Die Jakarta-Methode - Vincent Bevins - E-Book

Die Jakarta-Methode E-Book

Vincent Bevins

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Beschreibung

1965 unterstützten die USA das indonesische Militär bei der Ermordung von etwa einer Million Zivilisten. Mit einem Staatsstreich gegen die antikoloniale Sukarno-Regierung galt es, das blockfreie Indonesien auf einen prowestlichen Kurs zu bringen und die größte kommunistische Partei außerhalb Chinas und der Sowjetunion auszuschalten. Der preisgekrönte Publizist Vincent Bevins erinnert an ein Massenmord­programm, das in anderen Teilen der Welt gezielt nachgeahmt wurde, so in Brasilien, Chile oder Argentinien. Er knüpft an seine Berichte als mehrjähriger Brasilien- und Südostasien-Korrespondent der Los Angeles Times bzw. der Washington Post an und stützt sich auf freigegebene Dokumente, Archivmaterial und Augenzeugenberichte aus zwölf Ländern, um zu zeigen: Große Teile des globalen Südens gingen nicht friedlich in das US-geführte Lager über. Vielmehr konnte sich diese Erzählung gerade deshalb halten, weil die CIA-gestützten Interventionen so erfolgreich waren. Mit ihrer brachialen Gewalt war die Jakarta-Methode im Kalten Krieg ein entscheidender Trumpf, der die Welt bis heute prägt. Ein Nachwort des Übersetzers zur bundesdeutschen Mitverantwortung rundet den Band ab.

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Ein mörderisches antikommunistisches Programm (1945-2000)

Die Karte zeigt vorsätzliche Massenmorde zur Beseitigung von Linken oder mutmaßlichen Linken. Sie berücksichtigt keine Todesfälle durch reguläre Kriege, ›Kollateralschäden‹ bei Militäreinsätzen oder unbeabsichtigte Todesfälle (etwa durch Hunger oder Krankheiten), die von antikommunistischen Regierungen verursacht wurden.

Anmerkungen zu den Zahlen vgl. S. 395ff.

* Bei der eigentlichen Operación Cóndor handelte es sich um grenzüberschreitende Operationen, bei denen 400 bis 500 Menschen getötet wurden. Diese Grafik umfasst auch alle Gewalttaten, die von den Cóndor-Staaten im Inland begangen wurden.

** Zum Iran: In diesem einen Fall wurde die Gewalt von einem geopolitischen Rivalen der USA verübt.

Vincent Bevins

Die Jakarta-Methode

Vincent Bevins

Die Jakarta-Methode

Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt

Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Glenn Jäger

PapyRossa Verlag

Titel der Originalausgabe:

»The Jakarta Method. Washington’s anticommunist crusade and the mass murder program that shaped our world«

© 2020/21 by PublicAffairs | Perseus Books, LLC

Hachette Book Group, New York / USA

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-89438-788-4 (Print)

ISBN 978-3-89438-908-6 (Epub)

© 2022 by PapyRossa Verlags GmbH & Co. KG, Köln

Luxemburger Str. 202, 50937 Köln

E-Mail: [email protected]

Internet: www.papyrossa.de

Umschlag: Verlag, unter Verwendung einer Grafik © by Nm0915 | Dreamstime.com [186900602]

Autorenfoto: Tinko Czetwertynski, São Paulo, 2021

Alle Rechte vorbehalten – ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Inhalt

Einleitung

1. Ein neues amerikanisches Zeitalter

2. Das unabhängige Indonesien

3. Die Füße ins Feuer, ein Fallschirm vom Himmel

4. Eine Allianz für den Fortschritt

5. Nach Brasilien und zurück

6. Die Bewegung 30. September

7. Ausrottung

8. Einmal um den Globus

9. Yakarta viene

10. Zurück im Norden

11. We are the Champions

12. Wo sind sie jetzt? Und wo sind wir?

Danksagung

Anmerkungen

Nachwort von Glenn Jäger»… nicht gegen die freie Welt«

Zur bundesdeutschen Mitverantwortung an den Massenmorden in Indonesien

Personenregister

Pressestimmen zur Originalausgabe

Für Bu Cisca und Pak Hong Lan Oei

Einleitung

Im Mai 1962 steigt ein junges Mädchen namens Ing Giok Tan in ein altes, rostiges Boot in Jakarta. Ihr Land, Indonesien, eines der größten der Welt, war in die globale Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Kommunismus geraten, und ihre Eltern beschlossen, vor den fürchterlichen Folgen zu fliehen, die dieser Konflikt für Familien wie die ihre mit sich brachte. Sie setzen die Segel in Richtung Brasilien, nachdem sie von Landsleuten mit gleichem Ziel gehört hatten, dass dieser Ort Freiheit, die Möglichkeit zur Entfaltung und eine Atempause vom Konflikt biete. Aber was wussten sie schon von Brasilien? Das Land war für sie nicht mehr als eine vage Idee, und es war sehr weit weg. Geplagt von Angst und Seekrankheit fahren sie 45 Tage lang, vorbei an Singapur über den Indischen Ozean nach Mauritius, passieren Mosambik und Südafrika, überqueren den Atlantik und steuern São Paulo an, die größte Stadt Südamerikas.

Wenn sie angenommen hatten, der Gewalt des Kalten Krieges entfliehen zu können, so war dies ein tragischer Irrtum. Zwei Jahre nach ihrer Ankunft putschte die Armee gegen die junge Demokratie Brasiliens und errichtete eine Militärdiktatur. Bald erreichten die neuen Einwanderer in Brasilien Nachrichten aus Indonesien: Meldungen von schockierenden Szenen, schlimmer kaum vorzustellen, eine Explosion der Gewalt, die so erschreckend war, dass einen selbst das bloße Sprechen darüber zusammenbrechen, ja: am eigenen Verstand zweifeln ließ. Doch die Berichte waren zutreffend. Die apokalyptischen Gemetzel in Indonesien gebaren eine junge Nation, die, übersät von verstümmelten Leichen, zu einem der zuverlässigsten Verbündeten Washingtons wurde – bevor sie weitgehend aus der Geschichte verschwand.

Was 1964 in Brasilien und 1965 in Indonesien geschah, gehörte im Kalten Krieg wohl zu den bedeutendsten Siegen für jene Seite, die ihn letztlich gewann – also für die USA und das heutige globale Wirtschaftssystem. Insofern zählen diese Ereignisse zu den wichtigsten in einem Verlauf, der fast aller Leben grundlegend geprägt hat. Beide Länder waren unabhängig und standen irgendwo zwischen den Blöcken, fielen aber Mitte der 1960er Jahre maßgeblich ins Lager der USA.

Verantwortliche in Washington und Journalisten in New York verstanden gewiss, wie bedeutend diese Ereignisse zu der Zeit waren. Sie wussten, dass Indonesien, heutzutage weltweit das Land mit der viertgrößten Bevölkerungszahl, eine weitaus wichtigere Beute war, als es Vietnam je hätte sein können.1 Dort erreichte das außenpolitische Establishment der USA in wenigen Monaten, woran es in zehn blutigen Jahren des Krieges in Indochina gescheitert war.

Die Diktatur in Brasilien – das Land rangiert heute unter den sieben bevölkerungsreichsten Ländern – spielte eine entscheidende Rolle dabei, den Rest Südamerikas in das Pro-Washington-Lager der antikommunistischen Länder zu ziehen. In beiden Ländern, Brasilien und Indonesien, war die Sowjetunion kaum engagiert.

Was am schockierendsten und zugleich für dieses Buch am bedeutendsten ist: Beide Ereignisse führten zur Entstehung eines ungeheuerlichen internationalen Netzwerks der Vernichtung, das heißt des systematischen Massenmords an Zivilisten. Die Vorkommnisse betrafen viele weitere Länder, und sie waren entscheidend für die Herausbildung jener Welt, in der wir heute leben.

Indonesien bleibt eine riesige Blackbox in unserem kollektiven Wissen, selbst bei Menschen, die ein bisschen mehr über die Kubakrise, den Koreakrieg oder Pol Pot wissen oder mit ein paar Grunddaten über die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt (China und Indien) oder gar über die Nummer fünf und sechs (Pakistan und Nigeria) vertraut sind. Sogar unter international agierenden Journalisten wissen nur wenige, dass Indonesien das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt ist oder dass es 1965 die größte kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion und Chinas hatte.

Die Wahrheit über die gewaltsamen Ereignisse von 1965/66 blieb jahrzehntelang verborgen. Im Kielwasser jener Gewalt wurde eine Diktatur errichtet, die der Welt Lügen auftischte, während die Überlebenden stumm blieben – sei es, weil sie inhaftiert waren oder zu verängstigt, die Stimme zu erheben. Nur dank der Anstrengungen heldenmütiger indonesischer Aktivisten und engagierter Wissenschaftler in vielen Teilen der Welt können wir nun die Geschichte offenlegen. In der zweiten Hälfte der 2010er Jahre in Washington freigegebene Dokumente waren zudem sehr hilfreich, wenn auch manches noch immer geheimnisumwittert bleibt.

Indonesien verschwand wohl deswegen von der sprichwörtlichen Landkarte, weil die Ereignisse von 1965/66 für Washington ein voller Erfolg waren. Es kamen keine US-Soldaten zu Tode, und im eigenen Land war niemand jemals in Gefahr. Obwohl die indonesische Führung in den 1950er und 60er Jahren eine bedeutende internationale Rolle gespielt hatte, hörte das Land nach 1966 auf, für Unruhe zu sorgen. Aus langjähriger Arbeit als Auslandskorrespondent und Journalist weiß ich, dass ferne Länder, die stabil und zuverlässig proamerikanisch sind, kaum in die Schlagzeilen geraten. Nachdem ich die Unterlagen durchgegangen war und viel Zeit mit Menschen verbracht hatte, die diese Phase durchgemacht haben, kam ich zu einer weiteren, zutiefst beunruhigenden These, warum diese Vorfälle in Vergessenheit gerieten: Die Wahrheit über die Geschehnisse widerspricht, so fürchte ich, derart stark unserem Begriff davon, was der Kalte Krieg war, wie die Globalisierung vonstattenging und was es bedeutet, US-Amerikaner zu sein, dass es schlichtweg einfacher war, sie zu ignorieren.

