Die Kartause von Parma - Stendhal - E-Book

Die Kartause von Parma E-Book

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Beschreibung

»Die Kartause von Parma« ist ein Roman des französischen Schriftstellers Stendhal aus dem Jahr 1839. Stendhal (Synonym für Marie-Henri Beyle) war Schriftsteller, Militär und Politiker und gilt heute als einer der frühesten Vertreter des literarischen Realismus. Er kreierte mit »Die Kartause von Parma« einen romantischen Mythos seines Traumlandes Italien. Die Geschichte beginnt 1796 in Mailand, nachdem Napoleon die Stadt erobert hat. Der junge Fabrizzio begrüßt die französische Armee als Befreier von politischer Rückständigkeit, sein Vater, der Marchese del Dongo, und sein älterer Bruder Ascanio hassen die Eroberer. Schließlich meldet sich Fabrizzio als Freiwilliger in die Armee von Napoleon und kämpft in der Schlacht bei Waterloo. Liebesabenteurer und Eskapaden nötigen Fabrizzio zu einem Leben auf der Flucht. In einer Schlägerei tötet er den eifersüchtigen Liebhaber einer Angebeteten. Intrigen am Hof führen dazu, dass er vor Gericht gestellt wird. Dort droht ihm ein folgenschweres Urteil. Die Volten der Handlung sorgen für Tempo und Unterhaltung.»Die Kartause von Parma« ist historischer Roman und eine große Liebesgeschichte der Weltliteratur. Kriegswirren, Ränkespiele, Niedertracht, Eitelkeit, Giftmord, Zynismus und Abenteuerhunger - alles findet sich in diesem sinnesvollen Buch, das das letzte vollendete Werk von Stendhal blieb und ihm als Einziges zu Lebzeiten Aufmerksamkeit einbrachte. Balzac war ein leidenschaftlicher Verehrer der Geschichte, über die Herzogin Gina schrieb er: »Die Herzogin ist eine jener herrlichen Statuen, die uns die Kunst bewundern und zugleich die Natur verwünschen lassen, weil sie mit solchen Modellen geizt.« Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 903

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Stendhal

Die Kartause von Parma

Stendhal

Die Kartause von Parma

(La Chartreuse de Parme)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Arthur Schurig EV: Insel-Verlag, Leipzig, 1934 2. Auflage, ISBN 978-3-954185-03-0

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Nach­wort und An­mer­kun­gen des Über­set­zers zur Ge­schich­te des Ro­mans

Dan­ke

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Der Graf von Mon­te Chri­sto

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Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Das Buch

»Die Kar­tau­se von Par­ma« ist ein Ro­man des fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers Stendhal aus dem Jahr 1839. Stendhal (Syn­onym für Ma­rie-Hen­ri Bey­le) war Schrift­stel­ler, Mi­li­tär und Po­li­ti­ker und gilt heu­te als ei­ner der frü­he­s­ten Ver­tre­ter des li­te­ra­ri­schen Rea­lis­mus. Er kre­i­er­te mit »Die Kar­tau­se von Par­ma« einen ro­man­ti­schen My­thos sei­nes Traum­lan­des Ita­li­en.

Die Ge­schich­te be­ginnt 1796 in Mai­land, nach­dem Na­po­le­on die Stadt er­obert hat. Der jun­ge Fa­briz­zio be­grüßt die fran­zö­si­sche Ar­mee als Be­frei­er von po­li­ti­scher Rück­stän­dig­keit, sein Va­ter, der Mar­che­se del Don­go, und sein äl­te­rer Bru­der As­ca­nio has­sen die Ero­be­rer. Schließ­lich mel­det sich Fa­briz­zio als Frei­wil­li­ger in die Ar­mee von Na­po­le­on und kämpft in der Schlacht bei Wa­ter­loo.

Lie­bes­aben­teu­rer und Es­ka­pa­den nö­ti­gen Fa­briz­zio zu ei­nem Le­ben auf der Flucht. In ei­ner Schlä­ge­rei tö­tet er den ei­fer­süch­ti­gen Lieb­ha­ber ei­ner An­ge­be­te­ten. Int­ri­gen am Hof füh­ren dazu, dass er vor Ge­richt ge­stellt wird. Dort droht ihm ein fol­gen­schwe­res Ur­teil.

Die Vol­ten der Hand­lung sor­gen für Tem­po und Un­ter­hal­tung.»Die Kar­tau­se von Par­ma« ist his­to­ri­scher Ro­man und eine große Lie­bes­ge­schich­te der Welt­li­te­ra­tur.

Kriegs­wir­ren, Rän­ke­spie­le, Nie­der­tracht, Ei­tel­keit, Gift­mord, Zy­nis­mus und Aben­teu­er­hun­ger – al­les fin­det sich in die­sem sin­nes­vol­len Buch, das das letz­te vollen­de­te Werk von Stendhal blieb und ihm als Ein­zi­ges zu Leb­zei­ten Auf­merk­sam­keit ein­brach­te.

Balzac war ein lei­den­schaft­li­cher Ver­eh­rer der Ge­schich­te, über die Her­zo­gin Gina schrieb er: »Die Her­zo­gin ist eine je­ner herr­li­chen Sta­tu­en, die uns die Kunst be­wun­dern und zu­gleich die Na­tur ver­wün­schen las­sen, weil sie mit sol­chen Mo­del­len geizt.«

»Da wer­den wir wohl nicht zu knapp Trä­nen aus schö­nen Au­gen zu se­hen krie­gen!« sag­te er sich und rieb sich schmun­zelnd die Hän­de. »Sie kommt, um Gna­de zu er­fle­hen. End­lich duckt sich die­se stol­ze Schön­heit! Sie war auch nach­ge­ra­de un­er­träg­lich mit ih­rem über­le­ge­nen Ge­ha­be. Ihre Au­gen ka­men mir im­mer vor, als woll­ten sie mir beim ge­rings­ten An­laß, wenn ihr et­was nicht paß­te, sa­gen: ›Nea­pel oder Mai­land sind doch viel net­te­re Orte zum Le­ben als dies klein­städ­ti­sche Par­ma!‹ Über Nea­pel und Mai­land re­gie­re ich nun ein­mal nicht. Aber die hohe Dame kommt doch schließ­lich, mich um et­was zu bit­ten, was le­dig­lich von mir ab­hängt und wor­auf sie brennt. Ich habe im­mer ge­meint, ir­gend­ei­nen Vor­teil wird mir die An­kunft ih­res Nef­fen doch brin­gen.«

»Ich bin Stendhal wie kaum ir­gend­wem ver­pflich­tet: ich ver­dan­ke ihm die Kennt­nis des Krie­ges. Wer vor ihm hat den Krieg auf die­se Wei­se ge­schil­dert, das heißt so, wie er wirk­lich ist?...« [Tol­stoi]

»Die Kar­tau­se von Par­ma« ist der mo­der­ne »Fürst«, wie ihn Ma­chia­vel­li heu­te schrei­ben wür­de« [Balzac]

Erstes Kapitel

Am 15. Mai 1796 hielt der Ge­ne­ral Bo­na­par­te sei­nen Ein­zug in Mai­land an der Spit­ze je­ner jun­gen Ar­mee, die un­längst die Brücke von Lodi über­schrit­ten und der Welt ge­zeigt hat­te, daß Cäsar und Alex­an­der nach so vie­len Jahr­hun­der­ten einen Nach­fol­ger hat­ten.

Die Wun­der von Hel­den­tum und Ge­nie, de­ren Zeu­ge Ita­li­en ge­wor­den, rüt­tel­ten das Volk rasch aus sei­nem Schlaf. Noch acht Tage vor dem Ein­rücken der Fran­zo­sen hat­ten die Mai­län­der in ih­nen nur Bri­gan­ten­ge­sin­del ge­se­hen, das vor den Trup­pen Sei­ner Kai­ser­li­chen und Kö­nig­li­chen Ma­je­stät im­mer Reiß­aus nahm. So we­nigs­tens wie­der­hol­te es ih­nen drei­mal wö­chent­lich ein hand­großes, auf schlech­tem Pa­pier ge­druck­tes Zei­tungs­blatt.

Im Mit­tel­al­ter hat­ten die Mai­län­der eine Tap­fer­keit be­wie­sen, die der fran­zö­si­schen wäh­rend der Re­vo­lu­ti­on eben­bür­tig war und es ver­dient, daß ihre Stadt von den deut­schen Kai­sern der Erde gleich­ge­macht ward. Seit­dem sie sich aber in ge­treue Un­ter­ta­nen ver­wan­delt hat­ten, be­stand ihre Haupt­tä­tig­keit dar­in, So­net­te auf Ta­schen­tü­cher aus ro­sen­ro­ter Sei­de dru­cken zu las­sen, wenn sich eine Toch­ter aus dem oder je­nem rei­chen oder vor­neh­men Hau­se ver­hei­ra­te­te. Zwei oder drei Jah­re nach die­sem wich­ti­gen Ab­schnitt ih­res Le­bens nahm die jun­ge Dame einen Ci­cis­beo,1 ja bis­wei­len prang­te der Name des von der Fa­mi­lie des Gat­ten er­ko­re­nen Beglei­ters schon mit im Ehe­ver­trag. Es war ein Rie­sen­sprung von die­sen ver­weich­lich­ten Sit­ten zu den ge­wal­ti­gen Er­re­gun­gen, die das un­er­war­te­te Er­schei­nen des fran­zö­si­schen Hee­res ver­ur­sach­te. So­gleich ka­men neue und lei­den­schaft­li­che Zu­stän­de auf. Am 15. Mai 1796 ward ein gan­zes Volk plötz­lich ge­wahr, daß al­les, was es bis da­hin ge­ach­tet hat­te, höchst lä­cher­lich und mit­un­ter ver­ächt­lich war. Der Ab­marsch des letz­ten ös­ter­rei­chi­schen Re­gi­ments be­zeich­ne­te den Sturz der al­ten An­schau­un­gen. Sein Le­ben aufs Spiel zu set­zen, kam in Mode. Nach Jahr­hun­der­ten voll Frömm­ler­tum und fa­der Lie­be­lei er­kann­te man, daß man, um glück­lich zu sein, et­was mit erns­ter Lei­den­schaft lie­ben und im Not­fall sein Le­ben in die Schan­ze schla­gen müs­se. Lan­ge, tie­fe Nacht hat­te seit der ei­fer­süch­ti­gen Ge­walt­herr­schaft Karls V. und Phil­ipps II. ge­herrscht. Man stürz­te ihre Bild­säu­len, und mit ei­nem Male war al­les von Licht um­flu­tet. In den letz­ten fünf­zig Jah­ren, wäh­rend die Ide­en­welt der En­zy­klo­pä­dis­ten und Vol­tai­res im­mer tiefer Wur­zel schlug, hat­ten die Mön­che dem lie­ben Mai­län­der ge­pre­digt, daß Le­sen und sonst et­was Ler­nen eine recht über­flüs­si­ge Mühe sei. Wenn man nur sei­nem Pfar­rer ge­wis­sen­haft den Zehn­ten ent­rich­te und ihm jede klei­ne Sün­de ge­treu­lich beich­te, so dür­fe man mit ziem­li­cher Be­stimmt­heit auf ein herr­li­ches Plätz­chen im Pa­ra­die­se rech­nen. Um das ehe­mals furcht­ba­re und un­bot­mä­ßi­ge Volk vollends zu schwä­chen, hat­te ihm Ös­ter­reich um ge­rin­ge Ge­gen­leis­tung das Vor­recht ver­kauft, dem kai­ser­li­chen Hee­re kei­ne Re­kru­ten zu stel­len.

Anno 1796 be­stand die Be­sat­zung von Mai­land aus vier­und­zwan­zig ro­trö­cki­gen Ta­ge­die­ben, die im Ve­rein mit vier präch­ti­gen un­ga­ri­schen Gre­na­dier­re­gi­men­tern die Stadt hü­te­ten. Die Frei­heit der Sit­ten war zü­gel­los, aber Lei­den­schaft et­was sehr Sel­te­nes. Ab­ge­se­hen von der Un­be­quem­lich­keit, den Pries­tern al­les beich­ten zu müs­sen, wenn man nicht schon in die­ser Welt zu­grun­de ge­hen woll­te, schmach­te­ten die bra­ven Mai­län­der üb­ri­gens noch in ge­wis­sen klei­nen mon­ar­chi­schen Fes­seln, die nicht we­ni­ger un­an­ge­nehm wa­ren. So war zum Bei­spiel der Erz­her­zog, der sei­nen Sitz in Mai­land hat­te und im Na­men des Kai­sers, sei­nes Vet­ters, schal­te­te und wal­te­te, auf den ge­winn­brin­gen­den Ein­fall ge­kom­men, Ge­trei­de­han­del zu trei­ben. Die Bau­ern durf­ten ihr Korn erst ver­kau­fen, wenn die Spei­cher Sei­ner Ho­heit ge­füllt wa­ren.

