief sich ins Gedächtnis, dass er noch lebte und die Treppe zu einer Wohnung hinaufstieg, die er mit der schönen Walentina Nikolajewna teilte. Im Grunde konnte er sich glücklich schätzen. Das musste er im Kopf behalten. Was morgen kam, würde sich schon zeigen.

Als er den Schlüssel im Schloss drehte, hörte er Nataschas Lachen, doch als er die Gemeinschaftsküche betrat, saß Walentinas Tochter mit ernstem Gesicht am Tisch und schrieb konzentriert in ihr Hausaufgabenheft. Sie blickte nicht einmal hoch. Walentina Nikolajewna dagegen legte das Buch beiseite, in dem sie las, und stand von dem abgewetzten Sofa auf. Immer wenn er sie sah, hob sich seine Stimmung. In ihre meerblauen Augen konnte ein Mann eintauchen und bis zum Horizont schwimmen.

»Hungrig?«, fragte sie.

In den letzten Monaten hatte sich zwischen ihnen eine stillschweigende Vereinbarung entwickelt. Sie kochte häufig für ihn mit oder hielt ihm etwas warm, und im Gegenzug teilte er sein Lebensmittelpaket mit ihr. Ein Zweckarrangement, obwohl er sicher war, dass sie ihm wirklich wohlgesinnt war. Eine Zeitlang hatte er sich der Hoffnung hingegeben, dass sich vielleicht eine engere Beziehung zwischen ihnen entwickeln könnte, aber einen wie ihn brauchte sie gewiss nicht. Ein mitgenommener Ment in mittleren Jahren mit einer Arbeit, die ihn ständig auf Trab hielt und ihm kaum genug Zeit zum Schlafen ließ? Sie konnte Bessere haben, das stand fest. Nein, eine schöne Frau wie sie verdiente einen Mann, der sich richtig um sie kümmern und auf den sie stolz sein konnte. Bestimmt würde sie bald jemanden finden – und dann musste er wieder selbst für sich kochen.

»Wir mussten jemanden in der Vorstadt verhaften.« Koroljow wurde sich bewusst, dass er sie gerade längere Zeit stumm angestarrt hatte, und verfluchte sich für seine Unhöflichkeit. »Ein Mord. Hat eine Weile gedauert, bis die Schreibarbeit erledigt war. Jedenfalls, ich hab das Paket in der Kantine abgeholt. Wollen wir mal nachsehen, was drin ist?«

Mit dem Gefühl, das er ein wenig die Beherrschung über seinen Mund verloren hatte, stellte er das Paket auf den Tisch in der kleinen Kochnische. Was hatte sie nur an sich, dass er in ihrer Gegenwart zu plappern anfing wie ein Vierzehnjähriger? Manchmal wünschte er sich, dieser Frau nie begegnet zu sein, doch dieses Gefühl hielt nie lange vor. Was wäre ihm denn andernfalls noch geblieben?

Als es an der Tür klopfte, schlief Koroljow nicht. Später fragte er sich, ob ihn der draußen bremsende Wagen geweckt hatte. Unmöglich war das nicht. Das Fenster seines Zimmers ging auf die hintere Gasse, und das Rattern des ZIS war sicher durch die schneebedeckte Stille der Moskauer Nacht gedrungen. Und natürlich gehörten die Straßen in den frühen Morgenstunden den schwarzen Automobilen der Staatssicherheit. Das Geräusch eines anhaltenden Motors reichte, um einen ganzen Block in Angst und Schrecken zu versetzen.

Koroljow war also wach, wenngleich er sich nicht an ein Geräusch von draußen erinnern konnte. Er wusste nur, dass er von dem Ausflug zum Fluss geträumt hatte, bloß dass er den Arm um Walentina Nikolajewna geschlungen hatte und Natascha neben ihnen schlief. Die Erinnerung an den Traum war so lebhaft, dass er noch die Sonne im Gesicht und die Freude spürte, die ihn durchbrandete wie eine Welle. In diesen zwei oder drei Augenblicken vor dem Klopfen hätte er vor Seligkeit hinauf zur Zimmerdecke schweben können, wenn ihn nicht das Gewicht seines Körpers ans Bett gefesselt hätte.

