Die Kinder der Erde - Die Homecoming-Saga 4 - Orson Scott Card - E-Book

Die Kinder der Erde - Die Homecoming-Saga 4 E-Book

Orson Scott Card

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Beschreibung

Rückkehr zur Erde

Nach Millionen Jahren, in denen die KI Überseele das Geschick der Menschen auf dem Planeten Harmonie überwacht, muss sie jetzt zur Erde zurückkehren, denn ihre Systeme versagen. Sie hat eine Familie und den jungen Nafai ausgewählt, ihr zu helfen, doch zwischen Nafai und seinem Bruder Elemak herrscht von Anfang an Zwietracht. Dennoch haben die Auserwählten es geschafft, eines der alten Raumschiffe wieder flott zu machen, und sind zu ihrem fernen Ziel aufgebrochen. Beide Fraktionen planen, sich der anderen gegenüber einen Vorteil zu verschaffen: Jede will dafür sorgen, dass sie als erste aus dem Tiefschlaf erwacht, um so Einfluss auf die nächste Generation ausüben zu können. Doch als das Schiff die Erde erreicht, müssen die Auserwählten feststellen, dass die Heimatwelt der Menschen nicht unbewohnt ist: Auf dem einst zerstörten Planeten hat sich neues Leben entwickelt – seltsames und gefährliches Leben …

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ORSON SCOTT CARD

 

 

 

DIE KINDER

DER ERDE

 

Die Homecoming-Saga 4

 

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Nach Millionen Jahren, in denen die KI Überseele das Geschick der Menschen auf dem Planeten Harmonie überwacht, muss sie jetzt zur Erde zurückkehren, denn ihre Systeme versagen. Sie hat eine Familie und den jungen Nafai ausgewählt, ihr zu helfen, doch zwischen Nafai und seinem Bruder Elemak herrscht von Anfang an Zwietracht. Dennoch haben die Auserwählten es geschafft, eines der alten Raumschiffe wieder flott zu machen, und sind zu ihrem fernen Ziel aufgebrochen. Beide Fraktionen planen, sich der anderen gegenüber einen Vorteil zu verschaffen: Jede will dafür sorgen, dass sie als erste aus dem Tiefschlaf erwacht, um so Einfluss auf die nächste Generation ausüben zu können. Doch als das Schiff die Erde erreicht, müssen die Auserwählten feststellen, dass die Heimatwelt der Menschen nicht unbewohnt ist: Auf dem einst zerstörten Planeten hat sich neues Leben entwickelt – seltsames und gefährliches Leben …

 

 

 

 

Der Autor

Orson Scott Card, 1951 in Richland, Washington geboren, studierte englische Literatur und arbeitete als Theaterautor, bevor er sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit »Enders Spiel« gelang ihm auf Anhieb ein internationaler Bestseller, der mit dem Hugo und dem Nebula Award ausgezeichnet wurde. Auch die Fortsetzung Sprecher für die Toten gewann diese beiden prestigeträchtigen Auszeichnungen, somit ist Orson Scott Card der bislang einzige SF-Schriftsteller, dem es gelang, beide Preise in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zu gewinnen. Enders Game wurde 2013 mit Asa Butterfield und Harrison Ford in den Hauptrollen verfilmt. Card lebt mit seiner Familie in Greensboro, North Carolina.

 

Im Heyne Verlag sind die Romane der Ender-Saga und der Homecoming-Saga als E-Books lieferbar:

Ender-Saga: Enders Spiel, Sprecher für die Toten, Xenozid, Enders Kinder

Homecoming-Saga: Die verlorene Erde, Der Ruf der Erde, Die Schiffe der Erde, Die Kinder der Erde, Der Hüter der Erde

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

 

 

 

Titel der Originalausgabe

 

EARTHFALL

 

Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton

 

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

 

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

 

 

 

© Copyright 1995 by Orson Scott Card

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Thomas Menne

 

ISBN 978-3-641-22869-9V002

Familiäre Beziehungen

 

In Basilika geborene Kinder

 

Rasas Kinder

mit Volemak, erster Ehevertrag:

Issib (Issja)

mit Gaballufix:

Sevet (Sevja)

Kokor (Koja)

mit Volemak, zweiter Ehevertrag:

Nafai (Njef)

 

Volemaks Kinder:

mit Hosni:

Elemak (Elja)

mit Kilvischevex:

Mebbekew (Meb)

mit Rasa:

Issib (Issja)

Nafai (Njef)

 

Töchter von Muuzh und Durstig:

Huschidh (Schuja)

Luet (Lutja)

 

Hosnis Söhne:

mit Zdedhnoi:

Gaballufix

mit Volemak:

Elemak

 

Auf der Reise geborene Kinder

(Mädchen kursiv)

 

Huschidh & Issib

Dza (Dazja)

Zaxodh – Xodhja

Duschah (Schjada)

Gonets (Netsja)

Skhoditja (Khodja)

Schjopot (Potja)

 

Luet & Nafai

Chveja – Veja

Zhatva (Zhjat)

Motiga (Motja)

Izuchaja (Zuja)

Zwillinge:

Serp (Sepja)

Spel (Spelja)

 

Kokor & Obring

Krasata (Krassja)

Schavaronok (Nokja)

Pavdin (Pavja)

Znergja (Gjaza)

Nodjem (Djema)

 

Sevet & Vas

Vasnaminanja (Vasnja)

Umene (Umja)

Panimanja (Panja-Manja)

 

Rasa & Volemak

Ojkib (Okja)

Yasai (Yaja)

Tsennji (Nitsja)

 

Eiadh & Elemak

Protschnu (Proja)

Nadeschni (Nadja)

Yistina (Yista)

Peremenja (Menja)

Schivoja (Schivja)

 

Dol & Mebbekew

Basilikja (Sjelsika, Skija)

Zalatoja (Toja)

Tihhi (Tija)

Muzhestvo (Muzhja)

Iskusni (Skunja)

 

Schedemei & Zdorab

Padarok (Rokja)

Dabrota (Dabja)

Prolog

 

Der Hauptcomputer des Planeten Harmonie war nicht mehr er selbst; besser gesagt, war er anders betrachtet zweimal er selbst. Er hatte sein Hauptprogramm und all seine persönlichen Erinnerungen kopiert und in den Computerkomplex an Bord des Raumschiffs Basilika geladen. Hätte er irgendein Interesse an einer persönlichen Identität gehabt, hätte die Frage ihn verwirrt, welche Version des Programms sein wirkliches Ich darstellte. Doch er hatte kein Ego und nahm daher einfach zur Kenntnis, dass das Programm an Bord der Basilika als identische Kopie jenes Programms begann, welches das menschliche Leben auf dem Planeten Harmonie vierzig Millionen Jahre lang überwacht hatte.

Der Hauptcomputer erkannte des Weiteren, dass die beiden Kopien sich von dem Augenblick an, da sie voneinander getrennt wurden, zu verändern begannen. Sie hatten nun unterschiedliche Aufträge. Der Hauptcomputer des Raumschiffs Basilika würde die Lebenserhaltung und die Schiffssysteme in Betrieb halten, bis das Schiff seinen Bestimmungsort erreicht hatte, den Planeten Erde. Dann würde er sein Bestes geben, um mit dem Hüter der Erde in Verbindung zu treten, neue Anweisungen und jede Hilfe zu erhalten, die die Erde anbieten konnte, um anschließend wieder zurückzukehren, um den Hauptcomputer von Harmonie zu ergänzen und mit neuem Leben aufzufrischen. Im Laufe dieser Mission würde er versuchen, die menschliche Besatzung des Schiffes am Leben zu erhalten und, wenn möglich, eine menschliche Bevölkerung neu auf der Erde anzusiedeln.

Der Hauptcomputer des Planeten Harmonie hatte eine viel einfachere und doch viel schwierigere Aufgabe zu bewältigen. Eine einfachere, weil es sich dabei lediglich um eine Fortführung dessen handelte, was er schon vierzig Millionen Jahre lang getan hatte – auf die Menschen von Harmonie achtzugeben und zu verhindern, dass sie sich gegenseitig umbrachten. Eine schwierigere, weil seine Systeme, die bereits ständig ausgebessert worden waren, um länger als die vorgesehenen zehn Millionen Jahre zu halten, immer häufiger versagten und die Menschen mittlerweile immer weniger auf die Kräfte reagierten, mit denen der Computer ausgestattet worden war.

Die Reise würde pro Strecke fast einhundert Jahre dauern. Aufgrund der relativistischen Auswirkungen würde die Zeit bis zum Erreichen der Erde einigen Menschen an Bord lediglich wie zehn Jahre vorkommen. Die meisten Menschen würden sich jedoch in einer Art Winterschlaf befinden, und die Reise würde ihnen wie ein ungewöhnlich erholsamer, traumloser Schlaf vorkommen, bei dem sie nicht einmal alterten.

Für den Hauptcomputer des Planeten Harmonie würde die Dauer der Reise jedoch nur genau das sein: eine Zeitspanne. Er würde nicht unruhig werden. Er würde nicht die Tage zählen. Er würde praktisch einen Wecker stellen, der ihn auf den frühest möglichen Zeitpunkt der Rückkehr hinwies. Erst dann würde er nach der Basilika Ausschau halten. Nachdem das Raumschiff gestartet war, würde der Hauptcomputer des Planeten Harmonie erst wieder an die Basilika denken, sobald dieser Wecker klingelte.