Im Mai 1796, drei Tage nach dem Ein­zug der Fran­zo­sen, hör­te ein jun­ger, et­was när­ri­scher Mi­nia­tur­ma­ler, der spä­ter be­rühmt ge­wor­de­ne Gros,2 da­mals Schlach­ten­bumm­ler im Ge­fol­ge des Hee­res, im Café dei Ser­vi (das der­zeit in Mode war) von den Ma­chen­schaf­ten des sehr be­leib­ten Erz­her­zogs er­zäh­len. Er nahm das Preis­ver­zeich­nis der Eis­sor­ten, das auf ei­nem Blatt gro­ben gel­ben Pa­piers ge­druckt war, und zeich­ne­te auf die Rück­sei­te den di­cken Erz­her­zog, dem ge­ra­de ein fran­zö­si­scher Sol­dat sein Ba­jo­nett in den Bauch stieß. Statt Blut ent­ström­te der Wun­de un­glaub­lich viel Ge­trei­de. Was man Witz und Ka­ri­ka­tur zu nen­nen pflegt, war in je­nem Lan­de des schlau­en De­spo­ten­tums et­was Un­be­kann­tes. So staun­te man das von Gros auf dem Tisch im Kaf­fee­haus lie­gen ge­las­se­ne Spott­bild wie ein vom Him­mel her­ab­ge­fal­le­nes Wun­der­ding an. Über Nacht ward es in Kup­fer ge­sto­chen und an­dern­tags in zwan­zig­tau­send Ab­zü­gen ver­kauft.

Am näm­li­chen Tage ver­kün­de­ten Mau­er­an­schlä­ge die Er­he­bung ei­ner Kriegs­steu­er von sechs Mil­lio­nen Fran­ken für die Be­dürf­nis­se der fran­zö­si­schen Ar­mee, die bin­nen kur­z­em sechs Schlach­ten ge­won­nen und ein Dut­zend Pro­vin­zen er­obert hat­te, aber Man­gel an Stie­feln, Ho­sen, Rö­cken und Kopf­be­de­ckun­gen litt.

Das Maß von Glück und Freu­de, das mit die­sen so ar­men Fran­zo­sen in die Lom­bar­dei drang, war so groß, daß nur die Geist­lich­keit und et­li­che Ad­li­ge die Bür­de die­ser Auf­la­ge von sechs Mil­lio­nen emp­fan­den, der bald noch man­che an­de­re fol­gen soll­te. Die fran­zö­si­schen Sol­da­ten lach­ten und san­gen den lie­ben lan­gen Tag. Sie wa­ren alle noch kei­ne fünf­und­zwan­zig Jah­re alt, und ihr Ober­ge­ne­ral galt mit sei­nen sie­ben­und­zwan­zig für den äl­tes­ten Mann im Heer. Die­ser Froh­sinn, die­se Ju­gend und Sorg­lo­sig­keit stan­den in drol­li­gem Wi­der­spruch zu den grim­mi­gen Pro­phe­zei­un­gen der Mön­che, die seit ei­nem hal­b­en Jah­re von der Kan­zel her­ab ver­kün­det hat­ten, die Fran­zo­sen sei­en Un­ge­heu­er, bei To­dess­tra­fe ver­pflich­tet, al­les nie­der­zu­bren­nen und alle Welt um einen Kopf kür­zer zu ma­chen. Je­des Re­gi­ment füh­re dazu eine Guil­lo­ti­ne mit sich.

Auf dem Lan­de sah man vor den Tü­ren der Bau­ern­häu­ser die fran­zö­si­schen Sol­da­ten sit­zen und das Jüngs­te ih­rer Quar­tier­wir­tin in den Schlaf wie­gen, und fast all­abend­lich im­pro­vi­sier­te ir­gend­ein Gei­ge spie­len­der Tam­bour ein Tanz­fest. Da die Kon­ter­tän­ze viel zu ge­lehrt und schwie­rig wa­ren, als daß die Sol­da­ten, die sie sel­ber nicht recht konn­ten, sie den Lom­bar­din­nen bei­zu­brin­gen ver­moch­ten, so lehr­ten die­se viel­mehr die jun­gen Fran­zo­sen die Mon­fer­rina, die Sal­ta­ro­la und an­de­re ita­lie­ni­sche Tän­ze.

Die Of­fi­zie­re wa­ren, so­weit mög­lich, bei rei­chen Leu­ten un­ter­ge­bracht. Sie be­durf­ten tat­säch­lich ei­ni­ger Auf­bes­se­rung. So hat­te zum Bei­spiel ein Leut­nant na­mens Ro­bert einen Quar­tier­zet­tel für den Palast der Mar­che­sa del Don­go er­hal­ten. Die­ser Of­fi­zier, ein flot­ter, jun­ger Aus­ge­ho­be­ner, nann­te bei sei­ner Ein­kehr in die­ses Her­ren­haus nichts sein ei­gen als ein Sechs­fran­ken­stück, das er in Pia­cen­za be­kom­men hat­te. Nach dem Über­gang über die Brücke von Lodi hat­te er ei­nem fe­schen ge­fal­le­nen ös­ter­rei­chi­schen Of­fi­zier ein Paar präch­ti­ge, na­gel­neue Nan­king­ho­sen ab­ge­nom­men, just zu ge­le­ge­ner Zeit. Sei­ne Of­fi­zier­se­pau­let­ten wa­ren von Wol­le, und das Tuch sei­nes Feldrockes war an das Fut­ter fest­ge­näht, da­mit das Gan­ze zu­sam­men­hal­te. Aber noch trau­ri­ger war ein an­de­rer Um­stand. Die Soh­len sei­ner Stie­fel be­stan­den aus ei­nem Stück Filz von ei­nem Sol­da­ten­hut, den er eben­falls auf dem Schlacht­feld an der Brücke von Lodi auf­ge­le­sen hat­te. Die­se Not­soh­len wa­ren so sicht­bar mit Bind­fa­den an das Ober­le­der ge­näht, daß der Leut­nant Ro­bert in die töd­lichs­te Ver­le­gen­heit ge­riet, als der Haus­hof­meis­ter des Hau­ses del Don­go im Zim­mer er­schi­en, um ihn fei­er­lichst ein­zu­la­den, an der Mit­tags­ta­fel der Frau Mar­che­sa teil­zu­neh­men. Bur­sche und Leut­nant ver­wen­de­ten die zwei Stun­den bis zu der pein­li­chen Mit­tags­ta­fel dazu, den Feld­rock nach Mög­lich­keit zu­sam­men­zu­fli­cken und die un­glück­li­chen Bind­fä­den an den Schu­hen mit Tin­te zu schwär­zen. End­lich schlug die ge­fürch­te­te Stun­de. Las­sen wir ihn selbst be­rich­ten:

»In mei­nem gan­zen Le­ben«, er­zähl­te mir Leut­nant Ro­bert in spä­te­ren Ta­gen, »ist mir nie wie­der so er­bärm­lich zu­mu­te ge­we­sen. Vi­el­leicht dach­ten die Da­men, ich wol­le ih­nen Angst ein­ja­gen, aber mir beb­te das Herz mehr denn ih­nen. Ich blick­te auf mei­ne Schu­he und wuß­te kaum, wie ich es an­fan­gen soll­te, um nicht zu un­ge­schickt dar­in zu ge­hen. Die Mar­che­sa del Don­go war da­mals im Voll­glanz ih­rer Schön­heit. Sie ha­ben sie ja ge­kannt, mit ih­ren wun­der­schö­nen, en­gel­sanf­ten Au­gen und ih­rem hüb­schen dun­kel­blon­den Haar, das dem Oval ih­res rei­zen­den Ge­sichts einen so präch­ti­gen Rah­men gab. In mei­nem Zim­mer hing eine ›Toch­ter der He­ro­dias‹ von Leo­nar­do da Vin­ci, die ihr glich wie ein Por­trät. Gott ließ mich von ih­rer über­na­tür­li­chen Schön­heit so er­grif­fen sein, daß ich mei­nen An­zug ganz ver­gaß. Seit zwei Jah­ren wa­ren mir in den Ge­nue­ser Ber­gen nur häß­li­che und elen­de Din­ge vor Au­gen ge­kom­men. Ich wag­te es, ei­ni­ge Wor­te über mein Ent­zücken an sie zu rich­ten.

Gleich­wohl hat­te ich noch so viel ge­sun­den Ver­stand, daß ich mich nicht all­zu lan­ge in Kom­pli­men­ten be­weg­te. Wäh­rend ich ein paar Re­dens­ar­ten drech­sel­te, ge­wahr­te ich in dem mar­mor­ge­tä­fel­ten Spei­se­saal ein Dut­zend La­kai­en und Kam­mer­die­ner, de­ren Li­vree mich da­mals der In­be­griff von Prachtent­fal­tung dünk­te. Stel­len Sie sich vor, die­se Sch­lin­gel hat­ten nicht nur an­stän­di­ge Schu­he, son­dern so­gar noch sil­ber­ne Schnal­len dar­auf. Bei ei­nem Sei­ten­blick merk­te ich, daß ihre dum­men Au­gen alle auf mei­nen Rock und wohl gar auf mei­ne Schu­he ge­rich­tet wa­ren. Das gab mir einen Stich ins Herz. Mit ei­nem ein­zi­gen Wort hät­te ich die gan­ze Ban­de zu Paa­ren trei­ben kön­nen; wie aber hät­te ich das an­fan­gen sol­len, ohne die Da­men zu er­schre­cken? Die Mar­che­sa hat­te näm­lich, um sich ein we­nig Mut zu ma­chen, die Schwes­ter ih­res Man­nes, Gina del Don­go, die nach­ma­li­ge rei­zen­de Con­tes­sa di Pie­tra­ne­ra, aus dem Klos­ter, wo sie er­zo­gen wur­de, zu sich be­ru­fen. Sie hat es mir spä­ter oft er­zählt. Im Glück über­traf sie nie­mand an hei­te­rem Sinn und lie­bens­wür­di­gem Witz, wie ihr auch nie­mand an Mut und See­len­ru­he im Un­glück gleich­kam.

Gina, die da­mals drei­zehn Jah­re alt sein moch­te, aber wie acht­zehn­jäh­rig aus­sah, leb­haft und frei­mü­tig, wie Sie wis­sen, hat­te so große Furcht, beim An­blick mei­nes Auf­zu­ges her­aus­zu­plat­zen, daß sie sich kaum zu es­sen ge­trau­te. Da­für über­häuf­te mich die Mar­che­sa mit ge­zwun­ge­nen Höf­lich­kei­ten. Sie las mir mei­nen Un­wil­len von den Au­gen ab. Mit ei­nem Wort: ich spiel­te eine al­ber­ne Rol­le. Ich schluck­te die Ge­ring­schät­zung hin­un­ter, was be­kannt­lich ei­nem Fran­zo­sen un­mög­lich sein soll. End­lich gab mir der Him­mel einen lich­ten Ge­dan­ken ein. Ich fing an, den Da­men zu be­rich­ten, was wir in den Ge­nue­ser Ber­gen aus­ge­stan­den hat­ten, wo uns al­ters­schwa­che Ge­ne­ra­le zwei Jah­re hat­ten sit­zen las­sen. Dort, so er­zähl­te ich, gab man uns die Löh­nung in As­si­gna­ten, die im Land kei­nen Kurs hat­ten, und neun­zig Gramm Brot den Tag. Ich hat­te kei­ne zwei Mi­nu­ten ge­spro­chen, da stan­den der gu­ten Mar­che­sa die Trä­nen in den Au­gen, und Gina war ernst ge­wor­den.

›Wie, Herr Leut­nant‹, sag­te sie, ›neun­zig Gramm Brot?‹ ›Ge­wiß, Si­gno­ri­na. Da­bei blie­ben die­se Por­tio­nen drei­mal in der Wo­che ganz aus, und da die ar­men Ge­birgs­be­woh­ner, bei de­nen wir im Quar­tier la­gen, noch we­ni­ger zu bei­ßen hat­ten als wir, so ha­ben wir ih­nen auch noch ein we­nig von un­se­rem Brot ab­ge­ge­ben.‹

Als wir vom Tisch auf­stan­den, bot ich der Mar­che­sa mei­nen Arm und führ­te sie bis an die Tür des Sa­lons, kehr­te dann schnell um und gab dem La­kai­en, der mich bei der Ta­fel be­dient hat­te, mein ein­zi­ges Sechs­fran­ken­stück, mit dem ich mir tau­send Luft­sch­lös­ser er­baut hat­te.

Acht Tage spä­ter, nach­dem man sich satt­sam über­zeugt hat­te, daß wir Fran­zo­sen nie­man­den köpf­ten, kehr­te der Mar­che­se del Don­go aus sei­nem Schloß Gri­an­ta am Co­mer See zu­rück, wo­hin er sich beim An­rücken un­se­rer Ar­mee ge­flüch­tet hat­te, sei­ne jun­ge, schö­ne Ge­mah­lin und sei­ne Schwes­ter den Wech­sel­fäl­len des Krie­ges preis­ge­bend. Der Haß die­ses Edel­man­nes ge­gen uns war nur mit sei­ner Furcht zu ver­glei­chen, das heißt, bei­de wa­ren gren­zen­los. Es war ein spa­ßi­ger An­blick, wenn er mir mit sei­nem auf­ge­dun­se­nen, blei­chen Höf­lings­ge­sicht Ar­tig­kei­ten sag­te. Am Tage nach sei­ner Rück­kehr nach Mai­land er­hielt ich drei El­len Uni­form­tuch und zwei­hun­dert Fran­ken, mei­nen An­teil an den sechs Mil­lio­nen Kriegs­steu­ern. Ich stat­te­te mich neu aus und ward der Rit­ter je­ner Da­men, denn die Bäl­le be­gan­nen.«

Die Ge­schich­te des Leut­nants Ro­bert war so ziem­lich die al­ler Fran­zo­sen. Statt über ihr Elend zu spöt­teln, be­mit­lei­de­te man die­se tap­fe­ren Krie­ger und ge­wann sie lieb. Die­se Epo­che un­er­war­te­ten Heils und tol­ler Freu­de dau­er­te knapp drei Jah­re, aber der Rausch war so stark und all­ge­mein, daß man sich kaum eine rich­ti­ge Vor­stel­lung da­von ma­chen kann; nur die tief­sin­ni­ge his­to­ri­sche Be­trach­tung er­klärt sie: dies Volk lang­weil­te sich seit ei­nem Jahr­hun­dert.

