Die Jagd nach dem Nichts - Hauke Schlüter - E-Book

Die Jagd nach dem Nichts E-Book

Hauke Schlüter

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Beschreibung

Daniel Hearst, der teuerste Künstler der Gegenwart, wird tot und vollkommen mit Schwarz überzogen in seinem Atelier aufgefunden. Sein Kunstwerk "Das Nichts" ist verschwunden. Kleos Henry Mehlos und Joanna Santow von der Hyde Park Agency ermitteln.   Verdächtigt wird Francis, Mehlos' Bruder. Obwohl beide nicht das beste Verhältnis zueinander haben, will Mehlos Francis' Unschuld beweisen. Wer steckt dahinter? Wer ist der dünne Mann mit Melone? Was hat die Galeristin vor? Und warum geschieht all dies? Es beginnt eine Schnitzeljagd durch London, die rasch zu einem dramatischen Wettlauf wird.

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Hauke Schlüter

Die Jagd nach dem Nichts

ein Mehlos & Santow Krimi aus London

Ein London-Krimi

Für London

Teil I

Neal’s Yard

»Wie immer?«, fragte das Mädchen. Es war zu jung, um zu wissen, wer vor ihr stand.

Der Achtzigjährige zeigte sein bekanntes Lächeln und warf einen Blick auf das Tablett mit Becher und Bagel. Ja, alles wie immer. Er nickte freundlich, nahm das Brettchen und suchte nach einem Platz draußen im lauten und bunten Hof. Ein Musiker sang etwas von Passenger und nickte dem alten Mann zu. Man kannte sich. Organische Düfte aus einem Shop ließen an Felder und Blumen denken. Die Sonne warf ein angenehmes Licht auf die oberen Teile der in pastellenen Regenbogenfarben gehaltenen Häuser.

Der Blick des Achtzigjährigen fiel auf einen jüngeren blonden Mann, der in einem gut sitzenden, dunkelblauen Anzug mit Weste an einem der Hochtische saß und gerade damit beschäftigt war, einem latent gefährlich aussehenden Straßenverkäufer klar zu machen, dass dessen Uhren keineswegs aufwändig in Schweizer Manufakturen gefertigte Meisterstücke von höchster handwerklicher Präzision und zeitloser Eleganz waren, sondern ziemlich klobiger Schund aus weit entfernten Ländern und Produktionsstätten, die zu Recht auf keiner Karte verzeichnet waren. Außerdem trüge er selbst nur Taschenuhren, nicht diese Protzhandschellen. Obwohl er das freie Unternehmertum und merkantilen Geist doch sehr schätze, hege er jedoch in diesem Fall erhebliche Bedenken, dass die Erlöse nicht braven und hart arbeitenden Feinmechanikern zuflössen, sondern doch wohl eher rücksichtslosen Ausbeutern, deren Zugehörigkeit zur organisierten Kriminalität bei ihnen keine Scham erzeuge, sondern sie sogar mit ihm völlig unerklärlichen Stolz erfülle.

»Dann lieber Geldbörse von Fendi? Oder Tasche? Auch von den. Teures Leder.«

»Da steht aber ›Fenti‹. Auf dem teuren Leder.«

»Sag’ ich doch! Kaufen?«

Der Mann im Anzug kam zum Schluss, dass demonstratives Desinteresse wohl am schnellsten zum Abbruch des einseitigen Verkaufsgesprächs führen würde und wandte sich wieder der neuesten Ausgabe von Private Eye zu, die er sich gerade gekauft hatte und auf die er sich schon freute. Nach einer Weile stellte der Verkäufer seine Versuche ein und wandte sich einem neuen potenziellen Opfer zu. Ein weiterer Mann, der die ganze Zeit etwas entfernt hinter beiden gestanden hatte, ging mit und verschwand.

Der Achtzigjährige mit dem Bageltablett trat an den Tisch mit dem Anzugträger heran und fragte, ob er sich setzen dürfe. Kleos Henry Mehlos sah auf. Oh! DER hier. Tatsächlich? Es gab nur eine andere Person, mit der er lieber gefrühstückt hätte.

»Sehr gerne. Bitte nehmen Sie Platz.«

Der alte Mann setzte sich an den Holztisch und brach ein Stück von seinem Bagel ab.

»Ihre Brieftasche wird nun einiges von der Welt sehen«, sagte er.

Mehlos überlegte.

Der Verkäufer. Und sein Schatten. Er sah sich um. Beide waren verschwunden. Mehlos sah den alten Mann an, der zu seinem Café griff und aufmunternd nickte.

»Ach ja«, Mehlos seufzte, »ich hoffe, er ist gut zu ihr. Allerdings befürchte ich, dass er sie gleich wieder wegwerfen wird, wenn er erst einmal hineingesehen hat.«

»Keine Pfundnoten drin?«

»Weniger. Das war meine Klaubrieftasche. Man weiß ja nie. Sie ist fast leer. Nur ein Zettel mit einem Bibelzitat. 1, Korinther 6.10: Noch die Diebe, noch die Geizigen, noch die Trunkenbolde, noch die Lästerer, noch die Räuber werden das Reich Gottes ererben.«

Der Achtzigjährige lachte laut.

»Sehr gut! Klaubrieftasche. So etwas habe ich noch nicht gehört. Aber haben Sie gar kein Mitleid mit der arbeitenden Bevölkerung?«

»Schon. Deshalb war ja auch eine Fünfpfundnote drin. Zur Linderung der gröbsten Not. Und ein Bild von einem toten Papagei.«

»Ernsthaft?«

»Hab’ ich von Ihnen!«

»Und Sie haben wirklich nichts gemerkt?«

»Nein. Das war saubere Arbeit. Insofern hat er eine kleine Belohnung fast ehrlich verdient.«

Mehlos und der alte Mann wandten sich wieder ihrem Frühstück zu und tauschten noch ein paar absurde und komische Gedanken aus, die beiden einen inspirierten Start in den neuen Tag schenkten. Dann verabschiedete sich der Achtzigjährige und Mehlos war allein in der Menge. Er sah auf seine Taschenuhr. Wann sie nur endlich kam.

Er blickte hoch zu einem Café mit blauen Fensterrahmen, musste lächeln und dachte nach, als plötzlich eine junge Frau mit schulterlangen brünetten Haaren in einem eleganten elfenbeinfarbenen Kleid in sein Gesichtsfeld trat. Sie hob ihre Hände und gestikulierte.

Guten Morgen, Mehlos. Wie ich sehe, haben Sie Ihr kontinentales Frühstück bereits hinter sich. Keine Lust auf kalte Bohnen und lauwarme Pilze?

Joanna Santow war gehörlos und verständigte sich mit Gebärden und Lippenlesen.

»Santow! Guten Morgen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es schön ist, Sie zu sehen. Nein. Die Bohnen waren mir nicht nahe genug am Verfallsdatum und die Pilze noch als solche erkennbar. Sie wissen, ich lege Wert auf Authentizität beim englischen Frühstück. Möchten Sie Kaffee und Bagel? Sour cream? Orangensaft? Frisch gepresst, natürlich.«

Gerne.