Dieses Buch richtet sich an all jene, die keine Spezialkenntnisse über Indonesien, Brasilien, Chile, Guatemala oder den Kalten Krieg mitbringen, obwohl ich hoffe, dass meine Interviews, Archivrecherchen und mein globaler Ansatz einige Erkenntnisse liefern, die auch für Fachleute interessant sein mögen. Vor allem aber hoffe ich, Menschen zu erreichen, die wissen wollen, wie die Gewalt und der Krieg gegen den Kommunismus unser heutiges Leben auch persönlich geprägt haben – ganz gleich, ob Sie gerade in Rio de Janeiro, Bali, New York oder Lagos ansässig sind.

Zwei Episoden aus meinem eigenen Leben haben mich davon überzeugt, dass die Ereignisse von Mitte der 1960er Jahre noch immer sehr präsent sind – und ihre Geister noch heute die Welt heimsuchen.

2016 war ich in meinem sechsten und letzten Jahr als Brasilienkorrespondent für die Los Angeles Times tätig, als ich durch die Flure des Kongresses in Brasília ging. Das Parlament der viertgrößten Demokratie der Welt bereitete sich auf die Abstimmung über eine Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff vor, einer ehemaligen Guerillera und dem ersten weiblichen Staatsoberhaupt des Landes. Am Ende des Korridors erkannte ich einen unbedeutenden, aber verlässlich rechtsaußen stehenden Abgeordneten. Es war Jair Bolsonaro, und ich näherte mich ihm für ein kurzes Interview. Bereits zu dieser Zeit war bekannt: Politische Gegenspieler versuchten, Rousseff mithilfe einer Formalität zu stürzen; jene, die die Amtsenthebung organisierten, hatten sich weitaus mehr der Korruption schuldig gemacht als die Präsidentin selbst.2 Als ausländischer Journalist fragte ich Bolsonaro, ob er nicht befürchte, dass die internationale Gemeinschaft angesichts des umstrittenen Verfahrens die Legitimität einer konservativeren Regierung, die an die Stelle der bisherigen treten würde, anzweifeln könnte. Was er mir antwortete, schien noch derart weit jenseits des Mainstreams zu liegen – er ließ die Phantome des Kalten Krieges wieder vollends auferstehen –, dass ich das Interview nicht weiter verwendete. »Die Welt«, waren seine Worte, »wird feiern, was wir heute tun, denn wir halten Brasilien davon ab, zu einem zweiten Nordkorea zu werden.« Das war regelrecht absurd: Rousseff stand einer Mitte-Links-Regierung vor, die eher noch zu freundlich gegenüber den Großunternehmen war.

Einige Augenblicke später trat Bolsonaro ans Mikrofon des Sitzungssaals und gab eine Erklärung ab, die das Land erschütterte. Seine Stimme im Amtsenthebungsverfahren widmete er Carlos Alberto Brilhante Ustra, jenem Mann, der als Oberst während der Diktatur in Brasilien Rousseffs Folterung überwachte. Eine ungeheuerliche Provokation, ein Versuch, das antikommunistische Militärregime des Landes zu rehabilitieren und sich selbst zum nationalen Sinnbild einer extrem rechten Opposition zu machen, die sich im Widerstand gegen alles sah.3

Als ich einige Wochen später Rousseff interviewte, während ihre endgültige Abwahl bevorstand, drehte sich unser Gespräch unweigerlich um die Rolle der USA in Bezug auf die Verhältnisse Brasiliens. Angesichts der zahlreichen Interventionen Washingtons zum Sturz von Regierungen in Südamerika fragten sich viele ihrer Anhänger, ob die CIA einmal mehr dahintersteckte. Sie verneinte, vielmehr sei dies das Ergebnis der inneren Dynamik Brasiliens.4 Doch in gewisser Weise ist das nicht weniger schlimm: Die Diktatur war zu einem Typus von Demokratie übergegangen, in der gefahrlos beseitigt werden konnte, wer den wirtschaftlichen oder politischen Eliten als Bedrohung ihrer Interessen erschien – wie Rousseff oder Lula. Und sie konnten, wann immer es ihnen nützlich vorkam, für ihre nächste Schlacht die Dämonen des Kalten Krieges beschwören.

Heute wissen wir, wie erfolgreich Bolsonaros Schachzug war. Als er zwei Jahre später zum Präsidenten gewählt wurde, war ich in Rio. Auf den Straßen brachen sogleich Kämpfe aus. Große, stämmige Männer begannen, tätowierte Frauen anzuschreien, die sichtbar den Gegenkandidaten unterstützten. »Kommunisten! Haut ab! Kommunisten! Haut ab!«, schrien sie.

2017 machte ich mich auf den Weg nach Indonesien – in genau entgegengesetzter Richtung wie Ing Giok Tan und ihre Familie so viele Jahre zuvor. Ich zog von São Paulo nach Jakarta, um für die Washington Post über Südostasien zu berichten. Nur wenige Monate nach meiner Ankunft plante eine Gruppe von Akademikern und Aktivisten eine Konferenz in kleinem Rahmen, um die Ereignisse von 1965 zu diskutieren. Doch in den sozialen Medien wurde der Vorwurf verbreitet, mit dem Treffen habe man in Wirklichkeit nur den Kommunismus wieder aufleben lassen wollen – was in diesem Land auch 50 Jahre später noch immer illegal ist. In dieser Nacht bewegte sich ein Mob auf die Veranstaltung zu, bald nachdem ich sie verlassen hatte. Er bestand größtenteils aus Gruppen islamistischer Männer, wie sie inzwischen oft an aggressiven Demonstrationen in Jakarta teilnehmen. Sie umstellten das Gebäude und kesselten so die Anwesenden ein. Meine Mitbewohnerin Niken, eine junge Gewerkschaftsaktivistin aus der Provinz Zentraljava, wurde dort die ganze Nacht lang festgehalten, während der Mob gegen die Wände trommelte und skandierte: »Nieder mit den Kommunisten!«, »Verbrennt sie bei lebendigem Leib!« Sie sandte mir verängstigte Textnachrichten, in denen sie mich bat, zu veröffentlichen, was gerade passierte. Ich twitterte über die Ereignisse, und es dauerte nicht lange, bis es zu Drohungen kam – samt Anschuldigungen, ich sei Kommunist oder gar ein Mitglied der Kommunistischen Partei Indonesiens, auch wenn diese gar nicht mehr existierte. In Südamerika hatte ich mich daran gewöhnt, derlei Botschaften zu erhalten. Die Parallelen waren kein Zufall. Beiderorts lässt sich die Paranoia auf einen traumatischen Bruch Mitte der 1960er Jahre zurückführen.

Aber erst als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann und mit Fachleuten, Zeitzeugen und Überlebenden sprach, wurde mir zweierlei klar: Zum einen ist die Tragweite der beiden historischen Ereignisse viel größer als die Tatsache, dass es in Brasilien, Indonesien und vielen anderen Ländern immer noch einen gewalttätigen Antikommunismus gibt; zum anderen brachte der Kalte Krieg eine Welt von Regimen hervor, die jedwede soziale Reform als Bedrohung ansehen. Ich kam zu dem Schluss: Die Umgestaltung war global, und sie betraf insbesondere die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, jener Kontinente also, an denen Ing Giok mit ihrer Familie vorbeisegelte. Die Wellen der Neuformierung gingen 1964 und 1965 von Brasilien und Indonesien aus.

Ich spürte eine hohe moralische Verantwortung, dieser Geschichte nachzugehen und sie richtig zu erzählen, in gewisser Weise als Ergebnis von über einem Jahrzehnt Arbeit. Eigens für dieses Buch habe ich zwölf Länder besucht und über hundert Menschen interviewt – auf Spanisch, Portugiesisch, Englisch und Indonesisch. In Archiven habe ich Dokumente in eben diesen Sprachen durchforstet, habe mit Historikern auf der ganzen Welt gesprochen und in fünf Ländern mit wissenschaftlichen Mitarbeitern zusammengearbeitet. Ich hatte nicht viele Mittel, um dieses Buch zu erstellen, aber ich habe ihm alles gewidmet, was ich hatte.

Die Gewalt, die sich in Brasilien, in Indonesien und in 21 anderen Ländern der Welt abspielte, war weder zufällig noch war sie nebensächlich für die großen Linien der Weltgeschichte. Die Tode waren nicht »kalt und platt«, sie beruhten nicht etwa auf tragischen Irrtümern, die sonst nichts weiter zur Folge gehabt hätten.5 Ganz im Gegenteil. Die Gewalt war wirkungsvoll, sie war wesentlicher Bestandteil eines größeren Prozesses. Ohne eine Einordnung in den Kalten Krieg und die globalen US-Ziele bleiben die Ereignisse unvorstellbar, ja: unbegreiflich und kaum zu verarbeiten.

Der bemerkenswerte Film The Act of Killing von Joshua Oppenheimer und die Fortsetzung The Look of Silence haben die Blackbox ›Indonesien 1965‹ geöffnet und weltweit Menschen dazu gebracht, einen Blick in sie zu werfen. Oppenheimers meisterhaftes Werk folgt einer extremen Nahaufnahme. In dem Versuch, sich gegenseitig zu ergänzen, habe ich bewusst den umgekehrten Ansatz gewählt und auf die globale Bühne herausgezoomt. Wer die Filme gesehen hat, so meine Hoffnung, mag dieses Buch zur Hand nehmen, um sie in den großen Zusammenhang einzuordnen; umgekehrt sind im Anschluss an die Lektüre die Filme zu empfehlen. Bei Joshua stehe ich auch persönlich in der Schuld, weil er mich bei meinen frühen Recherchen beraten hat. Und noch viel mehr verdanke ich den Indonesierinnen und Indonesiern, die ich traf. Unter den Historikerinnen und Historikern möchte ich Baskara Wardaya, Febriana Firdaus und Bradley Simpson hervorheben.