Drei Schläge. Eins. Zwei. Drei. Eigentlich kein lautes Geräusch, doch genug, um sein Glücksgefühl zerplatzen zu lassen wie ein an die Wand geschleudertes Glas.

Seit er beobachtet hatte, wie der arme Kotow im Schlafanzug abgeführt wurde, hatte sich Koroljow auf einen plötzlichen Aufbruch gefasst gemacht, und so kam es, dass er in Hose und Stiefel geschlüpft war, noch bevor ihm so richtig klar werden konnte, was geschah. Erneut pochte die geheimnisvolle Faust an die Tür, lauter und drängender diesmal. Trotzdem nahm sich Koroljow die Zeit, ein zusätzliches Unterhemd anzuziehen und nach seinem wärmsten Pullover und dem Wintermantel zu greifen, bevor er mit der eigens für so ein Ereignis gepackten Tasche durch die Gemeinschaftsküche ging. Als er kurz innehielt, um sich umzublicken, schoss ihm durch den Kopf, dass er dieses Zimmer vielleicht zum letzten Mal sah. Nun, wenn das der Wille des Herrn war, dann hatte es wenig Sinn, sich länger damit zu befassen.

Wieder klopfte es, sehr heftig inzwischen, und Walentina Nikolajewnas Silhouette erschien in der Tür. Hinter ihr war Nataschas verschlafene Stimme zu hören, die eine Frage stellte, die er nicht verstand. Mit einem energischen Kopfschütteln winkte er sie zurück zu ihrer Tochter, doch sie bewegte sich nicht und wartete, bis er an ihr vorbeikam, um ihm eine Hand auf die Brust zu legen. Wie von einem Magneten angezogen lehnte er sich vor und atmete den Duft ihres frisch gewaschenen Haars ein, doch zugleich besaß er genug Beherrschung, um sie sanft zurück in ihr Zimmer zu schieben und hinter ihr die Tür zu schließen. Es blieb keine Zeit, um etwas zu sagen oder auch nur über die Bedeutung ihrer Geste nachzudenken. Tief einatmend wandte er sich um und öffnete die Wohnungstür.

Geblendet vom Licht im Treppenhaus blinzelte Koroljow, ehe er den vor ihm stehenden Mann wahrnahm. Es war nur einer, wie merkwürdig. Koroljow beugte sich leicht nach vorn, um zu erkennen, ob sich vielleicht noch weitere im Gang versteckt hatten. Der junge Tschekist lächelte über dieses Verhalten, und das ärgerte Koroljow. Wenn er schon verhaftet wurde, dann sollte man ihn wenigstens mit Respekt behandeln.

»Wollen Sie irgendwohin?« Der Bursche war nicht älter als fünfundzwanzig. Seine tiefliegenden Augen waren vom Schatten verdeckt.

Koroljow hatte den Eindruck, dass sich der Rotzbengel über ihn lustig machte. »Das wissen Sie wohl am besten.« Wieder riskierte er einen verstohlenen Blick hinaus in den Korridor.

»Ja, wir müssen eine kurze Fahrt machen. In die Lubjanka.« Wieder dieses aufreizende Lächeln.

Koroljow juckten die Fäuste. »Ich bin bereit.«

»Gut. Wir müssen immer bereit sein. Zu jeder Tages-und Nachtzeit.« Jetzt warf ihm der Bursche auch noch Parteiparolen an den Kopf.

Koroljow spürte, wie sich seine Stirn vor Verwirrung runzelte. »Hören Sie, Genosse, es ist halb drei Uhr morgens.« Nach diesem Anfang fiel Koroljow nichts mehr ein. Wollen Sie mich verhaften? Er wagte es nicht, diese Frage auszusprechen.

»Und Sie haben schon für eine Reise gepackt – sehr umsichtig.« Grinsend wies der junge Kerl mit dem Kinn auf die Tasche, die Koroljow neben die Tür gestellt hatte.

Koroljow schluckte. Sein Mund war trocken wie Papier. Er merkte, dass er eine starke Abneigung gegen diesen unscheinbaren Vertreter der Staatssicherheit hegte. Doch auf einmal keimte Hoffnung in ihm auf: Der Mann war nicht gekommen, um ihn zu verhaften. Der Halunke mokierte sich genau deshalb über ihn, weil er nicht gekommen war, um ihn zu verhaften.