Mehlos holte alles und hatte noch einen weiteren Café und ein Croissant für sich dabei.

Ihr Text hat mich überrascht. Ich wähnte Sie beim Fallschirmspringen in den Cotswolds. Oder war das Bungee-Jumping in der O2-Arena? Ich meine das Geschenk von Ihrem Bruder.

»Francis hat mir Gutscheine für beides geschenkt. Vielen Dank. Ungewöhnlich aufmerksam, an meinen Geburtstag zu denken. Aber ich musste leider ablehnen.«

Warum?

»Ich bin feige.«

Sind Sie nicht. Auch wenn es Sportarten sind, bei denen man auch gerne mal draufgehen kann. Ich glaube, Sie möchten nur keine Geschenke von Ihrem Bruder annehmen.

Mehlos schwieg für einen Moment. Francis Neville Mehlos war der ältere Bruder und Jurist, der das elterliche Family Office weiterführte, das Vermögen verwaltete, Kleos Henry Mehlos von allen wichtigen Entscheidungen ausschloss und ihn nur einband, wenn es durch die Statuten nicht anders ging. Seit frühester Kindheit verband die beiden eine herzliche Abneigung, die von Francis ausging und die Mehlos irgendwann akzeptierte und übernahm. Der Faden riss völlig, als Francis in jungen Jahren die Konversation von Mehlos mit Tante Mouse, die von Geburt an gehörlos war, imitierte und sich ohne Rücksicht auf beider Befindlichkeiten darüber lustig machte. Mehlos dachte kurz an die Szenen, die sich zwischen ihnen abspielten. Nicht angenehm. Und bar jeder brüderlichen Zuneigung.

»Sorry, aber es passt einfach nicht.«

Bungee oder Bruder?

»Beides.«

Er scheint sich in letzter Zeit um Ihre Aufmerksamkeit zu bemühen. Silberstreifen des Friedens am Horizont? Erste Verhandlungen zum Waffenstillstand?

»Sie kennen ihn nicht, Santow. Das hat nichts zu bedeuten.«

Santow sah Mehlos an und trank ihren Café. Ihre Blicke über dem Tassenrand waren durchdringender als Röntgenstrahlen.

»Was denken Sie?«

Ich denke, dass Sie das Verhältnis zu Ihrem Bruder verbessern sollten.

»Wir haben keins.«

E-ben.

»Kopf hoch, Santow. Es gibt Schlimmeres. Es könnte heute noch regnen.«

Eine Weile geschah nichts, nur Gesprächsfetzen der Besucher von Neal’s Yard waren zu hören, gelegentlich Kinderlachen; der Musiker beendete einen Song von Ed Sheeran und ging mit seiner Kappe bei den Gästen sammeln. Mehlos gab ihm einen Zehnpfundschein und bedankte sich für die Musik, die er ziemlich gut interpretiert fand, was er dem Musiker auch sagte und diesem ein »Cheers, mate!« entlockte. Vielleicht könne er ja noch Always look on the bright side of life spielen. Das würde doch sehr gut passen. Hier zum Yard und überhaupt, schlug Mehlos mit einem Seitenblick auf Santow-hinter-der-Tasse vor. Der Musiker versprach es und setzte seine Sammeltour fort.

Warum treffen wir uns hier? Gibt es einen Grund?

»Wir sind seit etwas mehr als zwei Wochen aus Lansdowne Manor1 zurück. Lang her. Fast ein ganzes Leben. Für mich Grund genug, diesem für mich unerträglichen Zustand ein Ende zu bereiten und anzufragen, ob Sie nicht ein wenig Zeit haben. Aber, da Sie es ohnehin durchschauen, ich habe eine hidden agenda. Nein, nicht das, was Sie jetzt vielleicht denken möchten, obwohl, das natürlich auch. Nein. Ein anderes Thema. Und den Ort hier habe ich vorgeschlagen, weil ich zum einen dachte, dass Sie ihn noch nicht kennen und zum anderen, dass Sie ihn auch mögen würden.«

Ich war früher oft hier. Als ich noch in Soho wohnte. Und ja, ich mag ihn sehr. Seitdem ich umgezogen bin, war ich allerdings nicht mehr in Neal’s Yard. Es ist schön, wieder hier zu sein.

Santow wohnte jetzt in einem Mews House in Chelsea. Londoner bewegten sich für gewöhnlich wenig außerhalb ihres Viertels.

»Das freut mich.«

Was ist Ihre versteckte Agenda?

Mehlos fummelte ungeschickt an einem Croissant herum, riss dann ein Stück ab und tunkte es in seinen Café. Seine Gedanken sortierend, kaute er sehr langsam und schnappte sich dann wieder das Croissant und drehte es in den Händen.

Wird’s bald? Warum so verlegen?

»Es geht um Sie. Und ich weiß nicht sicher, ob Sie das möchten.«

Spannend! Erzählen Sie. Ich entscheide dann.

»Es geht um Ihre Herkunft.«

Santow stellte die Tasse ab und sah Mehlos mit einem Blick an, der selbst durch eine Bleiplatte gegangen wäre.

Ihre Herkunft war ihr selbst ein Rätsel. Sie konnte sich nur an die Explosion erinnern, bei der sie im Alter von etwa drei Jahren ihr Bewusstsein und das Gehör verlor. Davor nur verschwommene Bilder eines herrschaftlichen Anwesens, vermutlich das ihrer Eltern. Dienstboten. Und Worte. Worte, die sie heute nicht mehr verstand. Vielleicht waren sie osteuropäisch. Sie hatte später bemerkt, dass sie bei Menschen mit diesem Akzent ein angenehmes Gefühl bekam. Das Nächste, an das sie sich nach der Explosion erinnerte und was man ihr erzählte, war, dass sie in einem Hotelbett aufgewacht war und neben ihr ein handgeschriebener Zettel mit ihrem Namen lag. Joanna Santow. Die beiden Besitzerinnen des Hotels in Brighton, die miteinander verheiratet waren, ohne ein lesbisches Paar zu sein, nahmen sie als Kind an und zogen sie auf. Ihre mothers. Auf vielen Reisen besuchte sie die Länder Osteuropas, Städte, Herrensitze, Schlösser. Aber nichts löste Erinnerungen aus. Santow schloss für einen Moment die Augen; das Bild ihrer mothers tauchte auf. Sie waren wunderbar. Dass Mehlos nun mit diesem Thema kam, überraschte sie. Warum machte er das?

Wir sprachen schon darüber. Und Sie wissen, dass ich genau zuhören werde. Bitte.

Mehlos räusperte sich.

»Sie haben bereits alles erzählt, an das Sie sich erinnern können. Und dass Sie nicht weiterkommen. Ihre Reisen. Rückführungsseminare. Die Bilder, an die Sie denken.«

Ja. Weiter. Wird’s bald?