Um die Geschichte dieser Ereignisse und ihrer Folgen – also samt einem auf Vernichtung zielenden globalen Netzwerk, das in dem Zuge hervorgebracht wurde – wahrhaftig erzählen zu können, musste ich versuchen, die Geschichte des Kalten Krieges im weiteren Sinne zu vermitteln. Allzu oft wird übersehen, dass der gewalttätige Antikommunismus eine globale Kraft war und seine Akteure grenzüberschreitend arbeiteten. Sie lernten von Erfolgen und Misserfolgen in anderen Ländern, während ihre Bewegung an Fahrt aufnahm und Siege errang. Um zu erfassen, was geschah, müssen wir diese internationale Zusammenarbeit verstehen.

Dies ist auch die Geschichte einiger Einzelpersonen – so aus den USA, aus Indonesien und aus Lateinamerika –, die diese Ereignisse durchgemacht haben und deren Leben sich dadurch tiefgreifend verändert hat. Der gewählte Fokus und die Verbindungen, die ich erkannte, sind wohl bis zu einem gewissen Grad von meinem eigenen Hintergrund und meinen Sprachkenntnissen bestimmt, aber auch von jenen Menschen, die ich glücklicherweise traf. Deren Geschichte ist, so meine Überzeugung, mindestens Ausdruck des Kalten Krieges wie die anderer auch, ja: in gewisser Weise noch mehr, konzentriert sich doch die Geschichtsschreibung des Kalten Krieges hauptsächlich auf Weiße in den USA und Europa.6

Meine Schilderungen basieren auf freigegebenen Informationen, auf übereinstimmenden Forschungsergebnissen der sachkundigsten Historiker und auf erdrückenden Zeugenaussagen aus erster Hand. Ich stütze mich weitgehend auf meine eigenen Interviews mit Überlebenden. Selbstverständlich konnte ich nicht jede einzelne Aussage über deren eigenes Leben gegenprüfen, etwa wie sie sich jeweils fühlten, was sie anhatten oder wann genau sie verhaftet wurden. Doch keins der hier angeführten Details steht im Widerspruch zu den verbürgten Tatsachen und der übergeordneten Geschichte, die Historiker bereits freigelegt haben. Um die Ereignisse so sorgfältig wie möglich wiederzugeben und jenen Respekt zu zollen, die sie erlebt haben, und um zugleich den Beweisen treu zu bleiben, musste ich Folgendes anerkennen: Erstens ist die aufzuzeigende Geschichte wahrlich global; jedes Leben auf der Erde ist als gleich wertvoll zu behandeln, und kein Land oder Akteur wird von vornherein als good oder bad guy, als gut oder böse betrachtet. Zweitens ist das bekannte Wort, wonach »Geschichte von den Siegern geschrieben wird«, leider meistens zutreffend. Notwendigerweise ist dieser Tendenz hier entgegenzuwirken, gehörten doch viele der Menschen, die im Mittelpunkt dieser Darstellung stehen, zu den größten Verlierern des 20. Jahrhunderts. Deren Erfahrungen widersprechen vielfach einer Auffassung vom Kalten Krieg, wie sie in der anglophonen Welt vorherrscht. Wir dürfen uns nicht davor scheuen, dies zu benennen – auch wenn die Widersprüche für die Sieger durchaus unangenehm sein mögen. Was nicht zuletzt mein Anspruch ist: Spekulationen gänzlich zu vermeiden und dem Drang zu widerstehen, die vielen ungelösten Rätsel selbst anzugehen. Wir müssen akzeptieren, dass es vieles gibt, was wir noch nicht wissen.

Demnach beruht dieses Buch nicht auf Vermutungen. Wenn ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen über scheinbar große Zufälle stolperte – dem Eindruck nach zu groß, um noch welche zu sein – oder über Verbindungen, die wir nicht erklären können, hielten wir inne und diskutierten darüber; wir folgten nicht einfach unserer eigenen Theorie, wenn es darum ging, Ursachen aufzuspüren.

Und es waren so manche Verbindungen, über die wir stolperten.

1.

Ein neues amerikanisches Zeitalter

Die Vereinigten Staaten, ursprünglich eine westeuropäische Siedlerkolonie in Nordamerika, gingen aus dem Zweiten Weltkrieg als das bei weitem mächtigste Land der Erde hervor – eine Überraschung für die meisten US-Amerikaner und für den Großteil der Welt.

Die USA waren ein junges Land. Erst rund hundert Jahre zuvor hatte die in den ehemaligen britischen Kolonien eingesetzte Regierung die Eingliederung der einstigen französischen und spanischen Gebiete in das neue Land abgeschlossen und deren Führungen die Herrschaft über den mittleren Teil des Kontinents übertragen. Demgegenüber waren ihre Anverwandten in Europa seit fast fünf Jahrhunderten dabei, den Globus zu erobern. Sie waren um den Planeten gesegelt und hatten ihn sich untertan gemacht.

Die Vereinigten Staaten als Siedlerkolonie zu bezeichnen, bedeutet: Das Land wurde im Laufe mehrerer Jahrhunderte von weißen Europäern erobert, jedoch auf andere Art und Weise unterworfen als die meisten Länder Afrikas und Asiens. Die weißen Siedler kamen, um zu bleiben, und die einheimische Bevölkerung wurde per Definition aus der errichteten Nation ausgeschlossen. Damit das neue weiße und christliche Land Gestalt annehmen konnte, musste die indigene Bevölkerung weichen.

Wie in den USA jedes Kind lernt, war die Gründung der Vereinigten Staaten stark von religiösem Fanatismus geprägt. Die Puritaner, eine Gruppe überzeugter englischer Christen, überquerten nicht den Atlantik, um England Devisen zu verschaffen. Sie suchten nach einem Ort, um eine reinere, striktere Version der calvinistischen Gesellschaft aufzubauen. Sie strebten gewissermaßen nach religiöser Freiheit. Oder aber: Sie wollten eine Gesellschaft, die noch homogener, fundamentalistischer und theokratischer war als diejenige im Europa des 17. Jahrhunderts.1

Ende des 18. Jahrhunderts vertrieb die Führung der britischen Kolonien die Monarchie in einem Revolutionskrieg und errichtete ein bemerkenswert effektives System der Selbstverwaltung, das in leicht geänderter Form bis heute besteht. International galt das Land bald als Vertreter und Verfechter revolutionärer, demokratischer Ideale. Aber innenpolitisch war die Sache deutlich komplizierter. Die Vereinigten Staaten blieben nach wie vor eine Gesellschaft von brutaler weißer Vorherrschaft. Die a priori gesetzte Verdrängung der einheimischen Bevölkerung hatte einen Völkermord zur Folge.

In ganz Amerika, von Kanada bis hinunter nach Argentinien, tötete die europäische Kolonisation zwischen 50 und 70 Millionen Indigene, etwa 90 Prozent der Urbevölkerung. Wissenschaftler kamen Ende der 2010er Jahre zu dem Schluss, dass die Ausrottung dieser Völker so gewaltig war, dass sie die Temperatur des Planeten veränderte.2 In den neuen Vereinigten Staaten von Amerika dauerte der Vernichtungszug noch lange nach der Erklärung der Unabhängigkeit von der britischen Krone an. US-Bürger kauften, verkauften, peitschten, quälten und besaßen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts noch immer Menschen afrikanischer Abstammung. Frauen erhielten erst 1920 landesweit das Wahlrecht. Sie konnten es auch tatsächlich ausüben, während das theoretisch garantierte Wahlrecht schwarzer Bürger durch rassistische Terrorkampagnen und Gesetze unterlaufen wurde, um einen Teil der Bevölkerung von der vollwertigen Staatsbürgerschaft auszuschließen. Als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintraten, waren sie das, was wir heute als eine Apartheidgesellschaft bezeichnen würden.3

In diesem Krieg traten indes die besseren amerikanischen Eigenschaften in den Vordergrund. Es war nicht immer klar, dass es so kommen würde. In den 1930er Jahren sympathisierten manche US-Bürger sogar mit den Nazis und deren hypermilitaristischen, völkermordenden, rassistischen und obrigkeitsstaatlichen Partei. 1941 sagte ein gewisser Harry S. Truman, damals Senator in Missouri: »Wenn wir sehen, dass Deutschland den Krieg gewinnt, sollten wir Russland helfen, und wenn Russland gewinnt, sollten wir Deutschland helfen und sie auf diese Weise gegenseitig so viele wie möglich töten lassen.«4 Als die USA jedoch an der Seite Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion am Zweiten Weltkrieg teilnahmen, kämpften ihre Truppen auch dafür, Gefangene aus Konzentrationslagern zu befreien und die Demokratien Westeuropas, so beschränkt sie auch waren, vor der Tyrannei zu retten. Abgesehen von rund 500.000 Menschen, die auf tragische Weise ihr Leben verloren, kehrte eine Generation von ›Boys‹ aus diesem Krieg zurück, die zu Recht stolz waren: Sie hatten einem durch und durch teuflischen System die Stirn geboten, waren für die Werte ihres Landes eingetreten – und hatten gewonnen.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs war der Beginn einer neuen globalen Ordnung. Europa war geschwächt, und der Planet war in Stücke gebrochen.

