Die Intelligenz der Bienen - Randolf Menzel - E-Book

Die Intelligenz der Bienen E-Book

Randolf Menzel

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Beschreibung

Faszination Honigbienen - wie sie denken, planen und fühlen

Wir lieben die Bienen nicht nur, weil sie süßen Honig produzieren. Sie gehören zu den wichtigsten und intelligentesten Nutztieren der Erde. Ohne ihre Bestäubung stünde es schlecht um die Welternährung. Und sie können noch viel mehr: Ihr kleines Gehirn denkt, plant, zählt und träumt sogar. Den bekannten Berliner Hirnforscher Randolf Menzel erstaunen sie nach fünf Jahrzehnten intensiver Forschung noch immer. Endlich hat er, zusammen mit Wissenschaftsjournalist Matthias Eckoldt, sein gesammeltes Bienenwissen aufgeschrieben.

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Das Buch

Wir lieben die Bienen, weil sie süßen Honig produzieren. Sie gehören zu den wichtigsten und intelligentesten Nutztieren der Erde. Ohne ihre Bestäubung stünde es schlecht um die Welternährung. Und sie können noch viel mehr: Ihr kleines Gehirn denkt, plant, zählt und träumt womöglich sogar. Den bekannten Berliner Hirnforscher Randolf Menzel erstaunen sie nach fünf Jahrzehnten intensiver Forschung noch immer. Endlich hat er, zusammen mit Matthias Eckoldt, sein gesammeltes Bienenwissen aufgeschrieben.

»Randolf Menzel entdeckt das Wunder des Geistes im Allerkleinsten. Er hat unser Verständnis, was Denken und Fühlen ausmacht, dramatisch erweitert.« Stefan Klein

Die Autoren

Randolf Menzel, 1940 in Marienbad geboren, beschäftigt sich seit fünf Jahrzehnten mit Bienen. Der Zoologe und Neurobiologe ist eine Autorität der tierischen Intelligenzforschung, über 30 Jahre lang leitete er das Neurobiologische Institut der Freien Universität Berlin. Es kann auf eine Fülle spektakulärer Erfolge verweisen, dort gelang unter anderem erstmals die elektrophysiologische Ableitung von Sehneuronen im Bienengehirn und die weltweit erste Anwendung eines bildgebenden Verfahrens am lernenden Gehirn. Außerdem konnte der Leibniz-Preisträger die wohl im Tierreich einmalige Navigationsweise der Bienen aufklären.

Matthias Eckoldt, 1964 in Berlin geboren, ist Schriftsteller, Dozent und mehrfach ausgezeichneter Rundfunkautor. Er veröffentlichte Romane, Essays und Sachbücher, zuletzt »Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?«, für das er bereits mit Randolf Menzel zusammenarbeitete.

Weitere Informationen zu unserem Programm unter www.knaus-verlag.de

Randolf Menzel

Matthias Eckoldt

Die Intelligenz der Bienen

Wie sie denken, planen, fühlen und was wir daraus lernen können

Knaus

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Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2016

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Umschlagmotiv: © Siegfried Grassegger / Getty Images

Lektorat: Susanne Warmuth

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18379-0V001

www.knaus-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel – Annäherung. Wie man mit Bienen ins Gespräch kommt

Sehen, Staunen, Fragen

Bienenfleiß und Stetigkeit

Lernen als große Herausforderung

Wie erkenne ich meine Gesprächspartnerin?

Lebenslauf einer Biene

Ich sehe was, was du nicht siehst

Das Experiment als Frage

Überraschende Antwort oder Fehlinterpretation?

Die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen

Die Welt mit Bienenaugen sehen

Zukunftsmusik: die Robobiene als Dolmetscher

2. Kapitel – Einblicke ins Bienengehirn, oder der andere Weg zur Intelligenz

Bits und Bytes im Honigtopf

Die Urgroßväter des Nervensystems

Zwei Strategien bei der Entwicklung von Gehirnen

Was wir verstehen und erklären – und was wir nicht wissen können

Fünf Gründe für die besondere Intelligenz der Biene

Wie hängen Größe, Struktur und Leistungsfähigkeit von Gehirnen miteinander zusammen?

Unter den Talaren – der Muff von tausend Jahren

Endlich, eine neue experimentelle Fragetechnik!

Von der Einsamkeit des Elektrophysiologen

Können Bienen Schmerz empfinden?

Wie das Bienengehirn aufgebaut ist

3. Kapitel – Was wir über die 7 Sinne der Bienen wissen

Sehen: Rundumblick mit 3500 Pixeln

Komplexaugen und der australische Way of Life

Perfekte Lichtausbeute dank Filtereffekt

Warum Bienen schlecht sehen und doch alles erkennen

Polarisiertes Licht im Ofenrohr und das Sternfolienmodell

Heureka! Sehzellen für polarisiertes Licht

Abenteuer im Outback – mit und ohne Bienen

Blümchensex als Evolutionsfaktor?

Farbräume bei Bienen, Pflanzen und Menschen

Das Gegenfarben-Prinzip und glattes diplomatisches Parkett

Warum man mit einem Auge Auto fahren kann, und wie Bienen räumlich sehen

Riechen – auf ein Kohlenstoffatom genau

Am Riechen führt kein Weg vorbei

Ein Professor mit anrüchiger Vergangenheit

Informationsfluss: vom Duftstoff zum Aktionspotential

Unruhige Zeiten in Berlin

Wie man Riechzellen zum Leuchten bringt

Eine Landkarte der Düfte

Materielles und Mentales: Was denkt im Gehirn?

Duftsignale auf ihrem Weg durchs Gehirn

Präzisionsarbeit im Netzwerk der Düfte

Ein Riechorgan mit hoher Auflösung

Schmecken: bittere Reize und süße Belohnung

Ein mechanischer Sinn, der elektrische Felder spürt

Mechanorezeptoren nicht nur für Hören und Tasten

Einladung zum Schwänzeltanz in elektrostatischen Feldern

Ein unredlicher Kollege

Neue Fragen an den neuen Sinn

Haben Bienen einen 7. Sinn für das Magnetfeld?

4. Kapitel – Lernen und Gedächtnis – zwei Seiten einer Medaille

Lernen – Hauptsache, neu

Ein wissenschaftliches Großprojekt kommt ins Rollen

Wissenschaft ist Teamwork – die Arbeitsgruppen

»Nicht ansprechen! Ich forsche gerade!«

Leistungszentren im Gehirn: Großhirnrinde vs. Pilzkörper

Plastizität und Differenzierung: das Gehirn den Bedürfnissen anpassen

Was Störungen über den Normalzustand verraten

Der Hammer! Ein Belohnungsneuron in Aktion

Gemeinsamkeiten im Belohnungssystem von Affen und Bienen

Von Reizen und Erwartungen

PE1, ein individuelles Neuron lernt

Woher Bienen wissen, was sie schon wissen

Gedächtnis – Hauptsache, oft

Die Gedächtnisse der Bienen und ein besorgter Spaziergänger

Wie das Gelernte ins Gedächtnis kommt

Wenn Bienen schlafen und träumen

Gedächtnisbildung auf Molekül- und Zellebene

mRNA in doppelter Mission

Wiederholen zum Erinnern, Verlernen zum Vergessen

Matrix, ein Speicher für Aktivitätsmuster

Es geht auch abstrakter: Regeln, Kategorien, Kontext

Lernen komplexer Reize

Gesicht oder nicht? – Alles eine Frage der Aufmerksamkeitssteuerung

Strafdressur: Lernen aus negativen Erfahrungen

5. Kapitel – Superorganismus Bienenvolk: Wie sich Bienen verständigen, orientieren und organisieren

Navigation: Wie kommen Bienen ans Ziel?