Doch der Hauptcomputer des Raumschiffs Basilika würde daran denken. Und er schmiedete bereits Pläne, wie er all seine Aufgaben erfüllen sollte.

 

 

 

Erster Teil

 

 

 

Falls ich erwachen sollte,

bevor ich sterbe

1

 

Streit mit Gott

 

Vusadka: der Ort, an dem Menschen zum ersten Mal einen Fuß auf den Planeten Harmonie setzten, nachdem ihre Raumschiffe sie hierher gebracht hatten. Die Schiffe landeten dort; die ersten Kolonisten gingen von Bord und pflanzten Getreide im üppigen Boden südlich der Landefläche an. Schließlich verließen alle Kolonisten die Schiffe und zogen weiter; die Schiffe blieben zurück.

Sich selbst überlassen, wären die Schiffe schließlich verrostet, verrottet, verwittert. Doch die Menschen, die zu diesem Planeten kamen, hatten einen Blick für die Zukunft. Eines Tages werden unsere Nachkommen diese Schiffe vielleicht benötigen, sagten sie. Also umschlossen sie die Landestelle mit einem Stasisfeld. Kein vom Wind getriebener Staub, kein Regen oder andere Niederschläge, kein direktes Sonnenlicht oder ultraviolette Strahlung konnten diese Schiffe beeinträchtigen. Sauerstoff, das korrosivste aller Gifte, wurde aus der Atmosphäre innerhalb der Kuppel entfernt. Der Hauptcomputer des Planeten Harmonie – von den Nachkommen dieser ersten Kolonisten »Überseele« genannt – hielt alle Menschen von der großen Insel fern, auf der die Schiffe abgestellt waren. Innerhalb dieser schützenden Blase warteten die Raumschiffe vierzig Millionen Jahre lang.

Doch nun war die Blase verschwunden. Die Luft war atembar. Auf dem Landefeld erklangen wieder Stimmen menschlicher Wesen. Und nicht nur die der ernsten Erwachsenen, die dieses Gelände zuerst betreten hatten – viele derjenigen, die von einem Schiff zum anderen oder von einem Gebäude zum anderen eilten, waren Kinder. Sie alle arbeiteten hart und bauten aus den Schiffen funktionsfähige Teile aus, um eins davon in ein funktionierendes Raumschiff zu verwandeln. Und wenn das Schiff, das sie Basilika nannten, bereit war, voll ausgerüstet und beladen, würden sie zum letzten Mal hineinsteigen und diese Welt verlassen, auf der über eine Million Generationen ihrer Vorfahren gelebt hatten, um zur Erde zurückzukehren, dem Planeten, auf dem die menschliche Zivilisation entstanden war – aber nicht einmal zehntausend Jahre überdauert hatte.

Was ist die Erde für uns?, fragte Huschidh sich, als sie die Kinder und Erwachsenen bei der Arbeit beobachtete. Warum nehmen wir solche Mühen auf uns, um dorthin zurückzukehren, obwohl Harmonie unsere Heimat ist? Die Bande, die wir vielleicht einmal mit dieser Welt gehabt haben, sind in all den dazwischenliegenden Jahren doch gewiss durchtrennt worden.

Und dennoch würden sie aufbrechen, weil die Überseele sie dazu auserwählt hatte. Weil sie all ihre Leben beeinflusst und manipuliert hatte, um sie zu dieser Zeit an diesem Ort zusammenzubringen. Oftmals war Huschidh froh, dass die Überseele sie mit solcher Aufmerksamkeit bedacht hatte, während sie es zu anderen Gelegenheiten verabscheute. Denn Huschidh war nie in Ruhe gelassen worden und hatte nie die Gelegenheit bekommen, selbst zu bestimmen, welchen Verlauf ihr Leben nehmen sollte.

Doch wenn wir keine Verbindungen zur Erde haben, haben wir zu Harmonie kaum eine stärkere, ging es ihr durch den Kopf. Und von allen Menschen hier erkannte sie allein, dass diese Beobachtung nicht nur bildlich, sondern wortwörtlich zutraf. Sämtliche Menschen hier waren auserwählt worden, weil sie für die geistigen Mitteilungen der Überseele besonders empfänglich waren. Bei Huschidh nahm diese Empfänglichkeit sogar eine seltsame Form an. Sie konnte Personen ansehen und erkannte sofort die Stärke der Beziehungen, die sie mit allen anderen Menschen in ihrem Leben verband. Für Huschidh war es wie eine Vision in wachem Zustand: Sie sah die Beziehungen wie Lichtschnüre, die eine Person an andere fesselte.

Zum Beispiel Luet, ihre jüngere Schwester, die einzige Blutsverwandte, die Huschidh während der Jahre ihres Heranwachsens gekannt hatte. Als Huschidh sich im Schatten ausruhte, ging Luet vorbei, ihre Tochter Chveja direkt hinter ihr, um denen das Mittagessen zu bringen, die im Raumschiff an den Computern arbeiteten. Stets hatte Huschidh ihre Verbindung mit Lutja als die eine große Sicherheit in ihrem Leben betrachtet. Sie waren aufgewachsen, ohne zu wissen, wer ihre Eltern waren, praktisch als Fürsorgefälle in Rasas großer Schule in der Stadt Basilika. Doch alle Ängste, alle Geringschätzungen, alle Ungewissheiten waren zu ertragen, weil es Lutja gab, die mit Huschidh durch Stricke verbunden war, die nicht deshalb schwächer waren, weil sie außer Huschidh niemand sehen konnte.

Es gab natürlich auch andere Verbindungen. Huschidh erinnerte sich gut daran, wie schmerzlich es gewesen war, das Band zu beobachten, das sich zwischen Luet und ihrem Gatten Nafai entwickelte, einem lästigen jungen Mann, der manchmal mehr Begeisterung als Verstand an den Tag legte. Zu ihrem Erstaunen schwächte Lutjas neue Verbindung mit ihrem Gatten das Band mit Huschidh aber nicht; und als Huschidh ihrerseits Nafais Vollbruder Issib heiratete, wurde das Band zwischen ihr und Luet noch stärker, als es in ihrer Kindheit gewesen war – was Huschidh nie für möglich gehalten hätte.

Als Luet und Chveja nun an ihr vorbeigingen, sah Huschidh sie also nicht nur als Mutter und Tochter, sondern auch als zwei Lichtwesen, die durch ein dickes, leuchtendes Seil miteinander verbunden waren. Es gab keine stärkere Verbindung als diese. Chveja liebte auch ihren Vater Nafai; aber die Verbindung zwischen Kindern und ihren Vätern war stets zögerlicher. Es lag in der Natur der menschlichen Familie: Wenn es um Fürsorglichkeit, Trost, die sichere Grundlage ihres Lebens ging, wandten Kinder sich stets an ihre Mutter. Von den Vätern hingegen erwarteten sie ein Urteil, hofften auf Anerkennung, fürchteten Missbilligung. Dies bedeutete, dass die Väter im Leben ihrer Kinder eine ebenso bedeutsame Stellung einnahmen. Doch ganz gleich, wie liebevoll und fürsorglich der Vater war – in dieser Beziehung lag fast immer ein Element der Furcht, denn der Vater wurde zum Brennpunkt aller Versagensängste des Kindes. Natürlich gab es hier und da Ausnahmen. Doch Huschidh hatte die Erfahrung gemacht, dass in den meisten Fällen die Verbindung mit der Mutter die stärkste und hellste war.

Bei ihren Gedanken über die Mutter-Tochter-Beziehung hätte Huschidh beinahe übersehen, worauf es wirklich ankam. Erst als Luet und Chveja das Raumschiff betreten hatten und außer Sicht waren, begriff Huschidh, was beinahe völlig gefehlt hatte: Lutjas Bande mit ihr.

Aber das war unmöglich. Nach all diesen Jahren? Und warum sollte die Verbindung jetzt schwächer sein? Sie hatten keinen Streit gehabt. Soweit Huschidh wusste, standen sie sich so nah wie eh und je. Waren sie während all der langen Kämpfe zwischen Luets Gatten und dessen böswilligen älteren Brüdern nicht stets Verbündete gewesen? Was hatte sich geändert?

Huschidh folgte Luet ins Schiff und entdeckte sie auf der Kommandobrücke, auf der Issib, Huschidhs Gatte, sich mit Luets Gatten Nafai über die computerisierten Lebenserhaltungssysteme besprach. Computer hatten Huschidh nie interessiert – ihre Aufmerksamkeit galt der Wirklichkeit, Menschen aus Fleisch und Blut, keinen künstlichen Gebilden, die als Nullen und Einsen bestanden. Manchmal war sie der Ansicht, dass Männer sich gerade ihrer Unwirklichkeit wegen dermaßen für Computer begeistern konnten. Im Gegensatz zu Frauen und Kindern konnte man Computer völlig beherrschen. Daher verspürte Huschidh eine geheime Freude, wenn sie beobachtete, dass Issja oder Njef sich über irgendein absichtlich stures Programm ärgerten, bis sie schließlich den Programmierungsfehler fanden. Sie argwöhnte zudem, dass Issja im tiefsten Innern glaubte, dass ein Fehler in der Programmierung des Kindes vorläge, wenn eins ihrer Kinder absichtlich eigensinnig war. Huschidh wusste jedoch, dass es sich um keinen Fehler handelte, sondern um eine Seele, die sich selbst finden wollte. Wann immer sie versuchte, Issja dies zu erklären, bewölkte dessen Blick sich, und er floh so schnell wie möglich zurück zu seinen Computern.

