0,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,99 €
Wells' vielleicht visionärste Roman – Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Wie weit darf Wissenschaft gehen? Wie leben wir mit den Konsequenzen? Ein wahnsinniger Chirurg betreibt auf einer abgelegenen Insel abscheuliche Experimente: Er kreuzt Tiere mit Menschen. Doch irgendwann drohen seine Kreaturen sich gegen ihn zu wenden. Mehrmals verfilmt hat diese Geschichte Generationen von Lesern in ihren Bann geschlagen. Niemals zuvor und auch selten danach gelang es einem Autor, die unheilvollen Ergebnisse skrupellosen, wissenschaftlichen Handelns so eindrucksvoll zu schildern. Null Papier Verlag
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 211
H. G. Wells
Die Insel des Dr. Moreau
H. G. Wells
Die Insel des Dr. Moreau
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020Übersetzung: Felix Paul Greve 2. Auflage, ISBN 978-3-954189-22-9
null-papier.de/432
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Im Rettungsboot der Lady Vain
2. Der Mann der nirgends hinging
3. Das unheimliche Gesicht
4. An Bord des Schoners
5. Der Mann, der nicht wusste, wohin gehen
6. Die verdächtigen Bootsleute
7. Die verschlossene Tür
8. Der Schrei des Pumas
9. Unheimliche Begegnungen
10. Der Schrei des Menschen
11. Die Jagd auf den Menschen
12. Die Sprecher des Gesetzes
13. Eine Unterredung
14. Doktor Moreau erklärt
15. Über das Tiervolk
16. Wie das Tiervolk Blut kostete
17. Eine Katastrophe
18. Moreaus Auffindung
19. Montgomerys Feiertag
20. Allein mit dem Tiervolk
21. Die Verwilderung des Tiervolks
22. Der Mensch allein
Danke, dass Sie sich für ein E-Book aus meinem Verlag entschieden haben.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr
Am 1. Februar 1887 ging die Lady Vain durch Kollision mit einem Wrack verloren, als sie sich etwa auf 1° südlicher Breite und 107° westlicher Länge befand.
Am 5. Januar 1888 – das heißt, elf Monate und vier Tage später – wurde mein Onkel Edward Prendick, ein Privatmann, der ganz bestimmt in Callao an Bord der Lady Vain gegangen war und für ertrunken gehalten wurde, unter 5° 3' südlicher Breite und 101° westlicher Länge in einem kleinen, offenen Boot aufgefischt, dessen Name unlesbar war, das aber vermutlich zu dem vermissten Schoner1Ipecacuanha gehört hatte. Sein Bericht klang so seltsam, dass man ihn für wahnsinnig hielt. Später erklärte er, vom Moment des Verlassens der Lady Vain an könne er sich an nichts mehr erinnern. Sein Fall wurde damals als ein merkwürdiges Beispiel für Gedächtnisschwund infolge von physischer und geistiger Überanstrengung unter Psychologen viel besprochen. Die folgende Erzählung fand der Unterzeichnete, sein Neffe und Erbe, unter seinen Papieren; sie war jedoch von keiner definitiven Bitte um Veröffentlichung begleitet.