»Ich glaube, dass wir in dieser Richtung nicht viel weiterkommen. Mein Ansatz ist, erst einmal herauszufinden, wie Sie überhaupt in das Hotelzimmer gekommen sind.«

Ach, Mehlos. Die mothers und ich haben uns unendlich oft darüber unterhalten. Keine Spur. Ein älterer Mann hatte das Zimmer gemietet. Kam am späten Abend an. War am nächsten Morgen weg. Hatte einen größeren Koffer dabei, mit dem er vorsichtig umging, aber erkennbar schwer trug.

»Wir wissen, was drin war. Oder wer.«

Ja. Sicher. Aber das war es auch schon. Die Spur hört hier auf. Niemand im Hotel oder in Brighton kann sich an ihn erinnern. Glauben Sie mir, Mehlos, ich habe alle gefragt. Wirklich alle. Alle und noch mehr. Immer wieder. Und jetzt nach weit über zwanzig Jahren finden selbst Sie ihn nicht mehr.

»Er hat im Voraus bezahlt und lediglich einen Namen hinterlassen.«

Der natürlich falsch war.

»Admiral von Morwi.«

Woher kennen Sie diesen Namen?Santow zog ihre Stirn kraus und ihr Blick wäre nun durch einen ganzen Betonblock gegangen.

»Ich war am Wochenende in Brighton.«

Santow wurde weiß. Ihre Wangen rot.

Bei meinen mothers? Im Hotel Gosford? Ich fasse es nicht, Mehlos. Und ich weiß nicht, ob ich das gut finde.

Für einen Moment sah Santow aus, als würde sie ihre Handtasche nehmen und verschwinden.

»Im Hotel: ja. Bei Ihren mothers: nein. Diese Freiheit habe ich mir nicht genommen. Ich habe den Namen von den Zetteln der Meldebehörde. Die habe ich mir allerdings erschlichen, Polizeistory, Amtshilfe und so …«

Das Gegenteil von gut ist: gut gemeint!

Der gerügte Mehlos sagte nichts.

Ich habe Sie nicht darum gebeten.

»Ich weiß.«

Und?

»Ich weiß aber auch, wie wichtig Ihnen diese Sache ist.«

Sache.

»Bitte jetzt keine Goldwaage. Mir ist es eben auch wichtig.«

Ihnen ist das wichtig?

»Ja. Sehr sogar.«

Warum?

Mehlos atmete lang ein. Leider war das Croissant schon weg, an dem er verlegen hätte herumfummeln können.

»Weil es um Sie geht.«

Santows Blick wurde verschwommen und wäre inzwischen nicht einmal durch eine Glasscheibe gegangen. Sie sah von Mehlos weg in die Menge. Nach einer Weile blickte sie ihn wieder an. Ihre Gesten waren langsamer als sonst.

Ok. Und jetzt wollen Sie mir hier sagen, dass Sie etwas herausgefunden haben.

»Ja. Zwei Dinge.«

Bitte. Ich sehe Ihnen zu.

Santow griff zu ihrem Café. Mehlos’ Verlegenheit war verschwunden. Er war froh, durch diesen Teil gekommen zu sein, den er sich schon als heikel vorgestellt hatte. Er hatte überlegt, ob er es wirklich tun sollte. Brighton, recherchieren, entdecken. Aber seine natürliche Neugier und sein Drang, sich in das Leben anderer einzumischen, hatten gesiegt. Und schließlich war da noch etwas …

»Dieser Admiral von Morwi hat einen ungewöhnlichen Namen. Nicht, dass er seinen Titel führt. Die Welt ist voll von Grafen, Doktores, Honorarkonsuln, Kommerzienräten und Militärs, die so etwas ständig angeben. Von Mr. Proper bis Burger King.«

Kommen Sie zur Sache, Mehlos.

»Soviel Sie auch recherchierten, Santow, Ihnen ist es nicht gelungen, jemanden mit diesem Namen zu finden. Wie auch.«

Nein. Der Name war natürlich falsch. Rauf und runter recherchiert: es gibt auf der ganzen Welt keine von Morwis.

»Aber auch aus den falschesten Namen kann man vielleicht etwas ablesen. Schließlich werden sie bewusst gewählt.«

Ein Kapitän, der höher hinaus wollte?

»Wenn Sie sich an unser Abenteuer auf Lansdowne erinnern, fällt Ihnen bestimmt ein, wie wichtig Anagramme waren.«

Sehr wichtig, Mehlos.

»Elementar, Santow.«

Es beginnt, mich zu kribbeln, Mehlos – diesen Weg bin ich noch nicht gegangen. Santow überlegte und nahm ihr Tablet aus der Handtasche.

»Wundert mich nicht, Santow, Lansdowne ist ja noch nicht so lange her. Obwohl mir es, wenn ich ehrlich bin, wie eine Ewigkeit vorkommt.«

Santow öffnete einen Text Editor und gab den Namen »Admiral von Morwi« ein. Sie klappte den Ständer des Tablet auf und platzierte es so, dass sie beide den Namen in großen Buchstaben auf dem Display sehen konnten:

Admiral von Morwi.

»Sehen Sie es? Ich habe gut reden, denn ich weiß, wonach wir suchen müssen.«

Hier gibt es viele Möglichkeiten.

»Ja. Bei einem Admiral drängen sich natürlich Wörter im nautischen Zusammenhang auf. Da gibt es einige: Armada, Narval, Marin, Alarm, oliv … Und sogar einen Warlord.«

Oder der Lord.

»Nicht der schon wieder. Es sind aber noch jede Menge andere Wörter drin. Invalid. Oder: Vorwand. Passt ja auch irgendwie.«

Und: Marmor. Arrival. Oder Ravioli.

»Soll ich welche bestellen?«

Nicht jetzt, wo es gerade spannend wird, Santow hatte Feuer gefangen.

»Drama. Diwan. Minimal. Malaria. Voilà! Darin wir mal vorm. Leider Nonsens.«, Mehlos war in seinem Element.

Domina!

»Huch!«

Huch ist nicht drin. Spießer.

»Entdecke ich neue Seiten an Ihnen, Santow?«

Träumen Sie weiter, Mehlos.

»Wirr. Das IST drin«. Santow ignorierte das.

Vornamen sind vielleicht einfacher. Suchen wir mal nach denen. Nachnamen können ja fast beliebig sein, sie zog die Stirn kraus. Wir suchen ja schließlich einen Namen, nicht wahr?

»Ja.«

Wiliam oder Liam!

»Lässt leider ein Haufen Buchstabenmüll zurück, aus dem wir unmöglich einen Nachnamen bauen können. Vergessen Sie nicht, dass Anagramme alle Buchstaben vollständig verwenden.«

Ich gebe auf.