»Hören Sie, Genosse.« Das Selbstvertrauen kehrte in Koroljows Stimme zurück. »Entweder Sie erklären mir jetzt, was Sie wollen, oder Sie lassen mich wieder zurück ins Bett gehen.«

Der Tschekist lenkte ein. »Die Tasche brauchen Sie nicht, Genosse. Oberst Rodinow will sich nur ein paar Minuten mit Ihnen unterhalten, das ist alles. Die Telefonverbindungen sind unterbrochen, deswegen konnten wir nicht anrufen. Ich habe einen Wagen draußen. Mein Name ist Todorow.«

Koroljow schüttelte dem Tschekisten nicht die Hand und reagierte auch sonst nicht auf die Vorstellung. Stattdessen nahm er seinen Mantel und nickte zur Treppe, um anzudeuten, dass er ihm folgen wollte. Er überlegte kurz, ob er hineingehen und Walentina Nikolajewna beruhigen sollte, entschied sich aber dagegen. Noch konnte er nicht sicher sein, dass er wirklich aus dem Schneider war.

Seit fast einer Stunde wartete Koroljow schon in einem Raum, der so schmal und so lang war, dass er fast an einen Korridor erinnerte. Von einem Plakat neben der hinteren Tür blickte streng der erste Generalkommissar für Staatssicherheit Dserschinski herab und mahnte: »Seid wachsam!« Nicht unbedingt der schlechteste Rat, wie Koroljow trotz seiner Müdigkeit fand.

Gerade als er in seiner Tasche nach einer Zigarette kramen wollte, hörte er das Knallen einer Tür und sich nähernde Schritte.

Dann trat der junge Tschekist ein, der ihn in der Bolschoi-Nikolo-Worobinski-Gasse abgeholt hatte. Die Uniform, die er inzwischen trug, hob sich frisch von den graublauen Wänden ab. »Er ist jetzt bereit, Genosse. Er musste noch einige Angelegenheiten erledigen.«

In den wenigen Monaten seit ihrer letzten Begegnung hatte sich Rodinow stark verändert. Seine zuvor rosige, straffe Haut war blass und schlaff, und auch sein runder, haarloser Schädel schimmerte nicht mehr vor brutaler Kraft. Die Augen, die von einer Akte aufblickten, waren blutunterlaufen und müde, und seine Begrüßung für Koroljow erschöpfte sich in einem Knurren und einer knappen Kinnbewegung zu dem einzigen Stuhl vor dem Schreibtisch, hinter dem er saß.

»Koroljow.« Nach kurzer Pause verengten sich seine Augen zu Schlitzen, als wollte er sein Gegenüber zu einem Geständnis zwingen, auch wenn Koroljow sich gar nichts hatte zuschulden kommen lassen.

»Ja, Genosse Oberst. Koroljow. Sie haben nach mir geschickt.«

»In der Tat.« Es war nicht ohne Weiteres zu erkennen, ob die Bemerkung des Obersts als Frage oder als Bestätigung gemeint war. Sein Blick senkte sich wieder auf die Akte. »Hauptmann Koroljow, sind Sie bereit, eine vertrauliche Mission zu übernehmen, bei der es um die Sicherheit des Staates geht?«

Auf so eine Frage gab es nur eine Antwort. »Natürlich, Genosse Oberst.«

»Gut.« Rodinow schob ihm eine Fotografie zu. »Das wäre also geklärt. Maria Alexandrowna Lenskaja. Bis gestern Abend war sie Produktionsassistentin bei Genosse Sawtschenkos neuem Film. Jetzt ist sie tot.«

Aufmerksam betrachtete Koroljow das Bild der jungen Frau. »Mord?«

Der Oberst schien die Frage zu beschnüffeln wie ein Kampfhund. »Allem Anschein nach nicht.« Die Worte kamen ihm nur zögernd über die Lippen. »Sie hat sich umgebracht, heißt es. Aber wir wollen uns vergewissern, daher möchten wir Sie einschalten.«

»Verstehe. Wann ist das passiert?«

»Heute Abend um zehn wurde sie entdeckt.«

»Hat schon jemand die Leiche untersucht? Ein Pathologe, meine ich. Wenn nicht, würde ich Tschestnowa vom Institut empfehlen.«