Entfernungsmessung absolut und relativ

Von Landmarken und Abkürzungen

Kontroversen um die kognitive Karte

Kommunikation: Kann denn Tanzen Sprache sein?

Sonne und Schwerkraft als Wegweiser

Getanzte Entfernungen und der Fehler im Auge des Betrachters

Irrungen und Wirrungen über private und soziale Kommunikation

Die Rolle von Erfahrung und Veranlagung

Nächtliche Tänze und symbolische Sprache

Organisation: Wie koordinieren sich 50000 Individuen?

Staatslenkung, hormongesteuert mit Rückkopplung

Wenn eine Königin ins Schwärmen kommt

Die Schwarmintelligenz und das Konsensprinzip

Monarchie, Demokratie oder kognitive Einheit?

Ist im Superorganismus Bien alles vorprogrammiert?

Haben Bienen ein Was-wann-wo-Wissen?

6. Kapitel – Biene und Umwelt

Nervengifte im Pflanzenschutz

Navigationsprobleme, oder: Wenn die Chemie nicht stimmt

Freie Forschung mit frei verkäuflichen Giften

Vom Umweltopfer zum Umweltspäher

Anhang

Anmerkungen

Bildnachweis

Dank

Sachregister

Vorwort

Den eifrigen Honigsammlerinnen, die dem Menschen seit grauer Vorzeit als Nutztiere dienen, wurden in den letzten Jahren einige Bücher gewidmet. Bienenhaltung, Honigerzeugung und die unersetzliche Tätigkeit der Bienen als Bestäuberinnen sind zweifellos interessante und wichtige Themen, doch noch viel spannender ist die Frage: Wie machen sie das eigentlich? – Wie finden und erkennen Bienen ihre Futterquellen? Wie merken sie sich, wo es etwas zu ernten gibt, und wie stimmen sie sich mit ihren Schwestern ab, welche Blüten angeflogen werden sollen? Auf welche Weise orientieren sie sich im Gelände, und wie können sie tanzend den Weg beschreiben? Ist das alles Instinkt, oder kann man Bienen Intelligenz zusprechen? Im Mittelpunkt dieses Buches stehen daher die vielfältigen Sinnesorgane und die kleinen Hochleistungsgehirne, mit denen Bienen ihre so überaus wichtigen Aufgaben in der Natur wahrnehmen.

Mit siebentausend Punktaugen scannen die Bienen die Welt um sie herum ab. Blüten, Bäume, Felder und der Himmel sehen für sie aber ganz anders aus als für uns Menschen, weil sie ultraviolettes Licht verarbeiten können. Zudem nehmen sie die Polarisation des Lichts wahr, so dass sich ihnen der Himmel in einem kontrastreichen Muster darstellt, das ihnen die Orientierung ermöglicht. Fast noch erstaunlicher als ihr Sehsinn ist ihr Geruchsvermögen: Bienen können Substanzen auseinanderhalten, die sich chemisch in einem einzigen Kohlenstoffatom unterscheiden! Ebenso bemerkenswert ist ihre Kommunikationsweise: Sie verständigen sich – auch mithilfe elektrostatischer Felder – im dunklen Bienenstock über Orte, die kilometerweit entfernt sind.

Koordiniert werden all diese staunenswerten Fähigkeiten von einem Organ, das kaum größer ist als ein Sandkorn. Wie ist das möglich?, fragt sich der Hirnforscher Randolf Menzel seit über fünfzig Jahren. Das vorliegende Buch berichtet aus seiner bewegten Forscherkarriere, in deren Verlauf er den Bienen einige Antworten auf die verschiedenen Wie-Fragen entlocken konnte. Von spektakulären experimentellen Durchbrüchen wird ebenso die Rede sein wie von nervenaufreibenden Durststrecken ohne erkennbaren Fortschritt, von kuriosen Begebenheiten am Rande und unerfreulichen Reibereien inmitten des Wissenschaftsbetriebs. Für die allgemeinverständliche Darstellung zeichnet der Autor und Philosoph Matthias Eckoldt verantwortlich, mit dem Randolf Menzel die Intelligenz der Bienen über anderthalb Jahre von immer neuen Seiten betrachtete. Im Zentrum standen dabei die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über die kleinen Insekten, während im Hintergrund der Vergleich zum Menschen, seinem Gehirn, seinem Denken, seinem Verhalten und Gewordensein mitlief.

Aus der Beschäftigung mit Bienen können wir einiges lernen, wenn uns auch ihr facettenreiches Verhalten zunächst einmal viele Rätsel aufgibt. Forscher haben das große Privileg, die Neugier, einen Trieb, der wohl in jedem Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt vorhanden ist, unter professionellen Bedingungen ausleben zu dürfen. Dafür sind Bienen besonders geeignete Partner, weil sie nicht nur hochintelligent sind, sondern ihre Fähigkeiten auch unter experimentellen Bedingungen auf beeindruckende Weise zeigen. Für die Neurowissenschaft heißt das konkret: Sie lernen selbst dann unvermindert intensiv, wenn ihr Gehirn gleichzeitig untersucht wird. Das Anliegen des vorliegenden Buches besteht darin, die Labortüren zu öffnen und zum einen die Prozesse, die sich im Bienenorganismus abspielen, wie in einem Vergrößerungsglas sichtbar zu machen. Zum anderen ergeben sich aus den Schilderungen auch tiefe Einblicke in die Vorgehensweise der Naturwissenschaft, in ihre Fragestellungen, in auftretende methodische Probleme und die kreativen Wege, zu Lösungen zu kommen. Solche kreativen Wege werden zumeist in der Gruppe gefunden. Forschung ist ein interaktiver Vorgang, in dem Höhen und Tiefen gemeinsam erlebt, gefeiert und durchlitten werden. Dieses Buch ist daher auch ein hohes Lied auf die vielen beteiligten Mitforscher.

Die grandiose Idee, Bienen individuell zu kennzeichnen, eröffnete die Möglichkeit, Lernvorgänge und Verhalten bei einzelnen Tieren zu beobachten und aufzuzeichnen. Denn erst wenn sie als Individuen erkennbar sind, kann der wissenschaftliche Dialog im eigentlichen Sinne beginnen, weil der Forscher nun über Experimente konkrete Fragen an bestimmte Bienen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen stellen kann. Dass es unter Umständen eine Herausforderung sein kann, die Antwort, die man erhält, korrekt zu interpretieren, gehört ebenfalls zu den Erfahrungen eines langen Forscherlebens.

Im zweiten Kapitel geht es um die Frage, wie sich das Bienengehirn entwickelt hat. Sie wird in einem grundsätzlichen Sinn gestellt: Auf welche Weise konnten sich informationsübertragende Zellen überhaupt zu Nervennetzen verdichten, aus denen letztlich Gehirne entstanden? Schon relativ weit unten im Stammbaum des Lebens teilte die Evolution die Tiere in zwei verschiedene, große Entwicklungslinien auf: Am Ende der einen steht heute der Mensch, am Ende der anderen die Biene. Trotz gewaltiger Unterschiede in Gestalt und Komplexität verbindet alle Tiere dasselbe Prinzip der Informationsverarbeitung. Mit einer einzigen Ausnahme, den Schwämmen. Kleine Ironie der Wissenschaftsgeschichte: Ausgerechnet mit denen beschäftigte sich ein gewisser Robert von Lendenfeld – Menzels Urgroßvater.