»Der Weg ist das Ziel, macht doch Spaß!«

Vielleicht ist genau das Ihr Problem, Mehlos. Zu viel Beschäftigung mit Spielen, ohne auf den Punkt zu kommen. Passt jedenfalls hier nicht. Sie haben es schon gelöst, also sagen Sie es mir bitte.

Mehlos nahm sich das Tablet, setzte sich nach hinten und tippte einen Buchstaben nach dem anderen in den Editor ein. Dann drehte er es um, so dass Santow lesen konnte:

Wladimir Romanov.

Santow ließ sich in ihrem Stuhl nach hinten fallen.

Den gibt es doch wirklich. Das ist eine historische Person.

»Ja. Wladimir Kirillowitsch Romanow. Großfürst von Russland und Urenkel des russischen Zaren Alexander II., Großneffe des Zaren Alexander III. und Urenkel der britischen Königin Victoria. Das ist ziemlich weit oben in der adligen Hackordnung. Mehr Blau geht nicht.«

Lebt er noch?

»Geboren wurde er 1917. Verstorben ist er 1992 in Miami, Florida. Typischer Ort für ältere Herrschaften, die sich nach einem erfüllten Leben ein bisschen in der Sonne ausruhen möchten.«

Dann hätte er aber 1997 nicht in Brighton sein können.

»Weiß man’s? Der Hochadel hat bestimmt Möglichkeiten, die Zeit zu überlisten. Vielleicht hat jemand den Namen benutzt. Auftrag. Oder Gesinnung. Oder Gefallen.«

Möchten Sie mir damit sagen, dass ich der Familie der Romanows entstamme? Habe ich gerade das Zarenreich geerbt?

»Sie gäben sicher eine ganz wundervolle Zarin ab. Leider gibt es schon einen. Ihr Status wäre nur von kurzer Dauer.«

Vermutlich. Aber Sie sprachen von zwei Erkenntnissen. Was ist die andere?

»Ich war im Hotel Gosford. Nein, haben Sie keine Angst, Santow, ich habe die mothers nicht getroffen, mich nur umgesehen und mit zwei Angestellten geplaudert. Eine stattliche Dame aus der Küche, die früher das Zimmermädchen war, und ein freundlicher mittelalter Herr mit einem weißen Schnauzbart an der Rezeption.«

Moira Mosley und Frederik Bell.

»Ja. Das waren ihre Namen. Beide waren 1995 im Gosford und konnten sich erinnern. An den Admiral. Und Sie, Sie sind dort eine Legende. Das Kind aus Zimmer 12. Der Admiral übrigens auch: der Mann, der spurlos verschwand.«

Santow machte einen schmalen Mund und nickte.

Ich habe oft mit beiden über diesen Mann gesprochen. Aber nicht viel erfahren können. Er ging mit seinem Koffer auf das Zimmer und am nächsten Morgen war er nicht mehr da.

»Und ich war im Zimmer 12. Es hat sich wohl nicht viel dort verändert. Verstaubter Charme, wenn ich das so sagen darf.«

Das ist so.

»Dann wird Ihnen auch aufgefallen sein, dass das Zimmer einen blumigen und sehr femininen Eindruck macht. Ein alter Seebär fühlt sich da bestimmt nicht wohl. Keine Fernrohre aus Messing auf dem Tisch, keine ausgestopften Fische an den Wänden. Bell hat erzählt, dass morgens kein Mann das Hotel verlassen habe, nur Frauen, und es zwischen Zimmern und Rezeption keinen Hinterausgang gibt. Er und Mosley wissen das deshalb alles noch, weil sich dieser Tag dank Ihrer Ankunft sehr in ihr Gedächtnis eingeprägt hat. Wenn man dann noch Mosleys Antwort auf meine Frage kennt, welche der Kosmetika und Gerätschaften sie denn morgens ersetzt hat und ob das Bidet benutzt wurde – und man dann hört: »Einwegnagelfeile und Tagescreme« sowie »ja, wurde es« – glauben Sie mir, das macht hier kein Mann –, lässt das alles eigentlich nur einen Schluss zu:

Der Admiral war eine Frau.

»Er kam als Mann und ging als Frau. Völlig LGBT-konform.«

Santow stützte ihr Kinn auf die Faust und dachte nach.

Und das alles haben Sie mit nur einem Besuch erkannt?

»Ich wusste, nach was ich zu suchen hatte.«

Warum?

»Gefühl. Sie hatten mir schon von dem Mann erzählt, der den Koffer schwer trug, aber äußerst vorsichtig mit ihm umging. Macht doch kein Seemann. Und die Sorgfalt, mit der Sie gebettet wurden, spricht eher für mütterlichen Instinkt.«

Plausibel. Und ich bin seit über zwanzig Jahren nicht darauf gekommen, Santow sah Mehlos an und der Blick hätte jedem Mann gefallen. Er genoss es.

»Neutrale Außensicht und schon fast pathologisches Interesse für alles, was mit Ihnen zusammenhängt. Darf ich etwas vorschlagen?«

Santow nickte.

»Sie lassen das jetzt erstmal sacken. Vielleicht liege ich ja auch völlig falsch. Dann bewerten wir die Situation neu und überlegen uns, wie wir der Wahrheit ein Stück näher kommen.«

Ich muss das nicht sacken lassen. Weiter.

»In der Hyde Park Agency?«

Gern. Am besten gleich.

»Dann los«, sagte Mehlos, »ich rufe uns ein Taxi.« Sie standen auf.

»Wissen Sie übrigens, mit wem ich hier gerade gefrühstückt habe? Also, bevor Sie kamen.«

Francis wird es nicht gewesen sein.

»Nein. Aber Sir Michael.«

Sir Michael?

Mehlos nickte hinauf zu den blau gerahmten Fenstern des Hauses, neben dem sie gesessen hatte. Darunter war eine der Blue Plaques. Die runden blauen Plaketten von English Heritage, die anzeigten, dass eine bedeutende Persönlichkeit, die einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft geleistet hatte, eine Zeit im jeweiligen Gebäude verbracht hatte. Mehlos lächelte und beide lasen die blaue Plakette an der Hauswand:

»Monty Python, Filmmaker, Lived here 1976–1987«.

1 Wer wissen möchte, was dort geschah, liest es am besten in »Zehn Gäste und ein Mord« nach.

Black Cab

Sie liefen die Neal Street das kurze Stück in Richtung Norden. Auf der Shaftesbury Avenue ließ Mehlos ein paar Taxen vorbeifahren, bis er ein uraltes, schwarzes sah, das er heran winkte.

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Santow, aber elektrisch und chinesisch werden wir noch genug fahren. Bitte!«, und hielt ihr die Wagentüre auf.

Alles andere hätte mich auch gewundert.

Der Cabbie stammte aus einer ähnlichen Zeit wie sein Wagen und die fleckige Cordkappe.

»Green Street, Ecke Park Lane, bitte.«

»Über Oxford Circus oder Trafalgar?«, kam es zurück.