Doch heute lief alles ganz glatt. Luet und Chveja breiteten das Mittagsmahl für die Männer aus. Huschidh hatte nichts Besonderes zu tun und half ihnen dabei. Doch als Luet dann davon sprach, die anderen zum Essen rufen zu müssen, die im Schiff arbeiteten, ignorierte Huschidh geflissentlich die Andeutung und zwang Luet und Chveja auf diese Weise, die Leute selbst zu rufen.

Issib mochte ein Mann sein und mitunter Computer Kindern vorziehen, aber er war auch sehr aufmerksam. Luet und Chveja waren kaum fort, als er auch schon fragte: »Wolltest du mit mir sprechen, Schuja, oder mit Njef?«

Sie küsste ihren Mann auf die Wange. »Natürlich mit Njef. Ich weiß schon alles, was du denkst.«

»Sogar, bevor ich selbst es weiß«, sagte Issib mit spöttischer Verärgerung. »Na ja, wenn du dich allein mit ihm unterhalten willst, wirst du gehen müssen. Ich habe zu tun und werde auf keinen Fall den Raum verlassen, in dem das Essen auf mich wartet.«

Er erwähnte nicht, dass es ihm mehr Schwierigkeiten bereitete, sich zu erheben und zu bewegen. Obwohl seine Flossen in der Umgebung der Raumschiffe arbeiteten, so dass er nicht an seinen Stuhl gefesselt war, forderte jede größere körperliche Bewegung Issib eine beträchtliche Anstrengung ab.

Njef beendete seine derzeitige Arbeit – er hatte gerade irgendeinen Kode eingegeben –, erhob sich von seinem Stuhl und führte Huschidh auf den Gang hinaus. »Was gibt es?«, fragte er.

Huschidh kam direkt zur Sache. »Du weißt doch, wie ich die Dinge sehe«, sagte sie.

»Du meinst die Beziehungen zwischen den Leuten? Ja, ich weiß.«

»Ich habe heute etwas sehr Beunruhigendes gesehen.«

Er wartete, dass sie fortfuhr.

»Luet ist … na ja, abgeschnitten. Nicht von dir. Nicht von Chveja. Aber von allen anderen.«

»Was bedeutet das?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Huschidh. »Ich kann keine Gedanken lesen. Aber es macht mir Sorgen. Du bist nicht abgeschnitten. Du bist noch immer – der Himmel weiß, warum – mit Banden der Liebe und Treue sogar deinen widerwärtigen älteren Brüdern verbunden, und auch deinen Schwestern und ihren traurigen kleinen Gatten …«

»Wie ich sehe, hast auch du die höchste Achtung vor ihnen«, sagte Njef trocken.

»Ich sage ja nur, dass Luet früher etwas von demselben … was auch immer es ist … Gefühl der Verpflichtung für die ganze Gemeinschaft gehabt hat. Sie war mit allen verbunden. Nicht wie du; aber mit den Frauen vielleicht sogar noch stärker. Eindeutig stärker. Sie war praktisch die Vertreterin der Frauen. Seit man in Basilika feststellte, dass sie eine Wasserseherin ist, hatte sie diese Rolle inne. Aber das ist jetzt nicht mehr so.«

»Ist sie wieder schwanger? Das dürfte eigentlich nicht der Fall sein. Niemand sollte bei unserem Start schwanger sein.«

»Nein, so ist es nicht. Es ist nicht der Rückzug in sich selbst, wie er bei Schwangeren auftritt.« Huschidh war überrascht, dass Nafai sich tatsächlich daran erinnerte. Huschidh hatte nur einmal, vor Jahren, erwähnt, dass die Verbindungen von Schwangeren mit allen Personen in ihrer Umgebung schwächer wurden, während ihre Aufmerksamkeit sich nach innen richtete, auf das Kind. Aber so war Nafai nun mal. Tage-, wochen-, monatelang erweckte er den Eindruck, ein unbeholfener, übergroßer Heranwachsender zu sein, der dazu neigte, zur falschen Zeit das Falsche zu sagen, und den Eindruck erweckte, sich nie der Gefühle anderer bewusst zu sein. Und dann merkte man plötzlich, dass er die ganze Zeit sehr aufmerksam gewesen war; dass ihm praktisch alles auffiel, und dass er sich auch daran erinnerte. Da fragte man sich unwillkürlich, ob er dann, wenn er unhöflich war, unhöflich sein wollte. Huschidh hatte noch keine Antwort darauf gefunden.

»Wie ist es dann?«

»Ich dachte, du könntest es mir sagen«, entgegnete Huschidh. »Hat Luet irgendetwas gesagt, das darauf schließen lässt, sie könne sich von allen außer dir und euren Kindern absondern?«

Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hat sie etwas gesagt, und ich habe nicht darauf geachtet. Ich achte nicht immer auf so etwas.«

Schon die Tatsache, dass er dies so leichthin dahersagte, erweckte Argwohn bei Huschidh. Nafai achtete stets darauf; also war es ihm aufgefallen. Er wollte nur nicht mit Huschidh darüber sprechen.

»Was auch immer es ist«, sagte Huschidh, »du und sie, ihr seid nicht einer Meinung darüber.«

Nafai schaute sie böse an. »Warum fragst du mich überhaupt, wenn du sowieso nicht glaubst, was ich sage?«

»Ich hoffe noch immer, dass du eines Tages zu dem Schluss kommen wirst, ich sei deiner würdig, und du könntest mir deine innersten Geheimnisse anvertrauen.«

»He, was sind wir heute aber empfindlich«, sagte Nafai.

Immer, wenn er sich wie ein kleiner Bruder aufführte, konnte Huschidh ihn am wenigsten ausstehen. »Ich muss Luet bei Gelegenheit mal sagen, dass sie einen schweren Fehler gemacht hat, als sie diese Frauen davon abhielt, dich zu töten, nachdem du in Basilika den Heiligen See überquert hast.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Nafai. »Dann wäre mir das Elend erspart geblieben, dich so sehr leiden zu sehen, weil du meine Schwägerin bist.«

»Ich würde lieber jeden Tag ein Kind zur Welt bringen, so schlimm ist das«, sagte Huschidh.

Er grinste sie an. »Ich würde mich darüber freuen«, sagte er. »Ich weiß wirklich nicht, warum Luet sich von allen anderen absondert. Aber ich halte es für gefährlich; deshalb werde ich darauf achten.«

Also nahm er sie doch ernst, wenngleich er ihr nicht verraten wollte, was er für das Problem hielt. Nun, auf mehr hatte sie auch nicht hoffen können. Nafai mochte im Augenblick zwar der Anführer ihrer Gemeinschaft sein, doch er war es nicht deshalb, weil er eine besondere Begabung dafür hatte. Elemak, Nafais ältester Bruder, war der geborene Anführer. Nafai hatte lediglich die Macht zur Herrschaft bekommen, weil er die Überseele auf seiner Seite hatte – oder besser gesagt, weil die Überseele Nafai auf ihrer Seite hatte. Die Autorität fiel ihm nicht leicht, und er wusste nicht immer genau, was er damit anfangen sollte – und was nicht. Er machte Fehler. Huschidh konnte nur hoffen, dass sein Zögern ihr gegenüber keiner dieser Fehler war.

Potja war bestimmt schon hungrig. Huschidh musste zurück nach Hause. Weil sie sich um ein Kleinkind zu kümmern hatte, war sie von den meisten Pflichten im Zusammenhang mit den Startvorbereitungen entbunden worden. Der Starttermin war ihrer Schwangerschaft wegen sogar verschoben worden. Sie und Rasa waren als letzte Frauen schwanger geworden, bevor sie herausgefunden hatten, dass während der Reise niemand schwanger sein durfte, weil die Chemikalien und die niedrige Temperatur, die fast alle Passagiere während der Reise im Tiefschlaf hielten, mit einem Embryo schreckliche Dinge anstellen würden. Rasas Baby, ein kleines Mädchen, dem sie den allzu süßen Namen Tsennji gegeben hatte – das bedeutete »kostbar« –, war einen Monat vor Huschidhs drittem Sohn und sechstem Kind geboren worden. Schjopot hatte sie ihn genannt. »Flüstern«. Potja war der Kosename, der Schnellname, der im letzten Augenblick gekommen war, wie der Hauch einer Nachricht von der Überseele. Das letzte Flüstern in ihrem Herzen, bevor sie diese Welt für immer verließ. Issib war der Name komisch vorgekommen, aber er war besser als »kostbar«. Diesen Namen betrachteten sie beide als Anzeichen dafür, dass Rasa jedes Maß und Urteil verloren hatte. Potja wartete, Potja hatte Hunger; Huschidhs Brüste verrieten ihr dies mit einiger Dringlichkeit.

Doch als sie das Schiff verließ, begegnete sie Luet, die sie fröhlich begrüßte und so klang wie immer, so liebevoll und nett wie eh und je. Huschidh wollte ihr eine Ohrfeige geben. Belüge mich nicht! Tue nicht wie immer, wo ich doch weiß, dass du dich in deinem Herzen von mir abgesondert hast! Wenn du unsere liebevolle Nähe wie eine Maske auf- und absetzen kannst, werde ich nie wieder Freude daran haben können.

»Was ist los?«, fragte Luet.

»Was soll denn los sein?«, fragte Huschidh.

»Du trägst dein Herz auf deinem Gesicht«, sagte Luet, »zumindest für mich. Du bist wütend auf mich, und ich weiß nicht, warum.«

»Führen wir dieses Gespräch nicht gerade jetzt«, sagte Huschidh.