Die einzige Insel, von der man in der Gegend, wo mein Onkel aufgefischt wurde, weiß, ist Nobles Isle, eine kleine unbewohnte vulkanische Insel. Sie wurde 1891 von I. M. S. Scorpio besucht. Eine Schar von Matrosen landete, fand aber nichts Lebendiges außer merkwürdigen weißen Nachtschmetterlingen, einigen Schweinen und Kaninchen und ein paar ziemlich eigentümlichen Ratten. Von diesen nahm man keine Exemplare mit. Also bleibt diese Erzählung in ihrem wesentlichsten Punkt unbestätigt. Dies vorausgeschickt, scheint es mir ungefährlich, diese unheimliche Geschichte im Einklang, wie ich glaube, mit den Absichten meines Onkels vor das Publikum zu bringen. Wenigstens das lässt sich für sie sagen: mein Onkel verschwand auf etwa 5° südlicher Breite und 105° westlicher Länge aus den Augen der Menschen, und er erschien nach elf Monaten in derselben Gegend des Ozeans wieder. Während der Zwischenzeit muss er auf irgendeine Weise gelebt haben. Und es hat sich herausgestellt, dass ein Schoner namens Ipecacuanha mit einem betrunkenen Kapitän John Davis tatsächlich im Januar 1887 mit einem Puma und anderen Tieren an Bord von Arica ausgelaufen ist: das Fahrzeug war in verschiedenen Häfen der Südsee wohlbekannt, und es verschwand (mit einer beträchtlichen Ladung Kopra an Bord) endgültig aus diesen Meeren, als es im Dezember 1887, einem Datum, das völlig zu meines Onkels Erzählung stimmt, von Banya aus seinem unbekannten Schicksal entgegensegelte.
Charles Edward Prendick
Ich habe nicht die Absicht, dem, was bereits über den Verlust der Lady Vain geschrieben ist, noch etwas hinzuzufügen. Wie jedermann weiß, kollidierte sie zehn Tage nach ihrer Ausfahrt aus Callao mit einem Wrack. Das Langboot wurde nach achtzehn Tagen von I. M. Kanonenboot Myrtle mit sieben Mann von der Mannschaft aufgefischt, und die Geschichte ihrer Leiden und Entbehrungen ist fast ebenso bekannt geworden wie der weit schrecklichere Fall der Medusa. Ich habe jedoch jetzt der bereits veröffentlichten Geschichte der Lady Vain eine andere, ebenso grauenhafte und jedenfalls viel merkwürdigere hinzuzufügen. Man hat bisher angenommen, die vier Leute, die in dem Rettungsboot waren, seien umgekommen. Aber das ist nicht richtig. Ich habe den besten Beweis für diese Behauptung: Ich bin einer von den vier Leuten.
Aber zunächst muss ich feststellen, dass im Rettungsboot niemals vier Leute gewesen sind; die Zahl betrug drei. Constans, den »der Kapitän in die Gig springen sah« (Daily News, 17. März 1887), erreichte uns zu unserem Glück, zu seinem Unglück nicht. Er sprang aus dem Gewirr von Tauen unter den Streben des zerschmetterten Bugspriets heraus; ein kleines Tau fasste seinen Absatz, als er lossprang, und er hing einen Augenblick mit dem Kopf nach unten, dann fiel er und schlug auf einen Block oder Balken, der im Wasser schwamm. Wir ruderten zu ihm, aber er kam nicht wieder an die Oberfläche.
Ich sage, zum Glück für uns erreichte er uns nicht, und ich könnte beinahe hinzufügen, zum Glück für ihn, denn wir hatten nur ein kleines Fass Wasser und etwas nassgewordenen Schiffszwieback bei uns – so plötzlich war der Alarm gewesen, so unvorbereitet das Schiff auf jeden Unglücksfall. Wir meinten, die Leute im Langboot seien besser versehen (freilich scheint das nicht der Fall gewesen zu sein), und wir versuchten, sie zu rufen. Sie hatten uns nicht hören können, und als sich am anderen Tage der Sprühnebel aufklärte – was erst nach Mittag geschah–, war nichts mehr von ihnen zu sehen. Wir konnten wegen des Schaukelns des Bootes nicht aufstehen, um uns umzublicken. Die See lief in großen Rollwogen, und wir hatten viel Arbeit, um ihnen die Spitze des Boots entgegenzuhalten. Die zwei anderen Leute, die sich mit mir zusammen gerettet hatten, waren ein Mann namens Helmar, wie ich ein Passagier, und ein Matrose, dessen Namen ich nicht mehr weiß, ein kurzer, stämmiger Mann, der stotterte.