Drei Welten

Das zweitstärkste Land der Welt zu jener Zeit, die Sowjetunion, ging ebenfalls als Sieger aus diesem Krieg hervor. Auch die Sowjets waren hochgradig stolz, aber die Bevölkerung hatte ungeheuerliche Opfer gebracht. Deren linksgerichtete Haltung verachtend, überfielen die Nazis mit großer Brutalität ihr Land. Bevor die Wehrmacht schließlich zurückgedrängt wurde – in Stalingrad 1942/43, wohl der Wendepunkt des Krieges, ein Jahr bevor die USA in Europa landeten – hatte die UdSSR bereits fürchterliche Verluste erlitten. Als die Rote Armee 1945 Berlin erreichte und große Teile Mittel- und Osteuropas kontrollierte, waren mindestens 27 Millionen Sowjetbürger umgekommen.5

Die Sowjetunion war ein noch jüngeres Land als die Vereinigten Staaten. Inspiriert von Karl Marx, wurde sie 1917 von einer Gruppe radikaler Intellektueller gegründet, nachdem eine Revolution die marode russische Monarchie gestürzt hatte. Dieses Zarenreich, das größtenteils über verarmte Bauern herrschte, galt als rückständig im Vergleich zu den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Westeuropas, in denen gemäß der Überzeugung von Marx – wie auch von Lenin, dem ersten sowjetischen Staatsoberhaupt – die sozialistische Weltrevolution eigentlich zuerst ihren Lauf hätte nehmen sollen.

Die Revolutionäre sahen sich von 1918 bis 1920 mit einem Bürgerkrieg konfrontiert und setzten ein, was die Bolschewiki selbst als »Terror« bezeichneten, um die Weißen Kräfte zu besiegen, eine lose Koalition aus Konservativen, russischen Nationalisten und Antikommunisten, die ihrerseits an Massenmorden beteiligt waren. Einige Jahre nach Lenins Tod im Jahr 1924 forcierte dessen schonungsloser späterer Nachfolger Josef Stalin die Kollektivierung der landwirtschaftlichen Produktion, baute eine zentrale Planwirtschaft auf und ging mit Massenverhaftungen und Hinrichtungen gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner vor. Im Ergebnis all dessen starben in den 1930er Jahren mehrere Millionen Menschen. Unter ihnen waren auch einige der ursprünglichen Architekten der Revolution, und Stalin änderte die offizielle Ideologie der Kommunistischen Internationalen immer wieder, um sie den eigenen politischen Bedürfnissen anzupassen. Das Schlimmste davon blieb lange Zeit geheim. Unterdessen verschafften die rasche Industrialisierung des Landes und die nachfolgende Niederlage der Nazis – wie auch der Umstand, dass es oft Kommunisten waren, die sich dem Faschismus wie auch dem Kolonialismus weltweit am frühesten und nachdrücklichsten widersetzten – der Sowjetunion 1945 global bedeutendes Ansehen.6

Das Land wurde zwar zur zweiten »Supermacht« der Welt, aber wenn es drauf ankam, war sie in jeder Hinsicht schwächer als die Vereinigten Staaten. In den späten 1940er Jahren produzierten die USA rund die Hälfte aller Industriegüter weltweit. Um 1950 war die US-Wirtschaft wahrscheinlich so groß wie die ganz Europas und der Sowjetunion zusammen.7 Was die militärische Stärke betrifft, so war die sowjetische Bevölkerung dezimiert worden, was insbesondere für diejenigen galt, die noch hätten einberufen werden können. Obwohl Hunderttausende sowjetischer Frauen tapfer gegen die Nazis kämpften, so macht das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern das Ausmaß der Zerstörung deutlich: 1945 kamen auf zehn Frauen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren nur sieben Männer.8 Die USA waren militärisch überlegen und demonstrierten mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, welch apokalyptischen Schaden sie aus der Luft anrichten konnten.

Genau davon sprechen wir, wenn wir in den Jahren nach 1945 zwischen »Erster Welt« und »Zweiter Welt« unterscheiden. Die Erste Welt bestand aus den Ländern Nordamerikas, Westeuropas, Australiens und Japans, deren Reichtum auf dem Kolonialismus gründete. Ihre Führungsmacht, die Vereinigten Staaten, waren spät dran, zumindest mit Ansprüchen außerhalb Nordamerikas, standen aber keinesfalls nur am Spielfeldrand. Die jungen USA übernahmen die Kontrolle über das Louisiana-Territorium, über Florida, Texas und den Südwesten, indem sie Krieg führten oder mit einem Angriff drohten.9 Zudem übernahm Washington Hawaii, nachdem eine Gruppe von Geschäftsleuten 1893 Königin Lili’uokalani gestürzt hatte, und erlangte im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 die Kontrolle über Kuba, Puerto Rico und die Philippinen. Die Philippinen blieben formell bis 1945 eine Kolonie; Kuba rückte in die informelle Einflusssphäre der USA in Mittelamerika und der Karibik, wo US-Marines bis 1920 mindestens schwindelerregende zwanzig Mal intervenierten; und Puerto Rico verbleibt bis heute in der imperialen Schwebe.10

Die »Zweite Welt« bestand aus der Sowjetunion und jenen europäischen Gebieten, in denen die Rote Armee ihre Zelte aufgeschlagen hatte. Seit ihrer Gründung hatte sich die UdSSR allgemein mit dem weltweiten antikolonialen Kampf zusammengetan und keinen Imperialismus in Übersee betrieben. Doch auf die von ihr kontrollierten Länder Mittel- und Osteuropas vermochte Moskau, unter den Augen der Welt, seinen Einfluss auszuüben.

Und dann war da noch die »Dritte Welt«, alle anderen also, die große Mehrheit der Weltbevölkerung. Dieser Begriff wurde in den frühen 1950er Jahren geprägt und war ursprünglich ausschließlich positiv besetzt.

Als die Führungen der jungen Nationalstaaten den Begriff aufnahmen, verwendeten sie ihn mit Stolz. Er beinhaltete den Traum von einer besseren Zukunft, in der die unterdrückten und geknechteten Massen der Welt ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen würden. Der Begriff wurde im Sinne des »Dritten Standes« während der Französischen Revolution verwendet, als das revolutionäre, das einfache Volk den Ersten und Zweiten Stand der Monarchie und des Klerus stürzen sollte. »Dritter« bedeutete nicht drittrangig, sondern eher so etwas wie der dritte und letzte Akt: Die erste Gruppe, also die reichen, weißen Länder, strebte danach, die Welt nach ihren Vorstellungen zu erschaffen, ebenso wie die zweite; doch nun trat eine neue Bewegung auf den Plan, energiegeladen und voller Tatkraft, die ihre Stunde gekommen sah. Für einen Großteil des Planeten war die Dritte Welt mehr als eine Kategorie – sie war ein Aufbruch.11

1950 lebten mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung in der Dritten Welt, und mit wenigen Ausnahmen hatten die Völker des Südens unter der Kontrolle des europäischen Kolonialismus gestanden.12 Einigen Ländern war es im 19. Jahrhundert gelungen, sich von der imperialen Herrschaft zu befreien; einige erlangten ihre Unabhängigkeit, als faschistische Streitkräfte am Ende des Zweiten Weltkriegs den Rückzug antraten; einige strebten 1945 nach Selbstständigkeit, wurden daraufhin aber erneut von Armeen der Ersten Welt überfallen; für viele andere hatte der Krieg wenig geändert, sie blieben unfrei. Allen jedoch wurde eine Wirtschaft vererbt, die sehr viel ärmer war als die der Ersten Welt. Nach Jahrhunderten der Sklaverei und der brutalen Ausbeutung waren sie auf sich selbst gestellt, mussten alleine auskommen und ihren Weg zu Unabhängigkeit und wirtschaftlicher Blüte finden.

Die einfache Version des nächsten Teils dieser Geschichte besagt: Die jungen, unabhängigen Länder der Dritten Welt mussten sich zunächst gegen die imperialen Gegenangriffe zu Wehr setzen; daraufhin hatten sie zu entscheiden, ob sie dem von den USA und Westeuropa verkörperten kapitalistischen Modell folgen oder aber versuchen wollten, den Sozialismus aufzubauen und den Pfad der Sowjetunion einzuschlagen, um bestenfalls genauso schnell aus der Armut in eine Position von globaler Bedeutung aufzusteigen. Aber so einfach war die Sache nicht, auch wenn es 1945 noch möglich war zu glauben, man könnte sowohl mit Washington als auch mit Moskau freundschaftliche Beziehungen pflegen.

Ein Vietnamese namens Ho Chi Minh, vormals als Fotoretuscheur in Paris und als Bäcker in den USA tätig, wandte sich dem revolutionären Marxismus zu, nachdem er die westlichen kapitalistischen Mächte nach dem Ersten Weltkrieg beschuldigt hatte, auf der Friedenskonferenz von Versailles die vietnamesische Souveränität nicht anerkannt zu haben.13 Er wurde zu einem Vertreter der Kommunistischen Internationale, bevor er in den 1940er Jahren die Widerstandsbewegung Vietminh – auch Việt Minh oder »Liga für die Unabhängigkeit Vietnams« – gegen die japanische Besatzung anführte. Doch als er am 2. September 1945, bald nach den beiden Atombombenabwürfen der USA auf Japan, im Blumengarten von Ba Đình in der Innenstadt von Hanoi eintraf, um die Unabhängigkeit Vietnams zu erklären, eröffnete er mit folgenden Worten: »›Alle Menschen sind gleich geschaffen; sie sind von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet, darunter dem Recht auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück.‹ Diese unsterblichen Worte stehen in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, ausgerufen im Jahr 1776. In weiterem Sinne bedeutet das: Alle Völker der Erde sind gleich von Geburt; alle Völker haben das Recht auf Leben, Glück und Freiheit.«14

Er feierte die mit der Amerikanischen Revolution verbundenen Ideale, die die Gründerväter den USA vermacht hatten und zu denen sich die politischen Repräsentanten der Vereinigten Staaten noch immer bekannten. Er suchte der Welt zu zeigen: Das vietnamesische Volk wollte lediglich, was jedes andere auch wollte, nämlich das Recht, über sich selbst zu bestimmen. Zudem versuchte er, in einer äußerst verzweifelten Lage zu bestehen. Die französische Kolonialarmee kam wieder zurück, um die weiße Herrschaft über Indochina zu behaupten. Was er gewiss als letztes brauchen konnte: dass sich auch das mächtigste Land der Menschheitsgeschichte verpflichtet sah, seine Unabhängigkeitsbewegung zu zerschlagen. So appellierte er, wie viele andere Linke in der Dritten Welt damals auch, direkt an die genannten Werte des amerikanischen Volkes. Schließlich hatten sich ja die Vereinigten Staaten selbst mit der Sowjetunion gegen Hitler verbündet. Doch aus Sicht der mächtigen Herren in der US-Hauptstadt änderte sich die Lage sehr schnell.