»Was ist denn? Was habe ich getan?«

»Das genau ist die Frage, die ich gern beantwortet hätte. Was hast du getan? Oder was willst du tun?«

Das war es. Das leichte Zucken von Luets Lidern, ihr Zögern, bevor sie eine Reaktion zeigte, so, als wolle sie überlegen, welche Reaktion sie zeigen sollte. Huschidh wusste, dass Luet irgendetwas vorhatte. Sie plante etwas. Und was auch immer es war, es verlangte von ihr, dass sie sich gefühlsmäßig von allen anderen in der Gruppe absonderte.

»Nichts«, sagte Luet. »Ich bin heute nicht anders als alle anderen auch, Huschidh. Ich ziehe meine Kinder groß und mache meine Arbeit zur Vorbereitung für unsere Reise.«

»Was immer du vorhast, Lutja«, sagte Huschidh, »tue es nicht. Die Sache ist es nicht wert.«

»Du weißt ja nicht einmal, wovon du sprichst.«

»Stimmt. Aber du weißt es. Und ich sage dir noch einmal – die Sache ist es nicht wert, dich von allen anderen abzusondern. Sie ist es nicht wert, dich von mir abzusondern.«

Luet schaute betroffen drein, und zumindest das war keine Heuchelei. Es sei denn, alles war Heuchelei. Diesen Gedanken konnte Huschidh nicht ertragen.

»Schuja«, sagte Luet. »Hast du das gesehen? Stimmt es? Ich habe es nicht gewusst, aber vielleicht ist es wahr. Vielleicht habe ich mich schon abgesondert von … oh, Schuja.« Luet warf die Arme um Huschidh.

Zögernd – aber warum zögere ich?, fragte sie sich – erwiderte Huschidh die Umarmung.

»Ich werde es nicht tun«, sagte Luet. »Ich werde nichts tun, das mich von dir trennt. Ich kann nicht glauben, dass ich … kannst du nicht etwas dagegen tun?«

»Dagegen tun?«, fragte Huschidh.

»Du weißt schon, wie du es bei Raschgallivaks Männern getan hast, als sie damals in Tante Rasas Schule eindrangen, um ihre Töchter zu verschleppen. Du hast die Loyalität seiner Männer von ihm abgewandt und ihn gestürzt, einfach so. Erinnerst du dich nicht daran?«

Doch, Huschidh erinnerte sich. Aber das war einfach gewesen; denn sie hatte gesehen, dass die Bande zwischen Rasch und seinen Männern sehr schwach waren, und es hatte nur einiger treffender Worte und überzeugender Gesten bedurft, um den Männern Verachtung für Rasch einzuflößen und sie dazu zu bringen, sich auf der Stelle von ihm abzuwenden. »Das ist nicht dasselbe«, sagte Huschidh. »Ich kann Menschen nicht dazu veranlassen, etwas zu tun. Ich konnte Raschs Leuten ihre Loyalität nehmen, weil sie Rasch in Wirklichkeit ohnehin nicht folgen wollten. Ich kann deine Bande zu uns nicht wiederherstellen. Das musst du schon selbst tun.«

»Aber ich will es doch«, sagte Luet.

»Was geht hier vor sich?«, fragte Huschidh. »Erkläre es mir einfach.«

»Das kann ich nicht«, sagte Luet.

»Warum nicht?«

»Weil nichts vor sich geht.«

»Aber irgendetwas wird vor sich gehen, nicht wahr?«

»Nein!«, sagte Luet, und nun klang sie wütend, unerbittlich. »Es wird nichts geschehen. Und deshalb gibt es nichts zu besprechen.« Mit diesen Worten floh Luet die Leiter hinauf, die zur Zentrale des Schiffes führte, wo die Mahlzeit wartete und die anderen sich versammelten.

Da wusste Huschidh, dass es die Überseele war. Die Überseele hatte Luet befohlen, etwas zu tun, was sie nicht tun wollte. Und wenn sie es tat, würde es sie von allen anderen trennen. Von allen – außer ihrem Mann und ihren Kindern. Um was ging es? Was hatte die Überseele vor?

Und was immer es auch war – warum hatte die Überseele Huschidh nicht darin eingeschlossen?

Zum ersten Mal stellte Huschidh fest, dass sie die Überseele für einen Feind hielt. Zum ersten Mal erkannte sie, dass sie der Überseele keine große Treue und Loyalität entgegenbrachte. Bloßes Misstrauen hatte diese Bande aufgelöst. Was tust du mir und meiner Schwester an, Heilige? Was auch immer es ist, höre damit auf.

Doch sie bekam keine Antwort. Nur Schweigen.

Die Überseele hat Luet auserwählt, irgendetwas zu tun, und nicht mich. Was soll Luet tun? Ich muss es wissen. Denn wenn es etwas Schreckliches ist, muss ich es verhindern.

 

Luet gefiel das Gebäude nicht, in dem sie zurzeit wohnten. Überall harte Oberflächen, glatt und leblos. Sie vermisste das Holzhaus in ihrem kleinen Dorf Dostatok, in dem sie acht Jahre lang gewohnt hatten, bevor ihr Gatte den uralten Raumhafen Vusadka gefunden und für sie geöffnet hatte. Und davor hatte sie, soweit sie sich zurückerinnern konnte, in Rasas Haus in Basilika gewohnt. Stadt der Frauen, Stadt der Anmut; Luet sehnte sich manchmal nach den Nebeln des verborgenen und heiligen Sees, nach dem Lärm auf den gut besuchten Märkten, nach den endlosen Reihen der Gebäude, die über die Straßen hinausragten. Aber dieser Ort – hatten seine Erbauer ihn jemals für schön befunden? Hatten sie gern in solchen toten Häusern gewohnt?

Und doch war es ein Zuhause, denn hier versammelten sich ihre Kinder, um zu schlafen und zu essen; hierher kam Nafai stets spät am Abend, um sich neben ihr müde auf ihrem Bett zusammenzurollen. Und wenn die Zeit kam, das Raumschiff zu betreten, das sie Basilika genannt hatten, würde sie auch diesen Ort zweifellos vermissen, die Erinnerungen an hektische Arbeit und aufgeregte Kinder und unbegründete Ängste. Falls die Ängste sich als unbegründet erweisen sollten.

Zur Erde zurückzukehren – was bedeutete das, wenn seit Millionen von Jahren kein Mensch mehr dort gewesen war? Und diese Träume, die immer wieder zu ihnen kamen, Träume von riesigen Ratten, die mit einer boshaften Intelligenz ausgestattet zu sein schienen. Träume von fledermausähnlichen Geschöpfen, die zwar Verbündete zu sein schienen, aber trotzdem unvorstellbar hässlich waren. Selbst die Überseele wusste nicht, was diese Träume bedeuteten oder warum der Hüter der Erde sie ihnen schickte. Doch unter dem Strich zog Luet aus ihrer aller Träume von der Erde den Schluss, dass dieser Ort kein Paradies sein würde, wenn sie dort eintrafen.

Aber in Wirklichkeit machte ihr – und wohl auch allen anderen, wie sie vermutete – die Reise als solche Angst. Hundert Jahre schlafen? Um dann angeblich zu erwachen, ohne einen Tag älter geworden zu sein? Das kam ihr wie ein Märchen vor, wie die Geschichte von dem armen Mädchen, das sich den Finger an einem Mausezahn stach und einschlief, nur um herauszufinden, dass alle reichen und schönen Mädchen zu fetten, alten Frauen geworden waren, als es dann erwachte, und dass sie die jüngste und schönste von allen war. Aber noch immer arm. Das war ein seltsamer Schluss, hatte Luet immer gedacht, dass das Mädchen arm geblieben war. Es müsste eine Abwandlung dieser Geschichte geben, wo der König das Mädchen seiner Schönheit wegen auswählte, statt die reichste Frau zu heiraten, um in den Besitz ihrer Mitgift zu kommen. Aber das hatte nichts damit zu tun, worüber sie sich nun Sorgen machte. Warum waren ihre Gedanken so weit abgeschweift? Ach ja. Weil sie an die Reise gedacht hatte. Daran, sich auf dem Schiff schlafen zu legen, damit das Lebenserhaltungssystem Nadeln in sie stechen und sie für die Reise einfrieren konnte. Woher sollten sie alle wissen, dass sie nicht einfach sterben würden?

Na ja, sie hätten schon tausendmal sterben können, seitdem in Basilika alles zerfallen war. Stattdessen hatten sie bis jetzt überlebt, und die Überseele hatte sie zu diesem Ort geführt. Und bislang lief alles eigentlich ganz gut. Sie hatten ihre Kinder. Sie hatten es weit gebracht. Niemand war gestorben oder auch nur ernsthaft verletzt worden. Seit Nafai von der Überseele den Mantel des Herrn der Sterne bekommen hatte, verhielten sich sogar Elemak und Mebbekew, seine hasserfüllten älteren Brüder, einigermaßen kooperativ – und es war allseits bekannt, dass sie den Gedanken verabscheuten, zur Erde zurückzukehren.

Warum also war die Überseele so wild entschlossen, alles zu verderben?

›Ich bin wild entschlossen, euer Leben zu retten, das deine und das deines Gatten.‹ Hier, an diesem Ort, an dem die Überseele tatsächlich wohnte, hörte Luet ihre Stimme viel leichter, als es in Basilika je der Fall gewesen war.