Wir trieben hungernd und, nachdem uns das Wasser ausgegangen war, von einem unerträglichen Durst gequält, acht Tage lang umher. Nach dem zweiten Tage legte sich die See zu glasiger Ruhe. Der Leser kann sich diese acht Tage wohl kaum vorstellen. Nach dem ersten Tage sprachen wir nur noch wenig miteinander; wir lagen auf unseren Plätzen im Boot und starrten auf den Horizont oder beobachteten mit Augen, die von Tag zu Tag weiter und hohler wurden, das Elend und die Schwäche, die unsere Gefährten überwältigten. Die Sonne wurde erbarmungslos. Das Wasser war am vierten Tag zu Ende, und wir dachten schon unheimliche Dinge; aber ich glaube, erst am sechsten gab Helmar dem Ausdruck, woran wir alle drei dachten. Unsere Stimmen waren so trocken und dünn, dass wir uns zueinander hinneigten und mit den Worten sparsam umgingen. Ich widersetzte mich mit aller Macht, wollte lieber, wir bohrten das Boot an und kämen zusammen unter den Haien um, die uns folgten; aber als Helmar sagte, wenn man seinem Vorschlag folge, hätten wir zu trinken, schloss der Matrose sich ihm an.
Ich wollte aber kein Los ziehen, und nachts flüsterte der Matrose immer wieder mit Helmar, und ich saß im Bug, mein Klappmesser in der Hand – freilich zweifle ich, ob ich das Zeug zum Kampf in mir hatte. Und am Morgen stimmte ich Helmars Vorschlag zu und wir warfen einen Groschen, um den Überzähligen zu finden.
Das Los fiel auf den Matrosen, aber er war der Stärkste von uns und wollte sich nicht fügen; er griff Helmar an. Sie rangen miteinander und standen dabei auf. Ich kroch durchs Boot zu ihnen hin und wollte Helmar helfen, indem ich den Matrosen am Bein packte; aber der Matrose stolperte, weil das Boot so schwankte, und die beiden fielen auf den Rand und rollten zusammen über Bord. Sie sanken wie die Steine. Ich erinnere mich, dass ich darüber lachte und mich wunderte, warum ich lachte. Das Lachen packte mich wie etwas, das gar nicht zu mir gehörte, sondern von außen kam.
Ich lag, ich weiß nicht wie lange, auf einer der Ruderbänke und dachte, wenn ich nur die Kraft hätte, wollte ich Meerwasser trinken und mich wahnsinnig machen, um schnell zu sterben. Und während ich noch so dalag, sah ich ein Segel über den Horizont zu mir heraufkommen, aber ich betrachtete es völlig unbeteiligt, als handle es sich um ein Bild. Mein Geist muss gewandert sein, und doch besinne ich mich ganz deutlich auf alles, was geschah. Ich erinnere mich, wie mein Kopf mit den Wellen schwankte, und wie der Horizont mit dem Segel darüber auf und nieder tanzte. Aber ich entsinne mich nicht minder deutlich, dass ich überzeugt war, ich sei tot, und dass ich dachte, welch ein Scherz es sei, dass diese Leute, die nur umso wenig zu spät kamen, mich nicht mehr lebendig vorfinden würden.
Eine endlose Zeit, so schien es mir, lag ich mit meinem Kopf auf der Ruderbank und beobachtete den tanzenden Schoner – es war ein kleines Schiff, vorn und hinten wie ein Schoner getakelt –, der aus dem Meer heraufkam. Er lavierte in immer weiteren Bogen hin und her, denn er segelte tot in den Wind. Es fiel mir keinen Augenblick ein, den Versuch zu machen und die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, und ich erinnere mich an nichts mehr deutlich, bis ich mich in einer kleinen Kabine wiederfand. Ich habe eine dunkle Erinnerung, dass ich das Fallreep1 hinaufgehoben wurde und ein großes, rotes Gesicht sah, das mit Sommersprossen bedeckt und von rotem Haar umgeben war und mich über die Reling her anstarrte. Ich hatte auch den zusammenhanglosen Eindruck, ein dunkles Gesicht mit merkwürdigen Augen zu erkennen, die mir ganz nahe waren; aber das hielt ich für einen Alp, bis ich es wiedersah. Ich entsinne mich ferner, dass mir irgendetwas zwischen die Zähne gegossen wurde. Und das ist alles.