Die na­tür­li­che Sin­nen­lust des Süd­län­ders hat­te ehe­dem an den Hö­fen der Vis­con­ti und Sfor­za, der be­rühm­ten Her­zö­ge von Mai­land, ge­herrscht. Aber seit dem Jah­re 1524, da sich die Spa­nier Mai­lands be­mäch­tigt hat­ten, jene schweig­sa­men, arg­wöh­ni­schen, stol­zen Herr­scher, die über­all Aufruhr wit­ter­ten, wa­ren Freu­de und Froh­sinn ent­schwun­den. Das Volk, das im­mer die Sit­ten sei­ner Herr­scher an­nimmt, ward mehr dar­auf be­dacht, die kleins­te Un­bill mit ei­nem Dolch­stoß zu ver­gel­ten, als die Ge­gen­wart zu ge­nie­ßen.

Vom 15. Mai 1796, dem Tage des Ein­zu­ges der fran­zö­si­schen Ar­mee in Mai­land, bis zum April 1799, als sie die­se Stadt we­gen der Schlacht von Cassa­no wie­der räu­men muß­te, hat­ten Über­mut, Le­bens­freu­de, Sin­nen­lust und völ­li­ges Ver­ges­sen al­ler trü­ben, ja selbst al­ler ver­nünf­ti­gen Ge­dan­ken der­ar­tig über­hand ge­nom­men, daß man so­gar alte Mil­lio­näre und Krä­mer­see­len, Wu­che­rer und gries­grä­mi­ge No­ta­re fin­den konn­te, die wäh­rend die­ser Zwi­schen­zeit ihr mür­ri­sches We­sen und ihre Ge­winn­sucht ab­ge­legt hat­ten.

Eine Aus­nah­me bil­de­ten et­li­che Fa­mi­li­en des Hochadels, die sich auf ihre Land­sch­lös­ser zu­rück­ge­zo­gen hat­ten, so­zu­sa­gen aus Groll über den all­ge­mei­nen Ju­bel und das Auf­ge­hen al­ler Her­zen. Frei­lich muß man zu­ge­ste­hen, daß die­se rei­chen Adels­ge­schlech­ter bei der Auf­bür­dung der fran­zö­si­schen Kriegs­steu­ern in emp­find­li­cher Wei­se aus­ge­zeich­net wor­den wa­ren.

Der Mar­che­se del Don­go, är­ger­lich über so viel Froh­sinn, hat­te sich als ei­ner der ers­ten auf sein präch­ti­ges Schloß Gri­an­ta jen­seits Co­mos zu­rück­be­ge­ben, wo ihn die Da­men in Ge­sell­schaft des Leut­nants Ro­bert be­such­ten. Die­ses Schloß, in ei­ner Lage, wie sie auf Er­den viel­leicht nir­gends zu fin­den ist, auf ei­ner Ho­chebe­ne, hun­dert­und­fünf­zig Fuß über dem herr­li­chen See, den es weit­hin be­herrscht, war ehe­dem eine fes­te Burg. Die Fa­mi­lie del Don­go hat­te sie, wie die wap­pen­be­las­te­ten Mar­mor­wän­de über­all kund ga­ben, im Quat­tro­cen­to3 er­bau­en las­sen. Noch war sie mit Zug­brücken und tie­fen Grä­ben ver­se­hen, in de­nen frei­lich kein Was­ser mehr stand. Gleich­wohl war die­ses Schloß mit sei­nen acht­zig Fuß ho­hen und sechs Fuß star­ken Mau­ern vor ei­nem et­wai­gen Hand­streich ge­schützt und eben dar­um dem miß­traui­schen Mar­che­se lieb und wert. Um­ge­ben von fünf­und­zwan­zig bis drei­ßig La­kai­en, die er alle für treu und er­ge­ben hielt, wahr­schein­lich, weil er sich nie an­ders als durch Schimpf­wor­te mit ih­nen un­ter­hielt, wur­de er dort weit we­ni­ger von Furcht ge­quält als in Mai­land.

Die­se Furcht war nicht ganz un­be­rech­tigt. Der Mar­che­se stand in sehr re­gem Brief­wech­sel mit ei­nem ös­ter­rei­chi­schen Spi­on, der sich an der Schwei­zer Gren­ze, drei Mei­len von Gri­an­ta, auf­hielt. Der Zweck war die Be­frei­ung von Kriegs­ge­fan­ge­nen, was von den fran­zö­si­schen Ge­ne­ra­len ein­mal übel auf­ge­faßt wer­den konn­te.

Der Mar­che­se hat­te sei­ne jun­ge Ge­mah­lin in Mai­land ge­las­sen. Dort lei­te­te sie die Fa­mi­li­en­ge­schäf­te. Sie war be­auf­tragt, ge­gen die Kriegs­steu­ern Ein­spruch zu er­he­ben, die der Casa del Don­go, wie man dort zu sa­gen pflegt, auf­er­legt wa­ren. Sie such­te ihre Her­ab­set­zung zu er­wir­ken, was sie frei­lich zwang, mit Edel­leu­ten, die öf­fent­li­che Äm­ter an­ge­nom­men hat­ten, und gar mit be­son­ders ein­fluß­rei­chen Nichtad­li­gen in Berüh­rung zu kom­men. Da­zwi­schen hin­ein fiel ein wich­ti­ges Fa­mi­li­e­ner­eig­nis. Der Mar­che­se hat­te sei­ne jun­ge Schwes­ter Gina mit ei­ner au­ßer­or­dent­lich rei­chen und hoch­ge­bo­re­nen Per­sön­lich­keit ver­hei­ra­ten wol­len. Aber der Be­wer­ber trug eine ge­pu­der­te Haar­beu­tel­pe­rücke. Gina lach­te ihm darob ins Ge­sicht und be­ging als­bald die Toll­heit, den Gra­fen Pie­tra­ne­ra zu hei­ra­ten. Die­ser Pie­tra­ne­ra war zwar un­be­dingt ein ta­del­lo­ser Edel­mann, eine wun­der­schö­ne Er­schei­nung, aber wie schon sein Va­ter arm wie eine Kir­chen­maus und, was das Schlimms­te war, ein eif­ri­ger An­hän­ger der neu­en Ide­en. Pie­tra­ne­ra war Leut­nant in der Ita­lie­ni­schen Le­gi­on, was den Mar­che­se vollends in Verzweif­lung brach­te.

Nach je­nen zwei Jah­ren des Rau­sches und des Glückes nahm das Di­rek­to­ri­um der Fran­zö­si­schen Re­pu­blik all­mäh­lich einen mon­ar­chi­schen Ton an; es be­zeig­te töd­li­chen Haß ge­gen al­les, was sich über die Mit­tel­mä­ßig­keit er­hob. Die un­fä­hi­gen Ge­ne­ra­le, die es über die Ar­mee in Ita­li­en setz­te, ver­lo­ren in den­sel­ben Ebe­nen um Ve­ro­na, die zwei Jah­re vor­her Zeu­gen der Wun­der von Ar­co­le und Lo­na­to ge­we­sen, eine Schlacht nach der an­de­ren. Die ös­ter­rei­chi­sche Ar­mee rück­te auf Mai­land vor, und Ro­bert, in­zwi­schen zum Ba­tail­lons­kom­man­deur be­för­dert und in der Schlacht von Cassa­no ver­wun­det, ver­weil­te eine letz­te Nacht im Hau­se sei­ner Freun­din, der Mar­che­sa del Don­go. Der Ab­schied war schmerz­lich. Ro­bert ver­ließ Mai­land zu­gleich mit dem Gra­fen Pie­tra­ne­ra, der die Fran­zo­sen auf ih­rem Rück­zu­ge nach Novi be­glei­te­te. Die jun­ge Con­tes­sa, der ihr Bru­der die Aus­zah­lung ih­res recht­mä­ßi­gen Erb­teils ver­wei­ger­te, folg­te ih­rem Mann in ei­nem Wa­gen.

Jetzt be­gann jene Epo­che der Re­ak­ti­on und der Rück­kehr zu den al­ten Ide­en, die die Mai­län­der ›i tre­di­ci me­si‹, die drei­zehn Mo­na­te, nann­ten, weil es ihr gu­ter Stern in der Tat woll­te, daß die­se Rück­kehr zur Dumm­heit nur drei­zehn Mo­na­te, das heißt bis zur Schlacht von Ma­ren­go, wäh­ren soll­te. Al­les, was alt, mür­risch und bi­gott war, ge­lang­te von neu­em ans Ru­der und über­nahm wie­der die Füh­rung der Ge­sell­schaft. Bald dar­auf ver­kün­de­ten die An­hän­ger des al­ten Kur­ses in den Dör­fern, daß Bo­na­par­te in Ägyp­ten von den Ma­me­lu­cken wohl­ver­dien­ter­ma­ßen ge­hängt wor­den sei.

Un­ter den Män­nern, die sich bis­her grol­lend auf ih­ren Gü­tern ver­gra­ben hat­ten und nun ra­che­durs­tig wie­der zum Vor­schein ka­men, war der Mar­che­se del Don­go ei­ner der grim­migs­ten, und es war na­tür­lich, daß ihn sein Übe­rei­fer an die Spit­ze der Par­tei stell­te. Die­se Her­ren, al­ler Ehren wer­te Leu­te, so­bald sie kei­ne Angst hat­ten, die aber ei­gent­lich im­mer zit­ter­ten, schar­ten sich um den ös­ter­rei­chi­schen Ge­ne­ral. Der, ein gut­mü­ti­ger Mensch, ließ sich ein­re­den, daß un­er­bitt­li­che Stren­ge eine po­li­ti­sche Not­wen­dig­keit sei, und in­fol­ge­des­sen wur­den ein­hun­dert­fünf­zig Pa­trio­ten ein­ge­ker­kert, die bes­ten Män­ner, die Ita­li­en da­mals hat­te.

Man schlepp­te sie nach der Bucht von Cat­ta­ro, wo die feuch­te, dump­fe Ker­ker­luft und die kärg­li­che Kost einen ge­rech­ten und ra­schen Straf­voll­zug an die­sen Bö­se­wich­ten aus­üb­ten.

Der Mar­che­se del Don­go er­hielt einen ho­hen Pos­ten, und da sich sei­nen vie­len an­de­ren Vor­zü­gen auch scheuß­li­cher Geiz ge­sell­te, so rühm­te er sich öf­fent­lich, daß er sei­ner Schwes­ter, der Con­tes­sa di Pie­tra­ne­ra, nicht einen Ta­ler schi­cke. Im­mer noch när­risch ver­liebt in ih­ren Mann, woll­te sie ihn nicht ver­las­sen und zog es vor, in Frank­reich mit ihm zu hun­gern. Die gute Mar­che­sa war ver­zwei­felt; schließ­lich ge­lang es ihr, ein paar klei­ne Dia­man­ten aus ih­rem Schmuck bei­sei­te zu brin­gen, den ihr Gat­te all­abend­lich in Ver­wah­rung nahm und un­ter sei­nem Bett in ei­nem ei­ser­nen Kas­ten ver­schloß. Sie hat­te ih­rem Mann eine Mit­gift von acht­hun­dert­tau­send Fran­ken zu­ge­bracht, er­hielt aber mo­nat­lich nur acht­zig Fran­ken für ihre per­sön­li­chen Be­dürf­nis­se. Wäh­rend der drei­zehn Mo­na­te, da die Fran­zo­sen nicht in Mai­land wa­ren, fand die­se furcht­sa­me Frau al­ler­lei Vor­wän­de, im­mer in schwar­zen Klei­dern zu er­schei­nen.