Das dritte Kapitel widmet sich den Sinnesorganen der Bienen. Wie verschaffen sie sich einen Eindruck davon, was in der Welt los ist? Wie sie riecht und schmeckt, wie sie aussieht und wie sie sich anfühlt? Es wird deutlich, dass die Sinnesorgane als Filter wirken. Sie leiten jeweils nur bestimmte spezifische Aspekte an das Gehirn weiter, wo dann erst das Bild der Welt entsteht. Deswegen kann kein Organismus – nicht der Mensch und nicht einmal die Biene – sagen, wie die Welt an sich ist. Die Bienen verfügen beim Sehen und Riechen über ein anderes Spektrum als wir Menschen. Darüber hinaus können sie sich zweier Sinne bedienen, die uns kaum zugänglich sind: Sie nehmen das Erdmagnetfeld wahr und nutzen es zur Orientierung. Und mithilfe elektrostatischer Felder verständigen sie sich innerhalb des Stocks.

Im vierten Kapitel geht es ins Herz der Hirnforschung. Während wir Lernen gemeinhin als eine herausragende Fähigkeit höherer Säugetiere betrachten, belehren uns die Bienen darüber, dass man auch mit einem gerade einmal einen Kubikmillimeter kleinen Gehirn phantastisch denken kann. An dieser Stelle ist der findige Experimentator gefragt, der es versteht, die Bienen in ihrem Bewegungsspielraum einzuschränken, ohne dabei ihr Lernvermögen zu mindern. In der Arbeitsgruppe von Randolf Menzel gelang es, das für alle Lernprozesse zentrale Belohnungszentrum im Bienenhirn zu identifizieren. Ein einziges Neuron genügt! Die Wiederholung von Lernvorgängen ermöglicht die Festschreibung von Erfahrungen im Gedächtnis. Eine entscheidende Rolle dabei spielt der Schlaf, den sich die sprichwörtlich so fleißigen Bienen überraschend häufig genehmigen. So führt die Erforschung der Gedächtnisvorgänge in logischer Konsequenz ins Bienenschlaflabor.

Bienen leben in Völkern von mehreren Tausend Individuen. Das erfordert ein hohes Maß an Abstimmung und Koordination untereinander. Die wichtigste Kommunikationstechnik im Bienenstock ist der Schwänzeltanz, um den es im fünften Kapitel geht. Dieses seit fast 2500 Jahren bekannte, aber erst seit 100 Jahren untersuchte Phänomen ist noch längst nicht vollständig verstanden. Im Gegenteil tun sich immer neue Aspekte auf, nachdem es 2014 mit einer am Institut von Randolf Menzel entwickelten Methode gelang, die Bienen beim Schwänzeln zu belauschen. Die Bienen tauschen auf diese Weise nicht nur Informationen über den Nektar und Pollen aus, sondern auch über Wasserquellen und Harzstellen. Und nicht zuletzt nutzen die Bienen den Schwänzeltanz für die Abstimmung über einen neuen Nistplatz.

Aber den Bienen droht Gefahr. Wir Menschen scheinen manchmal zu vergessen, wie sehr wir von ihnen und ihren Aktivitäten profitieren und wie sehr wir auf Bienen als Bestäuberinnen angewiesen sind – gerade in der Erzeugung von Nahrungsmitteln. Das letzte Kapitel beschreibt, auf welche Weise die industrielle, chemielastige Landwirtschaft den Bienen zusetzt. Eine neue Generation von Pflanzenschutzmitteln, die in erster Linie Insektenvernichtungsmittel sind, machen bestimmte Neurone der Bienen funktionsunfähig. Möglicherweise aber lässt sich hier der Spieß umdrehen, denn die Bienen geben Hinweise auf die Quelle der von solchen Pestiziden verursachten Störungen ihrer Gehirne. So könnten die Bienen bald schon zu Umweltspähern werden, mit deren Hilfe man einen Gifteinsatz punktgenau feststellen kann.

An der Biene lernt die Neurowissenschaft nachzuvollziehen, wie ein – wenn auch kleines – Gehirn Entscheidungen trifft, wie es plant, indem es Regeln erkennt, anwendet und kombiniert, wie es unterscheidet und wie sich angeborene sowie erlernte Mechanismen verschränken. So wird die Biene zum Modellorganismus für den Menschen. Das Bienengehirn spiegelt uns universelle Prinzipien der Hirnfunktionen und hilft uns, sie an und in uns schärfer zu sehen. Lehrreich ist dabei jedoch nicht nur das Maß an Übereinstimmung, sondern auch das Nachdenken über die Grenzen der Übertragbarkeit und die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens überhaupt.

Viele der in diesem Buch beschriebenen Experimente hätten nicht ohne Unterstützung durchgeführt werden können. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft stattete Randolf Menzel und seine Arbeitsgruppen über fast 50 Jahre großzügig mit finanziellen Mitteln aus. Bienen fliegen allerdings über Äcker und Wiesen, die Bauern gehören. Einige von ihnen haben Randolf Menzel und seinen Mitarbeitern erlaubt, Versuche auf ihrem Grund und Boden durchzuführen. Dafür sei ihnen an dieser Stelle besonders gedankt, da diese Experimente eine unabdingbare Ergänzung der Forschung im Labor darstellen.

Randolf Menzel & Matthias Eckoldt,

Berlin im Herbst 2015

Annäherung. Wie man mit Bienen ins Gespräch kommt

Sehen, Staunen, Fragen – Bienenfleiß und Stetigkeit – Lernen als große Herausforderung – Wie erkenne ich meine Gesprächspartnerin? – Lebenslauf einer Biene – Das Experiment als Frage – Die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen – Die Welt mit Bienenaugen sehen

Sehen, Staunen, Fragen

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Sommer 1952 in Rheinhessen. Ich war 12 Jahre alt und hatte mir in den Kopf gesetzt, einen Teich zu bauen. Nicht zum Baden. Auch nicht, um Goldfische zu halten. Sondern aus purer Neugier. Ich wollte beobachten, welche Lebensformen sich scheinbar aus dem Nichts dort entwickeln würden. Wie ich bereits wusste, lassen sich in einem Einweckglas Pantoffeltierchen züchten, wenn man Wasser aus einem Tümpel und etwas Stroh hineingibt. Welche Ausbeute an Lebewesen wäre dann erst in einem eigenen Teich zu erwarten? Bei meiner Buddelei war ich allerdings ganz auf mich allein gestellt. Keines meiner fünf Geschwister hatte auch nur das geringste Interesse an Biologie, und meine Eltern ließen mich zum Glück kopfschüttelnd gewähren.

Nach ein paar schweißtreibenden Wochen und einigen Rückschlägen – bis der Teich dank praktischer Ratschläge aus der Nachbarschaft mit einem speziellen Glattstrich einigermaßen dicht war – konnte ich endlich Wasser einlassen. Um der Natur ein wenig unter die Arme zu greifen, holte ich ein paar Wasserpflanzen von einem nahegelegenen Tümpel. Dann hieß es abwarten. Neugierig ging ich jeden Tag zu meinem Teich. Eines Morgens bot sich mir ein ungeheuerlicher Anblick: Der Teich hatte sich über Nacht blutrot gefärbt. Wie war das möglich? Ein Streich eines Nachbarjungen oder ein Wunder der Natur? Ich war außer mir, als ich den blutroten Teich sah. Rasch holte ich eine Flasche, füllte etwas von dem Wasser ab und rannte zu meinem Biologielehrer. Als ich dort ankam, unterschied sich meine Gesichtsfarbe nur unwesentlich von der Probe in meiner Flasche. Meine Euphorie übertrug sich allerdings nicht. Der Biologielehrer zuckte nur mit den Schultern: »Vielleicht hat jemand Farbe reingegossen?!«

Doch so rasch ließ ich mir meine Begeisterung nicht nehmen. Nur vierzehn Tage vor der mysteriösen Rotfärbung des Wassers hatte mir mein Großvater sein Mikroskop vererbt, da ich als einziger seiner Nachkommen großes Interesse an Tieren und Pflanzen zeigte. Er hatte sich das gute Stück – ein Markenmikroskop für den professionellen Gebrauch von Leitz, Baujahr 1900 – einst in seiner Prager Studentenzeit durch Nachhilfestunden finanziert. Mithilfe dieses Forschungsinstruments hatte mein Großvater seine Doktorarbeit über Planktonorganismen, Schwämme im Meer und die Entwicklung verschiedener Tierarten erarbeitet. Heute steht dieses geschichtsträchtige Mikroskop (Abb. 1) auf einem Ehrenplatz in meiner Bibliothek.