an der Bordwand eines Schiffes herablassbare Treppe <<<
Die Kabine, in der ich mich befand, war klein und ziemlich unsauber. Ein noch junger Mann mit Flachshaar, einem borstigen, strohfarbenen Schnurrbart und hängender Unterlippe saß bei mir und hielt mein Handgelenk. Eine Minute lang blickten wir einander an, ohne zu sprechen. Er hatte wäßrige, graue, merkwürdig ausdruckslose Augen.
Dann hörte ich gerade über uns ein Geräusch, wie wenn eine eiserne Bettstelle umhergeworfen wird, und dann das leise, wütende Knurren eines großen Tieres. Zugleich sprach der Mann wieder.
Er wiederholte seine Frage: »Wie fühlen Sie sich?«
Ich glaube, ich sagte, dass ich mich ganz wohl fühlte. Ich konnte mich nicht besinnen, wie ich hierhergekommen war. Er muss mir die Frage vom Gesicht abgelesen haben, denn ich selbst brachte kein Wort hervor.
»Sie wurden in einem Boot gefunden – am Verhungern. Auf dem Boot stand der Name Lady Vain, und auf dem Bordrand waren Blutflecken.« Zu gleicher Zeit fiel mein Blick auf meine Hand: Sie war so dünn, dass sie wie ein schmutziger Hautsack voll loser Knochen aussah, und die ganze Sache mit dem Boot fiel mir wieder ein.
»Nehmen Sie etwas hiervon«, sagte er und gab mir eine Dosis von einem gefrorenen roten Zeug.
Es schmeckte wie Blut, aber es schien mich zu stärken.
»Sie haben Glück gehabt«, sagte er, »dass Sie von einem Schiff mit einem Arzt an Bord aufgefischt wurden.« Er sprach mit sabbernder Artikulation und einer Spur von Lispeln.
»Was für ein Schiff ist dies?«, fragte ich langsam, von meinem langen Schweigen heiser.
»Es ist ein kleiner Kauffahrer1 von Arica und Callao. Ich habe nicht gefragt, woher er ursprünglich gekommen ist. Aus dem Land der Narren, vermutlich. Ich selber bin Passagier von Arica. Der alberne Esel, dem es gehört – er ist zugleich Kapitän, heißt Davis –, hat sein Patent verloren oder sowas. Sie kennen die Art Mann – nennt das Ding die Ipecacuanha. Freilich, wenn viel See ist und kein Wind, da läuft es ganz ordentlich.«
Da begann oben der Lärm von Neuem: ein knurrendes Brummen und zugleich die Stimme eines menschlichen Wesens. Dann sagte eine andere Stimme einem »gottverlassenen Idioten«, er solle aufhören.
»Sie waren fast tot«, sagte mein Gegenüber. »Es hing wirklich an einem Haar. Aber ich habe Ihnen einiges Zeug eingegeben. Sehen Sie die Armwunden? Injektionen. Sie sind seit fast dreißig Stunden ohnmächtig gewesen.«
Ich dachte langsam. Jetzt lenkte mich das Bellen einer Anzahl Hunde ab. »Kann ich feste Nahrung zu mir nehmen?«, fragte ich.
»Und mir haben Sie’s zu danken«, sagte er. »Das Hammelfleisch kocht schon.«
»Ja«, sagte ich mit Zuversicht, »ich könnte ein wenig Hammelfleisch essen.«
»Aber«, sagte er mit momentanem Zögern, »wissen Sie, ich möchte um mein Leben gern erfahren, wie es kam, dass Sie allein in dem Boot waren.« Ich glaubte in seinen Augen einen gewissen Verdacht zu entdecken.