Wir müs­sen ein­ge­ste­hen, daß wir -- nach dem Bei­spiel man­ches wer­ten Au­to­ren -- die Ge­schich­te un­se­res Hel­den ein Jahr vor sei­ner Ge­burt be­gon­nen ha­ben. Die­se Haupt­per­son ist nie­mand an­de­res als Fa­briz­zio Val­ser­ra, Mar­che­si­no del Don­go. Er ge­ruh­te just zur Welt zu kom­men, als die Fran­zo­sen aus Mai­land ver­jagt wur­den. Der Zu­fall der Ge­burt mach­te ihn zum Zweit­ge­bo­re­nen des Mar­che­se del Don­go, je­nes großen Herrn, des­sen blas­ses ge­dun­se­nes Ge­sicht, des­sen falsches Lä­cheln und des­sen gren­zen­lo­sen Haß ge­gen die neu­en Ide­en wir be­reits ken­nen. Das gan­ze Ver­mö­gen des Hau­ses fiel der­einst dem äl­te­ren Soh­ne, As­ca­nio del Don­go, zu, dem wür­di­gen Eben­bil­de sei­nes Va­ters. Er war acht und Fa­briz­zio zwei Jah­re alt, als der Ge­ne­ral Bo­na­par­te, den alle Wohl­ge­sinn­ten längst ge­hängt wähn­ten, plötz­lich vom Sankt Bern­hard her­ab­stieg und in Mai­land ein­rück­te. Die­ser Au­gen­blick ist in der Ge­schich­te oh­ne­glei­chen. Man den­ke sich ein gan­zes Volk toll ver­liebt. We­ni­ge Tage da­nach ge­wann Na­po­le­on die Schlacht von Ma­ren­go. Al­les üb­ri­ge ist un­nö­tig zu er­zäh­len. Der Freu­den­rausch der Mai­län­der hat­te kei­ne Gren­zen; nur war er dies­mal mit Ra­che­ge­dan­ken un­ter­mischt: man hat­te das gut­mü­ti­ge Volk has­sen ge­lehrt. Bald sah man die ein­ge­ker­ker­ten Pa­trio­ten, so­weit sie noch am Le­ben wa­ren, von den Boc­che di Cat­ta­ro wie­der­keh­ren; ihre Be­frei­ung ward durch ein Na­tio­nal­fest ge­fei­ert. Ihre ab­ge­zehr­ten, blei­chen Ge­sich­ter, ihre er­staun­ten Bli­cke, ihre ab­ge­ma­ger­ten Glie­der sta­chen ge­gen die über­all aus­bre­chen­de Freu­de selt­sam ab. Ihre Rück­kehr war für die am meis­ten bloß­ge­stell­ten Fa­mi­li­en das Zei­chen zur Abrei­se. Der Mar­che­se del Don­go zog sich als ei­ner der ers­ten nach sei­nem Schloß Gri­an­ta zu­rück. Die Fa­mi­li­enober­häup­ter wa­ren von Furcht und Haß er­füllt; nicht so ihre Frau­en und Töch­ter, die sich mit Freu­den an die ers­te An­we­sen­heit der Fran­zo­sen er­in­ner­ten und sich nach Mai­land und den fröh­li­chen Bäl­len sehn­ten, die nach dem Tage von Ma­ren­go in der Casa Tan­zi von neu­em be­gan­nen. Sehr bald be­merk­te der fran­zö­si­sche Ge­ne­ral, der be­auf­tragt war, die Ruhe in der Lom­bar­dei auf­recht zu er­hal­ten, daß alle Päch­ter der Gü­ter der Ad­li­gen und alle al­ten Frau­en auf dem Lan­de kei­nes­wegs mehr an den er­staun­li­chen Sieg von Ma­ren­go dach­ten, der das Ge­schick Ita­li­ens ge­wen­det und drei­zehn fes­te Plät­ze an ei­nem Tage wie­der­er­o­bert hat­te, son­dern die Köp­fe voll hat­ten von ei­ner Pro­phe­zei­ung des hei­li­gen Gio­vi­ta, des obers­ten Schutz­pa­trons von Bre­s­cia. Nach die­sem hei­li­gen Ora­kel soll­te das Glück der Fran­zo­sen und Na­po­le­ons aus­ge­rech­net drei­zehn Wo­chen nach Ma­ren­go ein Ende neh­men. Zur ge­wis­sen Ent­schul­di­gung des Mar­che­se del Don­go und der üb­ri­gen grol­len­den Edel­leu­te sei ge­sagt, daß sie ernst­lich und ohne Nar­rens­pos­sen an die­se Voraus­sa­ge glaub­ten. All die­se Leu­te hat­ten in ih­rem Le­ben kei­ne vier Bü­cher ge­le­sen. Sie tra­fen of­fen­kun­dig ihre Vor­be­rei­tun­gen, nach den drei­zehn Wo­chen wie­der nach Mai­land zu­rück­zu­keh­ren. Aber wäh­rend die Zeit ver­strich, ver­zeich­ne­te Frank­reichs Sa­che neue Er­fol­ge. Wie­der in Pa­ris, ret­te­te Na­po­le­on durch wei­se Er­las­se die Re­pu­blik im In­nern, wie er sie bei Ma­ren­go nach au­ßen ge­ret­tet hat­te. Nun ent­deck­ten die ed­len, in ih­ren Sch­lös­sern har­ren­den Lom­bar­den, daß sie das Wort des hei­li­gen Schutz­herrn von Bre­s­cia zu­erst falsch ver­stan­den hät­ten: es hand­le sich nicht um drei­zehn Wo­chen, son­dern of­fen­bar um drei­zehn Mo­na­te. Die drei­zehn Mo­na­te gin­gen da­hin, und das Glück der Fran­zo­sen wuchs sicht­lich von Tag zu Tag wei­ter.

Wir ge­hen über zehn Jah­re des Fort­schritts und des Glückes hin­weg, von 1800 bis 1810. Fa­briz­zio ver­brach­te da­von die ers­ten im Schloß Gri­an­ta, prü­gel­te sich mit den Bau­ern­jun­gen des Dor­fes und lern­te nichts, nicht ein­mal le­sen. Spä­ter schick­te man ihn auf die Je­sui­ten­schu­le nach Mai­land. Der Mar­che­se, sein Va­ter, ver­lang­te, daß man ihm La­tein bei­bräch­te, doch nicht nach den al­ten Schrift­stel­lern, die im­mer von Re­pu­bli­ken re­den, son­dern nach ei­nem präch­ti­gen, mit mehr als hun­dert Kup­fer­sti­chen ge­schmück­ten Fo­li­an­ten, ei­nem Werk von Meis­tern des Se­cen­to. Es war die la­tei­ni­sche Fa­mi­li­en­ge­schich­te des Hau­ses de­rer von Val­ser­ra, Mar­che­si del Don­go, her­aus­ge­ge­ben Anno 1650 von Fa­briz­zio del Don­go, Erz­bi­schof von Par­ma. Da die Val­ser­ras ihr Glück vor­nehm­lich im Waf­fen­hand­werk ge­macht hat­ten, so stell­ten die Sti­che in der Haupt­sa­che Schlach­ten dar, und auf je­dem sah man einen Hel­den die­ses Na­mens, der mäch­ti­ge Sä­bel­hie­be aus­teil­te. Das Buch ge­fiel dem jun­gen Fa­briz­zio un­ge­mein. Sei­ne Mut­ter, die ihn ver­göt­ter­te, durf­te ihn von Zeit zu Zeit in Mai­land be­su­chen; aber da ihr Gat­te ihr nie­mals Geld zu die­sen Rei­sen gab, war es ihre Schwä­ge­rin, die lie­bens­wür­di­ge Con­tes­sa Pie­tra­ne­ra, die ihr das Nö­ti­ge borg­te. Nach der Wie­der­kehr der Fran­zo­sen war jene eine der glän­zends­ten Frau­en am Hofe des Fürs­ten Eu­gen,4 des Vi­ze­kö­nigs von Ita­li­en.

Als Fa­briz­zio ge­fir­melt war, er­hielt die Con­tes­sa von dem noch im­mer in frei­wil­li­ger Ver­ban­nung le­ben­den Mar­che­se die Er­laub­nis, ihn ab und zu aus sei­ner Schu­le zu sich kom­men zu las­sen. Sie fand, er sei ei­gen­ar­tig, ge­weckt, sehr ernst, aber ein net­ter Jun­ge, der dem Sa­lon ei­ner Mo­de­da­me kei­nes­wegs zur Un­zier­de ge­rei­che, im üb­ri­gen drol­lig un­wis­send, ja kaum des Schrei­bens kun­dig. Die Con­tes­sa, die ih­ren Feu­er­geist in kei­ner Sa­che ver­leug­ne­te, ver­sprach dem Schul­vor­stand ihre Gön­ner­schaft, falls ihr Nef­fe Fa­briz­zio be­mer­kens­wer­te Fort­schrit­te ma­che und am Jahres­schluß recht vie­le Prei­se be­käme. Das Er­rei­chen die­ser Zie­le för­der­te sie da­mit, daß sie den Jun­gen alle Sonn­aben­de abends ab­ho­len ließ und ihn oft erst am Mitt­woch oder Don­ners­tag dar­auf zu sei­nen Leh­rern zu­rück­schick­te. Die Je­sui­ten wa­ren, trotz der zärt­li­chen Vor­lie­be des Vi­ze­kö­nigs für sie, nach den Ge­set­zen des Kö­nig­reichs aus Ita­li­en ver­wie­sen, und der Su­pe­ri­or der Schu­le, ein ge­wand­ter Mann, wuß­te ge­nau, wel­chen Vor­teil er aus den Be­zie­hun­gen zu ei­ner am Hofe all­mäch­ti­gen Frau zie­hen konn­te. Er hü­te­te sich, über Fa­briz­zi­os Aus­blei­ben Kla­ge zu füh­ren, der, un­wis­sen­der denn je, am Ende des Jah­res fünf ers­te Prei­se er­hielt. In­fol­ge­des­sen wohn­te die glän­zen­de Con­tes­sa di Pie­tra­ne­ra mit ih­rem Gat­ten, jetzt Ge­ne­ral­leut­nant und Kom­man­deur ei­ner Gar­de­di­vi­si­on, nebst fünf oder sechs der höchs­ten Per­sön­lich­kei­ten vom Hofe des Vi­ze­kö­nigs der Preis­ver­tei­lung bei den Je­sui­ten bei. Der Su­pe­ri­or wur­de von sei­nen Vor­ge­setz­ten be­glück­wünscht.

Die Con­tes­sa nahm ih­ren Nef­fen auf alle glän­zen­den Fes­te mit, durch die sich die kur­ze Re­gie­rungs­zeit des lie­bens­wür­di­gen Fürs­ten Eu­gen aus­zeich­ne­te. Dank ih­rem Ein­fluß zum Husa­re­n­of­fi­zier er­nannt, trug der zwölf­jäh­ri­ge Fa­briz­zio Uni­form. Ent­zückt von sei­ner hüb­schen Er­schei­nung, er­bat sie ei­nes Ta­ges beim Fürs­ten eine Pa­gen­stel­le für ihn, was so­viel be­deu­te­te wie den Frie­dens­schluß der Fa­mi­lie del Don­go mit der Re­gie­rung. Am Tage dar­auf muß­te sie frei­lich ih­ren gan­zen Ein­fluß auf­bie­ten, da­mit der Vi­ze­kö­nig sich ih­rer Bit­te nicht mehr er­in­ne­re, der nichts wei­ter fehl­te als die Ein­wil­li­gung vom Va­ter des künf­ti­gen Pa­gen, die schroff ver­wei­gert wor­den wäre. Nach die­ser Tor­heit fand der wut­schnau­ben­de Mar­che­se einen Vor­wand, den jun­gen Fa­briz­zio nach Gri­an­ta heim­zu­ru­fen. Die Con­tes­sa straf­te ih­ren Bru­der mit über­le­ge­ner Ver­ach­tung. In ih­ren Au­gen war er ein jäm­mer­li­cher Trot­tel und al­ler Schand­ta­ten fä­hig, falls er je die Macht dazu ge­wän­ne. In Fa­briz­zio da­ge­gen war sie ver­narrt. Nach zehn­jäh­ri­gem Schwei­gen schrieb sie an den Mar­che­se und for­der­te ih­ren Nef­fen zu­rück. Ihr Brief blieb ohne Ant­wort.

Als Fa­briz­zio wie­der in das düs­te­re Schloß kam, das die krie­ge­rischs­ten sei­ner Ah­nen er­baut hat­ten, ver­stand er von nichts auf der Welt et­was als vom Rei­ten und Ex­er­zie­ren. Graf Pie­tra­ne­ra, der in den Jun­gen eben­so ver­narrt war wie sei­ne Frau, hat­te ihn manch­mal auf ein Pferd ge­setzt und zum Dienst mit­ge­nom­men.

Bei sei­ner An­kunft im Schloß Gri­an­ta wa­ren Fa­briz­zi­os Au­gen noch ganz rot von den Trä­nen, die er beim Schei­den aus den schö­nen Ge­mä­chern sei­ner Tan­te ver­gos­sen hat­te. Sei­ne Mut­ter und sei­ne Schwes­tern emp­fin­gen ihn mit lei­den­schaft­li­chen Lieb­ko­sun­gen. Der Mar­che­se hat­te sich mit sei­nem äl­tes­ten Soh­ne, dem Mar­che­si­no As­ca­nio, in sein Ar­beits­zim­mer ein­ge­schlos­sen. Dort fer­tig­ten die bei­den Ge­heim­brie­fe an, die die Ehre hat­ten, nach Wien zu ge­hen. Va­ter und Sohn er­schie­nen nur zu den Mahl­zei­ten. Der Mar­che­se pfleg­te mit Be­to­nung zu sa­gen, er un­ter­rich­te sei­nen na­tür­li­chen Nach­fol­ger in der dop­pel­ten Buch­füh­rung über die Er­trä­ge sei­ner Land­gü­ter. In Wirk­lich­keit war er viel zu ei­fer­süch­tig auf sei­ne Macht, als daß er einen Sohn und not­wen­di­gen Er­ben al­ler sei­ner Be­sitz­tü­mer in der­lei ein­ge­weiht hät­te. Er ge­brauch­te ihn dazu, Be­rich­te von fünf­zehn bis zwan­zig Sei­ten zu chif­frie­ren, die er zwei- oder drei­mal wö­chent­lich nach der Schweiz schmug­gel­te, von wo aus sie nach Wien ge­lang­ten. Der Mar­che­se ver­mein­te, sei­nen recht­mä­ßi­gen Herr­scher über die Zu­stän­de im Kö­nig­reich Ita­li­en, von de­nen er sel­ber kei­ne Ah­nung hat­te, auf dem lau­fen­den zu hal­ten. Gleich­wohl hat­ten sei­ne Be­rich­te viel Er­folg. Das kam so: Der Mar­che­se ließ auf den Heer­stra­ßen durch ir­gend­ei­nen si­che­ren Be­auf­trag­ten die Zahl der Sol­da­ten al­ler fran­zö­si­schen oder ita­lie­ni­schen Re­gi­men­ter fest­stel­len, die ihre Stand­orte wech­sel­ten, und wenn er dem Wie­ner Hof dar­über be­rich­te­te, so ver­heim­lich­te er sorg­lich ein reich­li­ches Vier­tel der zur Zeit vor­han­de­nen Trup­pen. Die­se auch sonst lä­cher­li­chen Schrei­ben hat­ten den Vor­zug, an­de­re, ge­naue­re Be­rich­te Lü­gen zu stra­fen. Des­halb ge­fie­len sie. Und so hat­te der Mar­che­se, we­ni­ge Tage vor Fa­briz­zi­os An­kunft im Schloß, das Groß­kreuz ei­nes hoch­ge­schätz­ten Or­dens be­kom­men. Es war der fünf­te, der sei­nen Kam­mer­herrn­rock zier­te. Zwar wag­te er zu sei­nem Leid­we­sen nicht, in dem Rock au­ßer­halb sei­nes Zim­mers um­her­zu­stol­zie­ren, aber er er­laub­te sich nie einen Be­richt zu dik­tie­ren, ohne den be­stick­ten, mit al­len sei­nen Or­den ge­schmück­ten Rock an­ge­legt zu ha­ben. Er hät­te es für Man­gel an Ehr­er­bie­tung ge­hal­ten, wenn er an­ders ge­han­delt hät­te.

