Xenozid - Orson Scott Card - E-Book

Xenozid E-Book

Orson Scott Card

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein neuer Krieg

Lusitania sollte die Welt sein, auf der Menschen und Aliens friedlich zusammenleben können. Doch auf dem Planeten wird ein Virus entdeckt, das alle Menschen, die sich damit infizieren, sofort tötet. Die „Schweinchen“, die Einheimischen, brauchen es jedoch, um erwachsen zu werden. Die Menschen fürchten das Virus so sehr, dass sie beschlossen haben, Lusitania zu vernichten. Sie schicken ihre Flotte aus – ein zweiter Genozid scheint unvermeidbar. Doch dann verschwinden die Raumschiffe einfach. Han Qing-jao, genannt Gloriously Bright, entstammt einer Familie aus Superintelligenten. Sie soll das Rätsel um die Flotte lösen. Doch wie wird sie sich in Bezug auf Lusitania entscheiden? Wird sie den Planeten und alle, die auf ihm leben, vernichten – oder kann Ender Wiggin sie aufhalten?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 909

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Orson Scott Card

 

 

 

Xenozid

 

Ender-Saga 3

 

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der Originalausgabe
XENOCIDE
Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton
Überarbeitete Neuausgabe Copyright © 1991 by Orson Scott Card Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: Das Illustrat, München Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-22150-8V004
www.penguinrandomhouse.de

Das Buch

Lusitania sollte die Welt sein, auf der Menschen und Aliens friedlich zusammenleben können. Doch auf dem Planeten wird ein Virus entdeckt, das alle Menschen, die sich damit infizieren, sofort tötet. Die »Schweinchen«, die Einheimischen, brauchen es jedoch, um erwachsen zu werden. Die Menschen fürchten das Virus so sehr, dass sie beschlossen haben, Lusitania zu vernichten. Sie schicken ihre Flotte aus – ein zweiter Genozid scheint unvermeidbar. Doch dann verschwinden die Raumschiffe einfach. Han Qing-jao, genannt Gloriously Bright, entstammt einer Familie aus Superintelligenten. Sie soll das Rätsel um die Flotte lösen. Doch wie wird sie sich in Bezug auf Lusitania entscheiden? Wird sie den Planeten und alle, die auf ihm leben, vernichten – oder kann Ender Wiggin sie aufhalten?

 

 

 

 

Der Autor

Orson Scott Card, 1951 in Richland, Washington geboren, studierte englische Literatur und arbeitete als Theaterautor, bevor er sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit »Enders Spiel« gelang ihm auf Anhieb ein internationaler Bestseller, der mit dem Hugo und dem Nebula Award ausgezeichnet wurde. Auch die Fortsetzung »Sprecher für die Toten« gewann diese beiden prestigeträchtigen Auszeichnungen, somit ist Orson Scott Card der bislang einzige SF-Schriftsteller, dem es gelang, beide Preise in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zu gewinnen. Orson Scott Card kehrte immer wieder in Enders Welt zurück und schrieb mehrere Fortsetzungen. Mit »Enders Schatten« erschuf er einen zweiten Helden, dessen Geschichte parallel zu »Enders Krieg« erzählt wird. »Enders Game« wurde 2013 mit Asa Butterfield und Harrison Ford in den Hauptrollen verfilmt. Card lebt mit seiner Familie in Greensboro, North Carolina.

 

Im Heyne Verlag sind die Romane der Ender-Saga als E-Books lieferbar:

Enders Spiel

Sprecher für die Toten

Xenozid

Enders Kinder

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

Inhalt

 

Hinweise zur Aussprache

1. Ein Abschied

2. Eine Begegnung

3. Saubere Hände

4. Jane

5. Die Lusitania-Flotte

6. Varelse

7. Die geheime Magd

8. Wunder

9. Holzkopf

10. Märtyrer

11. Die Jade des Meisters Ho

12. Gregos Krieg

13. Freier Wille

14. Virenschöpfer

15. Leben und Tod

16. Die Reise

17. Enders Kinder

18. Der Gott von Weg

 

Hinweise zur Aussprache

 

Ein paar Namen mögen amerikanischen oder europäischen Lesern seltsam vorkommen. Aus dem Chinesischen: Qing-jao wird ›Tsching-Dschau‹ ausgesprochen, Jiang-qing ›Dschiang-tsching‹. Aus dem Portugiesischen: Quim wird wie das englische ›King‹ ausgesprochen, Novinha ›No-VIEN-ja‹, Olhado ›Ol-JAH-do‹. Aus dem Schwedischen: Jakt ist ›Jahkt‹.