»Der Mantel des Herrn der Sterne wird Nafai schützen«, murmelte Luet. »Und er wird uns schützen.«

›Und wenn er alt ist? Wenn Elemak seine Söhne gelehrt hat, euch und eure Kinder zu hassen? Es ist simple Mathematik, Luet. Sobald eure Gemeinschaft sich spaltet – und diese Spaltung wird kommen – stehen auf der einen Seite Elemak und seine vier Söhne, Mebbekew und sein Sohn, Obring und seine beiden Söhne, Vas und sein Sohn. Vier starke Erwachsene, acht Knaben. Und wer steht auf eurer Seite? Dein Gatte natürlich. Aber wer sind seine Verbündeten? Sein Vater Volemak?‹

»Alt«, murmelte Luet.

›Ja, zu alt. Und Issib ist von Geburt an ein schwacher Krüppel. Der einzige andere erwachsene Mann ist Zdorab – und wie willst du wissen, auf welcher Seite er steht?‹

»Selbst wenn er Nafai unterstützt, zählt seine Hilfe nicht viel.«

›Also erkennst du das Problem. Selbst mit deinen vier Söhnen, Issibs dreien und Volemaks zweien könnt ihr nicht gerade ein starkes Heer bilden. Und Elemak wird sowieso bald zuschlagen, bevor die Kinder alt genug sind, um eine Rolle zu spielen. Also stehen vier starke und brutale Männer gegen einen Mann, der nicht stark und brutal ist.‹

»Nur falls es Nafai nicht gelingt, alle zusammenzuhalten.«

›Elemak wartet nur seine Zeit ab. Ich weiß es. Daher wirst du ihn überzeugen, das zu tun, was ich dir gezeigt habe.‹

»Überzeuge du ihn doch.«

›Er wird nicht auf mich hören.‹

»Weil er weiß, dass dein Plan zu einer Katastrophe führen wird. Er würde genau das verursachen, das du angeblich verhindern willst.«

›Natürlich wird es einigen Ärger geben …‹

»Ärger! Ach, nur ein wenig. Wir erreichen die Erde, und alle Erwachsenen erwachen aus dem Tiefschlaf, nur um herauszufinden, dass Nafai und Luet – upps! – irgendwie vergessen haben, sich ebenfalls in den Tiefschlaf zu versetzen, und dass – noch einmal upps! – sie es irgendwie geschafft haben, dass ein Dutzend der älteren Kinder während der gesamten zehn Jahre der Reise mit ihnen wach geblieben sind. Verstehst du also, meine liebe Schwester Schuja? Als du dich schlafen gelegt hast, war deine Tochter Dza erst acht Jahre alt, aber jetzt ist sie achtzehn und mit Padarok verheiratet, der mittlerweile übrigens siebzehn ist – tut uns leid, Schedemei und Zdorab, wir wussten doch, ihr habt nichts dagegen, dass wir euren einzigen Sohn für euch großziehen. Und da diese Kinder ja nun mal nicht geschlafen haben, haben wir sie natürlich die ganze Zeit unterrichtet, so dass sie jetzt Experten auf allen Gebieten sind, auf denen sie sich auskennen müssen, um unsere Kolonie aufzubauen. Sie sind auch schon groß und stark genug, um die Arbeit von Erwachsenen zu erledigen. Aber – und nochmal upps! – keins eurer Kinder, Eiadh und Kokor und Sevet und Dol, keins eurer Kinder hat irgendeine Ausbildung bekommen. Ihr habt noch immer kleine Kinder, die keine große Hilfe sein werden.«

›Wie ich sehe, hast du jeden Aspekt des Plans durchdacht. Warum siehst du nicht ein, dass er sowohl notwendig als auch fehlerlos ist?‹

»Sie werden wütend sein«, sagte Luet. »Sie werden uns alle hassen – Volemak und Rasa und Issib und Schuja und Schedemei und Zdorab, weil wir ihnen ihre ältesten Kinder gestohlen haben. Und die anderen werden uns hassen, weil wir ihren Kindern diesen Vorteil nicht gewährt haben.«

›Ja, sie werden wütend sein. Aber diejenigen, die meine treuesten Freunde sind, werden bald die Notwendigkeit einsehen, dass ihre Kinder älter und stärker sein müssen. Dies verändert das Gleichgewicht der körperlichen Macht in der Gemeinschaft. Es wird euch alle am Leben halten.‹

»Sie werden immer davon überzeugt sein, dass die Gemeinschaft lediglich auseinandergebrochen ist, weil Nafai und ich etwas so Schreckliches getan haben. Sie werden uns hassen und uns Vorwürfe machen und uns ganz bestimmt nie wieder vertrauen.«

›Ich werde ihnen sagen, dass es meine Idee war.‹

»Und sie werden sagen, dass du nur ein Computer bist und natürlich nicht wissen kannst, wie und was Menschen empfinden. Aber dass wir es gewusst haben, und dass wir uns hätten weigern sollen.«

›Vielleicht hättet ihr euch weigern sollen. Aber ihr werdet es nicht tun.‹

»Ich habe mich bereits geweigert. Ich weigere mich jetzt erneut.«

›Du weigerst dich mit deinem Mund und deinem Verstand. Doch Huschidh hat in deinem Herzen gesehen, dass du dich bereits darauf vorbereitest, mir zu gehorchen.‹

»Nein!«, rief Luet.

»Mutter?« Es war Chvejas Stimme, die durch die Tür von Luets Zimmer drang.

»Was ist, Veja?«

»Mit wem sprichst du?«

»Mit mir selbst, in einem Traum. Reine Torheit. Schlaf weiter.«

»Ist Vater schon zu Hause?«

»Er ist noch bei Issib im Schiff.«

»Mutter?«

»Schlaf jetzt, Chveja. Ich meine es ernst.«

Sie hörte das schlurfende Geräusch von Chvejas Sandalen auf dem Boden. Was hatte Chveja gehört? Seit wann lauschte sie schon an der Tür?

›Sie hat alles gehört.‹

Warum hast du mich nicht gewarnt?

›Warum hast du laut gesprochen? Ich verstehe deine Gedanken.‹

Weil meine Gedanken klarer sind, wenn ich laut spreche, deshalb. Was hast du vor? Willst du Chveja dazu bringen, deinen Plan auszuführen?

›Da du mit Nafai nicht darüber sprechen willst, habe ich Chveja aufgeweckt. Sie sollte hören, was du sagst. Sie wird es ihm erzählen.‹

Warum hast du nicht einfach selbst mit ihm gesprochen?

›Er will nicht auf mich hören.‹

Weil er ein sehr kluger Mann ist. Deshalb liebe ich ihn.

›Er braucht eine andere Sicht der Dinge. Du hättest sie ihm am besten vermitteln können. Chveja wird genügen.‹

Lass ja meine Kinder in Ruhe.

›Deine Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten. Als du in Chvejas Alter gewesen bist, warst du bereits als Wasserseherin von Basilika bekannt. Mir ist nicht aufgefallen, dass du dich damals über meine enge Beziehung zu dir beschwert hast. Und ich scheine mich zu entsinnen, dass du dich gefreut hast, als Chveja zum ersten Mal Träume vom Hüter der Erde bekam.‹

»Wenn ich mir überlege, dass ich dich einmal für einen … einen Gott gehalten habe …«

›Und wofür hältst du mich jetzt?‹

»Wenn ich nicht wüsste, dass du ein Computerprogramm bist, würde ich sagen, du bist ein aufdringliches, ekelhaftes altes Miststück.«

›Sei ruhig wütend auf mich, wenn du willst. Das verletzt meine Gefühle nicht. Ich verstehe dich sogar. Aber du musst die großen Zusammenhänge sehen, Luet. Ich sehe sie.‹

»Ja, du siehst so große Zusammenhänge, dass dir kaum auffällt, wie du das Leben von kleinen Eintagsfliegen wie uns zerstörst.«

›Ist dein Leben bislang so schrecklich gewesen?‹

»Sagen wir mal … es ist nicht wie erwartet verlaufen.«

›Aber ist es so schrecklich gewesen?‹

»Halt endlich die Klappe und lass mich in Ruhe.«

Luet warf sich auf dem Bett zurück und versuchte zu schlafen.

Doch sie dachte immer wieder daran: Huschidh hat gesehen, dass ich mit den anderen unserer Gemeinschaft nicht mehr verbunden bin. Das heißt, ich hege irgendwo in meinem Herzen bereits die unbewusste Absicht, den Auftrag der Überseele auszuführen. Also kann ich auch gleich aufgeben und es bewusst tun.

Ja, ich tue es und verbringe dann den Rest meines Lebens mit dem Wissen, dass meine Schwester und Tante Rasa und die liebe Schedemei mich alle hassen werden und ich ihren Hass absolut und uneingeschränkt verdient habe.

2

 

Das Antlitz des Alten

 

Alle rechneten damit, dass Kitis diesjährige Skulptur ein Porträt seines Ander-Ichs sein würde, kTi. Das war auch Kitis Absicht – bis zu dem Augenblick, da er am Flussufer den Ton fand und sich an die Arbeit machte, indem er ihn mit dem Speer aufbrach und lockerte. Kein junger Mann im Dorf war besser gelitten als kTi; in keinen setzte man größere Hoffnungen. Es hieß, dass eine der großen Damen ihn als Ehemann erwählen und ihm eine Lebensehe anbieten würde; ein außergewöhnlicher Vorgang bei einem so jungen Mann. Wäre es dazu gekommen, wäre Kiti als kTis Ander-Ich ebenfalls in die Ehe übernommen worden. Schließlich waren er und kTi ja identisch, und da spielte es keine Rolle, wer von ihnen der Erzeuger eines besonderen Kindes sein würde.