Die Mar­che­sa war über die lie­bens­wür­di­gen Ei­gen­schaf­ten ih­res Soh­nes ent­zückt. Nun hat­te sie die Ge­wohn­heit be­wahrt, zwei- oder drei­mal im Jahr mit dem Ge­ne­ral Gra­fen von A. Brie­fe zu wech­seln; so hieß jetzt je­ner Leut­nant Ro­bert. Vol­ler Ab­scheu da­vor, Men­schen, die sie lieb­te, zu be­lü­gen, frag­te sie ih­ren Sohn aus und war über sei­ne Un­wis­sen­heit ent­setzt.

›Wenn er schon mir, die ich sel­ber nichts weiß, un­ge­bil­det vor­komm­t‹, sag­te sie sich, ›so wird Ro­bert, der so Wohl­un­ter­rich­te­te, sei­ne Er­zie­hung ganz man­gel­haft fin­den. Und heut­zu­ta­ge muß man et­was tau­gen.‹ Eine an­de­re Ei­gen­tüm­lich­keit Fa­briz­zi­os setz­te sie fast eben­so in Er­stau­nen. Er nahm alle kirch­li­chen Din­ge, die man ihm bei den Je­sui­ten bei­ge­bracht hat­te, für Ernst. Ob­gleich selbst sehr fromm, er­schrak sie doch vor dem Glau­bensei­fer des Kin­des. Sie sag­te sich: ›Wenn der Mar­che­se Geist ge­nug hät­te, die­se schwa­che Sei­te her­aus­zu­fin­den, so könn­te er mir die Lie­be mei­nes Soh­nes ab­spens­tig ma­chen.‹ Sie wein­te viel, und ihre lei­den­schaft­li­che Schwä­che für Fa­briz­zio wuchs da­durch noch mehr.

Das Le­ben in dem Schloß, das drei­ßig bis vier­zig Dienst­bo­ten be­völ­ker­ten, war recht trau­rig. Da­her ver­brach­te Fa­briz­zio den gan­zen Tag auf der Jagd oder in ei­ner Bar­ke auf dem See. Bald war er mit den Kut­schern und Stall­bur­schen auf ver­trau­tem Fuß. Al­le­samt eif­ri­ge Par­tei­gän­ger der Fran­zo­sen, mach­ten sie sich un­ver­blümt über die krie­che­ri­schen Kam­mer­die­ner lus­tig, die dem Mar­che­se oder sei­nem äl­tes­ten Soh­ne skla­visch er­ge­ben wa­ren. Be­son­ders er­reg­te es ih­ren Spott, daß sich die­se wür­de­vol­len Leu­te nach dem Vor­bild ih­rer Herr­schaft pu­der­ten.

Haus­freund  <<<

An­to­i­ne Jean (Baron) Gros (1771-1835), be­rühmt ge­wor­den durch sein be­kann­tes Bild ›Bo­na­par­te auf der Brücke von Ar­co­le‹, spä­ter der be­kann­tes­te Ma­ler des ers­ten Kai­ser­reichs.  <<<

das 15. Jahr­hun­dert, die Zeit der ita­lie­ni­schen Früh­re­naissance  <<<

Eugè­ne de Beau­har­nais (1781-1824), Stief­sohn Na­po­le­ons.  <<<

Zweites Kapitel

Nun, da der Abend un­ser Aug um­flort, Be­tracht ich zu­kunfts­süch­tig die Gestir­ne, Durch die uns Gott in Let­tern, wohl zu deu­ten, Der Krea­tu­ren Los und Schick­sal kün­det. Denn der aus Him­mels­höhn den Men­schen schaut, Weist ihm aus Mit­leid oft den rech­ten Pfad In sei­ner Ster­nen­schrift am Fir­ma­ment Und sagt das Glück, das Un­glück uns vor­aus. Doch wir, am Stau­be haf­tend, sün­den­schwer, Ver­ach­ten sol­che Schrift und sehn sie nicht.

R­onsard1

Der Mar­che­se be­kun­de­te einen star­ken Haß ge­gen jede Auf­klä­rung. »Die mo­der­nen Ide­en«, pfleg­te er zu sa­gen, »ha­ben Ita­li­en ins Ver­der­ben ge­stürzt.« Er wuß­te nicht recht, wie er die­se hei­li­ge Scheu vor der Bil­dung mit dem Wunsch ver­ei­ni­gen soll­te, daß sein Sohn Fa­briz­zio die so glän­zend be­gon­ne­nen Stu­di­en bei den Je­sui­ten vollen­de. Um die Ge­fahr mög­lichst ab­zu­lei­ten, be­auf­trag­te er den bra­ven Ab­ba­te Bla­nio, den Pfar­rer von Gri­an­ta, den la­tei­ni­schen Un­ter­richt mit Fa­briz­zio fort­zu­set­zen. Dazu hät­te der Geist­li­che die­se Spra­che ver­ste­hen müs­sen; nun war sie aber ge­ra­de der Ge­gen­stand sei­ner Ab­nei­gung. Sei­ne Kennt­nis­se auf die­sem Ge­biet be­schränk­ten sich auf das Aus­wen­dig­her­sa­gen der Ge­be­te sei­nes Mis­sa­les, de­ren Sinn er sei­nen Pfarr­kin­dern mit knap­per Not er­klä­ren konn­te. Gleich­wohl war der Pfar­rer nicht­we­ni­ger ge­ach­tet und so­gar in sei­nem Spren­gel ge­fürch­tet. Er hat­te im­mer ge­sagt, daß die be­rühm­te Pro­phe­zei­ung des hei­li­gen Gio­vi­ta, des Schutz­pa­trons von Bre­s­cia, we­der in drei­zehn Wo­chen noch auch in drei­zehn Mo­na­ten in Er­fül­lung gin­ge. War er un­ter si­che­ren Freun­den, so füg­te er hin­zu, die Zahl drei­zehn sei so zu deu­ten, daß alle Welt stau­nen wer­de, wenn er es aus­spre­chen dürf­te. (1813!)

Tat­säch­lich war der Ab­ba­te Bla­nio ein Mann von alt­frän­ki­scher Tu­gend und Bie­der­keit und üb­ri­gens kein Dumm­kopf. Nachts hielt er sich mit Vor­lie­be oben auf sei­nem Kirch­turm auf. Er war näm­lich ver­ses­sen auf Astro­lo­gie. Tags­über pfleg­te er die Kon­junk­tu­ren und Stel­lun­gen der Gestir­ne zu be­rech­nen, und man­che schö­ne Nacht ver­brach­te er da­mit, sie am Him­mel zu ver­fol­gen. Bei sei­ner Ar­mut hat­te er kein an­de­res In­stru­ment als ein lan­ges Fern­rohr aus Pap­pe. Man kann sich den­ken, wel­che Ge­ring­schät­zung die­ser Mann für Sprach­stu­di­en hat­te, der sein Le­ben dar­ein setz­te, aus den Ster­nen den ge­nau­en Zeit­punkt ab­zu­le­sen, da große Rei­che stür­zen und Re­vo­lu­tio­nen das Ant­litz der Welt ver­än­dern. »Weiß ich mehr über das Pferd«, sag­te er zu Fa­briz­zio, »wenn man mir bei­ge­bracht hat, daß es auf la­tei­nisch equus heißt?« Die Bau­ern fürch­te­ten den Ab­ba­te Bla­nio als großen Zau­be­rer, und er jag­te ih­nen durch sein Ob­ser­va­to­ri­um auf dem Kirch­turm so viel Schre­cken ein, daß sie nicht stahlen. Sei­ne Amts­brü­der, die Geist­li­chen der Um­ge­gend, wa­ren we­gen die­ser Macht nei­disch und ver­wünsch­ten ihn. Der Mar­che­se del Don­go ver­ach­te­te ihn schlecht­weg, weil er für einen Mann sei­nes nied­ri­gen Stan­des viel zu ge­lehr­te Din­ge im Kopf habe. Fa­briz­zio schwärm­te für ihn; um ihm zu ge­fal­len, ver­brach­te er mit­un­ter gan­ze Aben­de da­mit, rie­sen­haf­te Ad­di­ti­ons- oder Mul­ti­pli­ka­ti­ons­exem­pel aus­zu­rech­nen. Seit­dem durf­te er mit auf den Kirch­turm klet­tern. Das war eine große Gunst, die der Ab­ba­te Bla­nio noch nie­man­dem zu­ge­stan­den hat­te; aber er lieb­te den Kna­ben sei­ner Un­be­fan­gen­heit we­gen. »Wenn du kein Heuch­ler wirst«, pfleg­te er zu ihm zu sa­gen, »wirst du viel­leicht ein Mann.«

In­fol­ge der Uner­schro­cken­heit und Lei­den­schaft­lich­keit, die Fa­briz­zio bei al­len sei­nen Be­lus­ti­gun­gen an den Tag leg­te, wäre er im Lau­fe der Jah­re mehr­mals bei­na­he im See er­trun­ken. Bei den Strei­chen der Bau­ern­jun­gen von Gri­an­ta und Ca­denab­bia war er der An­füh­rer. Die­se Bur­schen hat­ten sich ver­schie­de­ne Nach­schlüs­sel zu ver­schaf­fen ge­wußt, mit de­nen sie in be­son­ders fins­te­ren Näch­ten die Sch­lös­ser der Ket­ten zu öff­nen trach­te­ten, wo­mit die Bar­ken an großen Stei­nen oder an Bäu­men nahe am Ufer be­fes­tigt wa­ren. Auf dem Co­mer See le­gen näm­lich die Fi­scher schwim­men­de An­geln in ziem­lich wei­ter Ent­fer­nung vom Ufer aus. Das obe­re Ende der Schnur ist an ei­nem mit Kork un­ter­leg­ten Brett­chen be­fes­tigt, auf dem eine elas­ti­sche Ha­sel­ru­te mit ei­nem Glöck­chen an­ge­bracht ist; es klin­gelt, so­bald der Fisch an­ge­bis­sen hat und an der Schnur zerrt.

Der Haupt­zweck der nächt­li­chen See­zü­ge, die Fa­briz­zio be­feh­lig­te, war, die­se Nacht­an­geln auf­zu­su­chen, ehe die Fi­scher auf das Klin­gel­zei­chen auf­merk­sam wur­den. Man wähl­te zu die­sen wa­ge­hal­si­gen Aus­fahr­ten stür­mi­sches Wet­ter und schiff­te sich meist in der Frü­he ein, eine Stun­de vor Son­nen­auf­gang. Daß die Jun­gen beim Ein­stei­gen in die Bar­ken glaub­ten, sie stürz­ten sich in die größ­ten Ge­fah­ren, dar­in lag das Schö­ne ih­res Tuns, und nach dem Vor­bild ih­rer Vä­ter be­te­ten sie an­däch­tig ein Ave-Ma­ria. Nun ge­sch­ah es zu­wei­len, daß Fa­briz­zio im Au­gen­blick der Ab­fahrt oder kurz nach dem Ave-Ma­ria von ei­nem Vor­zei­chen be­trof­fen wur­de. Das war die Frucht der astro­lo­gi­schen Stu­di­en sei­nes Freun­des, des Ab­ba­ten Bla­nio. Bei sei­ner ju­gend­li­chen Ein­bil­dungs­kraft kün­dig­te ihm das Vor­zei­chen mit Si­cher­heit den gu­ten oder schlim­men Aus­gang an, und da er der Be­herz­tes­te un­ter sei­nen Ka­me­ra­den war, so ge­wöhn­te sich all­mäh­lich die gan­ze Schar so an die Vor­be­deu­tun­gen, daß, wenn im Au­gen­blick der Ab­fahrt ein Bet­tel­mönch sicht­bar ward oder lin­ker Hand ein Rabe flog, die Bar­ken schleu­nigst wie­der an­ge­ket­tet wur­den und je­der wie­der schla­fen ging. So hat­te der Ab­ba­te Bla­nio sei­ne ziem­lich schwie­ri­ge Wis­sen­schaft Fa­briz­zio zwar nicht ge­lehrt, aber er hat­te ihm, ohne daß er es sel­ber wuß­te, ein gren­zen­lo­ses Ver­trau­en in alle Vor­zei­chen künf­ti­ger Ge­scheh­nis­se ein­ge­impft.