Washingtons antikommunistischer Kreuzzug hatte genau genommen lange vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Unmittelbar nach der Russischen Revolution beschloss Präsident Woodrow Wilson, sich den anderen imperialen Mächten anzuschließen und die weißen Truppen zu unterstützen. Es war der Versuch, die Kontrolle über das Land von den bolschewistischen Revolutionären zurückzuerobern. Das hatte zwei Gründe. Zum einen bilden die Grundlagen des Amerikanismus so etwas wie das genaue Gegenstück zum Kommunismus.15 Stark hervorgehoben wird das Individuum, nicht das Kollektiv, und eine Vorstellung von Freiheit, die eng mit dem Recht auf Eigentum verbunden ist. Genau das war letztendlich die Basis für die volle Staatsbürgerschaft in der frühen Republik gewesen: Nur weißen Männern mit Eigentum war es gestattet, das Wahlrecht auszuüben. Zum anderen präsentierte sich Moskau als geopolitischer und ideologischer Rivale, als eine Alternative, wie arme Völker in die Moderne aufsteigen konnten, ohne den amerikanischen Pfad zu beschreiten.16

Doch gleich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg rückte der Antikommunismus durch eine Reihe von Ereignissen ins Zentrum der US-Politik, und das in einer neuen, äußerst fanatischen Gestalt.

Der real existierende Antikommunismus

Es begann in Europa, in Ländern und Gebieten, die vom Zweiten Weltkrieg verwüstet waren. Was die Führung in Washington nicht erfreute: Kommunistische Parteien gewannen die ersten Nachkriegswahlen in Frankreich wie auch in Italien.17 In Griechenland weigerten sich die kommunistisch geführten Partisanen, die gegen die Nazis gekämpft hatten, ihre Waffen abzugeben und die unter britischer Aufsicht eingesetzte Regierung anzuerkennen; es folgte ein Bürgerkrieg. Dann war da noch Westasien. Von der Türkei forderte die siegreiche Sowjetunion den Zugang zu zentralen Wasserstraßen und rief damit eine kleine politische Krise hervor. Im Iran, dessen nördliche Hälfte seit 1941 – aufgrund eines Abkommens mit den westlichen Alliierten – unter sowjetischer Kontrolle stand, war die kommunistisch geführte Tudeh-Partei zur größten und am besten organisierten politischen Gruppierung des Landes geworden; unterdessen forderten ethnische Minderheiten die Unabhängigkeit von einem Schah, der von den Briten eingesetzt war.

US-Präsident Truman hatte viel weniger Geduld mit der Sowjetunion als sein Vorgänger und setzte auf Konfrontation mit Stalin. Griechenland und die Türkei boten ihm die Möglichkeit dazu. Im März 1947 bat er den Kongress um zivile und militärische Unterstützung für beide Länder. In einer besonderen Ansprache umriss er, was als Truman-Doktrin bekannt werden sollte: »Die Existenz des griechischen Staates ist heute durch die terroristischen Aktionen von mehreren tausend bewaffneten Männern bedroht, die von Kommunisten angeführt werden«, sagte er. »Ich bin der Ansicht, dass es die Politik der Vereinigten Staaten sein muss, freie Völker zu unterstützen, die sich der Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von außen widersetzen.«18

Arthur Vandenberg, Vorsitzender des Senatsausschusses für Auswärtige Beziehungen, hatte Truman empfohlen: Um zu erreichen, was sie wollten, musste das Weiße Haus »das amerikanische Volk in Angst und Schrecken versetzen«. Der Rat wirkte Wunder. Truman befolgte ihn, die antikommunistische Rhetorik wurde noch verstärkt. Dem kam die Beschaffenheit des politischen Systems zugute, das deutliche Anreize zur Eskalation bot. Nach der Wiederwahl von Truman im Jahr 1948 lag es für die unterlegene Republikanische Partei politisch geradezu nahe, ihn als »nachsichtig gegenüber dem Kommunismus« zu beschuldigen. Doch er war alles andere als das.19

Die spezifische Art des Antikommunismus, die in diesen Jahren Gestalt annahm, beruhte zum einen auf Werturteilen wie etwa auf der in den USA weitverbreiteten Überzeugung, der Kommunismus sei einfach ein schlechtes System oder moralisch verwerflich, ganz unabhängig von seiner möglichen Wirksamkeit. Zum anderen stützte er sich auch auf eine Reihe von Behauptungen über den Charakter des internationalen Kommunismus unter sowjetischer Führung. So herrschte etwa der Glaube vor, Stalin wollte in Westeuropa einmarschieren. Es wurde weithin als Tatsache angesehen, dass die Sowjetunion weltweit die Revolution vorantrieb und überall dort, wo Kommunisten zugegen waren, und sei es nur in geringer Zahl, vermutlich geheime Pläne zum Sturz der Regierung vorlägen. Es galt als ausgemacht: Wo auch immer Kommunisten agierten, so taten sie dies im Auftrag der UdSSR, als Teil eines monolithischen Blocks, der nichts weniger war als eine globale Verschwörung zur Zerstörung des Westens. Das meiste davon war einfach nur falsch. Der Rest war größtenteils stark übertrieben.

Bedeutend ist der Fall Griechenland, jener Konflikt, den Truman wesentlich nutzte, um den Kalten Krieg in Gang zu setzen. Stalin instruierte die griechischen Kommunisten, sich zurückzuhalten und der von Großbritannien unterstützten Regierung die Kontrolle zu überlassen, nachdem die Nazis abgezogen waren.20 Die griechischen Kommunisten weigerten sich, diese Anweisung zu befolgen. Der Kampf gegen eine rechtsgerichtete Regierung, die sie zu zerschlagen drohte, war ihnen wichtiger als jede Loyalität zur Sowjetunion. Vergleichbar forderte die sowjetische Führung die italienischen und französischen Kommunisten auf, ihre Waffen niederzulegen (was sie auch taten), während die kommunistischen Kräfte Jugoslawiens gebeten wurden, ihre griechischen Genossen nicht mehr zu unterstützen, die Kontrolle über ihr Land abzugeben und sich mit Bulgarien zusammenzuschließen (was Jugoslawien unter der Führung Titos nicht tat, was wiederum zu einem so großen Zerwürfnis führte, dass Tito Stalin vorwarf, ihn töten zu wollen).21 Derweil ging die Führung der iranischen Tudeh-Partei davon aus, ihr Land sei nach dem Zweiten Weltkrieg reif für eine Revolution, während die Sowjetunion ihnen von einem Umsturz abriet. Und bereits 1946 hatte die UdSSR beschlossen, dass die Türkei der Mühe nicht wert sei. Kurz, die sowjetische Führung hatte keine Pläne für eine Invasion in Westeuropa. Stalin hielt sich in diesen Teilen der Welt freilich nicht aus Großzügigkeit oder aus tiefem Respekt vor dem Recht auf nationale Selbstbestimmung zurück. Vielmehr handelte er so, weil er in Jalta ein Abkommen mit den westlichen Mächten vereinbart hatte. Er war viel zu besorgt, die USA gegen sich aufzubringen, um die Vereinbarung zu brechen. Umso überraschter war er zu sehen, dass Washington so tat, als hätte er sich mit ihnen verfeindet.22

Die rechtsgerichtete griechische Regierung erhielt die Rückendeckung der Vereinigten Staaten, die einen britischen Verbündeten den linken Guerillas bei weitem vorzogen, und setzte eine neue Chemikalie ein, nämlich Napalm, die erst kurz zuvor in einem geheimen Labor der Harvard-Universität entwickelt worden war. Das Ziel war, jene Rebellen zu vernichten, die zuvor gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft hatten. Die griechischen Luftstreitkräfte, offiziell »Royal Hellenic Air Force« genannt, warfen den chemischen Kampfstoff über den grünen Bergen nahe der albanischen Grenze ab. Mit Blick auf Westeuropa, auf das sich die Herkunft aller bisherigen US-Regierungschefs zurückverfolgen lässt, führte Washington den Marshall-Plan ein, ein meisterhaft gestaltetes und äußerst wirkungsvolles wirtschaftliches Hilfspaket, das die dortigen, an sich reichen Länder auf den Weg zu einem kapitalistischen Wiederaufbau nach US-amerikanischem Vorbild brachte.23

Es gab viele Strömungen des Sozialismus, Marxismus und Kommunismus in der Welt, und selbst Parteien, die theoretisch loyal zur Sowjetunion standen, handelten unabhängig, wenn sie es für richtig hielten. Und der Marxismus als leitende Weltanschauung, auch die marxistisch-leninistische Variante Stalin’scher Prägung, schrieb sicherlich nicht vor, dass alle überall und jederzeit Revolution machen sollten. Der Sozialismus, so die Überzeugung, war gewiss nicht einfach zu haben, nur weil man ihn gerade wollte.