»Sie wurde bisher von niemandem untersucht, außerdem ist sie in der Ukraine gestorben, in der Nähe von Odessa, da wird uns die Tschestnowa nicht viel nützen. Abgesehen davon muss die Sache mit größtem Stillschweigen behandelt werden. Zumindest bis wir die Situation besser verstehen. Genosse Jeschow persönlich hat an Sie gedacht – nach dieser Angelegenheit letztes Jahr, bei der Sie mitgeholfen haben, hat er einen günstigen Eindruck von Ihnen behalten. Vor allem Ihre Hartnäckigkeit und Diskretion sind ihm im Gedächtnis geblieben.«

Die leichte Betonung des Wortes »Diskretion« ließ bei Koroljow die Alarmglocken schrillen. Inzwischen war er hellwach, so viel stand fest. »Freut mich, dass er so ein positives Bild von mir hat.« Was gelogen war.

»Eine große Ehre, in der Tat. Und wie sich herausstellt, schreibt Ihr Freund Babel das Drehbuch für den Film – ein glücklicher Zufall.«

»Verstehe.« Koroljow fragte sich, warum die Wahl ausgerechnet auf ihn gefallen war. Bestimmt gab es doch jemanden in Odessa, der diesen Fall übernehmen konnte.

»Wir halten es für das Beste, wenn Sie rein zufällig dorthin reisen. Ich habe bereits mit dem Genossen Popow gesprochen. In Anerkennung Ihrer ausgezeichneten Leistungen in den letzten Monaten bekommen Sie einen zweiwöchigen Urlaub, den Sie an einem Ort Ihrer Wahl verbringen können. Der Ort Ihrer Wahl liegt in der Nähe von Odessa. Zwar ist dort unten noch nicht Sommer, aber zumindest ist es nicht mehr so kalt wie in Moskau. Und deshalb sind Sie auf die Idee verfallen, Ihren guten Freund und Nachbarn Babel zu besuchen. Isaak Emmanuilowitsch wird von Ihrem wahren Auftrag Kenntnis erhalten und Sie bestimmt nach Kräften bei Ihren Nachforschungen unterstützen. Einer unserer kompetenteren ukrainischen Vertreter, Major Muschkin, ist zufällig dort in Krankenurlaub und wird Ihnen bei Bedarf ebenfalls unter die Arme greifen. Sollte es sich um Selbstmord handeln, haben Sie zwei Wochen, die Sie nach Gutdünken verbringen können. Falls nicht – nun, dann ist die Miliz vor Ort sicher dankbar für die Hilfe eines erfahrenen Moskauer Ermittlers. Ihre Weisungen nehmen Sie allerdings von mir entgegen. Die örtliche Miliz wird nur in dem Maß einbezogen, wie Sie es für nötig erachten. Verstanden?«

Koroljow hatte verstanden. Noch einmal vertiefte er sich in das Gesicht der Frau. Eine ganz gewöhnliche Erscheinung, wie es ihm vorkam. Sicher, sie sah nicht schlecht aus, aber warum sie so sehr im Blickpunkt stand, war nicht zu erkennen. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Genosse Oberst?«

Rodinow öffnete die Hände, um sein Einverständnis anzudeuten.

»Wer ist sie?«

Rodinow ließ sich Zeit mit der Antwort und senkte den Blick auf die Fotografie, ehe er sich wieder Koroljow zuwandte. Schließlich seufzte er. »Wenn ich Ihnen erzähle, dass sie eine persönliche Bekannte des Genossen Jeschow war, können Sie dann mehr mit der Situation anfangen?«

Obwohl er sich um einen möglichst unbeweglichen Gesichtsausdruck bemühte, spürte Koroljow, wie seine linke Augenbraue nach oben wanderte.