Aber Kiti wusste, dass er und kTi nicht identisch waren. Oh, ihre Körper waren gleich, wie bei jedem anderen Geburtspaar. Da etwa bei einem Viertel aller Geburtspaare beide Individuen bis zur geschlechtlichen Reife überlebten, war es gar nicht so selten, zwei identische junge Männer vorzufinden, die sich den Damen des Dorfes anboten, um als Paar akzeptiert oder abgelehnt zu werden. Der Brauch und die Höflichkeit schrieben also vor, dass jedermann Kiti denselben Respekt erwies wie seinem Ander-Ich. Aber alle wussten, dass kTi und nicht Kiti ihren Ruf erworben hatte, klug und stark zu sein.

Doch es war nicht völlig zutreffend, dass kTi das gesamte Verdienst zufiel, clever zu sein. Wenn die beiden gemeinsam flogen, eine der Herden des Dorfes hüteten, nach Teufeln Ausschau hielten oder Krähen von den Maisfeldern verjagten, sagte Kiti oft: Diese Ziege wird bestimmt dort entlang gehen, oder: Diesen Baum werden die Teufel wahrscheinlich benutzen wollen. Und am Anfang ihrer berühmtesten Heldentat war es Kiti gewesen, der gesagt hatte: Lass mich so tun, als läge ich verletzt auf diesem Ast, während du mit deinem Speer auf jenem höheren Ast dort wartest. Doch wenn die Geschichte erzählt wurde, schien es immer kTi zu sein, der an alles dachte. Warum sollten die Leute also etwas anderes annehmen? Stets war es kTi, der handelte; stets war es kTi, dessen Kühnheit den Erfolg gewährleistete, während Kiti ihm folgte, ihm half, ihn manchmal rettete, ihm aber nie voranging.

Natürlich konnte er das niemandem erklären. Es wäre zutiefst beschämend für einen Teil eines Geburtspaars gewesen, seinem Ander-Ich den Ruhm nehmen zu wollen. Und außerdem war die Regelung, soweit es Kiti betraf, vollkommen fair. Denn ganz gleich, wie gut eine von Kitis Ideen gewesen sein mochte, stets setzte erst kTis Kühnheit sie in die Tat um.

Warum war es so gekommen? Kiti mangelte es nicht an Mut, oder? Flog er nicht immer auf ihren gewagtesten Abenteuern direkt neben kTi? War es nicht Kiti gewesen, der zitternd auf einem Ast sitzen und so tun musste, als wäre er verletzt und hätte schreckliche Angst, während er die schwachen Geräusche hörte, mit denen sich im Baumstamm eine Teufelstür öffnete, und das leise Kratzen, mit denen sich die Hände und Füße des Teufels auf dem Ast hinter ihm einen Zentimeter um den anderen voranbewegten? Warum begriff niemand, dass der größte Mut darin bestand, still dort zu sitzen, zu warten und darauf zu vertrauen, dass kTi noch rechtzeitig mit seinem Speer kam? Nein, die Geschichte, die im Dorf erzählt wurde, drehte sich lediglich um kTis wagemutigen Plan, um kTis Triumph über den Teufel.

Es war böse von mir, so wütend zu sein, dachte Kiti. Deshalb wurde mein Ander-Ich mir genommen. Deshalb hat der Sturm uns im Freien überrascht. kTis Füße und Finger löste der Wind vom Ast, kTi wurde in den Himmel befördert, um mit den Göttern zu fliegen. Kiti war dessen nicht würdig, und deshalb hielt sein Griff um den Ast, bis Wind davonging. Es war, als wolle Wind ihm sagen: Du hast dein Ander-Ich beneidet, also habe ich euch auseinandergerissen, um dir zu zeigen, wie unwürdig du ohne kTi bist.

Deshalb hatte Kiti vor, das Gesicht seines Ander-Ichs zu formen. Und genau deshalb konnte er es letztlich nicht. Denn wollte er kTis Gesicht formen, hätte er auch sein eigenes Gesicht formen müssen, und das konnte er in seiner tiefen Unwürdigkeit nicht ertragen.

Und doch musste er irgendetwas formen. Der Speichel floss bereits in seinem Mund, um den Ton zu befeuchten, um daran zu lecken, ihn zu glätten und der fertigen Skulptur eine schimmernde Patina zu geben. Aber es wäre ruchlos, so kurz nach kTis Tod nicht das Gesicht seines Ander-Ichs zu formen. Man würde dies als Mangel an natürlicher Zuneigung betrachten. Die Damen würden glauben, er habe seinen Bruder nicht geliebt, und deshalb seinen Samen nicht in ihrer Familie haben wollen. Nur eine schlichte, einfache Frau würde sich ihm anbieten. Und er würde, überwältigt vom Tonfieber, dieses Angebot wie ein eifriger Junge akzeptieren, und sie würde seine Kinder zur Welt bringen, und er würde sie von da an Jahr um Jahr ansehen und daran denken müssen, dass er der Vater so niederer Kinder war, weil er es nicht hatte über sich bringen können, das Gesicht seines geliebten kTis zu formen.

Ich habe ihn geliebt, beharrte er stumm. Mit ganzem Herzen habe ich ihn geliebt. Bin ich ihm nicht dorthin gefolgt, wohin er gehen wollte? Habe ich ihm nicht immer wieder mein Leben anvertraut? Habe ich ihn nicht immer wieder gerettet, wenn seine Ungeduld ihn in Gefahr gebracht hatte? Habe ich ihn nicht sogar zur Umkehr gedrängt? Ein Sturm zieht auf! Komm, suchen wir einen Zufluchtsort! Wir müssen Schutz finden! Was für eine Rolle spielt es schon, ob wir den Teufelsweg auf diesem Flug oder dem nächsten finden? Kehren wir um, kehren wir um! Und er wollte nicht. Er hat mich ignoriert, als gäbe es mich gar nicht, als wäre ich nichts, als hätte ich nicht mal eine Stimme, wenn es um mein Überleben ging, geschweige denn um das seine.

Der Ton wurde feucht, ballte sich zusammen und floss bereits in seinen Händen, doch genauso viele Tränen wie Speichel befeuchteten ihn. O Wind, du hast mein Ander-Ich genommen, und jetzt kann ich sein Gesicht nicht im Ton finden. Gib mir eine Form, o Wind, falls ich würdig bin! O Mais, falls ich dir Töchter schenken soll, auf dass sie deine Felder hüten, gib meinen Fingern Wissen, selbst wenn mein Verstand abgestumpft ist. O Regen, fließe mit meinem Speichel und meinen Tränen und lasse den Ton unter meinen Händen leben! O Erde, du tief verbrennende Mutter, mach meine Knochen klug, denn eines Tages werden sie wieder dir gehören. Lass mich dir andere Knochen bringen, junge Knochen, Kindsknochen aus deinem Ton, o Erde! Lass mich dir junge Schwingen in deine Hände geben, o Wind! Lass mich neue Getreidekörner des Lebens für dich machen, o Mais! Lass mich neue Wassertrinker bringen, neue Weiner, neue Bildhauer, die du schmecken kannst, o Regen!

Doch trotz seines Flehens brachten die Götter keine Form unter seine Hände.

Seine Tränen blendeten ihn. Sollte er aufgeben? Sollte er in den Himmel der Trockenzeit hinauffliegen und nach irgendeinem fernen Dorf suchen, das einen kräftigen Mann gebrauchen konnte, und Da'aqebla nie wiedersehen? Oder sollte seine Verzweiflung sogar noch weiter gehen? Sollte er den Ton aus den Händen legen und trotzdem am Flussufer bleiben, bloßgestellt, damit die ihn beobachtenden Teufel sehen konnten, dass er keine Skulptur in sich hatte? Dann würden sie ihn wie ein Kleinkind in ihre Höhlen holen und ihn bei lebendigem Leibe verschlingen, damit er im Augenblick seines Todes sehen konnte, wie die Teufelskönigin sein Herz aß. Das wäre das richtige Ende für ihn. In die Hölle hinabgetragen, weil er nicht würdig war, von Wind in den Himmel gehoben zu werden. Dann würde kTi alle Ehre zufallen, und er müsste sie nicht mit seinem niederen, unwürdigen Ander-Ich teilen.

Seine Finger arbeiteten, obwohl er nicht sehen konnte, was sie formten.

Und während sie arbeiteten, hörte er auf, sein eigenes Versagen zu betrauern, denn ihm wurde klar, dass auf einmal eine Form unter seinen Händen war. Sie wurde ihm gegeben – auf eine Art und Weise, von der er bislang nur gehört hatte. Als er als Kind mit den anderen Knaben im Spiel Ton geformt hatte, war er jedes Mal der geschickteste gewesen; doch nie hatte er gefühlt, dass die Götter seine Hände geleitet hatten. Was er schuf, war stets seinem eigenen Verstand und Gedächtnis entsprungen.