Der Kleidung nach waren seine beiden Fahrgäste keine Touristen. Der Fahrer machte sich daher erst gar nicht die Mühe, eine Sightseeing–Route vorzuschlagen. Das hier waren Londoner wie er, die sich auskannten.

Mehlos entschied sich für die Fahrt über den Trafalgar Square. Länger, aber dafür über die Mall und entlang St James Park, den er sehr mochte.

Jetzt, wo ich Zarin bin, hätten Sie eigentlich auch eine Kutsche organisieren können, Mehlos.

»Das wird noch kommen. Bitte denken Sie aber dann an Ihren ergebensten Diener, Hoheit«, er sah im Rückspiegel, wie der Cabbie eine buschige Augenbraue hob.

Sie waren auf der Höhe von Covent Garden, blieben hinter ein paar Wagen stehen und Mehlos’ Blick fiel auf ein Plakat vom Red Nose Day. Ein bekannter Fernsehmoderator mit einer runden, knallroten Clownsnase grinste den Betrachter an.

»Ich liebe den Red Nose Day«, sagte Mehlos, »Sie nicht auch, Santow?«

Sich um Kinder und die Älteren zu kümmern, ist immer eine gute Sache.

Der Red Nose Day war eine Charity, die vor allem diese beiden Gruppen bedachte.

»Hören Sie mir bloß auf mit dem Red Nose Day, Sir. War eine der düstersten Tage in meinem ganzen Leben«, sagte der Cabbie und sah seine Fahrgäste im Rückspiegel an.

»Das wollen wir jetzt aber hören«, sagte Mehlos und Santow blickte nach einer kurzen Wiederholung von Mehlos interessiert zurück.

»Well, …«, begann der Cabbie und sah dabei aus, als hätte sich sein Kaugummi gerade in eine unreife Zitrone verwandelt, »ich war über dreißig Jahre mit Louise zusammen. Richtig verheiratet. Klar, war nicht alles Sonnenschein, aber so im Vergleich zu anderen, noch gut. Wir hatten gespart, die Wohnung in Croydon gerade verkauft und wollten nach Malta ziehen. Dort schon was gefunden und alles perfekt gemacht. Und eines Morgens geht Louise aus dem Haus, gibt mir vorher noch einen langen Kuss im Bett, wie schon lange nicht mehr, und als ich in die Küche komme, war da nicht das Frühstück, sondern auf dem Tisch stand eine Flasche Gin. Daneben ein Zettel: BIN WEG. GELD AUCH. Und dann lag da noch eine von diesen roten Nasen. Die aus Plastik, die so aussehen, wie eine Tomate. Das war nämlich am Red Nose Day vor einem Jahr. Habe geheult wie am Todestag von Lady Di. Und seitdem muss ich wieder Taxi fahren. Meine Louise. Möge ihr der Teufel in den Arsch fahren, wo immer sie jetzt ist. Also bitte keinen Red Nose Day mehr!«

Do something funny for money!, schoss es Mehlos durch den Kopf, der bekannteste der Sprüche des Red Nose Day, und noch bevor er es aussprechen konnte, boxte ihn Santow in die Seite, die genau das schon geahnt hatte. Mehlos biss sich auf die Lippen und ließ ein paar Beileidsbekundungen hören, die dem armen gebeutelten Cabbie Seelentrost spendeten.

»Ich hätte mich halt mehr um die Familie kümmern sollen, statt nur Taxi oder die anderen im Pub. Weiß ich jetzt auch. Aber trotzdem, an der Sache mit dem Teufel halte ich fest!«

Mittlerweile waren sie am Trafalgar Square angekommen. National Gallery, links St Martin-in-the-Fields. Sie fuhren zum Westen aus dem Kreis, durch den weißen Admirality Arch auf die Mall und direkt auf Buckingham Palace zu. Über dem Palast wehte der Union Jack; der König war nicht zu Hause. Kurz davor bogen sie rechts ab und kamen dann nach St James. Sie kamen an Mehlos’ Barbershop vorbei, zu dem schon Charles Dickens und Winston Churchill gegangen waren und zu dessen altem italienischstämmigen Barbier Mehlos eine engere Beziehung hatte als zu seinem Bruder Francis. Oben auf Piccadilly bogen sie links ab und waren auch schon bald in Mayfair. An der Green Street, Ecke Park Lane stiegen sie aus. Mehlos gab ein mehr als großzügiges Trinkgeld und betrachtete es als seine diesjährige Spende für den Red Nose Day, was es in irgendeiner Form ja auch war.

Hyde Park Agency

Das Haus in Green Street, Ecke Park Lane, war ein innen wie außen aufwändig restauriertes Gebäude aus der viktorianischen Zeit mit einem nach außen gewölbten Erker in gebrochenem Weiß und schon seit langem im Besitz der Familie Mehlos; Kleos Henry Mehlos hatte es von seinen Eltern bekommen, die sich vor etlichen Jahren entschieden hatten, ihr Leben zwischen der Côte d’Azur und den Hamptons zu verbringen und nur selten in ihr Heimatland zurückkehrten. Im ersten Stock hatte Mehlos seine Hyde Park Agency eingerichtet, deren Zweck es mehr oder weniger war, sich in das Leben anderer einzumischen, wenn der Anlass versprach, spannend, ungewöhnlich, ansatzweise unlösbar oder am besten gleich alles zusammen zu sein. Im ersten Stock wohnte er selbst; die wunderschöne Wohnung darüber mit einem der besten Ausblicke von London auf den Hyde Park hatte er Reginald Cavendish und seiner Frau Elizabeth überlassen, seinem älteren Haushälterpaar, das nach einem Skandal im St James’ Palace, dem Haus der Queen Mum, aus den Diensten der Royals ausschied und nun besser wohnte als zuvor. Für die Dachgeschosswohnung, der ehemaligen Dienstbotenwohnung, hatte er mit dem Royal Opera House in Covent Garden die Vereinbarung getroffen, dass Künstler auf Tournee dort für die Dauer ihres Engagements kostenlos wohnen konnten. So waren diese Zimmer oft und divers bevölkert von Vertreterinnen und Vertretern von Musikgattungen aller möglichen Nationalitäten und diese trugen an manchen Abenden mit Aufführungen im Salon der Hyde Park Agency ebenso ungewöhnlich wie inspirierend zum kulturellen Erlebnis im Hause bei. So erinnerte sich Mehlos gerne an die Crossover-Interpretation von Tubular Bells, eines kreolischen Ensembles am Flügel und mit Steel Drums, aber weniger gerne an die darauffolgende Party, auf der ein Teil des Mobiliars und der Basquiat in Mitleidenschaft gerieten. Die restlichen Wohnungen im Hausteil nebenan hatte er vermietet und bedauerte dies nur in einem Fall, da der Mieter aus Qatar zwar selten in London logierte, aber wenn er dies tat, private Events feierte, die Mehlos’ Tubular Bells-Party an Kollateralschäden noch weit übertrafen. Nur das ansonsten angenehme Wesen des Mieters und seine blumige Ausdrucksweise hielten Mehlos davon ab, sich nach einem neuen Bewohner umzusehen.