Abb. 1 Dieses Mikroskop, ein Geschenk meines Großvaters, hat mich in die Biologie geleitet. Mein Großvater hatte es für seine Studien an Planktonorganismen und Schwämmen verwendet.

Nach der enttäuschenden Reaktion meines Biologielehrers lief ich wieder nach Hause, setzte mich an mein Mikroskop, tropfte etwas von dem ominös verfärbten Teichwasser auf den Objektträger und deckte es mit einem Deckgläschen zu. Als ich durch das Okular sah und das Bild scharf stellte, eröffnete sich mir eine neue Welt: Ich blickte auf lauter tiefrote Kugeln. Hunderte. Tausende. Es war überwältigend. Eine bestechende Symmetrie. Jetzt war klar, dass die Verfärbung von Kleinstlebewesen herrührte: Einzellige rote Algen hatten sich in meinem Teich angesiedelt. Dazwischen sah ich allerhand andere eigentümliche Tierchen herumschwimmen und -hüpfen. Ich war hingerissen.

Dass die zwei für sich genommen schon zufälligen Ereignisse – das Erben des Mikroskops und der Rotalgenbefall – zeitlich derart kurz aufeinanderfolgten, war wirklich ein großer Zufall. Der Teich färbte sich danach nie wieder rot. Meine Neugier bekam zu einem guten Zeitpunkt die richtige Nahrung. So erlebte ich zum ersten Mal diesen prickelnden Moment des Staunens, nach dem sich die elektrisierenden Grundfragen des Forschens einstellen: Warum sind die Dinge ausgerechnet so und nicht anders? Oder sind sie vielleicht sogar noch ganz anders, als wir meinen?

Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Jedes Ding hat drei Seiten: eine, die ich sehe, eine, die du siehst, und eine, die wir beide nicht sehen.« Mit diesem Aperçu ist die Grundlage des Staunens, für mein Empfinden, sehr gut beschrieben. Im Wissen darum, dass alles Wissen immer noch einmal zu wenden ist und von einer anderen Seite aus betrachtet werden kann, gibt es für den Forscher keinen Stillstand, sondern nur die Abenteuer des Denkens und Experimentierens. Für mich begann damit mein Weg in die Wissenschaft.

Bienenfleiß und Stetigkeit

Bereits von Aristoteles, dem ersten auch empirisch forschenden Gelehrten im alten Griechenland, wurde dieses ergreifende Erlebnis des Staunens überliefert: Ein Imker führte ihn einmal zu einem seiner Bienenkörbe, um ihm ein eigentümliches Schauspiel zu zeigen. Auf dem Weg zu den Bienenkörben durch die blühenden Wiesen beobachtete er das muntere Treiben der Immen. Sie saugten den Nektar aus der Tiefe der Blüten, schüttelten den Pollen aus den Staubgefäßen und kehrten wieder zum Stock zurück. Aristoteles verfolgte einzelne Bienen und bemerkte dabei, dass sie nicht auf beliebigen Blüten landeten, sondern jeweils nacheinander immer die gleiche Blumenart ansteuerten. Die eine Biene suchte die blauen Veilchen, die andere den gelben Hahnenfuß, eine dritte blieb den Kirschblüten treu, und wieder eine andere beschäftigte sich nur mit Löwenzahnblüten.

Den Imker freilich konnte Aristoteles mit seiner Beobachtung nicht beeindrucken. Der wusste längst um dieses »stetige« Verhalten der Bienen, er wollte dem Philosophen etwas weit Eigentümlicheres zeigen. Die beiden Männer näherten sich einem Bienenkorb, an dem besonders viel Flugverkehr herrschte. Nun bekam Aristoteles etwas wirklich Merkwürdiges zu sehen: Eine Biene drehte sich im Kreis, wackelte hin und her und wurde dabei von zahlreichen anderen Bienen genau beobachtet. Sie tasteten mit ihren Fühlern nach ihr und wichen nur ein wenig zurück, wenn sich die Biene um sich selbst drehte. Aristoteles konnte sich gar nicht losreißen von diesem Naturschauspiel. Zu seinen Schülern sagte er wenige Tage danach:

»Bei jedem Ausflug setzt sich die Biene nie auf artverschiedene, sondern nur auf artgleiche Blüten, fliegt zum Beispiel von Veilchen zu Veilchen und rührt keine andere an, bis sie in den Stock zurückgeflogen ist. Sobald sie in den Stock kommen, schütteln sie ihre Last ab, und einer jeden Biene folgen drei oder vier andere. Was diese in Empfang nehmen, ist schwer zu sehen, auch ist ihre Arbeitsweise noch nicht beobachtet worden.«[1]

2300 Jahre später hörte ich im Biologieunterricht von der »Blütenstetigkeit«. Demnach sollten sich alle Insekten, die Blüten besuchen, genau so verhalten, wie es Aristoteles seinen Schülern gegenüber beschrieben hatte. »Aber woher wissen die Insekten, welche Blüten sie anfliegen müssen? Warum nehmen sie nicht einfach die Blüten, die den meisten Nektar versprechen? Das wäre doch viel logischer!«, fragte ich meinen Biologielehrer, der mir wieder einmal keine befriedigende Antwort geben konnte. Meine am rot gefärbten Wasser entzündete Neugier trieb mich in die Natur, wo ich, wie einst Aristoteles, den Insekten hinterherlief. Ich konzentrierte mich dabei jedoch nicht auf Bienen, sondern auf Hummeln. Die waren von ihrem ganzen Verhalten her gemütlicher als Bienen und ließen sich somit besser verfolgen. Was geschah? Die Hummeln verhielten sich in der Regel wie beschrieben und blieben einer Blüte treu. Doch immer wieder unterliefen ihnen auch »Fehler«. Wenn eine saftige Blüte einer anderen Art in der Nähe war, wechselten sie einfach zu ihr, obwohl Farbe, Struktur und Geruch der Futterstellen teils erheblich voneinander abwichen. Diese Beobachtung beeindruckte mich tief. Denn die Hummeln konnten ja nichts wissen von den Verhaltensregeln, die Biologen ihnen unterstellten. Wenn sie sich also scheinbar fehlerhaft verhielten, hieß das doch letztlich, dass nicht die Hummeln mit ihrem Blütenbesuch, sondern die Menschen mit ihrer Beschreibung desselben einen Fehler gemacht hatten.