Bevor Marx selbst auf den Plan trat, gab es bereits eine Tradition von »utopischen Sozialisten«. Demgegenüber bestand einer der Hauptpunkte des Marxismus darin, die Vorstellung abzulehnen, man könne eine Welt, wie man sie will, einfach herbeiführen. Marx stellte eine Theorie auf, nach der sich Gesellschaften durch den Konflikt zwischen ökonomischen Klassen weiterentwickeln. Im »Kommunistischen Manifest« priesen Marx und Engels den Kapitalismus als revolutionäre Kraft: Das Auftreten der Bourgeoisie habe die Menschheit von den Fesseln des Feudalismus befreit und bis dahin nicht sichtbare Kräfte freigesetzt. Sie erwarteten, dass die neue Produktionsweise zur Entwicklung einer Arbeiterklasse führen würde, die dann ihrerseits in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die bürgerliche Herrschaft stürzen würde. So ist es in Europa zwar nicht gekommen, aber die Sowjets gingen weiterhin von dieser Theorie aus, das heißt vom Primat der Klassenentwicklung und der ökonomischen Verhältnisse. Anders gesagt: Man musste durch den Kapitalismus durch, um zum Sozialismus zu gelangen.

Schon lange vor der Russischen Revolution lehnten in Europa einige marxistisch geprägte Parteien, wie etwa die deutschen Sozialdemokraten, den revolutionären Weg ab und verpflichteten sich, die Interessen der Arbeiterklasse im Rahmen des Parlamentarismus zu vertreten. Selbst unter den explizit prosowjetischen Parteien in der neuen Kommunistischen Internationale, der »Komintern« (1919-1943), wurde die offizielle Ideologie unterschiedlich gehandhabt. Die konkrete Politik beruhte in der Regel auf einer Kombination aus den Möglichkeiten der realen Bedingungen, der Interpretation der marxistischen Lehrmeinung und geopolitischen Belangen.24

Ein Paradebeispiel dafür ist der Weg Chinas unter Mao Zedong. Die Komintern bot sowohl dessen Kommunistischer Partei als auch den von Chiang Kai-shek geführten Nationalisten Schulungen. Das Ziel war, sich jeweils entlang leninistischer Grundsätze zu organisieren, also streng diszipliniert und nach den Grundsätzen des »demokratischen Zentralismus«. Die chinesischen Kommunisten wurden von Moskau angeleitet, mit den Nationalisten in einer breiten »Einheitsfront« unmittelbar zusammenzuarbeiten, ein Ansatz, den die Komintern selbst auf den Weg gebracht hatte.25 Denn China war, so die Annahme, eine derart verarmte bäuerliche Gesellschaft, nicht annähernd auf dem Stand einer kapitalistischen Entwicklung, dass eine Revolution kaum möglich war.

Die Erfahrungen einer älteren kommunistischen Partei regten zu diesem Ansatz an. Ein Niederländer namens Henk Sneevliet, zuständig für die örtliche Komintern-Vertretung, hatte die Gründung der ersten kommunistischen Partei Asiens außerhalb des Gebietes des einstigen zaristischen Russlands unterstützt. Es war die Kommunistischen Partei Indonesiens, und Sneevliet war der Ansicht, dass die chinesische Partei von den erfolgreichen Erfahrungen der indonesischen Kommunisten bei der Zusammenarbeit mit der Massenbewegung »Sarekat Islam« (Islamische Vereinigung) lernen konnte.26 Demnach war es an Mao, die »bürgerlichen« Nationalisten zu unterstützen und beim Aufbau einer kapitalistischen Nation eine nachgeordnete Rolle zu spielen. Als loyaler Kommunist hielt er sich daran. Für die chinesische KP verlief das nicht optimal, 1927 wandte sich Chiang Kai-shek gegen sie. Beginnend mit einem Massaker in Shanghai töteten die nationalistischen Truppen in den kommenden Jahren in einer Welle des »Weißen Terrors« mehr als eine Million Menschen im ganzen Land. Ins Visier gerieten vor allem Kommunisten, Bauernführer und andere Organisatoren.27 Die chinesischen Kommunisten und die Nationalisten schlossen sich erneut bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen, um sich gegen die japanische Besatzung zur Wehr zu setzen, danach veranlasste Stalin die Kommunisten, sich wieder zurückzuziehen.28

In Osteuropa ging die sowjetische Führung anders vor, da sie dieses Gebiet als ihren rechtmäßigen Einflussbereich betrachtete: Zum einen hatte es die Rote Armee von den Nazis übernommen, zum anderen bildete es einen wichtigen Puffer gegen eine mögliche Invasion aus dem Westen. Nach der Verkündung der Truman-Doktrin und dem Beginn des Marshall-Plans fädelte Moskau in der Tschechoslowakei den Februarumsturz mit ein. Und auch die Westmächte zogen in den von ihren Armeen besetzten Gebieten alle Register. Als sich zeigte, dass in Italien und Frankreich die kommunistischen Parteien in freien Wahlen hohe Stimmenanteile verzeichnen würden, intervenierten die USA massiv in Westeuropa, um sicherzustellen, dass die Linken nicht an die Macht kommen würden. In Paris enthob die Regierung, die in hohem Maße von US-Finanzhilfen abhängig war, 1947 alle kommunistischen Minister ihrer Ämter.29 In Italien steckten die USA Millionen von Dollar an die Christdemokratische Partei durch und gaben weitere Millionen für antikommunistische Propaganda aus. Große Stars wie Frank Sinatra und Gary Cooper nahmen Werbespots für den US-Sender Voice of America auf. Washington organisierte eine riesige Briefkampagne von Italo-Amerikanern an Freunde und Verwandte in ihrem Herkunftsland. Serienbriefe enthielten Botschaften wie »Ein kommunistischer Sieg würde Italien in den Ruin treiben; die USA würden ihre Hilfe zurückziehen, wahrscheinlich mit der Folge eines Weltkriegs« oder »Wenn die Kräfte der wahren Demokratie die italienischen Wahlen verlieren, wird die US-Regierung keine Finanzhilfen mehr nach Italien senden«.30 Die Kommunisten verloren die Wahlen.

Ende der 1940er Jahre bestand das gesamte von der Roten Armee befreite Gebiet aus Staaten, die nur von einer Partei, der kommunistischen, geführt wurden; derweil war das gesamte von den Westmächten kontrollierte Gebiet, politisch eingenordet auf die USA, kapitalistisch ausgerichtet – jeweils unabhängig davon, was die Bevölkerung 1945 gewollt haben mag.

Nach einer berühmten Rede von Winston Churchill setzte sich im Westen ein Bild durch, wonach die sozialistischen Staaten Osteuropas hinter einem »Eisernen Vorhang« gelegen hätten. Laut Palmiro Togliatti, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, die jahrzehntelang populär bleiben sollte, waren die USA eine von unwissenden »Sklavenhaltern« geführte Nation, die nun im Begriff war, ganze Länder zu kaufen, so wie sie einst Menschen erworben hatte.31 Stalin war als Marxist-Leninist gewiss davon überzeugt, dass der Kommunismus über kurz oder lang obsiegen würde – gemäß historischen Gesetzmäßigkeiten. Auch deshalb, und weil die Sowjetunion durch den Krieg so geschwächt war, hatte er nicht die Absicht, in Westeuropa einzumarschieren. Seine eigene Theorie legte nahe, der nächste Weltkrieg würde zwischen den imperialistischen Westmächten ausbrechen.32

Doch in China beschloss Mao dieses Mal, sich über die Weisung Stalins hinwegzusetzen: Auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs ließ er nicht davon ab, einen Bürgerkrieg zu führen. 1949 besiegten die Seinen schließlich die Nationalisten, deren Bestechlichkeit, Brutalität und Inkompetenz ihre Hintermänner in Washington schon lange beunruhigt hatten. Wie bereits Ho Chi Minh im August 1945, so hatte sich auch Mao der Illusion hingegeben, er könne gute Beziehungen zu den USA unterhalten. Auch er hatte sich geirrt.33 Nach seinem Sieg führte der Ernstfall »Rotchina« in den Vereinigten Staaten zu heftigen Schuldzuweisungen.

Globaler McCarthyismus

Der McCarthyismus beziehungsweise die McCarthy-Ära ist nach dem US-Senator Joseph McCarthy benannt, der in den frühen 1950er Jahren für einen unbändigen Verfolgungseifer stand. Es galt, angebliche kommunistische Unterwanderungen von Regierungsbehörden ausfindig zu machen. Doch ein genauerer Blick zeigt: Es war eine Linie, die bereits bestand, bevor dieser Mann bekanntlich damit anfing, in betrunkenem Zustand Menschen vor der ganzen Nation zu maßregeln; und die Folgen dieser Politik hielten noch lange nach McCarthys Entlarvung als Lügner an.34 Das Komitee für Unamerikanische Umtriebe (House Un-American Activities Committee, HUAC; offiziell: House Committee on Un-American Activities) begann seine Tätigkeit 1938 und beendete sie erst 1975. Bei den berühmten öffentlichen Prozessen handelte es sich nicht bloß um reine »Hexenjagden«, bei denen eine Meute auf Personen losging, die gar nicht existierten; denn es gab sie tatsächlich: Kommunisten in den USA. Sie waren in Gewerkschaften, in Hollywood und in einigen Teilen der Regierung aktiv, und die Kommunistische Partei hatte viele schwarze und jüdische Mitglieder gewonnen. In den 1930er Jahren war die Partei nie besonders zugkräftig; was aber nach dem Zweiten Weltkrieg hinzukam: Kommunistinnen und Kommunisten waren nun vollkommen unerwünscht.