Der Mar­che­se heg­te das Ge­fühl, daß ihn bei sei­nem ge­hei­men Brief­wech­sel ein­mal ein un­glück­li­cher Zu­fall in die Lage brin­gen kön­ne, des Ein­flus­ses sei­ner Schwes­ter zu be­dür­fen; und so er­hielt Fa­briz­zio all­jähr­lich am Fes­te der hei­li­gen An­ge­la, dem Na­mens­ta­ge der Con­tes­sa Pie­tra­ne­ra, die Er­laub­nis, acht Tage in Mai­land zu ver­brin­gen. Das gan­ze Jahr zehr­te er von der Hoff­nung auf die­se acht Tage oder von der Erin­ne­rung dar­an. Um die­sem großen Er­eig­nis noch mehr Be­deu­tung zu ge­ben, hän­dig­te der Mar­che­se sei­nem Sohn je­des­mal vier Ta­ler ein, wäh­rend er sei­ner Gat­tin, die Fa­briz­zio be­glei­te­te, nichts zu ge­ben pfleg­te. Da­für reis­ten am Tage vor der Abrei­se ein Koch, sechs Be­dien­te und ein Wa­gen mit zwei Pfer­den nach Como ab, und die Mar­che­sa hat­te in Mai­land eine Kut­sche und eine Ta­fel mit zwölf Ge­de­cken zur Ver­fü­gung.

Eine grol­len­de Le­bens­wei­se, wie sie der Mar­che­se del Don­go führ­te, war si­cher­lich sehr we­nig un­ter­halt­sam, aber sie hat­te den Vor­teil, daß sie den Reich­tum der Fa­mi­li­en, die sich dar­ein ver­lo­ren, un­ge­heu­er auf­schwell­te. Der Mar­che­se, der mehr als zwei­hun­dert­tau­send Lire Jah­res­ein­kom­men hat­te, ver­brauch­te da­von nicht ein Vier­tel. Er leb­te von der Hoff­nung. Wäh­rend der drei­zehn Jah­re von 1800 bis 1813 glaub­te er im­mer fel­sen­fest, daß Na­po­le­on bin­nen ei­nem hal­b­en Jah­re ge­stürzt wäre. Man kann sich sein Ent­zücken vor­stel­len, als er zu Be­ginn des Jah­res 1813 das Un­glück an der Be­re­si­na er­fuhr. Die Ein­nah­me von Pa­ris und der Sturz Na­po­le­ons hät­ten ihn bei­na­he um den Ver­stand ge­bracht. Nun er­laub­te er sich die krän­kends­ten Äu­ße­run­gen ge­gen sei­ne Frau und sei­ne Schwes­ter. End­lich, nach vier­zehn Jah­ren des Har­rens, hat­te er die un­säg­li­che Freu­de, die ös­ter­rei­chi­schen Trup­pen wie­der in Mai­land ein­rücken zu se­hen. Auf An­wei­sung von Wien emp­fing der ös­ter­rei­chi­sche Ge­ne­ral den Mar­che­se del Don­go mit ei­ner Hochach­tung, die an Ehr­furcht grenz­te. Man trug ihm als­bald eine der höchs­ten Stel­len der Lan­des­ver­wal­tung an, die er wie die Rück­zah­lung ei­ner Schuld hin­nahm. Sein äl­tes­ter Sohn er­hielt eine Leut­nant­s­stel­le in ei­nem der bes­ten Re­gi­men­ter der Mon­ar­chie, der jün­ge­re je­doch woll­te die ihm an­ge­bo­te­ne Wür­de ei­nes Ka­det­ten nie und nim­mer an­neh­men. Die­ser Tri­umph, den der Mar­che­se mit sel­te­ner Un­ver­schämt­heit aus­kos­te­te, dau­er­te aber nur we­ni­ge Mo­na­te und hat­te ein de­mü­ti­gen­des Nach­spiel. Ge­schäft­li­che Be­ga­bung be­saß er nicht, und die vier­zehn Jah­re, die er auf sei­nem Land­schloß im Ver­kehr mit sei­nen Die­nern, sei­nem No­tar und sei­nem Haus­arzt ver­brach­te, hat­ten ihn im Ve­rein mit den Gril­len des her­an­na­hen­den Al­ters zu ei­nem gänz­lich un­fä­hi­gen Men­schen ge­macht. Nun ist es in ös­ter­rei­chi­schen Lan­den ein Un­ding, sich auf ei­nem wich­ti­gen Pos­ten zu hal­ten, ohne die ge­wis­se Be­fä­hi­gung zu be­sit­zen, die die lang­sa­me und um­ständ­li­che, aber sehr ver­nünf­ti­ge Ver­wal­tungs­wei­se die­ser al­ten Mon­ar­chie er­heischt. Die Miß­grif­fe des Mar­che­se del Don­go stie­ßen die Be­am­ten vor den Kopf und hemm­ten den Gang der Ge­schäf­te. Sei­ne ul­tra­mon­ar­chi­schen Re­dens­ar­ten reiz­ten die Be­völ­ke­rung, die man in sorg­lo­sen Schlum­mer ein­lul­len woll­te. Ei­nes schö­nen Ta­ges er­fuhr er, daß Sei­ne Ma­je­stät All­er­gnä­digst ge­ruht hat­te, sein Ge­such um die Ent­las­sung aus Al­ler­höchs­ten Diens­ten un­ter gleich­zei­ti­ger Er­nen­nung zum Vize-Ober­hof­mar­schall des lom­bar­disch-ve­ne­zia­ni­schen Kö­nig­rei­ches huld­vollst ent­ge­gen­zu­neh­men. Der Mar­che­se war em­pört über die maß­lo­se Un­ge­rech­tig­keit, de­ren Op­fer er ge­wor­den. Er ließ einen Brief an einen Freund ver­öf­fent­li­chen, er, der die Pres­se­frei­heit so sehr ver­ab­scheu­te. Schließ­lich schrieb er an den Kai­ser, sei­ne Mi­nis­ter sei­en Ver­rä­ter und nichts wei­ter als Ja­ko­bi­ner. Da­rauf zog er sich wie­der trau­rig auf sein Schloß Gri­an­ta zu­rück. Er fand einen Trost. Nach Na­po­le­ons Sturz lie­ßen ge­wis­se ein­fluß­rei­che Per­sön­lich­kei­ten den Gra­fen Pri­na, den ehe­ma­li­gen Mi­nis­ter des Kö­nigs von Ita­li­en, einen im höchs­ten Gra­de ver­dienst­vol­len Mann, in Mai­land auf of­fe­ner Stra­ße er­mor­den. Der Graf Pie­tra­ne­ra setz­te sein Le­ben aufs Spiel, um das des Mi­nis­ters zu ret­ten, der mit Re­gen­schir­men er­schla­gen wur­de und des­sen To­des­qua­len fünf Stun­den lang dau­er­ten. Ein Pries­ter, Beicht­va­ter des Mar­che­se del Don­go, hät­te Pri­na ret­ten kön­nen, wenn er ihm das Git­ter der Kir­che San Gio­van­ni ge­öff­net hät­te, vor die man den un­glück­li­chen Mi­nis­ter schlepp­te, nach­dem man ihn so­gar eine Wei­le im Rinn­stein mit­ten auf der Stra­ße hat­te lie­gen las­sen. Aber er wei­ger­te sich höh­nisch, sein Git­ter­tor auf­zu­schlie­ßen, und ein hal­b­es Jahr spä­ter ge­lang es dem Mar­che­se glück­lich, ihm eine hö­he­re Stel­lung zu ver­schaf­fen.

Er ver­ab­scheu­te sei­nen Schwa­ger, den Gra­fen Pie­tra­ne­ra, der mit ei­nem Jah­res­ein­kom­men von nicht fünf­zig Louis­dor leid­lich zu­frie­den zu sein wag­te und es sich ein­fal­len ließ, dem, was er le­bens­lang ge­liebt hat­te, die Treue zu wah­ren, ja die Un­ver­schämt­heit be­saß, sich of­fen als An­hän­ger des glei­chen Rechts für alle zu be­ken­nen, was der Mar­che­se schänd­li­ches Ja­ko­bi­ner­tum nann­te. Der Graf hat­te sich ge­wei­gert, in ös­ter­rei­chi­sche Diens­te zu tre­ten. Man beu­te­te die­sen Trotz aus, und ein paar Mo­na­te nach der Er­mor­dung Pri­nas setz­ten die näm­li­chen Per­sön­lich­kei­ten, die Pri­nas Mör­der ge­dun­gen hat­ten, die Ver­haf­tung des Ge­ne­rals Pie­tra­ne­ra durch. Da­rauf ließ sich die Grä­fin, sei­ne Ge­mah­lin, einen Paß aus­fer­ti­gen und be­stell­te Post­pfer­de, um nach Wien zu fah­ren und dem Kai­ser die Wahr­heit zu sa­gen. Die Mör­der Pri­nas be­ka­men es mit der Angst zu tun, und ei­ner von ih­nen, ein Vet­ter der Grä­fin Pie­tra­ne­ra, über­brach­te ihr mit­ter­nachts, eine Stun­de vor ih­rer Ab­fahrt nach Wien, die Or­der zur Frei­las­sung ih­res Man­nes. An­dern­tags ließ der ös­ter­rei­chi­sche Ge­ne­ral den Gra­fen Pie­tra­ne­ra zu sich bit­ten, emp­fing ihn mit größ­ter Ach­tung und ver­si­cher­te ihm, sei­ne Pen­si­ons­an­ge­le­gen­heit wer­de bin­nen kur­z­em auf das bes­te ge­re­gelt. Der bra­ve Ge­ne­ral Bub­na, ein Mann von Geist und Herz, war we­gen Pri­nas Er­mor­dung und der Ver­haf­tung des Gra­fen sicht­lich in star­ker Ver­le­gen­heit.

Nach­dem die­se Ge­fahr durch die Ent­schlos­sen­heit der Grä­fin ab­ge­wen­det war, leb­te das Ehe­paar schlecht und recht von dem Ru­he­ge­halt, das dank der Für­spra­che des Ge­ne­rals Bub­na nicht auf sich war­ten ließ.

Zum Glück traf es sich nach fünf oder sechs Jah­ren, daß die Grä­fin eine große Freund­schaft zu ei­nem sehr rei­chen jun­gen Man­ne faß­te, der auch Bu­sen­freund des Gra­fen war und es sich nicht neh­men ließ, ih­nen das schöns­te eng­li­sche Voll­blut­ge­spann, das es da­mals in Mai­land gab, sei­ne Loge in der Sca­la und sein Land­schloß zur Ver­fü­gung zu stel­len. Aber der Graf ließ sich im Voll­ge­fühl sei­ner Tap­fer­keit und sei­ner ed­len Ge­sin­nung, leicht hin­rei­ßen und führ­te dann gern ab­son­der­li­che Re­den. Als er ei­nes Ta­ges mit jun­gen Leu­ten auf der Jagd war, be­gann ei­ner von ih­nen, der un­ter an­de­ren Fah­nen als er ge­dient hat­te, Wit­ze über die Tap­fer­keit der Sol­da­ten der Zis­al­pi­ni­schen Re­pu­blik zu ma­chen. Der Graf gab ihm eine Ohr­fei­ge. Es kam so­fort zu ei­nem Zwei­kampf, und da der Graf un­ter al­len die­sen jun­gen Men­schen kei­nen auf sei­ner Sei­te hat­te, so fiel er. Man mun­kel­te al­ler­lei über die­se Art von Zwei­kampf, und die Be­tei­lig­ten ent­schlos­sen sich zur Abrei­se nach der Schweiz.

Je­ner lä­cher­li­che Mut, den man Gott­er­ge­ben­heit nennt, der Mut ei­nes To­ren, der sich hän­gen läßt, ohne ein Wort zu sa­gen, war nicht Sa­che der Grä­fin. Wü­tend über ih­res Gat­ten Tod, hät­te sie es am liebs­ten ge­se­hen, wenn Li­mer­ca­ti, je­ner rei­che jun­ge Mann, ihr Ver­trau­ter, gleich­falls auf den Ein­fall ge­ra­ten wäre, nach der Schweiz zu fah­ren und den Mör­der des Gra­fen Pie­tra­ne­ra zu er­schie­ßen oder we­nigs­tens zu ohr­fei­gen.

Li­mer­ca­ti fand die­ses An­sin­nen reich­lich lach­haft, und die Grä­fin be­merk­te, daß ihre Ver­ach­tung ihre Lie­be er­tö­tet hat­te. Sie ver­dop­pel­te ihre Auf­merk­sam­kei­ten ge­gen Li­mer­ca­ti. Sie woll­te sei­ne Lei­den­schaft schü­ren, ihn dann sit­zen las­sen und der Verzweif­lung preis­ge­ben. Um die­sen Ra­che­plan ei­nem Fran­zo­sen ver­ständ­lich zu ma­chen, muß ich sa­gen, daß man in Mai­land, das frei­lich sehr fern von Pa­ris liegt, aus Lie­be noch in Verzweif­lung ge­rät. Die Grä­fin, die in ih­ren Trau­er­klei­dern alle Ne­ben­buh­le­rin­nen bei wei­tem hin­ter sich ließ, tat schön mit den jun­gen Her­ren, die auf der Stra­ße schlen­der­ten, und ei­ner von ih­nen, der Graf Nani, der schon im­mer ge­sagt hat­te, er fän­de Li­mer­ca­ti zu schwer­fäl­lig, zu steif für eine so be­gab­te Frau, ver­lieb­te sich toll in die Grä­fin. Sie schrieb an Li­mer­ca­ti:

›Wol­len Sie sich ein­mal als geist­rei­cher Mann be­tä­ti­gen? Bil­den Sie sich ein, Sie hät­ten mich nie ge­kannt!