In der Hyde Park Agency stand im Salon mit dem runden Erker ein altes Chesterfield-Sofa aus dunkelrotem Samt, das Joanna Santow sofort zu ihrem Lieblingsplatz erkor und sich so oft wie möglich dort hineinfläzte, was Mehlos darin bestärkte, mit diesem Möbel die richtige Wahl getroffen zu haben.

* * *

Ich dachte, Sie wollten sich endlich ein Smartphone zulegen, Mehlos. Stattdessen sehe ich Sie immer noch mit diesen … Teil. Naja … »Relikt vergangener Innovation« trifft’s besser. Das ist soo Nuller.

Mehlos sah noch kurz auf das winzigkleine Display seines Telefons, das aussah wie eine kantige Banane, schob die beiden Teile zusammen und steckte es weg.

»Es hat alles, was ein Telefon braucht. Und den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass man mit ihm telefonieren kann. Wann immer man möchte. Ich kann die längsten Telefonate führen, während Sie schon wieder verzweifelt auf der Suche nach einer Ladestation sind. Für die ganzen restlichen Sachen habe ich hier meinen Computer zu Hause.«

Mehlos nickte zu einem silbernen, eleganten Computer auf einem antiken Schreibtisch, »sollte ich irgendwann unterwegs, zum Beispiel in Neal’s Yard, die Notwendigkeit verspüren, mich eines solchen mobilen Gerätes zu bedienen, haben Sie zur Not ja immer noch Ihr Tablet dabei.«

Aha. Dazu brauchen Sie mich also.

»Wenn Sie wüssten, wie Recht Sie haben. Tee?«

Gern.

Mehlos veranlasste es und kurze Zeit später brachte Cavendish auf einem Silbertablett eine Kanne mit dampfendem Earl Grey, zwei schmucklose Tassen und ein paar Scones. Er schenkte beiden ein.

»Ihr Bruder Francis war heute Morgen hier, Sir. Da er Sie nicht antraf, bat er um einen Anruf. Es lag ihm einiges daran«, sagte Cavendish und zog sich zurück, als er sich vergewissert hatte, dass die Botschaft angekommen war.

Mehlos ging nicht darauf ein, sah sich kurz im Salon um, rollte einen alten braunen Lobby Chair heran und setzte sich in respektvoller Distanz zu Santow rechtwinklig zum Sofa. Er nahm sich eine Tasse mit Untertasse, machte es sich bequem und pustete über den Tee.

Wenn’s nach Ihnen ginge, bin ich jetzt also Russin, zeigte Santow und nahm sich ebenfalls eine Tasse Tee, macht Ihnen das keine Angst?

»Nicht mehr als sonst auch. Bis zur Gewissheit ist es indes noch ein langer Weg. Ich weiß, wie Ihnen dieses Thema am Herzen liegt, völlig verständlich. Ebenso, dass Sie mit Ihren Forschungen nicht weiterkommen. Wir sprachen schließlich schon oft darüber. Ich gebe zu, dass hier für mich ein ungeheurer Reiz von der Sache ausgeht. Gerade, weil es so unmöglich scheint.«

Dass dieser Reiz eigentlich mehr von der Person, die in seinem Sofa saß, ausging, als von der geheimnisumwobenen Herkunft, ließ er erst einmal außen vor.

Ein Rätsel, um des Rätsels willen …, Santow trank von ihrem Tee.

»Ausnahmsweise sollte mal nicht der Weg das Ziel sein, sondern das Ziel selbst.«

Heißt?

»Ganz einfach: Sie werden das Geheimnis Ihrer Herkunft klären. Wenn Sie möchten, gerne mit mir.«

Wünsche ich mir sehr. Aber … es geht mir gerade ein bisschen holterdiepolter. Sie schreiben mir eine kurze Einladung, wir treffen uns in der Öffentlichkeit … und Sie konfrontieren mich mit Überlegungen, die mich in meinem tiefsten Innern berühren und erzählen mir es so, als seien wir inmitten einer von unseren – zugegebenermaßen immer sehr spannenden und inspirierenden – Aufgaben. Bitte nicht falsch verstehen, Mehlos! Ihre Gedanken und was Sie gefunden haben, sind unglaublich. Ich bin bisher auf beides noch nicht gekommen. Auch, dass Sie sich so intensiv damit beschäftigt haben … mir fehlen die Worte … hinreißend. Aber …

Mehlos hatte aufgehört, über seinen Tee zu pusten und sah Santow an.

… aber ich fühle mich … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll … nicht ernstgenommen … trifft es nicht, denn das tun Sie. Es ist irgendetwas zwischen zu schnell und ich fühle mich außen vor gelassen. Verstehen Sie das? Was es mit mir macht. Sie verschwinden über das Wochenende nach Brighton, sozusagen in mein Elternhaus, ohne mir vorher etwas zu erzählen, und stellen mich vor vollendete Tatsachen in einem Café.

Mehlos stellte seine Tasse ab und dachte nach. Sie hatte Recht. Der Wunsch, sie zu beeindrucken, war stärker, als eine einfühlsame Vorgehensweise zu beachten.

»Das ging ziemlich nach hinten los. Mein Eifer, Ihnen zu gefallen, war zu stark. Ich habe zu wenig Rücksicht auf Ihre Gefühle genommen. Eigentlich habe ich gar nicht darüber nachgedacht, weil mich das Rätsel so in seinen Bann gezogen hatte, dass mir alles andere weniger wichtig war. Und als ich die Erkenntnis hatte, gab es nichts anderes, als möglichst schnell damit bei Ihnen zu prahlen. Ich kann Sie nur bitten, das alles zu entschuldigen.«

Brillant analysiert! Zeigt, dass eine Chance auf Besserung besteht. Entschuldigung selbstverständlich akzeptiert. Auf der anderen Seite ist es ja auch sehr schmeichelhaft.

»Uff.«

Ja, uff, Santow ahmte Mehlos Gesichtsausdruck nach und stieß ein Wölkchen Luft aus, das funktioniert aber nur, weil mir zum einen das Thema wichtig ist und zum anderen …

Ding-da-dadamm!

Santows Tablet gab den Eingang einer Nachricht bekannt.

DA-DAAAA!

Auf dem Schreibtisch wachte Mehlos’ Computer auf und zeigte eine Nachrichtenseite.

Mehlos’ Festnetztelefon klingelte.

Mehlos’ Mobiltelefon klingelte.

Es klopfte und Cavendish trat herein:

»Sie sollten sich das ansehen, Sir.«

Watch! News

Sie standen um den antiken Schreibtisch mit dem großen Monitor herum. Cavendish hatte mit der Maus den Ton auf die höchste Lautstärke gestellt. Auf dem Schirm lief eine Sondersendung von Watch! News London. Der Sender, der sich für nichts zu schade war, wenn es um Reichweite und Quoten ging.