Die Frage der Blüten(un)stetigkeit blieb für mich unbeantwortet, bis ich das Studium bei Martin Lindauer, einem der bedeutendsten deutschen Verhaltensbiologen, aufnahm. Lindauer war Schüler von Karl von Frisch, der für die Entdeckung des Schwänzeltanzes der Bienen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Lindauer machte mich schließlich auf eine Arbeit von Bernd Heinrich aufmerksam. Der deutsch-amerikanische Biologe hatte in umfangreichen Studien Hummeln untersucht und tatsächlich festgestellt, dass Hummeln nicht oder nur bedingt blütenstetig sind. In einem seiner Bücher beschreibt Heinrich seine Beobachtungen:

»Einfache Experimente zeigten, dass das Sammeln an minder ertragreichen Trachtpflanzen (minors) manchmal die beste Weise darstellte, sich gegebenen Verhältnissen anzupassen. Wenn diese Pflanzen künstlich ertragreicher gemacht wurden, machten Hummeln aus ihren Nebenquellen ihre Hauptquellen (majors). Für eine Hummel mit der Hauptspezialisierung Goldrute reicherte ich zum Beispiel eine ihrer Nebenquellen, die Aster, mit Zuckersirup an. Darauf machte die Hummel die Aster zu ihrer Hauptquelle.«[2]

Die Genugtuung darüber, dass ich mir meine Beobachtungen im Odenwald und Taunus, als ich selbst den Hummeln hinterherjagte, nicht durch die Schulbuchweisheit hatte ausreden lassen, war nicht nachhaltig. Sie wich vielmehr rasch der nächsten Frage: Warum sind die Bienen blütenstet, aber die Hummeln nicht? Wenn man sich in das Problem vertieft, kommt man über kurz oder lang zu den Unterschieden im Verhalten der beiden Insektenarten: Was können Bienen, was Hummeln nicht können? Bienen können über den Schwänzeltanz miteinander »reden«, bei Hummeln wurde eine solche Kommunikationsweise nicht beobachtet. Das heißt, Bienen haben Mittel und Wege gefunden, sich untereinander mitzuteilen, welche der aktuell abgesammelten Blütenarten besonders ertragreich sind. Deshalb können sie als ganze Kolonie sammeln, und jedes einzelne Tier kann zu einer bestimmten Zeit Blüte um Blüte »sortenrein« abernten. Hummeln sind dagegen bei der Futtersuche auf sich selbst gestellt, weil sie sich untereinander nicht in dem Maß über ihre Erfahrungen austauschen können wie die Bienen. Jede einzelne Hummel muss also für sich allein herausfinden, wie der »Markt« gerade bestellt ist. Deshalb gehen sie zu ihrer Hauptblüte, naschen aber auch immer wieder woanders, um die Nektarlage zu sondieren. Das heißt aber nicht, dass sie weniger »intelligent« sind als Honigbienen. Sie wenden nur eine andere Sammelstrategie an. Die Hummeln verhalten sich eher wie Blüten-Scouts im eigenen Auftrag, während die Bienen einem gut koordinierten Heer von Erntearbeitern entsprechen, -arbeiterinnen, um genau zu sein, da die Arbeit im Bienenstock ausschließlich von weiblichen Tieren geleistet wird.

Lernen als große Herausforderung

Nachdem ich so gut wie jeden in meinem Teich herumschwimmenden Organismus unter mein Mikroskop gelegt, abgezeichnet und klassifiziert hatte, stürzte ich mich auf die Gewässer im hessischen Ried und untersuchte die Planktonorganismen in ihrem Jahresgang, in verschiedenen Tiefen und in der Abhängigkeit von dem Gewässertyp. Daraus entstand eine Jahresarbeit von mehreren Hundert Seiten mit einer Fülle von Zeichnungen (Abb. 2), die vom Deutschen Biologenverband mit dem ersten Preis prämiert wurde. Mir kam nie in den Sinn, etwas anderes zu studieren als Biologie, und so nahm ich 1960 in Frankfurt am Main ein Lehramtsstudium auf.

Später, nachdem ich schon ein paar Semester absolviert hatte, faszinierte mich mehr und mehr die Frage, wie Lernen in der Natur funktioniert – beim Menschen ebenso wie bei Tieren. Vielleicht widmete ich meine gesamte Forscherlaufbahn ausgerechnet diesem Thema, weil ich selbst große Schwierigkeiten mit dem Lernen hatte. Im ersten Schuljahr wussten die Lehrer so wenig mit mir anzufangen, dass sie mir nicht einmal ein Zeugnis ausstellten. Meine Leistungen waren derart miserabel, dass ich nur auf Probe in die zweite Klasse versetzt wurde. Auch das Gymnasium trauten mir meine Lehrer nicht zu, und ich habe es nur dem beherzten Auftreten meiner Mutter zu verdanken, dass ich überhaupt eine höhere Schule besuchen und somit am Ende die Hochschulreife erlangen konnte. Wahrscheinlich hat mir mein Vater eine bestimmte Form von Lernschwäche vererbt. Dieser hochgebildete Mann konnte sich partout keine Namen merken. Begegnete er einem Kollegen, begrüßte er ihn mit der Formel: »Guten Tag, Herr Kollege!«

Abb. 2 Drei meiner vielen Zeichnungen von Rotatorien.

Während meines Studiums hörte ich neben Biologie- auch Psychologie-Vorlesungen. Hier wurde ich mit den Arbeiten von Hermann Ebbinghaus bekannt, der als Pionier der modernen Gedächtnisforschung gilt. Ende des 19. Jahrhunderts hatte er nach Durchführung und Auswertung zahlreicher Selbsttests die später nach ihm benannte »Vergessenskurve« aufgestellt. Folgt man Ebbinghaus, so können wir schon nach zwanzig Minuten nur noch sechzig Prozent des Gelernten erinnern, nach einer Stunde weniger als die Hälfte und nach einem Tag lediglich noch ein Drittel. Nach einem Monat sind dann nur noch fünfzehn Prozent der Informationen im Hirn verfügbar. Mich reizte es, an einem von Ebbinghaus entwickelten Test teilzunehmen, um auf diese Weise mein Lernvermögen mit objektiven Methoden überprüfen zu lassen. Als ich an der Universität die Möglichkeit dazu bekam, war das Ergebnis verheerend. Man sollte sinnlose Silben wie »WUX«, »CAZ« oder »BIJ« lernen und wurde dann abgefragt. Ich konnte mir nicht eine dieser Silben merken und schnitt so schlecht ab, dass man mich schließlich sogar als »Outlier« einstufte und aus dem Test ausschloss. (»Outlier« nennt man in der Statistik die »Ausreißer«, die eliminiert werden, weil ihre Werte so fern des Erwartungshorizonts liegen, dass sie das gesamte Experiment verfälschen würden.) Für mich war dieses Ergebnis zwar schockierend, aber nicht ganz unerwartet, erinnerte ich mich doch nur zu gut, wie schwer es mir gefallen war, in der Schule Gedichte auswendig zu lernen. Was mich tröstete – und dann doch zuversichtlich stimmte, was mein Gedächtnis und mein Lernvermögen angeht –, war, dass ich jeden einzelnen der 800 während meiner Schulzeit untersuchten Planktonorganismen mit Namen, Form und spezifischen Besonderheiten kannte und auch nicht vergaß.

Diese Lebewesen, beispielsweise die winzig kleinen und glasklaren Rotatorien, brachten mich schließlich auf eine Idee: Da das Nervensystem der Rotatorien unter dem Mikroskop sehr gut zu sehen war, müsste man bei diesen Tierchen doch auch jene Vorgänge gut beobachten und nachvollziehen können, die sich beim Lernen in ihrem Nervensystem abspielen. Ich ging mit dieser Idee zu dem Neurobiologie-Professor Franz Huber, den ich wegen seiner spannenden Vorlesungen über die Physiologie der Tiere sehr bewunderte. Nicht zuletzt seinetwegen war ich im Jahr 1964 von Frankfurt nach Tübingen gepilgert. Ihn also versuchte ich als Doktorvater zu gewinnen. Franz Huber aber war alles andere als begeistert, denn Lernvorgänge bei Tieren interessierten ihn nur mäßig, und außerdem bezweifelte er, dass Planktonorganismen überhaupt etwas lernten. Allerdings gab er mir den Rat, mich mit einem Tier zu beschäftigen, von dem nun wirklich bekannt war, dass es lernte: die Honigbiene. Dieser Vorschlag gefiel mir, denn meine früheren Beobachtungen an Hummeln und anderen Insekten, die Blüten besuchen, hatten bei mir schon die Vermutung aufkommen lassen, dass Insekten gut lernten.