»Verdammtes Heulen!«
Er verließ die Kabine plötzlich, und ich hörte ihn heftig mit jemandem schelten, der ihm in Rotwelsch zu antworten schien. Es klang, als endete die Sache mit Schlägen, aber darin, glaube ich, täuschten meine Ohren sich. Dann rief er den Hunden zu und kam in die Kabine zurück.
»Nun?«, fragte er in der Tür. »Sie wollten gerade anfangen, mir zu erzählen.«
Ich nannte ihm meinen Namen, Edward Prendick, und sagte ihm, wie ich mich auf die Naturwissenschaft verlegt hatte, um die Langeweile meiner behaglichen Unabhängigkeit loszuwerden. Das schien ihn zu interessieren. »Ich habe selber ein wenig Naturwissenschaft getrieben – habe meine Biologie auf der Universität gemacht – dem Regenwurm den Eierstock rausgeholt und der Schnecke die Radula und all das. Himmel! Es sind zehn Jahre her. Aber fahren Sie fort, fahren Sie fort – erzählen Sie mir von dem Boot.«
Er war offenbar bezüglich der Aufrichtigkeit meiner Erzählung befriedigt, obgleich ich in ziemlich knappen Sätzen berichtete – denn ich fühlte mich furchtbar schwach –, und als sie zu Ende war, kam er sofort auf das Thema der Naturwissenschaft und seine eigenen biologischen Studien zurück. Er begann mich genau nach der Tottenham Court Road und der Gower Street zu befragen. »Existiert Cablatzi noch? Was für ein Laden das war!« Er war offenbar ein sehr durchschnittlicher Student der Medizin gewesen, und unaufhaltsam steuerte er das Thema Vergnügungslokale an. Er erzählte mir ein paar Anekdoten. »Alles aufgegeben«, sagte er. »Vor zehn Jahren. Wie ulkig alles war! Aber ich habe einen Esel aus mir gemacht … Hab’ mich rausgespielt, eh’ ich einundzwanzig war. Ich kann mir denken, jetzt ist alles anders … Aber ich muss mal nach dem Esel von Koch sehen, was er mit Ihrem Hammelfleisch macht!«
Das Knurren oben begann so plötzlich und mit so wilder Wut von Neuem, dass es mich erschreckte. »Was ist das?«, rief ich ihm nach, aber die Tür hatte sich geschlossen. Er kam mit dem gekochten Hammelfleisch zurück, und ich war von dem appetitlichen Duft so erregt, dass ich den Lärm des Tieres bald vergaß.
Nach einem Tag abwechselnden Schlafens und Essens war ich so weit erholt, dass ich aus meiner Koje steigen, an das Ochsenauge treten und die grünen Wellen sehen konnte, die mit uns Schritt zu halten versuchten. Montgomery – so hieß der flachshaarige Mann – kam wieder herein, als ich dort stand, und ich bat ihn um Kleider. Er lieh mir ein paar Segeltuchsachen von sich, denn die, die ich im Boot getragen hatte, sagte er, waren über Bord geworfen worden. Sie saßen mir ziemlich lose, denn er war breit und langgliedrig.
Er sagte mir gelegentlich, der Kapitän läge dreiviertel betrunken in seiner Kabine. Als ich die Kleider annahm, begann ich ihn über das Ziel des Schiffes zu befragen. Er sagte, das Schiff solle nach Hawaii fahren, aber es habe ihn erst zu landen.
»Wo?«, fragte ich.
»Auf einer Insel … Ich lebe da. Soweit ich weiß, hat sie keinen Namen.«
Er starrte mich mit hängender Unterlippe an und sah plötzlich so eigensinnig und borniert aus, dass mir schien, er wolle meinen Fragen ausweichen. Ich war so diskret und fragte nicht weiter.