Ich bin, viel­leicht nicht ohne Miß­ach­tung, Ihre un­ter­tä­nigs­te Gina Pie­tra­ne­ra.‹

Als Li­mer­ca­ti die­ses Brief­chen ge­le­sen, reis­te er nach ei­nem sei­ner Sch­lös­ser ab. Sei­ne Lie­be wuchs ins Gren­zen­lo­se; er wur­de toll und sprach von Selbst­mord, et­was Un­ge­bräuch­li­chem in ei­nem Lan­de, wo man an den Teu­fel glaubt. Gleich am ers­ten Mor­gen schrieb er der Grä­fin und bot ihr die Ehe und sei­ne Zwei­hun­dert­tau­send Lire Ren­te an. Sie schick­te ihm sei­nen Brief un­er­bro­chen durch den Reit­knecht des Gra­fen Nani zu­rück. Da­rauf ver­brach­te Li­mer­ca­ti drei Jah­re auf sei­nen Gü­tern. Alle acht Wo­chen kehr­te er nach Mai­land zu­rück, hat­te aber nie den Mut, dort zu blei­ben, und lang­weil­te sei­ne Freun­de mit sei­ner lei­den­schaft­li­chen Lie­be zur Grä­fin und mit um­ständ­li­cher Auf­zäh­lung al­ler einst bei ihr ge­nos­se­nen Gunst­be­zei­gun­gen. An­fangs pfleg­te er hin­zu­zu­fü­gen, daß sie sich mit dem Gra­fen zu­grun­de rich­te und daß die­ses Ver­hält­nis sie ent­eh­re.

In der Tat emp­fand die Grä­fin für den Gra­fen Nani kei­ner­lei Lie­be, und das sag­te sie ihm of­fen, als sie der Verzweif­lung Li­mer­ca­tis ganz si­cher war. Der Graf, ein Welt­mann, bat sie, die ihm an­ver­trau­te be­trüb­li­che Wahr­heit nicht etwa stadt­be­kannt wer­den zu las­sen. »Wenn Sie die au­ßer­or­dent­li­che Nach­sicht üben woll­ten«, füg­te er hin­zu, »mich auch fer­ner­hin vor der Welt mit all den Ver­güns­ti­gun­gen zu be­han­deln, die man ei­nem er­klär­ten Lieb­ha­ber zu­kom­men läßt, so wer­de ich mich viel­leicht dar­ein schi­cken.«

Nach ih­rer hel­den­mü­ti­gen Er­klä­rung moch­te die Grä­fin we­der mehr die Pfer­de noch die Loge des Gra­fen Nani. Aber seit fünf­zehn Jah­ren an den vor­nehms­ten Le­bens­zu­schnitt ge­wöhnt, stand sie nun dem schwie­ri­gen oder, bes­ser ge­sagt, un­lös­ba­ren Rät­sel ge­gen­über, mit ei­ner Pen­si­on von fünf­zehn­hun­dert Lire in Mai­land zu le­ben. Sie ver­ließ ih­ren Palast, mie­te­te zwei Zim­mer in ei­nem vier­ten Stock, entließ alle Dienst­bo­ten, ja selbst ihre Kam­mer­jung­fer, und nahm sich an de­ren Stel­le eine arme, alte Auf­war­te­frau. In Wirk­lich­keit war die­ses Op­fer we­ni­ger hel­den­haft und hart, als es scheint. In Mai­land ist die Ar­mut nichts Lä­cher­li­ches und wird folg­lich nicht von ängst­li­chen See­len als der Übel größ­tes an­ge­se­hen. Ei­ni­ge Mo­na­te wa­ren in die­ser ed­len Ar­mut ver­flos­sen, wäh­rend de­ren sie fort­ge­setzt von Li­mer­ca­ti und so­gar vom Gra­fen Nani, der sie eben­falls hei­ra­ten woll­te, durch Brie­fe be­stürmt wur­de, als der Mar­che­se del Don­go, sonst ein ab­scheu­li­cher Geiz­hals, auf den Ge­dan­ken kam, sei­ne Fein­de könn­ten am Ende ihre Freu­de am Elend sei­ner Schwes­ter ha­ben. Was, eine del Don­go soll­te ihr Le­ben küm­mer­lich mit dem Gna­den­geld fris­ten, das ihr der Wie­ner Hof, über den er so viel An­laß zu kla­gen hat­te, als Ge­ne­rals­wit­we aus­zahl­te?

Er schrieb ihr also, sei­ne Schwes­ter fän­de im Schloß Gri­an­ta eine Woh­nung und an­ge­mes­se­ne Auf­nah­me. Das be­weg­li­che Ge­müt der Grä­fin griff den Ge­dan­ken an eine neue Le­bens­wei­se mit Be­geis­te­rung auf. Seit zwan­zig Jah­ren hat­te sie die­ses ehr­wür­di­ge Schloß nicht be­tre­ten, das un­ter ur­al­ten Kas­ta­ni­en, die in den Zei­ten der Sfor­za2 ge­pflanzt wa­ren, ma­je­stä­tisch em­por­rag­te. ›Dor­t‹, sag­te sie sich, ›wer­de ich Ruhe fin­den, und ist Ruhe in mei­nem Al­ter nicht Glück?‹ Da sie ein­und­drei­ßig Jah­re alt war, mein­te sie, die Stun­de ih­res Ab­schieds von der großen Welt sei ge­kom­men. ›Am Ge­sta­de je­nes herr­li­chen Sees, wo mei­ne Wie­ge stand, harrt mei­ner end­lich ein fried­sa­mes, glück­li­ches Le­ben.‹

Ich weiß nicht, ob sie sich täusch­te, aber so viel steht fest, daß die­se lei­den­schaft­li­che See­le, die so leich­ten Her­zens zwei­mal ein Rie­sen­ver­mö­gen ver­schmäht hat­te, das Glück ins Schloß Gri­an­ta brach­te. Ihre bei­den Nich­ten wa­ren när­risch vor Freu­de. »Du hast mir die schö­nen Tage der Ju­gend wie­der­ge­bracht!« ju­bel­te die Mar­che­sa ihr zu und schloß sie in ihre Arme. »Am Tage vor dei­ner An­kunft war ich hun­dert Jah­re alt.«

Die Grä­fin be­such­te mit Fa­briz­zio alle be­zau­bern­den Orte der Um­ge­bung des Schlos­ses Gri­an­ta wie­der, die von den Rei­sen­den so ge­prie­sen wer­den: die Vil­la Mel­zi auf dem an­de­ren Seeu­fer, auf das man vom Schloß einen Aus­blick hat, dar­über den hei­li­gen Hain der Sfon­dra­ta und das ke­cke Vor­ge­bir­ge, das die bei­den Arme des Sees schei­det, den won­ni­gen von Como und den tief­erns­ten von Lec­co, er­ha­be­ne und lieb­li­che Land­schaf­ten, de­nen nur die be­rühm­tes­te Ge­gend der Erde, der Golf von Nea­pel, gleicht, ohne sie zu über­tref­fen. Mit Ent­zücken leb­te die Grä­fin die Erin­ne­run­gen ih­rer Kind­heit wie­der durch und ver­glich sie mit ih­rem jet­zi­gen Ge­müts­zu­stand. ›Der Co­mer See‹, sag­te sie sich, ›ist nicht wie der Gen­fer See von großen ab­ge­grenz­ten und nach al­len Re­geln der Kunst be­bau­ten Feld­stücken um­rahmt, die an Geld und Gel­d­er­werb er­in­nern. Hier um­ge­ben mich rings­um Hü­gel, von un­glei­cher Höhe, mit Baum­grup­pen be­deckt, die der Zu­fall ge­pflanzt, von Men­schen­hän­den noch nicht ver­un­ziert und ge­zwun­gen, ih­nen et­was ein­zu­brin­gen. In­mit­ten die­ser wun­der­bar ge­form­ten Hü­gel, die in ab­son­der­li­chen Hän­gen nach dem See ab­stür­zen, kann ich alle Il­lu­sio­nen der Schil­de­run­gen Tas­sos und Ari­osts be­wah­ren. Al­les ist edel und zärt­lich, al­les spricht von Lie­be, nichts er­in­nert mich an die Häß­lich­kei­ten der Zi­vi­li­sa­ti­on. Die auf hal­ber Höhe ver­streu­ten Dör­fer sind hin­ter großen Bäu­men ver­steckt, über de­ren Wip­fel die ge­fäl­li­gen Li­ni­en ih­rer Kirchtür­me her­vor­lu­gen. Wenn hier und da ein be­bau­tes Fleck­chen von fünf­zig Schritt im Ge­viert die Grup­pen der Kas­ta­ni­en und wil­den Kirsch­bäu­me un­ter­bricht, so schaut das Auge dort zu sei­ner Be­frie­di­gung ein üp­pi­ge­res und ge­deih­li­che­res Wachs­tum als an­ders­wo. Und über die­se Hü­gel hin­aus, de­ren Rücken ein­sa­me Stät­ten bie­ten, die man alle be­woh­nen möch­te, ge­wahrt der stau­nen­de Blick die fer­nen, von ewi­gem Schnee be­deck­ten Spit­zen der Al­pen, de­ren erns­te Er­ha­ben­heit an al­les Weh des Le­bens er­in­nert, das ei­nem die Won­ne des Au­gen­blicks um so wert­vol­ler macht. Der fer­ne Glock­en­ton ei­nes un­ter Bäu­men ver­steck­ten Dorf­kirch­leins rührt die Phan­ta­sie; die­ser ge­dämpft über das Was­ser her­drin­gen­de Klang nimmt die Far­be sü­ßer Schwer­mut und Ent­sa­gung an und scheint dem Men­schen zu­zu­flüs­tern: Das Le­ben flieht da­hin. Sei dar­um nicht all­zu wäh­le­risch im Glück, das sich dir dar­bie­tet! Eile, es zu ge­nie­ßen!‹

Die Spra­che die­ser ent­zücken­den Land­schaft, die ih­res­glei­chen nir­gends auf Er­den hat, mach­te das Herz der Grä­fin wie­der jung wie da­mals, als sie sech­zehn Jah­re zähl­te. Sie be­griff nicht, wie sie so lan­ge Zeit hat­te ver­brin­gen kön­nen, ohne den See wie­der­zu­se­hen. ›Hat sich also mein Glück auf die Schwel­le des Al­ters ge­flüch­tet?‹ frag­te sie sich. Sie kauf­te eine Bar­ke, die sie mit Fa­briz­zio und der Mar­che­sa ei­gen­hän­dig aus­schmück­te, denn trotz al­ler fürst­li­chen Herr­lich­keit hat­te man für nichts Geld. Seit der Mar­che­se del Don­go in Un­gna­de ge­fal­len war, hat­te er sei­nen ari­sto­kra­ti­schen Auf­wand ver­dop­pelt. Zum Bei­spiel hat­te er, um dem See zehn Schritt Land ab­zu­ge­win­nen, an der be­rühm­ten Pla­ta­nen­al­lee nach Ca­denab­bia einen Damm auf­wer­fen las­sen, der acht­zig­tau­send Lire kos­te­te. Am Ende die­ses Dam­mes er­hob sich, nach Plä­nen des be­rühm­ten Mar­che­se Ca­gno­la, eine Ka­pel­le aus Gra­nit­qua­dern, in der ihm Mar­che­si,3 der Mo­de­bild­hau­er von Mai­land, ein Grab­mal er­bau­te, des­sen zahl­rei­che Re­liefs die Ta­ten sei­ner Vor­fah­ren rühm­ten.

Fa­briz­zi­os äl­te­rer Bru­der, der Mar­che­si­no As­ca­nio, zeig­te Lust, an den Aus­flü­gen der Da­men teil­zu­neh­men; aber sei­ne Tan­te goß ihm Was­ser über sein ge­pu­der­tes Haar und hat­te täg­lich eine neue klei­ne Ne­cke­rei, um ihn aus sei­ner Schwer­fäl­lig­keit her­aus­zu­brin­gen. End­lich be­frei­te er die lus­ti­ge Schar, die in sei­ner Ge­gen­wart nicht zu la­chen wag­te, vom An­blick sei­nes di­cken, blei­chen Ge­sichts. Man hielt ihn für den Spi­on sei­nes Va­ters, des Mar­che­se, und man muß­te sich vor die­sem, der seit sei­ner un­frei­wil­li­gen Ver­ab­schie­dung ein stren­ger und all­zeit wü­ti­ger De­spot ge­wor­den war, in acht neh­men.

As­ca­nio schwur dem Fa­briz­zio Ra­che.

Bei ei­nem Un­wet­ter ge­riet man in Ge­fahr; ob­gleich das Geld äu­ßerst knapp war, be­lohn­te man die bei­den Ru­der­knech­te reich­lich, da­mit sie vor dem Mar­che­se ih­ren Mund hiel­ten, der schon ge­nug murr­te, daß man ihm im­mer sei­ne bei­den Töch­ter ent­füh­re. Sie wur­den ein zwei­tes Mal vom Sturm über­fal­len. Un­wet­ter sind auf die­sem schö­nen See von furcht­ba­rer Plötz­lich­keit; ganz jäh bre­chen Wind­stö­ße aus zwei ent­ge­gen­ge­setz­ten Ge­birgs­schluch­ten her­vor und kämp­fen über den Flu­ten.