Als ich dann an meine Heimatuniversität nach Frankfurt zurückkehrte, stellten sich die Weichen erneut günstig für mich. Dort war während meiner Abwesenheit Martin Lindauer zum Leiter des Zoologischen Instituts berufen worden. Er nahm mich in seine Arbeitsgruppe auf, und nur wenige Wochen später zeigte er mir, wie man mit Bienen redet. Schließlich war er auch bereit, meine Doktorarbeit zum Thema Farbenlernen von Bienen zu betreuen. Ich war glücklich, denn ich hatte mein Thema gefunden.

Wie erkenne ich meine Gesprächspartnerin?

Wenn man Bienen erforschen möchte, kann man mit den entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen beziehungsweise der nötigen Tollkühnheit einen Bienenstock öffnen und beobachten, was die Bienen dort alles treiben. Man kann auch einem Bienenschwarm folgen und sehen, wie, ob und wo er sich wieder ansiedelt. Doch die wissenschaftliche Neugier wird dabei nur zu einem kleinen Teil befriedigt. Denn wenn man dem Flug der Bienen mit bloßem Auge und den eigenen Beinen nachgeht, verliert sich deren Spur spätestens, sobald sie im Stock verschwinden. Öffnet man einen Stock, zerstört man letztlich das, was man untersuchen will. Folgt man einem Schwarm, kann man ihn ebenfalls nur als Ganzes sehen und lernt nichts über die Funktionen, Aufgaben und Leistungen der einzelnen Bienen. Das aber ist der Forschungsanspruch – zumal wenn man Lernprozesse untersuchen möchte. Wie kann man das Einzelwesen Biene nach seinem Verhalten befragen, ohne es in genau diesem Verhalten zu stören?

Karl von Frisch hatte die ebenso einfache wie wirkungsvolle Idee, die Bienen, die er untersuchen wollte, zu markieren. Er tupfte ihnen dazu – ganz behutsam, damit die Flügel nicht verkleben – nach einem genau ausgetüftelten Code Farbe auf den Rücken: Weiß, Rot, Blau, Gelb und Grün stehen für die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, wenn sie zwischen den Flügeln im vorderen Bereich des Thorax (Brustabschnitt) der Biene angebracht werden, und 6, 7, 8, 9, 0, wenn sie im hinteren Bereich aufgetragen werden. Stehen sie auf der linken Seite, bedeuten sie Zehner, auf der rechten Seite Einer. Die Hunderter schließlich werden auf dem Hinterleib (Abdomen) markiert (siehe Farbteil 1, FAbb. 1-1a).

Der Vorteil dieser Art der Kennzeichnung besteht darin, dass der Forscher nach einer recht kurzen Eingewöhnungszeit 600 Bienen-Individuen auseinanderhalten kann. Heute verwenden wir meist kleine Nummernschilder, oder automatisch lesbare Codes (FAbb. 1-1b und FAbb. 1-1c), wobei wir mit fünf Farben und vier unterschiedlichen Ausrichtungen relativ zum Bienenkörper etwa 2500 Bienen individuell markieren können. Natürlich kann man auch elektronische Markierungen vornehmen, sogenannte RFID (radio frequency identification devices, »Funketiketten«). Diese haben jedoch den Nachteil, dass sie anders als die Nummerierungen nicht sofort vom Experimentator gelesen werden können. Außerdem sind sie bei Weitem nicht so zuverlässig wie die Farb- oder Nummernmarkierungen.

Lebenslauf einer Biene

Die Punkte auf dem Rücken der Bienen bedeuteten einen entscheidenden Fortschritt in der Bienenforschung, da es der Untersucher nun nicht mehr mit einem Haufen herumwuselnder, gleich aussehender Tiere, sondern mit Individuen zu tun hatte. Erst dieser Perspektivwechsel ermöglichte es, mit Bienen »zu reden«. Nun konnte man konkrete Fragen an die Einzeltiere stellen und bekam auch Feedback von den Bienen. Sie antworteten mit ihrem natürlichen Verhalten, da sie, von den Farbtupfern ungestört, weiterhin ihrem Tagwerk nachgingen. Dabei stellt sich in der Tat heraus, dass sich verschiedene Individuen unterschiedlich verhalten, je nachdem, was sie vorher erfahren haben.

Eine mögliche Frage an die Bienen ist die nach der Arbeitsteilung. Werden die Bienen – wie beispielsweise Menschen in der traditionellen indischen Gesellschaft – in verschiedene Kasten hineingeboren? Kommen sie auf die Welt und erledigen ihr Leben lang nur eine spezifische Aufgabe? Über die individualisierende Kennzeichnung konnten die Forscher solche Fragen stellen und zur Beantwortung den Lebensweg jeder einzelnen Bienen verfolgen. Dabei kam heraus, dass die Honigbienen in den dreißig bis sechzig Tagen ihres Erdendaseins während der Sommermonate alle Funktionen im Stock durchlaufen. Zunächst sind sie für die Versorgung der Königin zuständig, kümmern sich dann um den Nachwuchs, übernehmen als Nächstes die Säuberungsarbeiten im Stock, verteidigen das Volk am Stockeingang und stehen schließlich vor dem gefährlichsten Teil ihrer Laufbahn: Sie fliegen zum Nektar- und Pollensammeln aus. So verläuft ein »normales« Bienenleben.

In Notsituationen werden jedoch auch »Karrierestufen« übersprungen. Wenn der ganze Stock in Gefahr ist, weil es an Nektar fehlt, können jüngere Bienen, die vielleicht gerade erst auf dem Stand der Brutpflegerinnen sind, für das Sammeln rekrutiert werden. Eine der wundersamsten Einsichten, zu der die Kennzeichnung der Bienen der Wissenschaft verholfen hat, ist jedoch diese: Wenn eine neue Königin den Stock übernimmt, zieht die alte Königin mit einem Teil ihrer bisherigen Getreuen aus und bildet einen Schwarm, der sich eine neue Bleibe sucht. Glückt diese Umsiedlung, konnte beobachtet werden, dass die Lebensstufen der Bienen, anders als beim Menschen, nicht nur in einer Richtung verlaufen. Ausgeschwärmte Bienen können nämlich dann wieder Funktionen ausführen, die sie schon einmal ausgeübt hatten. Aus einer Sammlerin kann wieder eine Brutpflegerin oder eine Säuberungsbiene werden. Das allein wäre noch nicht unbedingt überraschend, da die jeweiligen Bienen ja bereits aus Erfahrung »wissen«, was in den vorherigen Lebensphasen zu tun war. Das wirklich Faszinierende ist, dass diese Tiere gleichsam in einen Jungbrunnen tauchen. Sie gewinnen Fähigkeiten wieder, die sie als junge Bienen hatten, etwa die, besser als alte Bienen lernen zu können. Allein dadurch, dass sie für das Wohl des Bienenvolkes eine bereits ausgeübte Funktion noch einmal übernehmen müssen, verlängert sich auch ihre Lebensspanne deutlich.

An diese Beobachtungen schließt sich gleich die nächste Frage an: Woher wissen die Bienen, wann sie welche Funktion im Bienenstaat auszuüben haben? So ist das mit der wissenschaftlichen Neugier. Sie erzeugt eine Kettenreaktion: Eine gefundene Antwort löst immer gleich die nächste Frage aus.

Ich sehe was, was du nicht siehst

Bei einigen Experimenten lernt man die einzelnen Bienen auch auf gleichsam persönlicher Ebene kennen. Wenn ich Experimente mit gekennzeichneten Versuchstieren durchführe, kenne ich nach ein paar Tagen tatsächlich so etwas wie den Charakter einiger Bienen. Da nähert sich die eine ihrem Ziel eher bedächtig, während es eine andere ohne Umschweife anfliegt. Wieder andere Bienen sind verspielt und nesteln erst noch an ein paar anderen Orten herum, oder sie sind das, was man nach Menschenbegriffen phlegmatisch nennen würde. Auch unter Bienen scheint es Gemütliche und Eifrige zu geben. Diese Charakterstudien amüsieren uns zwar eher, als dass sie Gegenstand wissenschaftlichen Interesses sind, gleichwohl wären auch diese Beobachtungen ohne die individualisierende Kennzeichnung der Bienen nicht möglich.