Handelsschiff <<<
Wir verließen die Kabine. An der Kajütstreppe stießen wir auf einen Mann, der uns den Weg versperrte. Er stand, den Rücken gegen uns gekehrt, auf der Schiffsleiter und spähte über die Scherstöcke der Luke. Es war ein missgestalteter, kurzer, breiter, plumper Kerl mit einem Buckel, behaartem Nacken und zwischen die Schultern gesunkenem Kopf. Er war in dunkelblaue Serge gekleidet und hatte merkwürdig dickes, grobes, schwarzes Haar. Ich hörte die unsichtbaren Hunde wütend knurren, und alsbald duckte er sich zurück und stieß gegen die Hand, die ich ausgestreckt hatte, um ihn abzuwehren. Er drehte sich mit tierischer Behändigkeit um.
Auf irgendeine unbestimmte Weise widerte mich dieses Gesicht zutiefst an. Es war seltsam entstellt, sprang vor und erinnerte dunkel an eine Schnauze; der große, halboffene Mund zeigte so starke weiße Zähne, wie ich sie noch nie in einem menschlichen Munde gesehen hatte. Die Augen waren an den Rändern blutunterlaufen, und kaum ein Streif Weiß blieb um die nussbraunen Pupillen. Eine seltsame Glut und Aufregung spiegelte sich in diesem Gesicht.
»Zum Henker!«, sagte Montgomery. »Warum gehst du nicht aus dem Wege?« Der Mann mit dem schwarzen Gesicht sprang ohne ein Wort zur Seite.
Ich stieg weiter die Treppe hinauf und starrte ihn dabei instinktiv an. Montgomery blieb einen Moment am Fuß stehen. »Du weißt, du hast hier nichts zu suchen«, sagte er bedächtig. »Dein Platz ist vorn.«
Der Mann mit dem schwarzen Gesicht kauerte nieder. »Sie … wollen mich vorn nicht haben.« Er sprach langsam, mit einem wunderlichen, heiseren Klang in der Stimme.
»Wollen dich vorn nicht haben!«, sagte Montgomery mit drohender Stimme. »Aber ich sage dir, du gehst!« Er war nahe daran, noch etwas hinzuzufügen, blickte aber plötzlich zu mir auf und folgte mir die Leiter hinauf. Ich war stillgestanden und blickte zurück, noch immer maßlos über die groteske Hässlichkeit dieses schwarzgesichtigen Geschöpfes erstaunt. Ich hatte nie zuvor ein so abstoßendes und außerordentliches Gesicht gesehen, und dennoch – wenn der Widerspruch zu glauben ist – hatte ich zu gleicher Zeit die merkwürdige Empfindung, als sei ich irgendwie doch schon genau den Zügen und Gesten begegnet, die mich jetzt entsetzten. Später fiel mir ein, dass ich das Geschöpf wahrscheinlich gesehen hatte, als ich an Bord gehoben wurde, doch befriedigte das meinen Argwohn, es schon früher wo erblickt zu haben, kaum. Aber wie man ein so eigentümliches Gesicht vor Augen gehabt und vergessen haben kann, wann und wo das war, das ging über meine Vorstellungskraft.
Die Bewegung, die Montgomery machte, um mir zu folgen, lenkte meine Aufmerksamkeit ab, und ich wandte mich und sah mich auf dem glatten Deck des kleinen Schoners um.
Ich war durch die Töne, die ich gehört hatte, schon halb auf das, was ich sah, vorbereitet. Jedenfalls hatte ich noch nie ein so schmutziges Deck gesehen. Es war mit Rübenabfall, Fetzen von grünem Zeug und unbeschreiblichem Schmutz bedeckt. An den Hauptmast waren mit Ketten eine Anzahl grauer Hetzhunde gefesselt, die jetzt gegen mich zu springen und zu bellen begannen, und ein riesiger Puma war in einen kleinen eisernen Käfig am Besanmast gesperrt, der viel zu eng war, um dem Tier auch nur Raum zum Wenden zu lassen. Ferner gab es auf Steuerbord einige große Ställe, die eine Anzahl Kaninchen enthielten, und ein einzelnes Lama war vorn in eine viel zu kleine Kiste gequetscht. Die Hunde hatten Lederriemen um die Schnauzen. Das einzige menschliche Wesen auf Deck war ein hagerer, schweigsamer Seemann, der das Steuer bediente.