Doch der Oberst schüttelte den Kopf. »Keine voreiligen Schlüsse, Koroljow. Wie Sie wissen, sind wir sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Grenzen von Feinden umgeben. Wir müssen auf der Hut sein – selbst hinter den harmlosesten Ereignissen kann sich Verrat verbergen. Die Frau war mit dem Genossen Jeschow bekannt, ja. Er hat sich für sie interessiert, wie es ältere Parteimitglieder öfter bei jungen Genossen mit vielversprechenden Anlagen tun. Wegen dieser Verbindung hält er eine Klärung der genauen Umstände für vernünftig, um jeden Verdacht eines Verbrechens auszuräumen. Der Kommissar begreift nicht, weshalb eine junge Genossin mit den Perspektiven und Fähigkeiten Lenskajas Selbstmord begehen sollte. Er fragt sich, ob etwas anderes dahintersteckt.«

Koroljow glaubte keine Sekunde, dass Jeschows Interesse an der hübschen Frau nur das eines älteren Bolschewiken für einen jungen Schützling gewesen war, aber er hütete sich davor, Rodinow zu widersprechen. Schließlich besaß er noch ein funktionierendes Gehirn und einen intakten Selbsterhaltungstrieb. Was die Frau anging, musste er einfach die Augen offenhalten. »Die Zugreise da runter dauert einige Zeit.«

»In zwei Stunden und fünfundzwanzig Minuten startet vom Zentralflughafen eine Maschine nach Odessa. Die Zeit reicht noch knapp, damit Sie sich von zu Hause ein paar Kleider holen. Todorow wird Sie fahren. Am Flughafen wartet jemand mit allen Informationen auf Sie, die wir zu dieser Angelegenheit zusammengetragen haben. Sie können das alles unterwegs lesen.«

Koroljow hatte noch nie in einem Flugzeug gesessen und auch nicht damit gerechnet, es je zu tun. Diese Aussicht raubte ihm kurz die Fassung.

Der Oberst schien das als Sorge im Hinblick auf seinen Auftrag zu begreifen. »Hören Sie, Koroljow. In diesem Fall kommt es auf besonnenes Handeln an, damit wir die Wahrheit herausfinden. Natürlich könnten wir die Sache auch von der Miliz in Odessa untersuchen lassen, aber wir schicken lieber eine bewährte Kraft hin, um die direkte Kontrolle zu behalten. Die örtlichen Tschekisten wollen wir vorerst nicht einsetzen, weil unsere Leute manchmal übereifrig sind. Wenn es ein Mord war, dann müssen wir alles noch einmal neu überdenken, doch fürs Erste ist es Ihr Fall.«

»Dann möchte ich noch ein paar Punkte ansprechen.« Koroljow riss sich zusammen. »Sie sollte sofort von einem Pathologen untersucht werden.«

»Bis zu Ihrer Ankunft wird sie von niemandem untersucht.«

»Aber, Genosse Oberst …«

Rodinow schnitt ihm das Wort ab. »Sie sind die Augen und Ohren des Genossen Jeschow. Sie müssen in jeder Phase der Ermittlungen anwesend sein.«

»Aber Leichen fangen an zu verwesen, und manche Tests müssen so bald wie möglich durchgeführt werden, um Todeszeitpunkt und -ursache festzustellen.«

»Ich darf Sie noch einmal daran erinnern, Hauptmann Koroljow, dass dies in den Augen der Welt nichts anderes als ein Selbstmord ist. Wir dürfen nichts tun, was andere Schlüsse zulassen würde. Würde die Miliz wegen einer Selbstmörderin mitten in der Nacht einen Pathologen aus Odessa holen? Unter den heute herrschenden Bedingungen?«

Koroljow musste zugeben, dass dieses Argument stach. Die Zahl der Suizide hatte in letzter Zeit so zugenommen, dass die Leichen wohl nur in den wenigsten Fällen von einem Pathologen überprüft wurden.

Rodinow nickte, als er sah, dass Koroljow begriffen hatte. »Die Tote wurde in ein Eishaus gebracht, die Verwesung wird also nicht so schnell einsetzen. Wenn sie morgen dort eintreffen, wird auch ein Pathologe dazustoßen. Noch etwas?«

»Wenn möglich sollte der Ort, wo sie gestorben ist, abgesichert werden. Falls es Mord war, sollte die Arbeit der Forensiker nicht unnötig erschwert werden.«

»Ich gebe das weiter.«

Sonst gab es nicht mehr viel zu sagen, daher schob Koroljow die Fotografie wieder auf den Schreibtisch und erhob sich, um aufzubrechen.