Wissenschaftliche Experimente dagegen müssen strenge Kriterien erfüllen, selbst wenn sich ihre Fragestellungen aus zufälligen Beobachtungen ergeben. Etwa wenn man, wie der englische Naturforscher John Dalton im 18. Jahrhundert, bemerkt, dass manche Menschen merkwürdige Farbenzuordnungen vornehmen:

»Ich war stets der Meinung, obwohl ich sie wohl nicht oft geäußert habe, dass einige Farben falsch benannt wurden. Die Bezeichnung ›rosa‹ oder ›nelkenfarbig‹ schien mir im Vergleich zur Farbe der Nelken wohl angebracht. Doch wenn der Ausdruck ›rot‹ statt ›rosa‹ verwendet wurde, hielt ich es für höchst unangemessen. Nach meiner Empfindung sollte es ›blau‹ gewesen sein, weil ›rosa‹ und ›blau‹ mir näher verwandt erschienen. Hingegen haben ›rosa‹ und ›rot‹ kaum eine Beziehung.«[4]

Ein Experiment muss die Beobachtung, die für Verwunderung gesorgt hat, in den Griff bekommen, damit man gezielte Fragen stellen kann: Welche Farben siehst du? Welche Farben siehst du nicht? Was siehst du anstelle der Farbe, die du nicht siehst? Wenn man weiß, dass die für den Menschen sichtbare Welt aus drei Farben besteht, kann man mit entsprechendem Geschick Tafeln herstellen, die sichtbar machen, was für manche Probanden unsichtbar ist (siehe FAbb. 1-2). Was sehen Sie in den verschiedenen Kreisen?

John Dalton hätte beim rechten Bild in der oberen Reihe nur Punkte gesehen, aber keine Zahl, denn er litt an der Rot-Grün-Blindheit, die ihm zu Ehren auch »Daltonismus« genannt wird. Wenn Sie in den Kreisen eine oder mehrere Zahlen nicht erkennen können, teilen Sie das Los der Farbenblindheit – korrekter Farbenfehlsichtigkeit – mit rund fünf Prozent der männlichen Bevölkerung. Wenn dem so ist, wissen Sie sicherlich bereits darum, und Sie wissen auch, dass Sie anhalten müssen, wenn das obere Licht an der Ampel leuchtet. In den USA und Australien müssen Sie noch einmal umlernen, da manche Ampeln dort horizontal angebracht sind: Das rote Licht befindet sich immer links. Eine Laufbahn als Pilot sollten Sie nicht anstreben, da die harten Eignungstests auch die Farbtüchtigkeit abfragen. Ansonsten dürfte es kaum Einschränkungen geben. Ihre Welt sieht halt ein wenig anders aus. Die Farben sind ja ohnehin nicht da draußen, sondern entstehen erst in unserem Kopf. Für die Bienen scheint die Sonne übrigens grün, da sie keine Rezeptoren für die Wellenlänge des roten Lichtanteils haben.

Wie kann man nun solche Dinge im Tierreich erforschen? Menschen kann man einfach bitten, sich die Farbtafeln anzuschauen. Aber Bienen? Wie redet man mit Tieren, die sich nicht um unsere Bitten scheren?

Das Experiment als Frage

Das Fragenstellen wird erheblich erleichtert, wenn man das Tier, mit dem man reden möchte, dressieren kann. Damit sind natürlich keine Zirkuskunststückchen gemeint, sondern eine Art von Konditionierung, wie sie durch den berühmten Versuch des russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow sowie durch die Arbeiten der amerikanischen Psychologen Edward Lee Thorndike und Burrhus Frederic Skinner bekannt geworden ist.

Pawlow hatte immer dann, wenn er seinem Versuchstier Futter gab, eine Glocke geläutet. Sobald der Hund das Futter sah, reagierte er unwillkürlich mit Speichelfluss. Die Pointe des Experimentes lag nun darin, dass dem Hund nach einiger Zeit auch dann »das Wasser im Mund zusammenlief«, wenn er nur die Glocke hörte und gar kein Futter bekam. Diese mit dem Nobelpreis gewürdigte Entdeckung nannte Pawlow den »konditionierten« Reflex im Unterschied zum unwillkürlichen oder »unkonditionierten« Reflex, mit dem der Hund auf natürliche Weise reagiert, wenn sein Futter kommt. Diese Art der Dressur eröffnet uns nun die Möglichkeit, dem Versuchstier Fragen zu stellen, beispielsweise, ob ein Tier einen bestimmten Reiz von einem anderen unterscheiden kann. Dieser Versuchszugang benutzt die Probanden – Tiere wie Menschen – als eine Art Messgerät. So eröffnet sich ein ganz neuer Wissensraum, den man Psychophysik – die Vermessung der Wahrnehmung – nennt.

Wenn man den Bienen die Frage stellen will, ob und wenn ja welche Farben sie sehen können, dressiert man sie zuerst auf eine Farbe. Dazu nimmt man beispielsweise eine blaue Karte von vielleicht zehn mal zehn Zentimetern. Auf diese Karte wird etwas Zuckerlösung getropft. Die Biene fliegt nun die Karte an und wird mit der nahrhaften Substanz belohnt. Diesen Vorgang wiederholt man zwei, drei Mal, dann ist die Biene auf Blau dressiert, sie hat die Farbe gelernt. Wenn man ihr nun eine blaue Karte ohne Zuckerlösung hinlegt, fliegt die Biene zu ihr, denn sie verbindet den blauen Farbton mit der Belohnung – wie der Pawlow’sche Hund die Glocke mit dem Fleisch. Soweit zur Dressur. Nun kann man der Biene weitere Fragen stellen, indem man um die blaue Karte herum verschiedene Graustufen platziert. In diesem Fall steuert das Versuchstier wiederum zielsicher die blaue Karte an. Auch wenn man grüne Karten hinzu nimmt und die Positionen austauscht, wird die Biene den blauen Karton finden. Die Biene wird allerdings Probleme bekommen, wenn man das Ganze mit Rot und Gelb durchspielt, denn Rot halten Bienen für Schwarz, da sie keine entsprechenden Rezeptoren haben, und Gelb können sie nicht von Grün unterscheiden.

Natürlich muss man bei solchen Experimenten sehr sorgfältig vorgehen. Der Platz, an dem die farbige Karte mit der Belohnung liegt, muss immer wieder gewechselt werden, um sicher zu gehen, dass die Biene nicht die Position, sondern die Farbe der Karte lernt. Auch die Duftmarken, die Bienen beim Anfliegen hinterlassen, müssen immer wieder entfernt werden, denn sonst könnten sie am Geruch erkennen, wo sie vorher eine Belohnung erhalten haben. Eine gewisse Sorglosigkeit bei der Durchführung dieses Experiments hat zu manchen falschen Interpretationen Anlass gegeben. Es ist das Verdienst von Karl von Frisch, die Versuchsdurchführung so ausgetüftelt zu haben, dass Fehlinterpretationen weitgehend ausgeschlossen sind.

Überraschende Antwort oder Fehlinterpretation?