Die geflickten, schmutzigen Treibsegel standen straff vor dem Winde; überhaupt schien das kleine Schiff all seine Segel gesetzt zu haben. Der Himmel war klar, die Sonne halbwegs den westlichen Horizont hinunter; lange, schaumgekrönte Wogen begleiteten uns. Wir gingen am Steuermann vorbei nach Backbord und blickten auf das Wasser, das schäumend unter den Stern lief, und auf die Blasen, die im Kielwasser tanzten und verschwanden. Ich drehte mich um und blickte das ekelhafte Schiffsdeck entlang.
»Ist dies eine Meeresmenagerie?«, fragte ich.
»Sieht fast so aus«, sagte Montgomery.
»Was sollen die wilden Tiere? Ware? Meint der Kapitän, er wird sie irgendwo in der Südsee loswerden?«
»Es sieht so aus, nicht wahr?«, sagte Montgomery und wandte sich wieder dem Kielwasser zu.
Plötzlich hörten wir von der Schottluke her einen Schrei und eine Ladung von Flüchen, und der ungestalte Mensch mit dem schwarzen Gesicht kletterte eilig herauf. Dicht hinter ihm folgte ein untersetzter, rothaariger Mann mit einer weißen Mütze. Beim Anblick des ersteren wurden die Hetzhunde, die mittlerweile alle des Bellens müde geworden waren, wütend aufgeregt, heulten und sprangen an ihren Ketten. Der Schwarze zögerte vor ihnen, und das gab dem Rothaarigen Zeit, ihn einzuholen und ihm einen furchtbaren Stoß zwischen die Schulterblätter zu versetzen. Der arme Teufel flog hin wie ein gefällter Ochs und rollte unter die wütend aufgeregten Hunde. Es war sein Glück, dass ihnen das Maul verbunden war. Der Rothaarige grunzte triumphierend, taumelte und geriet, wie mir schien, in ernstliche Gefahr, entweder rückwärts die Kajütstreppe hinunterzustürzen, oder vorwärts über sein Opfer zu stolpern.
Als der zweite Mann erschien, fuhr Montgomery heftig auf. »Sachte da vorn!«, rief er warnend. Ein paar Matrosen erschienen am Bug.
Der Mann mit dem schwarzen Gesicht rollte unter den Pfoten der Tiere umher und heulte mit merkwürdiger Stimme. Niemand versuchte ihm zu helfen. Die Tiere taten ihr Bestes, um ihn zu zerreißen, indem sie mit den Schnauzen nach ihm stießen. Ihre geschmeidigen grauen Leiber vollführten einen behänden Tanz über der plumpen, gestürzten Gestalt. Die Matrosen vorn riefen ihnen zu, als sei es ein ausgezeichneter Ulk. Montgomery stieß einen zornigen Ausruf aus und ging weiter über das Deck. Ich folgte ihm.
In der nächsten Sekunde hatte sich der Mann mit dem schwarzen Gesicht aufgerafft und taumelte vorwärts. Er stolperte bei den Wanten, blieb keuchend stehen und sah sich über die Schulter weg nach den Hunden um. Der Rothaarige lachte ein befriedigtes Lachen.
»Hören Sie, Kapitän«, sagte Montgomery, stärker lispelnd als gewöhnlich, während er den Rothaarigen bei den Ellenbogen packte: »Das geht nicht.«
Ich stand hinter Montgomery. Der Kapitän drehte sich halb um und sah ihn mit den stumpfen und feierlichen Augen eines Betrunkenen an. »Was geht nicht?«, fragte er; und nachdem er Montgomery eine Minute lang schläfrig ins Gesicht geblickt hatte, fügte er hinzu: »Verdammter Knochensäger!«
Mit einer plötzlichen Bewegung wollte er die Arme freischütteln, und nach zwei wirkungslosen Versuchen steckte er die mit Sommersprossen bedeckten Hände in die Seitentaschen.