Die Moderatorin mit lockigen blonden Haaren, die gerade vom Themsewind zerzaust wurden und sich medusenhaft über ihr Gesicht legten, stand auf dem Pier von Butler’s Wharf. Jedoch nicht mit dem ehemaligen Lagerhaus-Komplex im Hintergrund, sondern mit dem Stacheldraht umwickelten Eisentor des Piers, hinter dem sich malerisch die Tower Bridge auftat. Ein blauer Streifen mit »Jennifer Caherne, Butler’s Wharf Pier – live at crime scene« klärte die Zuschauer auf, dass es nicht um Touristik oder den Schiffsverkehr auf der Themse ging, sondern um echtes Verbrechen. Hier und jetzt. Gelegentlich blickten Menschen im Hintergrund in die Kamera, die jedoch sogleich von einem Produktionsaufseher mit Türsteherfigur verscheucht wurden. Nach einem besonders gemeinen Schwinger des Mannes auf einen dicklichen Zuschauer, bei dem diesem die rote Baseballmütze herunterfiel, sagte Mehlos, auch mit einem Blick auf die Moderatorin:

»Das ist in der Tat ein ganz übler Tatort. London wird immer unsicherer. In jedem Zuschauer kann ein Randalierer stecken. Ich bin froh, dass die Dame einen Beschützer hat, auch wenn er ihr bestimmt nachher den größten Teil ihrer Einnahmen wieder abnehmen wird. Cavendish, danke, dass Sie uns darauf aufmerksam gemacht haben.«

Hören Sie doch mal bitte für einen Moment auf, selbst zu senden. Da ist mehr – und es ist unglaublich, wenn es stimmt, zeigte Santow, die Breaking News von einem seriöseren Sender auf ihr Tablet bekommen hatte.

»Es geht um Daniel Hearst, Sir«, sagte Cavendish.

»Wann geht es einmal nicht um Daniel Hearst?«, entgegnete Mehlos. Daniel Hearst war das Enfant terrible der britischen Kunstszene und schon seit langem einer der bestbezahlten Künstler der Gegenwart. Seine seltenen Gemälde und dafür umso zahlreicheren Objekte wurden astronomisch gehandelt. Skandalös und unvergessen: gegen eine Spende von einer dreiviertel Million Pfund kaufte er vom Royal Museum in Edinburgh den dort ausgestellten Balg des ersten Klonschafs Dolly, füllte ihn mit Dutzenden von Embryos aus einer Abtreibungsklinik, goss alles in einen transparenten Würfel aus Acryl ein und gab dem Objekt den Namen Cheep life. Und so ging es weiter: vergoldete Tretminen, vom Papst geweihte Hostien in bunten Kartoffelchips-Tüten oder eine Flüssigkeit aus einem öffentlichen Pissoir in Energydrink-Dosen, abgefüllt mit dem cool gestalteten Label »His Hearstness«. Alles, was er auf den Markt brachte, mehrte seinen Ruhm und sein Vermögen.

Ihm soll etwas zugestoßen sein, zeigte Santow, in seinem Atelier in Butler’s Wharf.

Mehlos sah wieder auf die Seite mit Jennifer Caherne von Watch! News. Der Kameramann war schlauer geworden und zeigte sie in Großaufnahme mit wesentlich weniger Hintergrund. Dann wurden das Gebäude und der Eingang zu Butler’s Wharf eingespielt; das breite, ockerfarbene Gebäude und der blaugerahmte Zugang mit den beiden weißen Sprossenfenstern rechts und links. Man sah zwei Einsatzwagen der Metropolitan Police vor den Markisen des Restaurants im Erdgeschoss und noch die Schatten von Einsatzkräften, die im Laufschritt mit Westen im Eingang des Hauses verschwanden. Es ging zurück zur Moderatorin, die vielsagend blickte und einen Schritt auf die Kamera zu machte. Mehlos war sich sicher, dass viele jetzt instinktiv ihre Brieftasche festhielten, und er sagte es auch.

»Wir sind ja unter uns …«, flüsterte Jennifer Caherne verschwörerisch, mit einer Stimme, die ein Herr der Ringe-Regisseur sofort für Gollum eingesetzt hätte,

» … deswegen kann ich ja sagen: es sind nicht nur Einsatzkräfte der Met unterwegs ins Atelier … wir haben auch einen Reporter reingeschmuggelt, der uns gleich Bilder liefern wird, von dem, was da oben los ist!«

Dann machte sie, stolz auf sich und die Idee, einen Fotografen mit der hinreichend bekannten Met-Uniform auszustatten und dem Trupp hinterher zu jagen, mit blauem und verschwenderisch aufgetragenem Lidschatten ein Zwinkerauge, was Mehlos besonders abstoßend fand.

»So beugt sie sich wahrscheinlich auch in Autos hinein, um deren Fahrer zur Akzeptanz ihres ambulanten Angebotes zu bewegen.«

Mehlos! Santow schaute lachend, aber missbilligend.

Ein Krankenwagen fuhr vor und stieß beim Bremsen an einen Tisch des Restaurants. Der Tisch fiel um.

»Wahnsinn, was hier los ist!«, rief Caherne und fuhr sich durch die Haare. Dann sah sie wieder in die Kamera und nahm das Mikrofon hoch.

»Jeden Moment kann es so weit sein – die Fotos unseres Mannes aus dem Atelier von Daniel Hearst. Bleiben Sie dran! Gleich wissen wir mehr.«

»Also, das kann jetzt wirklich dauern. Der Watch!-Maulwurf war bestimmt nicht der Erste, sondern der Letzte im Trupp. Fällt weniger auf. Die sind vor weniger als 30 Sekunden da hoch. Daniels Atelier ist im fünften Stock, ganz hinten sehr weit links. Ich war schon dort. Bis der oben ist, dauert es noch ein paar Minuten. Haben wir vielleicht inzwischen Nachrichten aus einer Quelle, die nicht unbedingt aus dem Schaustellermilieu stammt? Was haben Sie gehört, Cavendish, bevor Sie zu uns hereinkamen und meinten, wir müssten das sehen?«

»BBC, Sir. Daniel Hearst soll tot sein, Sir. Aufgefunden in seinem Atelier.«

Das ist leider keine schöne Nachricht, zeigte Santow, die nickte und ihr Tablet hochhielt, das die Breaking News eines Internet-Magazins zeigte: DANIEL HEARST TOT. Teuerster Skandal-Künstler der Welt in Atelier leblos aufgefunden. Dazu ein Bild der Butlers’s Wharf und daneben eines von Hearst selbst und ein weiteres seines berühmtesten Werkes Cheep Life. Dolly in Aspik.

»Weiß man mehr?«, fragte Mehlos.

Nein, nur Erklärungen zu Hearst oder seinen Werken. Nichts zu seinem Tod.