Karl von Frisch hatte sich dieses Experiment zum Farbensehen ausgedacht, weil er bereits im Studium Zweifel an den rigorosen Äußerungen des berühmten Augenforschers Carl von Hess gehegt hatte, dass Fische und alle wirbellosen Tiere (im Gegensatz zu Wirbeltieren) farbenblind seien. Grundlage für diese Behauptung war unter anderem folgendes Experiment: Man versetzt eine Biene in eine bedrohliche Situation, indem man sie in eine Schachtel steckt und diese schüttelt. Dann öffnet man die Schachtel und beobachtet, wohin sie fliegt. Nun kann man der Biene »Fragen stellen«, indem man ihr verschiedene Helligkeiten und unterschiedliche Farben anbietet. Von Hess ging in seinen Experimenten einige Frequenzen des sichtbaren Lichtes durch und stellte fest, dass den Bienen auf ihrer Flucht die Farben egal waren. Sie kümmerten sich nicht um Rot, Gelb, Grün oder Blau, sondern flogen immer dorthin, wo es am hellsten war. Die Schlussfolgerung, die von Hess aus diesen Versuchen zog, ist nachvollziehbar: Bienen sind farbenblind.

»Es ließ sich zeigen, daß sowohl die älteren Angaben Lubbock’s und Forel’s wie auch die neueren v. Frisch’s, nach welchen eine ›Dressur‹ der Bienen auf bestimmte Farben möglich sein sollte, sämtlich unrichtig sind. Sobald man den Bienen verschiedene Farben unter sonst gleichen Bedingungen sichtbar macht, erweist es sich als völlig unmöglich, sie an bestimmte Farben zu gewöhnen und durch solche anzulocken. … Es ist bisher nicht eine einzige Tatsache bekannt geworden, die die Annahme eines dem unseren irgend vergleichbaren Farbensinnes bei Bienen auch nur wahrscheinlich machen könnte.«[6]

Von Frisch bewies nun mit seinem Experiment, dass die Bienen sehr wohl Farben wahrnehmen können. Daraus folgerte von Frisch wiederum triumphierend, dass er den berühmten von Hess widerlegt habe. Das allerdings stimmte nicht für das oben beschriebene Experiment. Wir haben an unserem Institut nachweisen können, dass von Hess für diese Versuchsanordnung Recht hat. Wie das?

Unser Experiment ähnelte dem, das von Hess durchgeführt hatte. Eine Biene wird in Stress versetzt, so dass sie fliehen möchte. Wie verhält sie sich nun in ihrer Flucht zum Licht? Der Fachbegriff dafür heißt »Phototaxis«. Ist die Biene positiv phototaktisch, fliegt sie ins Licht, ist sie negativ phototaktisch, fliegt sie ins Dunkle. Wir boten den Bienen nun verschiedene Farben an. Die Bienen entschieden sich immer für die Farbe mit der größten Lichtintensität, wenn sie positiv phototaktisch gestimmt waren. Sie flogen selbst dann noch zu einer für unser Empfinden dunkleren Farbe, wenn diese intensiver leuchtete als eine uns an sich erst einmal heller erscheinende. Die Bienen entschieden sich gegen Gelb und für Blau, wenn Blau heller war. So konnten wir feststellen, dass von Hess sauber gearbeitet hatte: Die Bienen verhielten sich in ihrer Panik positiv phototaktisch, flogen also immer zum Licht. Dieser Nachweis gelingt auch, wenn man die natürliche Phototaxis der Biene ausnutzt. Wenn sie sich in einer dunklen Blüte – in unserem Test ein Kästchen mit Zuckerlösung – vollgesaugt hat und zum Stock zurückkehren will, dann läuft sie zum hellen Ausgang, weil sie positiv phototaktisch gestimmt ist. Auch in dieser Situation wählt sie immer, wenn man ihr verschiedene Ausgänge anbietet, den mit der helleren Farbe. Die Phototaxis ist übrigens ein Instinkt vieler Insekten, die – von Marlene Dietrich als Gleichnis für die Männer besungen – den Motten zum Verhängnis wird, wenn sie bei ihrer Flucht vor der Hitze der Kerze in Richtung der größeren Helligkeit fliegen und damit in die Flamme hinein, wo sie schließlich verbrennen.

Aus unseren Experimenten konnten wir also schlussfolgern, dass sich Bienen, wenn sie sich phototaktisch verhalten, tatsächlich nicht um Farben kümmern, so dass es den Anschein hat, als seien sie farbenblind. Das heißt, Karl von Frisch hatte mit seinem Nachweis des Farbensehens der Bienen zwar Recht, Unrecht hatte er jedoch darin, den Versuch von Carl von Hess als widerlegt zu betrachten. Von Hess lag richtig, das Problem war nur, dass er das richtige Experiment unter der falschen Fragestellung durchgeführt hatte. Seine Frage hätte lauten müssen: Wie verhalten sich Bienen auf der Flucht in Bezug auf die Lichtintensität? Und nicht: Können Bienen Farben sehen?

Als ich unsere Arbeiten zur Phototaxis in einer größeren wissenschaftlichen Arbeit zusammenfasste, konnte ich mich nicht enthalten, Carl von Hess zumindest soweit zu rehabilitieren, wie es unsere Untersuchungen zuließen, und zu schreiben, dass sich der Streit zwischen Hess und Frisch nach unseren Erkenntnissen erübrigte. Dafür wurde ich wiederum von einigen Kollegen angegriffen. Denn in der Frage des Farbensehens auch nur ein gutes Härchen an von Hess zu lassen, bedeutet nach der Kontroverse der beiden großen Geister, gleichsam automatisch, Karl von Frisch zu kritisieren. Wer so etwas tut, wird sofort als Nestbeschmutzer behandelt, egal, wie stichhaltig seine Argumente sind. Einer meiner von mir hochverehrten Lehrer nahm mich nach dem Erscheinen des Artikels beiseite und meinte: »Was Sie da über von Hess schreiben, mag ja richtig sein. Aber das hätten Sie einfach weglassen sollen!«

Farbteil 1

FAbb. 1-1a Mit Karl von Frischs Methode kann man bis zu 599 Bienen unterscheiden. Wird auch der Hinterleib der Bienen mit fünf Farben markiert, lassen sich an die 2000 Bienen individuell kennzeichnen.[3]

FAbb. 1-1b Heute markieren wir die Bienen mit Nummernschildern …

FAbb. 1-1c … oder mit Mustercodes zur automatischen Erkennung.

FAbb. 1-2 Testbilder zur Untersuchung von Farbfehlsichtigkeiten.[5] (In der oberen Reihe sind von links nach rechts die Zahlen 7, 13, 16 zu sehen, in der unteren die Zahlen 8, 12 und 9.)

FAbb. 1-3 Wie Bienen die Farben von Blüten sehen, ist für uns schwer zugänglich, da sie über andere Farbrezeptoren verfügen als wir. Da sie aber wie wir drei verschiedene Farbrezeptoren einsetzen (für ultraviolettes, blaues und grünes Licht) lässt sich ihre Farbwahrnehmung modellhaft in unser trichromatisches Farbensehen mit Blau-, Grün- und Rot-Rezeptoren übertragen. Auf der linken Seite sind die Blüten so dargestellt, wie wir sie sehen. Auf der rechten Seite wird der UV-Anteil als Blau, der Blauanteil als Grün und der Grünanteil als Rot dargestellt. So gewinnen wir einen Eindruck, wie Bienen die Blüten sehen. Dabei werden Muster und Farbnuancen sichtbar, die wir mit unserem Farbensehen nicht wahrnehmen, weil wir nicht über UV-Rezeptoren verfügen.[8]

Die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen

Da wir in den Wissenschaften auf Modelle angewiesen sind, laufen wir immer auch Gefahr, dass unser jeweiliges Modell falsch ist. Wenn wir den Bienen aufgrund unzureichender Modelle falsche Fragen stellen, bekommen wir dementsprechend auch Antworten, die uns in die Irre führen. Mir ging es einmal bei Navigationsexperimenten so.