Auch Rodinow stand auf und legte Koroljow die Hand auf die Schulter, um ihn hinauszuführen. »Das ist eine Gelegenheit, um dem Genossen Jeschow einen großen Dienst zu erweisen, denken Sie daran. Er ist ein Mann, der seine Freunde nicht vergisst.«

Koroljow nickte stumm. Er musste an die Tote denken und fragte sich, ob es zurzeit tatsächlich so günstig war, mit Kommissar Jeschow befreundet zu sein.

3

Die Verwaltungsgebäude, Werkstätten und Hangars des Zentralflughafens waren in dichten Nebel gehüllt, und Moskau schien wie in weite Ferne gerückt. Ohne Rücksicht auf den weißen Dunst hatte der junge Tschekist Todorow ihn in halsbrecherischem Tempo auf vereisten Straßen hergefahren. Jetzt hingegen war alles reglos und still bis auf das leise Gemurmel eines Mechanikers und seiner Kollegin, die das winzige Flugzeug auftankten, das in weniger als einer halben Stunde nach Odessa abheben sollte.

»Eine Kalinin K-5«, erklärte eine Stimme von hinten. Als Koroljow sich umdrehte, bemerkte er eine stämmige Gestalt in einem knöchellangen Pelzmantel. Die runde Pelzmütze und der hochgestellte Kragen taten ein Übriges, sodass von dem Mann nicht viel mehr zu erkennen war als die schwarzen Augen. Trotzdem hatte Koroljow den Eindruck großer Wachsamkeit, ganz als würde er einer peinlich genauen Beurteilung unterzogen.

»Eine gute Maschine. Doch Sie sollten sich lieber warm anziehen, Genosse. Die Kabine wird zwar geheizt, aber es kann trotzdem kalt werden dort oben.«

Koroljow wandte sich wieder dem Flugzeug zu. Es sah nicht besonders massiv aus, aber das war bestimmt nicht das Schlechteste, wenn es sich hinauf in die Lüfte schwingen sollte. »Ich kenne mich da nicht so aus.« Ihm war etwas flau im Magen.

»Ach, da müssen Sie sich keine Sorgen machen. Sie ist eine Schönheit. Ich fliege diese Strecke sieben- oder achtmal im Jahr, und sie kommt immer pünktlich an – mehr oder weniger.«

Anerkennend klopfte der Pelzträger auf die Flanke der Maschine, als wäre sie ein unverwüstliches Streitross, und die dünne Metallhaut antwortete mit einem wackligen Knall.

»Sie hat eine Spitzengeschwindigkeit von fast zweihundert Stundenkilometern – können Sie sich das vorstellen? Und sie bringt uns in einem Rutsch bis nach Kursk. Wenn wir Rückenwind haben und schnell aufgetankt wird, sind wir morgen am frühen Nachmittag in Odessa. Natürlich kommt es manchmal zu Verspätungen.« Der Mann zuckte die Achseln.

Koroljow nickte verständnisvoll. Verspätungen gab es häufig, doch allein die Möglichkeit, innerhalb von sieben Stunden nach Odessa zu gelangen, war verblüffend. Nach seiner Entlassung aus der Armee 1922 hatte er von Odessa hierher fast einen Monat gebraucht. Mit einer behandschuhten Hand umfasste er eine Strebe und zog. Das Flugzeug wirkte doch recht robust.

»Sieht eigentlich nicht nach viel aus«, bemerkte er. »Ich meine dafür, dass sie so schnell und hoch fliegt.«

»Sie ist zuverlässig«, erwiderte der Pelzmann entschieden. »Die neuen Maschinen sind vielleicht schneller und größer, aber die hier hat uns nie im Stich gelassen. Hab ich nicht recht, Antonina Wladimirowna?«

»Und ob, Genosse Belakowski.« Die junge Mechanikerin lächelte, und ihre Zähne blitzten im Licht einer Laterne.

Koroljow fragte sich, ob sie für diese verantwortungsvolle Arbeit nicht vielleicht zu jung war.

»Sie sollten einen Film über sie machen«, setzte sie hinzu.

Belakowskis Lachen brachte eine pockennarbige Nase und einen struppigen Salz-und-Pfeffer-Schnurrbart unter weit auseinanderliegenden Nüstern zum Vorschein.