Der McCarthyismus war ein Top-down-Prozess, hauptsächlich gesteuert vom Weißen Haus und dem FBI. 1947 sprach FBI-Direktor J. Edgar Hoover, der großen Einfluss darauf hatte, eine antikommunistische Hoheitsmeinung hervorzubringen und zu verbreiten, vor dem Komitee für Unamerikanische Umtriebe – und das mit charakteristischen Ausführungen.35 Die Kommunisten planten, so Hoover, einen militärischen Aufstand im Land zu organisieren, der in der Auslöschung der Polizeikräfte und der Beschlagnahmung aller Kommunikationsmittel gipfeln würde. Er erklärte:

»Eines ist sicher. Der amerikanische Fortschritt, nach dem alle guten Bürger streben – wie etwa Alterssicherung, Häuser für Veteranen, Unterstützung für Kinder und vieles mehr – wird von den Kommunisten als Schaufensterdekoration aufgeboten, um ihre tatsächlichen Ziele zu verbergen und gutgläubige Anhänger einzufangen … Gemessen an der bloßen Zahl der Parteibücher ist ihre Stärke zu vernachlässigen … doch auf jedes Mitglied kommen zehn andere, die bereit, willens und fähig sind, die Arbeit der Partei zu tun. … Es besteht kein Zweifel daran, wem die Loyalität eines wahren Kommunisten gilt: Er steht treu zu Russland.«36

Hoover hatte eine sichere Todesfalle ersonnen: Wenn du bezichtigt wirst, Kommunist zu sein oder dem Kommunismus nahezustehen, ist keine Verteidigung mehr möglich. Und wenn du dich bloß für eine gemäßigte Sozialreform einsetzt? Nun ja, das entspricht doch genau dem Vorgehen eines Kommunisten, der seine eigentlichen Motive vernebelt. Und sind eure Mitgliederzahlen auch unbedeutend, so ist das nur ein weiterer Beweis für die Hinterhältigkeit, denn deine Genossen lauern schon im Halbdunkeln. Und wenn ihr viele seid und offen und stolz auftretet, so ist das ohnehin keinen Deut besser.

Als der McCarthyismus seinen Lauf nahm, wurde alles, was auch nur im Entferntesten nach Kommunismus roch, aus der feinen US-Gesellschaft verbannt. Ein junger Schauspieler namens Ronald Reagan zwang allen Mitgliedern der ›Screen Actors Guild‹, jener einflussreichen Gewerkschaft, der er damals vorstand, einen Treueschwur auf. Auf den maßgebenden Regierungsebenen waren alle, die noch im Amt waren, fanatische Antikommunisten – was bedeutete, dass einige der klügsten Fachleute im Außenministerium, dem diplomatischen Dienst der USA, hatten gehen müssen. Wegen des »Verlusts« Chinas an den Kommunismus wurden insbesondere langjährige Asienexperten linker Gesinnung verdächtigt.37

Ein brasilianischer Historiker fasste es so zusammen: Die USA hatten diese Ideologie nicht erfunden, aber in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Land zur globalen »Festung des Antikommunismus« ausgebaut, indem es beträchtliche Mittel für den Zweck aufwandte und als Bezugsgröße und Legitimationsquelle für gleichgesinnte Strömungen in der ganzen Welt diente.38

Ende der 1940er Jahre waren die Konturen, die die Erste und die Zweite Welt ausmachten, relativ klar herausgebildet. Indessen war die Zukunft der Dritten Welt noch im Fluss.

Das Axiom von Jakarta

Nach der Truman-Doktrin und dem Beginn des McCarthyismus stand außer Frage, dass Washington Kommunisten und kommunistischen Regierungen feindlich gesonnen war. Ganz gleich, was sich Ho Chi Minh und Mao 1945 erhofft hatten, auf der Weltbühne hieß man sie nicht willkommen. Weniger klar war, wie die Verantwortlichen in Washington mit einer immer häufigeren Konstellation umgehen würden, nämlich mit einer wachsenden Welle radikaler Bewegungen in der Dritten Welt, die sich gegen den europäischen Imperialismus wandten, zugleich nicht kommunistisch waren, sich aber weigerten, mit den USA ein explizites Bündnis gegen Moskau einzugehen. Die Führungen vieler Unabhängigkeitsbewegungen der Dritten Welt ordneten die USA deren imperialistischen Verbündeten in Westeuropa zu; andere sahen die Sowjetunion im Kampf gegen den Kolonialismus freundschaftlich an ihrer Seite. Auch wenn sie sich von den Sowjets nichts vorschreiben lassen wollten, so waren sie doch über jeden Verbündeten froh.

1948 schien der Ausgang eines kleineren Machtkampfes im ehemaligen Niederländisch-Ostindien – auch: Niederländisch-Indien – eine Lösung zu bieten. Auf der Insel Java kämpften Kräfte einer Unabhängigkeitsbewegung gegen eine Armee, die die Niederlande entsandt hatten, um ihre einstigen Kolonien in Südostasien zurückzuerobern. Die Niederlande hatten diesen riesigen Archipel im Zweiten Weltkrieg an die Japaner verloren und weigerten sich, die 1945 vor Ort errichtete Regierung anzuerkennen. Während des Unabhängigkeitskrieges kam es im Stadtgebiet von Madiun in der Provinz Ostjava zu Zusammenstößen innerhalb der revolutionären Bewegung, und zwar zwischen rechtsgerichteten republikanischen Kräften und Kommunisten. Letztere wurden mit Unterstützung des Unabhängigkeitsführers Sukarno besiegt, und der Vorsitzende der KP Indonesiens wurde während der sogenannten Madiun-Ereignisse getötet.39 Die riesige Nation, die Sukarno nach der endgültigen Vertreibung der Niederländer im Jahr 1949 anführen sollte und die nun Indonesien hieß, galt als bereitwillig genug, kommunistische Aufstände niederzuschlagen, um für die Vereinigten Staaten langfristig von Nutzen zu sein.

Das außenpolitische Establishment unter US-Präsident Truman betrachtete Sukarnos aufstrebendes Indonesien als Musterbeispiel für eine antikoloniale Bewegung, die hinreichend antikommunistisch war. Und so wurde der Name seiner Hauptstadt, Jakarta, zum Symbol für den Grundsatz der Toleranz gegenüber neutralen Ländern der Dritten Welt. Um mit Odd Arne Westad, der zum Kalten Krieg forscht, zu sprechen: Washington machte sich das »Jakarta-Axiom« zueigen.40

Doch diese Haltung war fragil, und auch die tatsächlichen Maßnahmen der Vereinigten Staaten waren für die führenden Köpfe der neuen Dritten Welt nicht zufriedenstellend. Ein junger Kongressabgeordneter aus Massachusetts namens John F. Kennedy brachte die Neugier, den Ehrgeiz und das Geld mit, um die Welt zu bereisen und zu versuchen, sich ein Bild von den Einstellungen der Menschen zu machen. Was er zu hören bekam, war eine Flut von Beschimpfungen, die es in sich hatten.

Kennedy, genannt Jack oder JFK, war ein seltener Vogel unter der US-Elite. Er war Katholik, und er war weit mehr als der »erste irische Brahmane«: Er war der erste am Hofe Washingtons, der aus der Masse jener Menschen stammte, die verarmt eingewandert und nicht als Kolonisatoren ins Land gekommen waren.41 Sein Vater, Joseph »Joe« Kennedy, hatte gegen Vorurteile und Fährnisse gekämpft, als er ein riesiges Vermögen im Finanz- und Immobilienbereich aufbaute. Als der junge Jack in den Zweiten Weltkrieg zog, hatte er bereits eine größere Tour durch Europa hinter sich, hatte große Teile Südamerikas bereist und seinen Abschluss in Harvard gemacht.

Joe Kennedy verstand eine grundlegende Wahrheit über politische Macht in den USA: Sie ist käuflich. Einem seiner Cousins zufolge gab er eine »schwindelerregende Summe« aus, als Jack 1946 zu den Kongresswahlen antrat. »Politik ist wie Krieg«, erklärte er zwei Journalisten. »Es braucht drei Dinge, um zu gewinnen: erstens Geld, zweitens Geld und drittens noch einmal Geld.« Joes Mitarbeiter händigte Bargeld sicherheitshalber gerne in öffentlichen Toiletten aus.42 Jack, von seinem Umfeld – wie schon der Vater – als Playboy gesehen, gewann mühelos. Aber die US-Politik lässt sich nicht mit Geld allein betreiben – es bedurfte auch einer anhaltenden Unterstützung der Öffentlichkeit. Die Stimmung seiner katholischen Wählerschaft aus der Arbeiterklasse brachte ihn auf einen »liberalen« Weg, und zwar in ein Bündnis mit denjenigen, die die Politik des New Deal eines Franklin Delano Roosevelts unterstützt hatten.

Aber Jack ließ sich keinesfalls mit den Roten ein: »Die Zeit ist gekommen«, erklärte er während seines ersten Wahlkampfes, »in der wir Klartext über das große Problem sprechen müssen, mit dem die Welt heute konfrontiert ist. Das Problem heißt Sowjetrussland«.43 Er sah die Gewerkschaften als egoistisch und von Kommunisten unterwandert an und ließ dies ihre Mitglieder bei Anhörungen des Kongresses wissen. Und als 1954 ein Sonderausschuss des Senats empfahl, Joseph McCarthy wegen Verstoßes gegen Senatsvorschriften zu verurteilen, war John F. Kennedy der einzige Vertreter der Demokraten, der nicht gegen ihn stimmte.44 Und doch: Vielleicht weil er so weit gereist war oder weil er Ire war und eine Ahnung davon hatte, wie es ist, aus einem unterdrückten Volk zu kommen, betrachtete JFK die Dritte Welt anders als die meisten der Washingtoner Elite. Während viele andere jede Abweichung von einem expliziten Bündnis mit den USA als kommunistische Unterwanderung der globalen Ordnung verstanden, glaubte er: Es war vollkommen verständlich, dass die aufstrebenden Nationen auf ihrem Recht bestanden, ihren eigenen Weg zu gehen.