»Wird noch kommen«,Mehlos sah wieder auf den Monitor. Aus einem Einsatzfahrzeug der Met lief ein großer, blonder Mann mit raspelkurzen Haaren und einem Schlagstock in das Gebäude hinein.

»Das ist der Team Leader der Met, der auch Watch! gesehen hat und nun nach einem Fotografen in Met-Uniform sucht. Wollen wir mal hoffen, dass er wenig Respekt vor der Presse hat und mit seinem Schlagstock gut umgehen kann. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass der Fotograf vorher noch ein Bild schießen könnte … Aber nur eines«, Mehlos hielt einen Finger hoch.

Jennifer Caherne heizte die Stimmung weiter an und rechnete jede Sekunde mit dem Bild aus dem Atelier.

»Gleich ist es so weit! Das erste Foto! Aber Bob hat auch eine Go-pro an seinem Körper. Wir schalten mal drauf. Regie!«

Ein Fenster wurde eingeblendet. Darüber BobCam. Doch das Bild war nur verrauschtes Schwarzweiß.

Mehlos griff in seine Westentasche und sah auf seine Taschenuhr.

»Sie könnten in der Tat bald im Atelier sein. Der Fotograf hat nicht mehr als eine Minute Vorsprung vor dem Team Leader. Nicht viel. Ich will es nicht, aber ich werde so langsam nervös …«

Auf dem Schirm flackerte die BobCam. Man sah schräg Polizisten von hinten, die liefen. Bob hechtete ihnen anscheinend hinterher. Dann wurde das Kamerabild wieder verrauscht.

Sah so aus, als seien sie schon im Atelier, da waren große Bilder an den Wänden, zeigte Santow.

»Ja, erkenne ich wieder«, sagte Mehlos.

Eine Zeitlang nichts mehr, außer Jennifer Caherne, die ihre Zuschauer am Sender kleben ließ.

Dann schaltete sich wieder die BobCam ein. Man sah den Team Leader direkt auf Bob und seine Kamera zulaufen. Mit wutverzerrtem Gesicht hob er den Schlagstock und schlug zu. Das Bild der BobCam wurde schwarz. Mehlos meinte, noch ein »Au!« gehört zu haben, schob es dann aber einem Wunsch als Vater des Gedankens in die Schuhe.

Aus.

Mehlos und Santow sahen sich an. Mehlos hob eine Augenbraue.

Bei Jennifer Caherne spiegelte sich der Frust für eine Zehntelsekunde in der Mimik. Was sollte sie jetzt weiter ihren Zuschauern erzählen? Wie ihr Interesse fesseln? Es schien alles so perfekt. Dann tippte sie an ihr Ohr. Etwas kam über den Ohrstecker herein. Sie hörte lange zu. Erst ungläubig, dann begeistert. Nickte. Hob ihr Mikrofon, fuhr sich durch die schlangengleichen Haare und sah wieder in die Kamera. Mehlos hatte selten Seriosität und anteilnehmende Besorgnis so gut geheuchelt gesehen. Caherne legte los:

»Moment! Ich höre gerade von der Regie, dass wir doch ein Foto haben. Ein sehr, sehr gutes. Scharf. Detailliert. Von Daniel Hearst! Es ist aber … sehr verstörend. Ich sage das wirklich jetzt nicht nur so: Wenn Sie leicht zu beunruhigen sind … sehen Sie bitte nicht hin. Haben Sie schwache Nerven? Bitte nicht hinsehen! Sie tun es auf eigene Gefahr«, Caherne machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen. Dann machte sie weiter.

»Bitte sorgen Sie auch dafür, dass jetzt Kinder und Jugendliche nicht zusehen. Dieses Bild ist für Kinder und Jugendliche unter sechzehn Jahren nicht geeignet. Ich wiederhole: NICHT geeignet!«

Dann wartete sie noch ein paar Sekunden, damit sich noch genug Kinder und Jugendliche vor den Fernsehern versammeln konnten und sah dann ernst und sich ihrer Verantwortung scheinbar bewusst ihre Zuschauer an:

»Regie. Bitte das Bild. Jetzt!«

Der Monitor wurde schwarz. Langsam dimmte das Bild vollständig auf. Oben rechts das Senderlogo. Watch! News, schrie es.

Auf einem Bett lag nackt eine männliche Person. Sie lag auf dem Bauch, die Beine gerade ausgestreckt. Der linke Arm hing zur Seite, der rechte Arm war angewinkelt, der Zeigefinger ausgestreckt. Das Gesicht zur Seite gedreht, sahen die toten, weit aufgerissenen Augen den Betrachter an.

Das war aber noch nicht alles.

Daniel Hearst war vollkommen mit schwarzer Farbe überzogen.

Kingfisher’s

»Ein schwarzer Tag für die Kunst.«

Ihr schwarzer Humor ist gewöhnungsbedürftig, Mehlos, zeigte Santow.

»Was für eine ungewöhnliche Art, in eine andere Welt hinüberzugehen. Irgendjemand wollte ein Zeichen setzen. Ich glaube, das ist das Außergewöhnlichste und Interessanteste, was ich jemals gesehen habe. Für Sie auch, Santow?«

Ja. Doch.

»Sie wirken versunken.«

Ich bitte Sie, Mehlos, wir haben gerade etwas sehr Verstörendes gesehen, da ist es doch normal, darüber nachzuhalten.

»Ich frage mich, wer auf eine solche Idee gekommen ist. Einen Menschen mit schwarzer Farbe zu übergießen. Wären wir im Mittelalter oder im Märchen, würde ich annehmen, das wäre Pech. Also, nicht das Gegenteil von Glück – was aus Sicht des Verstorbenen allerdings fraglos passen würde –, sondern dieses Zeug aus Teer, das sie immer von Burgzinnen auf die Belagerer herunterkippten. Ja, Teer, so wie in Teeren und Federn – ob das beabsichtigt war?«

Keine Federn.

»Vielleicht kam die Schuldige nicht dazu.«

Die?

»Oder der. Ich will mich da noch nicht festlegen. Obwohl, es sieht eher nach einem Verbrechen aus Leidenschaft aus. Ich weiß nicht, wie Hearst orientiert war. Ich habe ihn nie mit jemandem zusammen gesehen. Weder mit Mann noch mit Frau. Vielleicht asexuell, wie Andy Warhol. Also alles offen.«

Aber, warum so?

»Bloßstellen. Hearsts Kunst kommentieren. Seine vielleicht schwarze Seele zeigen. Ihn lächerlich machen. Spaß an der Ausführung haben. Sein eigenes Ego Hearst aufdrücken. Das sind für mich die Suchfelder.«

Wir sind schon mittendrin.

»Ich wollt’ wir wären’s. Was für eine interessante Aufgabe! Wir werden sehr herausgefordert sein. Alleine die Informationsbeschaffung. Wir haben keinen Fotografen am Tatort. Die Met wird uns außen vor lassen. Sind Sie trotzdem dabei?«

Wie könnte ich nicht?