Koroljow glaubte ihn aus einem Zeitungsartikel oder aus einer Wochenschau wiederzuerkennen und streckte ihm die Hand hin. »Koroljow. Alexei Dimitrjewitsch. Kriminalmiliz Moskau.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Genosse Koroljow. Belakowski, Igor Sacharowitsch. Und was führt Sie nach Odessa?«

Während Koroljow noch über seine Antwort nachsann, trat eine diensteifrig wirkende Frau in dick gepolstertem Mantel aus dem Flughafengebäude. »Genosse Belakowski? Genosse Koroljow? Wir müssen Sie jetzt wiegen.« Sie winkte sie zum Eingang.

»Das Flugzeug kann nur eine bestimmte Last transportieren«, erklärte Belakowski, als er Koroljows Verblüffung bemerkte.

Tatsächlich stand in der Halle gerade ein Pilot in langem Ledermantel mit einem Postsack aus Leintuch in der einen und einer halb gerauchten Papirossa in der anderen Hand auf einer Waage.

»Einhundertsechs Kilogramm.« Die Buchhalterin notierte alles in einem Register. »Sie haben zugenommen, Anton Iwanowitsch.«

»Das ist nur die Post«, antwortete der Pilot barsch und saugte an dem Pappröhrchen seiner Zigarette.

Koroljow war sich sicher, dass der Mann leicht gelallt hatte. Einen besonders vertrauenerweckenden Eindruck machte er jedenfalls nicht. Sein Kollege, dessen sauberes Hemd durch den Pelzkragen schimmerte, hatte sich wenigstens die Mühe gemacht, sich zu rasieren. Außer er hatte noch so wenig Bart, dass er sich nicht rasieren musste. Auszuschließen war das nicht. Der Bursche war wirklich sehr jung. Aber es gab doch sicher Prüfungen und dergleichen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass so eine wertvolle Maschine jeder x-Beliebige fliegen durfte.

Die Passagiere reihten sich in einer Schlange auf, und Koroljow stellte fest, dass er sich in privilegierter Gesellschaft befand. Ein kleiner, breitbrüstiger Offizier mit den Insignien eines Generals am Kragen und einer Ansammlung von Orden unter dem offenen Mantel stand hinter ihm.

Belakowski nahm Koroljow am Arm. »Genosse Koroljow, darf ich Ihnen Stepan Pawlowitsch vorstellen. Bestimmt haben Sie seine Artikel in der Iswestija gelesen. Sie wissen schon, der Journalist Lomatkin. Genosse Lomatkin, das ist Koroljow aus der Petrowka-Straße. Ein Kriminalermittler, wie ich vermute.«

Koroljow schüttelte die Hand eines dünnen jungen Mannes, der auf intellektuelle Weise attraktiv und leicht nervös wirkte. Vielleicht war es auch für ihn der erste Flug.

Dem Nächsten auf der Waage war der Parteikader ins Gesicht geschrieben – ein bleicher, asketischer Bursche in einem langen, braunen Mantel, der noch militärischer aussah als der des Generals. Ohne zu lächeln, stand er mit einem kleinen Lederkoffer in der Hand da.

»Fünfundsiebzig Kilogramm, Genosse Bagrajew«, verkündete die Buchhalterin. »Hauptmann Koroljow, bitte.«

Mit angehaltenem Atem stellte sich Koroljow auf die Waage. Er hatte keine Zeit gehabt, etwas anderes als das Notwendigste einzupacken, aber er war nicht unbedingt ein Handtuch.

»Einundneunzig Kilogramm.«

Als er herunterstieg, bemerkte Koroljow den missbilligenden Blick des Parteibonzen. Dass Koroljow gute zehn Zentimeter größer war, spielte für den Kerl anscheinend nicht die geringste Rolle. Er hatte ihn offenbar als eine Art Spekulanten abgestempelt, der sich mit geschmuggelter Butter vollstopfte.

»Was passiert, wenn die Last zu groß ist?«, fragte Koroljow Lomatkin mit möglichst leiser Stimme, um nicht von Bagrajew gehört zu werden.

»Um diese Jahreszeit müssen sie aufpassen, weil sich auf den Flügeln Eis bilden kann.«

Koroljow blickte durch das nächste Fenster auf das Flugzeug und stellte es sich unter einer Eiskruste verborgen vor. »Was geschieht dann?«

Lomatkins Achselzucken brachte deutlich zum Ausdruck, dass zu viel Eis kein Rezept für ein langes Leben war.