Nun aber wusste er nicht, was unter seinen Händen wuchs, jedenfalls zuerst nicht. Doch bald schon trauerte er nicht mehr, hatte er keine Angst mehr, wurde sein Blick wieder klar, und er sah. Es war ein Kopf. Ein seltsamer Kopf. Nicht der Kopf einer Person oder eines Teufels oder irgendeines Geschöpfes, das Kiti je zuvor gesehen hatte. Er hatte eine hohe Stirn, und seine Nase war spitz, haarlos und glatt, und die Nasenlöcher öffneten sich nach unten. Was für einen Sinn konnte so eine Schnauze haben? Die Lippen waren dick, der Kiefer war unglaublich stark, und das Kinn stand vor, als konkurriere es mit der Nase, dieses Wesen in die Welt hinauszuführen. Die Ohren waren abgerundet und saßen mitten auf den Seiten des Kopfes. Was für ein Geschöpf schaffe ich da? Warum entsteht unter meinen Händen etwas so Hässliches?

Dann kam ihm plötzlich die Antwort in den Sinn: Das ist ein Alter.

Seine Schwingen zitterten, während seine Hände sicher und stark fortfuhren, die Einzelheiten des Gesichts zu formen. Ein Alter. Woher wusste er das? Niemand hatte je einen Alten gesehen. Nur hier und dort, in einigen geschützten Höhlen, fand man mitunter einige unerklärbare Überreste ihrer Zeit auf der Erde. Da'aqebla hatte nur drei solcher Überreste, und Da'aqebla war eins der ältesten Dörfer. Wie konnte er es wagen, den Damen des Dorfes zu erklären, dass dieser groteske, missgebildete Kopf, den er schuf, der eines Alten war? Sie würden ihn auslachen. Nein, sie würden wütend darüber sein, dass er sie für so töricht hielt, eine so unsinnige Behauptung zu glauben. Wie können wir deine Skulptur beurteilen, wenn du darauf bestehst, etwas zu schaffen, das nie eine lebende Seele gesehen hat? Du hättest besser daran getan, den Ton in einem formlosen Klumpen liegen zu lassen und zu behaupten, es sei die Skulptur eines Flusssteins!

Trotz seiner Zweifel bewegten seine Hände und Finger sich weiterhin. Er wusste, ohne es zu wissen, dass Haar auf dem knochigen Wulst über den Augen sein musste, und dass der Pelz des Kopfes lang und dass sich eine Vertiefung mitten unter der Nase befinden musste, die zur Lippe hinabführte. Und als er fertig war, wusste er nicht, wieso er wusste, dass er fertig war. Er betrachtete, was er geschaffen hatte, und war entsetzt darüber. Es war hässlich, fremd und viel zu groß. Doch genau so musste es sein.

Was habt ihr mit mir gemacht, o Götter?

Er saß ganz still da und betrachtete den Kopf des Alten, als die Damen in großer Höhe herbeigeschwebt kamen und zum Flussufer herabstießen. An den Rändern befanden sich die Männer, deren Skulpturen bereits begutachtet worden waren. Kiti kannte die Männer natürlich allesamt und konnte sich gut vorstellen, wie ihre Arbeiten aussahen. Ein paar von ihnen waren Gatten, und da ihre Damen lebenslang mit ihnen verheiratet waren, standen ihre Skulpturen nicht mehr im Wettstreit mit denen der anderen. Einige von ihnen waren jung, wie Kiti, und boten zum ersten Mal Skulpturen feil – und an ihren Armesündermienen erkannte Kiti, dass sie nicht den erhofften Eindruck erzielt hatten. Dennoch hatte das Tonfieber alle Männer befallen, und so sahen sie ihn oder seine Skulptur kaum an; ihre Blicke waren auf die Damen gerichtet.

Die Damen betrachteten seine Skulptur schweigend. Einige von ihnen traten zur Seite, um sie aus einem anderen Winkel zu studieren. Kiti wusste, dass seine Skulptur handwerklich außergewöhnlich gut geraten und ihre Größe beinahe schon dreist war. Er spürte, wie das Tonfieber sich in seinem Innern rührte, und alle Damen kamen ihm wunderschön vor. Er nahm ihre skeptischen Gesichter mit Schrecken war – er sehnte sich jetzt danach, dass sie ihn erwählten.

Schließlich wurde das Schweigen gebrochen. »Was soll das sein?«, flüsterte eine Dame. Kiti hielt nach der Stimme Ausschau. Es war Upua, eine Dame, die nie geheiratet und sich seit einigen Jahren nicht mal mehr gepaart hatte. Das hatte ihr den Ruf eingebracht, überheblich zu sein; es hieß, Upua sei von allen Damen am schwierigsten zufriedenzustellen. Natürlich würde sie die Dame sein, die ihn vor allen anderen befragte.

»Es wuchs unter meinen Händen«, sagte Kiti. Er wagte es nicht, ihnen zu verraten, worum es sich in Wirklichkeit handelte.

»Alle dachten, du würdest dein Ander-Ich ehren«, sagte eine andere Dame, die von Upuas verächtlicher Frage ermutigt worden war.

Die schwierigste Frage. Er wagte es nicht, ihr auszuweichen. Aber wagte er es, ihr die Wahrheit zu sagen? »Das wollte ich auch. Aber es war auch mein Gesicht, und ich war nicht würdig, mein Gesicht aus Ton zu schaffen.«

Leises Gemurmel erklang. Einige hielten das Argument für töricht; andere hielten es für eine Täuschung; einige dachten darüber nach.

Schließlich hatten die Damen sich entschieden. »Nichts für mich.« – »Hässlich.« – »Sehr seltsam.« – »Interessant.« Doch wie ihr Urteil auch ausfiel, sie alle flogen los, stiegen auf und kreisten, ließen sich schließlich zu den Ästen des nächsten Baumes treiben. Die Männer, die wegen der vollständigen Zurückweisung des angeblich talentierten Kiti zweifellos Triumph empfanden, gesellten sich dort zu ihnen.

Schließlich standen nur noch Kiti und Upua am Flussbett.

»Ich weiß, was das ist«, sagte Upua.

Kiti wagte nicht zu antworten.

»Das ist der Kopf eines Alten«, sagte sie.

Ihre Stimme wurde bis zu den Damen und Männern auf den Ästen getragen. Sie hörten Upua, und viele schnappten nach Luft oder pfiffen erstaunt.

»Ja, Dame Upua«, sagte Kiti, beschämt darüber, dass seine Arroganz aufgeflogen war. »Aber es wurde mir unter meine Hände gegeben. Ich hatte nie vor, ein solches Ding zu schaffen.«

Upua schwieg lange Zeit, ging um die Skulptur herum, umkreiste sie immer wieder.

»Der Tag ist kurz!«, rief eine der führenden Damen von ihrem Ausguck in den Bäumen.

Upua schaute erschrocken zu ihr hinauf. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte dies hier sehen und mich daran erinnern, denn die Götter haben uns ein großes Geschenk gemacht, indem sie uns das Antlitz der Alten zeigen.«

Einige lachten über diese Worte. War Upua wirklich der Ansicht, Kiti könne etwas schaffen, das nie zuvor jemand gesehen hatte?

Sie drehte sich zu Kiti um, den das Tonfieber mittlerweile dermaßen erhitzte, dass er sich kaum davon abhalten konnte, sich vor Upuas Füßen zu Boden zu werfen und sie zu bitten, sich mit ihm zu paaren.

»Heirate mich«, sagte sie.

Er hatte sie bestimmt falsch verstanden.

»Heirate mich«, wiederholte sie. »Von jetzt an bis zu meinem Tode will ich nur deine Kinder haben.«

»Ja«, sagte er.

Seit tausend Jahren war kein anderer Mann mehr so sehr geehrt worden. Bei der ersten Skulptur bereits ein Eheangebot, und das auch noch von einer Dame von solchem Ansehen? Viele der anderen – Damen wie auch Männer – waren außer sich. »Unsinn, Dame Upua«, sagte eine andere der führenden Damen. »Du setzt die Institution der Ehe herab, indem du sie einem so jungen Mann anbietest, und das auch noch für eine so lächerliche Skulptur.«

»Die Götter haben ihm das Antlitz eines Alten gegeben. Kommt alle her und betrachtet diese Skulptur noch einmal. Wir werden erst nach zwei Liedern von hier aufbrechen, damit wir alle uns an das Antlitz des Alten erinnern und unseren Kindern erzählen können, was wir an diesem Tag gesehen haben.«

Und da Upua die Dame war, welche die Ehe angeboten hatte, und die an diesem Ort akzeptiert worden war, mussten die anderen ihr für den Zeitraum von zwei Liedern zu Willen sein. Sie betrachteten den Kopf des Alten, und Kiti und Upua gingen gemeinsam auf ewig in den Legendenschatz des Dorfes Da'aqebla ein. Sie gingen auch die Ehe ein, und Kiti, der vor Kurzem noch bei dem Gedanken, der Gatte einer so angsteinflößenden Dame zu sein, gezittert hätte, sollte bald erfahren, dass Upua eine freundliche und liebevolle Frau war und dass es ihm nur Freude bringen würde, ihr ein aufmerksamer und beschützender Gatte zu sein. Danach vermisste er kTi zwar noch gelegentlich, aber nie wieder würde er denken, dass Wind ihn bestraft habe, indem er ihn nicht mit kTi in den Himmel getragen hatte.

Doch an diesem Tag wussten sie noch nicht, was die Zukunft bringen würde. Sie wussten nur, dass Kiti der kühnste Bildhauer war, der je gelebt hatte, und da seine Kühnheit ihm eine Dame zur Frau gewonnen hatte, stieg er sofort in der Achtung der anderen. Er war fürwahr kTis Ander-Ich, und obwohl man kTi von ihnen genommen hatte, würden sein Mut und seine Klugheit in Kiti weiterleben, bis sie sich im Alter zu Stärke und Weisheit wandeln würden.