»Der Mann ist Passagier«, sagte Montgomery. »Ich rate Ihnen, die Hände von ihm zu lassen.«
»Gehen Sie zur Hölle!«, rief der Kapitän laut. Plötzlich drehte er sich um und taumelte zur Seite. »Tu was ich will auf meinem eigenen Schiff«, sagte er.
Ich meine, Montgomery hätte ihn jetzt lassen können – da der Kerl nun einmal betrunken war. Aber er wurde nur um einen Schatten blasser und folgte dem Kapitän zur Reling.
»Hören Sie, Kapitän«, sagte er. »Der Mann da soll nicht misshandelt werden. Er ist gequält worden, seit er an Bord kam.«
Eine Minute lang war der Kapitän sprachlos in seinen alkoholischen Dünsten. »Verdammter Knochensäger!«, war alles, was er dazu zu sagen hatte.
Ich konnte sehen, dass Montgomery von jenem langsamen, hartnäckigen Temperament war, das sich allmählich aufheizt, bis es zur Weißglut kommt und sich nie wieder bis zur Verzeihung abkühlt; und ich sah auch, dass dieser Streit seit einiger Zeit schwelte. »Der Mann ist betrunken«, sagte ich, vielleicht aufdringlich, »Sie werden nichts ausrichten.«
Montgomery zog seine hängende Lippe hässlich schief. »Er ist immer betrunken. Meinen Sie, das entschuldigte ihn, wenn er seine Passagiere angreift?«
»Mein Schiff«, begann der Kapitän, indem er die Hand unsicher gegen die Käfige hob, »war ein sauberes Schiff. Sehen Sie’s jetzt an.« Es war sicherlich alles andere als sauber. »Mannschaft«, fuhr der Kapitän fort, »saubere, ehrenwerte Mannschaft.«
»Sie waren bereit, die Tiere mitzunehmen.«
»Ich wollt’, mir wär’ Ihre höllische Insel nie vor Augen gekommen. Was zum Teufel … brauchen Sie Tiere für so eine Insel? Und dann Ihr Mann da … Wohlverstanden, wenn er ’n Mann war. Er ist ’n Verrückter. Und er hatte hinten nichts zu suchen. Meinen Sie, das ganze Satansschiff gehört Ihnen?«
»Ihre Leute begannen den armen Teufel zu quälen, sowie er an Bord kam.«
»Er ist ’n Teufel, ’n hässlicher Teufel. Meine Leute können ihn nicht ausstehen. Ich kann ihn nicht ausstehn. Keiner von uns kann ihn ausstehn. Und Sie auch nicht.«
Montgomery wandte sich ab. »Sie lassen den Mann auf jeden Fall in Ruhe«, sagte er und nickte beim Sprechen mit dem Kopf.
Aber jetzt wollte der Kapitän streiten. Er erhob die Stimme: »Wenn er noch mal auf dies Ende vom Schiff kommt, kehr’ ich ihm die Gedärme nach außen, sage ich Ihnen. Schneid’ ihm seine verdammten Gedärme heraus. Wer sind Sie, dass Sie mir sagen wollen, was ich tun soll? Ich sage Ihnen, ich bin Kapitän auf dem Schiff – Kapitän und Eigentümer. Ich bin das Gesetz hier, sag’ ich Ihnen – das Gesetz und die Propheten. Ich hab’ mich verpflichtet, einen Mann und seinen Diener nach Arica und wieder zurück zu bringen und noch ein paar Tiere mitzunehmen. Ich hab’ mich nie verpflichtet, einen tollen Teufel und einen albernen Knochensäger zu transportieren, einen …«
Nun, einerlei, wie er Montgomery nannte. Ich sah, dass dieser einen Schritt vorwärts tat, und ich trat dazwischen. »Er ist betrunken«, sagte ich. Der Kapitän begann noch schlimmer zu schimpfen. »Hören Sie auf«, sagte ich, während ich mich scharf zu ihm wandte, denn ich hatte in Montgomerys weißem Gesicht Gefahr gesehen. Damit lenkte ich den Guß auf mich selber.