Nachdem alle Passagiere gewogen und ihre Namen abgehakt waren, beugten sich der jüngere Pilot und die Buchhalterin über das Register, und Letztere schnipste Kugeln auf einem Abakus hin und her. Ihre Mienen waren ernst, und Koroljow spürte auf einmal jedes seiner einundneunzig Kilo.

»Hauptmann Koroljow?«, ließ sich eine Stimme vernehmen.

Er wandte sich um und sah blaue Augen in einem blassen, rundlichen Gesicht, das nur wenige Zentimeter von ihm entfernt war.

Auf Koroljows Nicken hin streckte ihm der Mann einen dicken Umschlag entgegen. »Goldberg. Oberst Rodinow schickt mich mit Unterlagen für Sie. Zum Lesen im Flugzeug. Bitte quittieren Sie den Empfang.«

Koroljow unterschrieb mit dem Stift, den ihm der Tschekist reichte, und nahm das Paket entgegen. Da muss jemand geschuftet haben wie ein Tier, dachte er, als er das Gewicht fühlte.

»Hauptmann Koroljow, würden Sie bitte vortreten?« Diese Aufforderung kam von der Buchhalterin.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er den Nachhall eines selbstgefälligen Grinsens auf dem Gesicht des Parteibonzen, doch Goldberg, der die Situation sofort erfasste, eilte hinüber zu der Buchhalterin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Diese stellte eine Frage und wurde dabei ein wenig bleich. Der Tschekist nickte.

»Entschuldigen Sie bitte, Hauptmann Koroljow, ich habe mich getäuscht.« Ihre Stimme klang zittrig. Sie vertiefte sich wieder in die Liste. »Genosse Bagrajew, darf ich Sie kurz zu mir bitten?«

Mit einem gereizten Blick in Koroljows Richtung trat der Parteikader zu der Buchhalterin. Seine ganze Haltung verriet Ungeduld. »Was soll das bedeuten? Ich muss am Nachmittag in Kursk sein, es geht um Parteibelange von größter Wichtigkeit.« Bagrajews Beschwerde brach jäh ab, als Goldberg ihn am Ärmel zupfte. Goldberg beugte sich nah an sein Ohr und fing wieder an zu flüstern. Für Koroljow war es interessant zu beobachten, wie schnell der verärgerte Ausdruck aus Bagrajews Gesicht verschwand. Sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, und blieb eine Weile so wie bei einem gestrandeten Fisch. Schließlich schoss er einen bösen Blick auf Koroljow ab und nickte dem Tschekisten knapp zu, dann wandte er sich um und verließ das Gebäude ohne ein weiteres Wort.

Goldberg kehrte zurück. »Kann ich sonst noch was für Sie tun?«

»Nein.« Koroljow war sich bewusst, dass alle in der Halle ihn anstarrten. »Sie haben mir schon sehr geholfen, Genosse.«

»War mir ein Vergnügen«, antwortete Goldberg mit seiner leisen Stimme. »Major Muschkin wird Sie am Flughafen abholen. Von Oberst Rodinow soll ich Ihnen ausrichten, dass er gleich heute Abend einen Bericht von Ihnen erwartet. Der Major wird den Anruf arrangieren. Guten Flug!« Salutierend tippte er sich an die Mütze und verschwand.

Draußen hing noch immer der Nebel, als die Passagiere über den festgetretenen Schnee zum Flugzeug stapften. Zuerst dachte Koroljow, dass das markerschütternde Dröhnen von dem einzigen Motor der Kalinin kam, doch dann schälten sich von links dunkle Schatten aus dem Dunst und beschleunigten, um sich rasch mit rotierenden Propellern vom Boden zu lösen. Das Brüllen der Maschinen war gewaltig – als würde ihm etwas gegen die Brust drücken. Selbst Koroljow erkannte, dass es sich bei diesen stumpfen Formen um Bomber handelte. Einer nach dem anderen zogen sie vorbei, eine Kette dicker, schwarzer Silhouetten, und erzeugten mit ihren Propellern einen Schneesturm, der Koroljow dazu zwang, die Augen zusammenzukneifen.