Die Grä­fin woll­te lan­den, wäh­rend der Sturm tob­te und der Don­ner krach­te. Sie be­haup­te­te, von ei­nem ein­sa­men Fel­sen in der See­mit­te, der kaum die Grö­ße ei­nes Zim­mers hat­te, ge­nös­se man ein ein­zig­ar­ti­ges Schau­spiel; man sähe sich rings­um von wil­den Wo­gen um­braust. Aber beim Heraus­sprin­gen aus der Bar­ke fiel sie ins Was­ser. Fa­briz­zio sprang ihr so­fort nach, um sie zu ret­ten, doch wur­den bei­de ziem­lich weit weg­ge­trie­ben. Zwei­fel­los ist es kein Ver­gnü­gen, bei­na­he zu er­trin­ken, aber es bann­te die Lan­ge­wei­le ganz er­staun­lich aus der Rit­ter­burg.

Die Grä­fin hat­te sich für das alt­frän­ki­sche We­sen und für die Astro­lo­gie des Ab­ba­ten Bla­nio be­geis­tert. Das we­ni­ge Geld, das ihr nach An­kauf der Bar­ke ver­blie­ben war, hat­te sie dazu ver­wen­det, ein klei­nes Spie­gel­fern­rohr zu kau­fen, und fast all­abend­lich stell­te sie es mit Fa­briz­zio und ih­ren Nich­ten auf der Platt­form ei­nes der go­ti­schen Schloß­tür­me auf. Fa­briz­zio muß­te den Ge­lehr­ten spie­len, und man ver­leb­te da dro­ben, fern von Spio­nen, man­che höchst hei­te­re Stun­de.

Es muß zu­ge­ge­ben wer­den, daß es Tage gab, da die Grä­fin mit kei­nem Men­schen ein Wort sprach. Dann sah man sie un­ter den ho­hen Kas­ta­ni­en hin­wan­deln, in düs­te­re Träu­me­rei­en ver­sun­ken. Ihr Geist war zu rege, als daß sie nicht bis­wei­len den Man­gel an Ge­dan­ken­aus­tausch emp­fun­den hät­te. Aber an­dern­tags lach­te sie wie­der wie sonst. Be­son­ders wa­ren es die Kla­gen ih­rer Schwä­ge­rin, der Mar­che­sa, die ihre von Na­tur so ta­ten­lus­ti­ge See­le schwer­mü­tig mach­ten.

»Sol­len wir denn den Rest un­se­rer Ju­gend in die­sem trau­ri­gen Schloß ver­brin­gen?« jam­mer­te die Mar­che­sa. Vor der An­kunft der Grä­fin hat­te sie nicht ein­mal den Mut zu sol­chen Kla­gen ge­habt.

So ver­leb­te man den Win­ter von 1814 auf 1815. Zwei­mal ging die Grä­fin un­ge­ach­tet ih­rer Ar­mut auf ein paar Tage nach Mai­land. Der Zweck war, ein köst­li­ches Bal­lett von Vi­ganò4 zu se­hen, das in der Sca­la ge­ge­ben wur­de, und der Mar­che­se hat­te nichts da­ge­gen, wenn sei­ne Frau ihre Schwä­ge­rin be­glei­te­te. Sie hob den Vier­tel­jahrs­be­trag der klei­nen Pen­si­on ab, und so war es die arme Wit­we des zis­al­pi­ni­schen Ge­ne­rals, die der stein­rei­chen Mar­che­sa del Don­go ein paar Ze­chi­nen borg­te. Die­se klei­nen Rei­sen wa­ren ent­zückend. Die Da­men lu­den sich alte Freun­de zum Mit­tags­mahl ein und trös­te­ten sich wie Kin­der, in­dem sie über al­les lach­ten. Die­se ita­lie­ni­sche Hei­ter­keit, vol­ler Lei­den­schaft und Lau­ne, ließ sie die düs­te­re Trüb­sal ver­ges­sen, die ih­nen in Gri­an­ta die Bli­cke des Mar­che­se und sei­nes äl­tes­ten Soh­nes be­rei­te­ten. Der kaum sech­zehn­jäh­ri­ge Fa­briz­zio spiel­te sei­ne Rol­le als Fa­mi­li­en­haupt vor­züg­lich.

Am 7. März 1815 wa­ren die Da­men ge­ra­de den zwei­ten Tag von solch ei­nem herr­li­chen klei­nen Aus­flug nach Mai­land zu­rück. Sie lust­wan­del­ten in der schö­nen Pla­ta­nen­al­lee, die neu­er­dings bis un­mit­tel­bar an das See­ge­sta­de ver­län­gert wor­den war. Eine Bar­ke tauch­te aus der Rich­tung von Como auf und mach­te son­der­ba­re Zei­chen. Ein Agent des Mar­che­se sprang auf den Damm: Na­po­le­on sei im Golf von Juan ge­lan­det. Eu­ro­pa in sei­ner Gut­mü­tig­keit war ob die­ses Er­eig­nis­ses über­rascht, der Mar­che­se del Don­go ganz und gar nicht. Er schrieb an sei­nen kai­ser­li­chen Ge­bie­ter einen über­schweng­li­chen Brief, bot ihm sei­ne Ta­len­te und meh­re­re Mil­lio­nen an und wie­der­hol­te ihm, sei­ne Mi­nis­ter sei­en Ja­ko­bi­ner und stä­ken un­ter ei­ner De­cke mit den Pa­ri­ser Rä­dels­füh­rern.

Am 8. März, um sechs Uhr früh, ließ sich der Mar­che­se, sei­ne Or­den auf der Brust, von sei­nem äl­tes­ten Soh­ne den Ent­wurf ei­ner drit­ten po­li­ti­schen De­pe­sche dik­tie­ren und brach­te sie wür­de­voll in sei­ner wohl­ge­pfleg­ten Hand­schrift ins rei­ne. Das Pa­pier trug als Was­ser­zei­chen das Bild­nis des Kai­sers. Zur sel­ben Stun­de ließ sich Fa­briz­zio bei der Grä­fin Pie­tra­ne­ra mel­den.

»Ich gehe fort«, sag­te er zu ihr, »ich will zum Kai­ser, der auch Kö­nig von Ita­li­en ist. Er hat dei­nem Gat­ten so viel Gu­tes er­wie­sen. Ich rei­se durch die Schweiz. Mein Freund Vasi, der Baro­me­ter­händ­ler in Me­nag­gio, hat mir sei­nen Paß ge­ge­ben. Gib mir jetzt ein paar Na­po­le­ons, denn ich be­sit­ze nur zwei. Aber wenn es sein muß, gehe ich auch zu Fuß!«

Die Grä­fin wein­te vor Freu­de und Schre­cken. »Mein Gott«, rief sie aus und faß­te ihn bei den Hän­den, »warum muß­test du auf die­sen Ein­fall kom­men?«

Sie stand auf und hol­te eine klei­ne, per­len­be­stick­te Bör­se aus dem Wä­sche­spind, wo sie sorg­lich ver­steckt lag; sie ent­hielt al­les, was sie auf der Welt be­saß.

»Nimm das!« sag­te sie zu Fa­briz­zio. »Aber, um Got­tes wil­len, laß dich nicht tö­ten! Was blie­be uns dann noch, dei­ner un­glück­li­chen Mut­ter und mir, wenn du nicht wie­der­kämst? An Na­po­le­ons Er­folg kann ich nicht glau­ben, mein ar­mer Jun­ge; die Un­se­ren wer­den ihn bald un­ter­krie­gen. Hast du nicht vor acht Ta­gen in Mai­land die Ge­schich­te von den drei­und­zwan­zig aus­ge­klü­gel­ten Mord­an­schlä­gen ge­hört, de­nen er nur durch ein Wun­der ent­gan­gen ist? Und da­mals war er all­mäch­tig! Auch hast du ge­se­hen, daß es un­se­ren Fein­den nicht am Wil­len fehlt, ihn zu ver­der­ben. Frank­reich war nichts mehr seit sei­ner Ab­dan­kung.«

Und im Ton der leb­haf­tes­ten Er­re­gung sprach die Grä­fin vom künf­ti­gen Schick­sal Na­po­le­ons. »Wenn ich dir er­lau­be, zu ihm zu ge­hen«, sag­te sie, »brin­ge ich ihm mein Liebs­tes auf der Welt zum Op­fer.« Fa­briz­zi­os Au­gen wur­den feucht. Er um­arm­te die Grä­fin un­ter Trä­nen, aber sein Ent­schluß wur­de nicht einen Au­gen­blick er­schüt­tert. Das Herz ging ihm über, als er sei­ner teue­ren Freun­din die Grün­de aus­ein­an­der­setz­te, die ihn dazu be­stimm­ten und die recht tö­richt zu fin­den wir uns er­lau­ben.

»Ges­tern abend, es war sie­ben Mi­nu­ten vor sechs, gin­gen wir, wie du weißt, in der Pla­ta­nen­al­lee un­ter­halb der Vil­la Som­ma­ri­va am See spa­zie­ren. Wir wan­der­ten süd­wärts. Da ge­wahr­te ich als ers­ter in der Fer­ne das Boot, das von Como kam und uns eine so be­deut­sa­me Kun­de brach­te. Gar nicht an den Kai­ser den­kend, war ich beim An­blick des Schif­fes nur nei­disch auf alle, de­nen das Schick­sal zu rei­sen er­laubt, und ganz plötz­lich er­griff mich eine tie­fe Be­we­gung. Das Schiff leg­te an. Der Bote sprach lei­se mit mei­nem Va­ter. Der wur­de blaß und nahm uns bei­sei­te, um uns die ›schreck­li­che Nach­richt‹ mit­zu­tei­len. Ich schau­te nach dem See hin­aus, ohne an­de­re Ab­sicht, als mei­ne Freu­de zu ver­ber­gen, von der mir die Au­gen über­lie­fen. Plötz­lich, in un­end­li­cher Höhe, rech­ter Hand von mir, sah ich einen Ad­ler, den Vo­gel Na­po­le­ons; er flog ma­je­stä­tisch da­hin, in der Rich­tung nach der Schweiz, also auf Pa­ris zu. Auch ich, sag­te ich mir so­fort, will die Schweiz mit Ad­ler­schnel­le durch­ei­len und hin­ge­hen und dem großen Mann al­les dar­bie­ten, was ich ihm dar­zu­bie­ten ver­mag. Es ist we­nig ge­nug: die Hil­fe mei­nes schwa­chen Ar­mes! Er woll­te uns ein Va­ter­land ge­ben. Und er lieb­te mei­nen On­kel. Im Au­gen­blick, wäh­rend ich noch den Ad­ler sah, ver­sieg­ten selt­sa­mer­wei­se mei­ne Trä­nen, und der Be­weis, daß mein Ein­fall von oben stammt, ist der: blitz­ar­tig kam mir mein Ent­schluß, und zu­gleich sah ich die Mit­tel, wie ich die Rei­se aus­füh­ren kön­ne. Im Nu war all mei­ne Schwer­mut, die mir das Le­ben ver­gällt -- du weißt, be­son­ders an Sonn­ta­gen --, wie durch einen gött­li­chen Hauch weg­ge­weht. Ich sah das heh­re Bild der Ita­lia wie­der aus dem Schmutz em­por­stei­gen, in den es die Habs­bur­ger nie­der­drück­ten. Sie streck­te ihre zer­schun­de­nen Arme, noch halb mit Ket­ten be­las­tet, ih­rem Kö­nig und Be­frei­er ent­ge­gen. Und ich, sag­te ich mir, ich noch un­be­kann­ter Sohn mei­ner un­glück­li­chen Hei­mat, ich will hin­ge­hen und ster­ben oder sie­gen mit die­sem Mann; ihn hat das Schick­sal aus­er­se­hen, uns rein­zu­wa­schen von der Ver­ach­tung, mit der uns so­gar die ge­meins­ten Knechts­see­len Eu­ro­pas über­schüt­ten.

Du kennst«, fuhr er im Flüs­ter­ton fort, in­dem er ganz nahe an die Grä­fin her­an­trat und sie flam­men­den Au­ges an­sah, »du kennst den jun­gen Kas­ta­ni­en­baum, den mei­ne Mut­ter in dem Win­ter, da ich ge­bo­ren wur­de, mit ei­ge­nen Hän­den ge­pflanzt hat, am Rand der großen Quel­le in un­se­rem Wal­de, zwei Mei­len von hier. Ich woll­te nichts un­ter­neh­men, ehe ich ihn nicht be­sucht hat­te. Der Früh­ling ist noch im Rück­stand, sag­te ich bei mir. Gera­de dar­um! Wenn mein Baum schon Blät­ter hat, soll mir das ein Zei­chen sein! Auch ich soll aus dem Win­ter­schlaf auf­wa­chen, in dem ich in die­sem öden, kal­ten Schloß hin­sie­che. Fin­dest du nicht, daß die­se al­ters­schwar­zen Mau­ern, einst Mit­tel und heu­te Sinn­bil­der der Ge­walt, ein wah­res Ab­bild des trau­ri­gen Win­ters sind? Sie sind für mich, was der Win­ter für mei­nen Baum ist.