1951 unternahm er eine Reise nach Marokko, in den Iran, nach Ägypten, Indochina, Britisch-Malaya, Birma (heute: Myanmar), Indien und Pakistan – und kam zu dem Schluss: Die Vereinigten Staaten hätten die Bedeutung »nationaler Leidenschaften« nicht verstanden hatten, »die sich in erster Linie gegen die Kolonialpolitik des Westens richten«.45

Später im selben Jahr unternahm er eine weitere seiner langen Reisen, diesmal nach Israel, in den Iran, nach Pakistan, Singapur, Französisch-Indochina, Korea, Japan und Indonesien. Seiner Beobachtung nach gehörten die USA »definitiv zu den imperialistischen Mächten, wie die Europas«. Washington müsse sich dringend mit den aufstrebenden Nationen verbünden, was aber schwierig sei, weil die USA »nach Ansicht der Menschen mehr und mehr kolonialistisch agieren«.46

Mit Blick auf die Situation in Vietnam gab er zu bedenken, die Vereinigten Staaten würden sich »mit dem verzweifelten Versuch des französischen Regimes gemein machen, an den Überresten des Imperiums festzuhalten«. Und: »Eines haben mich meine Erfahrungen bis hin nach Fernost gelehrt: Dem Kommunismus ist nicht allein mit Waffengewalt zu begegnen.«47

Doch es war in Indien, wo Jack und seinem Bruder Bobby – also Robert F. Kennedy – eine regelrechte Lektion erteilt wurde, und zwar von jemandem, der auf der globalen Bühne gewissermaßen für die neue Führungsklasse stand: Jawaharlal Nehru, Indiens erster Premierminister, setzte sich – wie auch Gamal Abdel Nasser, der 1952 in Ägypten an die Macht kam – für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ein. Sie lehnten beide das leninistische Modell ab und wollten ihren eigenen Weg gehen, aber wenn es hart auf hart kam, zogen sie es meist vor, sich mit der Sowjetunion zusammenzutun anstatt mit den USA und deren europäischen Verbündeten. Selbst wenn er von den unheilvollsten Geschehnissen der 1930er Jahre in der UdSSR gewusst hätte, so wäre Nehru kaum vorzuwerfen gewesen, den westlichen Mächten misstraut zu haben. Während des Zweiten Weltkriegs verursachte die britische Politik eine Hungersnot, der vier Millionen Menschen zum Opfer fielen. Nichtsdestotrotz gab der britische Premierminister Winston Churchill den Indern die Schuld an der Hungerkatastrophe, da sich diese »wie die Karnickel« vermehrten, und fragte, warum Gandhi, den er zutiefst verachtete, noch nicht verendet sei.48

Als Jack und zwei seiner jüngeren Geschwister 1951 mit Nehru zu Abend aßen, habe der indische Staatschef, wie Bobby Kennedy berichtete, gleichsam herrisch, gelangweilt und unbeeindruckt gewirkt, sein Interesse habe nur der Kennedy-Schwester Pat gegolten. Als JFK Nehru nach Vietnam fragte, habe der Inder den französischen Krieg als Beispiel für einen Kolonialismus abgetan, der dem Untergang geweiht sei. Die USA würden ihre Hilfsgelder in ein »Fass ohne Boden« schütten. Behutsam, wie gegenüber Kindern, habe Nehru die Kennedys belehrt, so die Tagebuchnotizen eines verärgerten Bobby: Der Kommunismus biete den Menschen in der Dritten Welt »etwas, wofür es sich zu sterben lohne«. »Wir«, also die USA, hätten ihnen dagegen »nur den Status quo zu bieten«.49

›Smiling Jones‹ und die Spinner von Wisner

Als sich die Vereinigten Staaten ihrer beispiellosen globalen Macht bewusst wurden, gab es einige Möglichkeiten, wie die Regierung mit dem Rest der Welt verfahren konnte. Der Präsident war für das Pentagon beziehungsweise das Kriegsministerium (Department of War) zuständig, das bald in »Verteidigungsministerium« umbenannt wurde. Es gab das State Department, also das Außenministerium samt diplomatischem Dienst der USA, das seit 1789 existierte. Aber es gab keinen dezidierten Spionagedienst, keine feste Einrichtung, die Informationen im Ausland sammelte und die befugt war, geheime oder verdeckte Operationen durchzuführen, die den Lauf der Dinge in der Welt verändern sollten. Die USA verfügten nicht über die jahrhundertelange Erfahrung der Briten, wie ein globales Imperium zu führen ist, und auch nicht über die der Sowjets, die sich in der Kunst der nachrichtendienstlichen Selbstverteidigung auf die Fertigkeiten des russischen Reiches stützen konnte. Doch Washington stellte in kürzester Zeit einen neuen Geheimdienst auf, den es dank des enormen Reichtums des Landes großzügig finanzierte und mit jungen Männern ausstattete, die während des Zweiten Weltkriegs im Ausland ihre Lektionen gelernt hatten.

Zu den wichtigsten Neueinstellungen gehörte Frank Wisner, der immer eine Geschichte auf Lager hatte, um zu erklären, warum er gerade was für die US-Regierung tat. Wisner war im September 1944 nach Rumänien geflogen, um dort als Verbindungsbeamter für das Office of Strategic Services (OSS) zu arbeiten, den vorläufigen Nachrichtendienst, der während des Krieges eingerichtet wurde. Kaum dort, hörte und glaubte er, dass die Sowjets die Kontrolle über das Land anstrebten. Doch seine Vorgesetzten daheim waren nicht gerade in der Stimmung zu erfahren, dass einer der Alliierten nichts Gutes im Schilde führte. Im Januar 1945 verfügte Stalin, dass Tausende deutschstämmige Männer und Frauen zwecks Reparationen in die Sowjetunion gebracht werden sollten, um sie »zur Arbeit zu mobilisieren«. Wisner kannte einige von ihnen persönlich. Als die Zwangsevakuierung begann, sei er, so seine Erzählung, verzweifelt durch die Stadt gefahren und habe versucht, sie in Sicherheit zu bringen – ohne Erfolg. Tausende von Menschen seien in Güterwaggons gedrängt und in Arbeitslager geschickt worden. Laut seiner Familie verfolgten ihn diese Szenen für den Rest seines unruhigen Lebens.50

Wisner, mitunter bloß »Wiz« genannt, wurde 1909 als Sohn einer wohlhabenden Familie mit viel Landbesitz in Mississippi geboren, einem der Bundesstaaten im Süden der USA, in dem die rassistischen Jim-Crow-Gesetze galten. Er wuchs in einem abgeschirmten, privilegierten Haushalt auf. Laut Familienzeugnissen zog er sich als Kind noch nicht einmal selbst an – er legte sich hin, hob Arme und Beine hoch, und das schwarze Dienstmädchen zog ihm Hemd und Hose an.51 Franks Lieblingsbuch war »Kim« von Rudyard Kipling, das die Geschichte des Titelhelden vor dem Hintergrund des »Great Game« zwischen dem britischen Empire und dem Russischen Reich erzählt.52 Wiz wurde auf die aristokratische Woodberry Forest School in Virginia geschickt. Er trainierte verzweifelt mit Hanteln, um aus seiner zarten Gestalt etwas mehr zu machen. Er war ohnehin sehr ehrgeizig. An der University of Virginia wurde er in die Sevens aufgenommen, eine Geheimgesellschaft, die die Namen ihrer Mitglieder erst nach deren Tod preisgab. Er war meist angespannt, konnte aber auch aufleben, vor allem auf Partys, auf denen reichlich Alkohol floss. Wiz wurde Anwalt an der Wall Street – bei einer Firma für etwas erlesenere Kundschaft. Ein Jahr bevor Japan die USA in Pearl Harbor angriff, meldete er sich, rastlos und angetrieben von einem intensiven Moralgefühl, bei der Marine.53

Das OSS engagierte gerne Elitejuristen und Unternehmensanwälte aus den besten Schulen, und Wisner passte in dieses Schema. Mit Hilfe eines alten Professors stieg er beim Geheimdienst ein und fühlte sich dort wie ein Fisch im Wasser. In Rumänien trug er nicht nur Informationen zusammen und versuchte nicht bloß, Deutsche zu retten. Er verkehrte mit der Belle Etage, trank und tanzte, bewohnte ein Herrenhaus und verblüffte mit Zaubertricks.54 Er pflegte auch Kontakte zu erfahreneren sowjetischen Agenten. Nachdem er Rumänien verlassen hatte, wurde klar, dass russische Kundschafter seine gesamte Operation infiltriert hatten.55

Nach dem Krieg zurück an der Wall Street, war Wisner erneut lust- und antriebslos, bis er die Gelegenheit beim Schopfe ergriff: wieder seinem Land zu dienen und Kommunisten zu bekämpfen.56 Er übernahm eine neue Organisation für verdeckte Operationen, unverfänglich Office of Policy Coordination (OPC, Politische Koordinierungsstelle) genannt, und begann, in Berlin aktiv zu werden.

Zur gleichen Zeit kam ein ganz anderer Mann in Berlin an, und zwar in Begleitung von Allen Dulles, Wisners altem OSS-Vorgesetzten. Es war ein gewisser Howard Palfrey Jones, der im entgegengesetzten Zweig des außenpolitischen Apparats der USA arbeitete. Jones war Diplomat und Veteran, der die Brutalität des NS-Regimes schon früh miterlebt hatte. Bei einer Reise nach Deutschland im Jahr 1934 wurde er von uniformierten Nazis geschlagen, weil er es versäumt hatte, vor deren Flagge ordnungsgemäß zu salutieren.57 Er war bereits ein erwachsener Mann, als der Zweite Weltkrieg begann, und diente auf deutschem Boden. Unmittelbar nach dem Krieg trat er seinen Dienst beim State Department an. Gegenüber dem eingefleischten Kreuzritter Wisner hatte Jones ein grundverschiedenes Herangehen an die übrige Welt. Anstatt jede Situation durch die Brille eines globalen Schwarz-Weiß-Kampfes zu betrachten, versuchte er, sich intensiv mit der Komplexität jeder Situation auseinanderzusetzen. Und, ganz nebenbei, verbrachte er eine herrliche Zeit.

Auf fast allen Fotos sieht Howard Palfrey Jones wie ein großer, gutmütiger, fast ein wenig dusseliger Spaßvogel aus. Mit seinem breiten