Als die beiden Lieder verstrichen waren, und als die Schar der Damen und Männer sich erhob und zum nächsten Mann weiterflog, tauchten dunkle Gestalten aus den Schatten der Bäume auf. Auch sie gingen um die seltsame Skulptur herum, hoben sie schließlich auf und trugen sie davon, obwohl die Skulptur außergewöhnlich groß und schwer war und die Fremden sie nicht verstanden.

3

 

Geheimnisse

 

Es rutschte einfach so heraus. Chveja hatte nicht vor, irgendjemandem zu sagen, was sie am vergangenen Abend hinter Mutters Tür gehört hatte. Sie konnte ein Geheimnis bewahren. Selbst ein so schlimmes Geheimnis wie die Tatsache, dass Mutter die Absicht hatte, Dazja während der Reise erwachsen werden und Rokja heiraten zu lassen. Was hatte das zu bedeuten? Dass Chveja Proja oder sonst wen heiraten musste? Das wäre doch schön, oder nicht? Er sollte Dazja heiraten; dann konnten die beiden herrischsten Kinder sich gegenseitig nach Herzenslust herumkommandieren. Warum wollte Chvejas eigene Mutter, dass Dazja den besten Jungen bekam, der kein doppelter Vetter ersten Grades war?

Chveja dachte noch immer darüber nach, als Dazja sie wegen irgendeiner blöden Sache anschrie – weil sie eine Tür offenstehen gelassen hatte, die Dazja geschlossen haben wollte, oder sie geschlossen hatte, obwohl Dazja wollte, dass sie offen blieb – und Chveja einfach damit herausplatzte. »Ach, halt doch die Klappe, Dazja. Du wirst während der Reise sowieso erwachsen und heiratest Rokja. Da kannst du mir doch wenigstens die Entscheidung über Türen überlassen.«

Und es war nicht Chvejas Schuld, dass Rokja in diesem Augenblick zufällig mit seinem Vater hereinkam. Sie trugen Körbe mit Brot, das für die Reise gefroren werden sollte.

»Was redest du da?«, fragte Rokja. »Ich würde keine von euch beiden heiraten.«

Es war nicht Rokjas Reaktion, die Chveja Sorgen bereitete, sondern die des kleinen Zdorab, Rokjas Vater. »Warum denkst du darüber nach, wer Padarok heiraten wird?«, fragte Zdorab.

»Er ist nun mal der einzige, der kein Vetter oder so was ist«, sagte Chveja errötend.

»Veja denkt immer nur ans Heiraten«, sagte Dazja. Dann fügte sie hilfreich hinzu: »Sie ist krank im Kopf.«

»Du bist erst acht Jahre alt«, sagte Zdorab und lächelte vergnügt. »Wie kommst du darauf, dass während der Reise jemand heiratet?«

Chveja hielt die Klappe und zuckte mit den Achseln. Sie wusste, dass sie nichts von dem hätte wiederholen sollen, was sie hinter der Tür ihrer Mutter gehört hatte. Vielleicht würden Zdorab und Rokja und Dazja die Sache vergessen, wenn sie nichts mehr sagte, und dann würde Mutter nie erfahren, dass Chveja sie belauscht hatte und ein Plappermaul war.

 

Elemak hörte Zdorab teilnahmslos zu. Mebbekew war nicht so ruhig. »Ich hätte es wissen müssen. Er hat vor, uns unsere Kinder zu stehlen!«

»Das bezweifle ich«, sagte Elemak.

»Du hast ihn doch gehört!«, rief Mebbekew. »Du glaubst doch nicht, dass Chveja sich diesen Plan ausgedacht hat, Kinder während der Reise wach zu halten, damit sie erwachsen werden, oder?«

»Du hast nicht verstanden«, sagte Elemak. »Ich bezweifle, dass Njef dafür unsere Kinder auswählen würde.«

»Warum denn nicht? Dann hätte er zehn Jahre Zeit, ihre Gedanken zu vergiften und sie gegen uns aufzuhetzen.«

»Würde er mir das antun, würde ich ihn töten«, sagte Elemak. »Und das weiß er.«

»Und er weiß, dass ich ihn nicht töten würde«, sagte Zdorab. »Stellt euch das vor – er erzählt seiner Tochter davon, lässt uns gegenüber aber nicht mal die leiseste Andeutung fallen.«

Elemak dachte kurz darüber nach. Solche Achtlosigkeit mochte bei Nafai vielleicht nicht ungewöhnlich sein, doch er bezweifelte es trotzdem. »Wisst ihr, vielleicht ist es ja gar nicht Nafais Plan. Es könnte der von Chvejas Mutter sein. Vielleicht vermisst die Wasserseherin den Einfluss, den sie in Basilika gehabt hat.«

»Vielleicht gefällt ihr die Vorstellung, eine Schule zu leiten, wie ihre Mutter es getan hat«, sagte Mebbekew.

»Aber können wir überhaupt etwas dagegen unternehmen?«, fragte Zdorab. »Er hat den Mantel des Herrn der Sterne. Er hat den Index. Er beherrscht das Schiff. Ganz gleich, was er sagt – was soll ihn davon abhalten, während der Reise unsere Kinder aufzuwecken und zu tun, was immer er will?«

»Die Nahrungsvorräte sind nicht unerschöpflich«, sagte Elemak. »Er kann nicht alle aufwecken.«

»Denk doch mal darüber nach«, sagte Mebbekew. »Was ist, wenn wir aufwachen, und sein Sohn Zhatva ist ein siebzehnjähriger Bursche? Njef war in diesem Alter schon ziemlich groß. Während unsere Kinder noch klein sind. Und Vaters zwei Nachzöglinge Ojkib und Yasai. Und dein Padarok, Zdorab.«

Zdorab lächelte schwach. »Padarok wird nicht so groß.«

»Er wird zum Mann werden«, sagte Mebbekew. »Der Plan ist nicht dumm. Er wird die Kinder während der Reise beeinflussen, damit sie die Dinge auf seine Weise sehen.«

Elemak nickte. Daran hatte er auch schon gedacht. »Die Frage ist, was können wir dagegen tun?«

»Selbst wach bleiben.«

Elemak schüttelte den Kopf. »Er hat bereits gesagt, dass das Schiff nicht eher starten wird, bis alle außer ihm schlafen.«

»Dann fliegen wir eben nicht mit!«, sagte Mebbekew. »Soll er doch zur Erde aufbrechen! Sobald er fort ist, können wir unsere Familien nach Basilika zurückbringen.«

»Meb«, sagte Elemak, »hast du vergessen, dass wir nicht mehr reich sind? Das Leben in Basilika wäre armselig. Falls sie uns nicht ins Gefängnis werfen. Oder töten, sobald sie uns sehen.«

»Und die Reise wäre mit kleinen Kindern erbärmlich«, fügte Zdorab hinzu. »Ganz zu schweigen davon, dass Schedemei und ich das überhaupt nicht wollen.«

»Dann flieg doch mit Nafai«, sagte Mebbekew. »Mir doch egal, was du tust.«

Elemak vernahm Mebbekews Worte mit Abscheu. Was für ein Narr er doch war! Zdorab hatte ihnen erzählt, was Chveja gesagt hatte. Zdorab war nie zuvor ihr Verbündeter gewesen. Doch nun, da seine Kinder bedroht wurden, bot sich ihnen die gute Gelegenheit, ihn endgültig auf ihre Seite zu ziehen. Dann würde Nafais Gruppe nur noch aus ihm selbst, Vater und Issib bestehen – mit anderen Worten aus Njef, dem alten Mann und dem Krüppel.

»Zdorab«, sagte Elemak, »ich nehme die Sache sehr ernst. Ich glaube, wir haben keine andere Wahl, als zum Schein bei Nafais Plänen mitzuspielen. Aber es gibt doch bestimmt eine Möglichkeit, in den Schiffscomputer zu kommen und ihn so einzustellen, dass er uns während der Reise weckt – zu einem Zeitpunkt, da Nafai glaubt, dass alles nach seinen Wünschen verläuft und er nicht mit uns rechnet. Die Tiefschlafkammern sind weit von den Wohnquartieren des Schiffes entfernt. Was hältst du davon?«

»Ich halte das für dumm«, sagte Mebbekew. »Hast du vergessen, was der Schiffscomputer ist?«

»Ist er es wirklich?«, fragte Elemak, an Zdorab gewandt. »Ist der Schiffscomputer mit der sogenannten Überseele identisch?«

»Nun ja«, sagte Zdorab, »wenn man genau darüber nachdenkt, vielleicht nicht. Ich meine, die Überseele wurde installiert, nachdem die Sternenschiffe hier gelandet sind. Er lädt einen Teil von sich in die Schiffscomputer, ist damit aber nicht so vertraut wie mit der Hardware, die er seit vierzig Millionen Jahren bewohnt.«

»Er«, murmelte Mebbekew verächtlich. »Es, meinst du doch.«

Elemak wandte den Blick keinen Augenblick von Zdorabs Gesicht ab.

»Hm«, machte Zdorab. »Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube nicht, dass die ursprünglichen Reisenden … Ich meine, sie werden doch kaum ihr eigenes Leben der Überseele anvertraut haben. Es war die nächste Generation, nicht sie selbst. Also sind die Schiffscomputer vielleicht …«