Andere Namen sind entweder leichter auszusprechen als zu schreiben oder kommen so selten vor, dass sie keine Schwierigkeiten verursachen dürften.

Kapitel 1

 

Ein Abschied

 

›Heute fragte mich einer der Brüder: Ist es eine schreckliche Fessel, dich nicht von der Stelle bewegen zu können, an der du stehst?‹

›Du hast geantwortet …‹

›Ich habe ihm gesagt, ich sei jetzt freier als er. Die Unfähigkeit, mich zu bewegen, befreit mich von der Verpflichtung zu handeln.‹

›Du, der du Sprachen sprichst, kannst so gut in ihnen lügen.‹

 

Han Fei-tzu saß in der Lotusstellung auf dem nackten Holzboden neben dem Krankenbett seiner Frau. Bis vor einem Augenblick hatte er vielleicht geschlafen; er war sich nicht sicher. Doch nun wurde er sich einer Veränderung bewusst, die so fein war, als wenn ein Schmetterling einen Lufthauch erzeugt.

Jiang-qing ihrerseits musste auch eine Veränderung in ihm gespürt haben, denn zuvor hatte sie nicht gesprochen, und nun sprach sie. Ihre Stimme war sehr leise. Doch Han Fei-tzu konnte sie deutlich verstehen, denn im Haus war alles still. Er hatte seine Freunde und Diener gebeten, während der Abenddämmerung von Jiang-qings Leben Ruhe zu bewahren. In der langen Nacht, die bevorstand, in der keine geflüsterten Worte mehr von ihren Lippen kommen würden, war noch Zeit genug für achtlosen Lärm.

»Noch immer nicht tot«, sagte sie. Sie hatte ihn, als sie während der letzten Tage erwacht war, jedes Mal mit diesen Worten begrüßt. Zuerst waren ihm die Worte wunderlich oder ironisch erschienen, doch nun wusste er, dass sie sie mit Enttäuschung sprach. Sie sehnte sich jetzt nach dem Tod, nicht etwa, weil sie das Leben nicht geliebt hätte, sondern weil der Tod nun unvermeidlich war und das, was nicht vermieden werden konnte, akzeptiert werden musste. Das war der Weg. Jiang-qing hatte sich während ihres Lebens nie auch nur einen Schritt vom Weg entfernt.

»Dann sind die Götter mir freundlich gesonnen«, sagte Han Fei-tzu.

»Dir«, sagte sie schwer atmend. »Worüber sinnen wir nach?«

Das war ihre Art, ihn zu bitten, seine ganz eigenen Gedanken mit ihr zu teilen. Wenn sich andere nach seinen Gedanken erkundigten, kam er sich bespitzelt vor. Doch Jiang-qing fragte stets nur so, als habe sie vielleicht denselben Gedanken gehabt; schließlich waren sie zu einer einzigen Seele zusammengewachsen.

»Wir sinnen über die Natur des Begehrens nach«, sagte Han Fei-tzu.

»Wessen Begehren?«, fragte sie. »Und worauf?«

Mein Begehren, dass deine Knochen heilen und stark werden, so dass sie nicht beim geringsten Druck brechen. Dass du wieder stehen oder sogar einen Arm heben kannst, ohne dass deine eigenen Muskeln Knochenstückchen wegreißen oder den Knochen unter der Anspannung brechen lassen. Dass ich nicht zusehen muss, wie du verfällst, bis du nun nur noch achtzehn Kilo wiegst. Ich habe nie gewusst, wie völlig glücklich wir waren, bis ich erfuhr, dass wir nicht zusammenbleiben können.

»Mein Begehren«, antwortete er. »Auf dich.«

»›Man begehrt nur, was man nicht hat.‹ Wer hat das gesagt?«

»Du«, sagte Han Fei-tzu. »Einige sagen: ›Was man nicht haben kann.‹ Andere sagen: ›Was man nicht haben sollte.‹ Ich sage: ›Du kannst nur wahrhaft begehren, worauf du auf ewig hungern wirst.‹«

»Du hast mich auf ewig.«

»Ich werde dich heute Abend verlieren. Oder morgen. Oder nächste Woche.«

»Betrachten wir die Natur des Begehrens«, sagte Jiang-qing. Wie zuvor benutzte sie die Philosophie, um ihn aus seiner Melancholie zu ziehen.

Er widerstand ihr, aber nur spielerisch. »Du bist eine harte Herrscherin«, sagte Han Fei-tzu. »Wie deine Vorfahrin-des-Herzens duldest du die Schwächen anderer Leute nicht.« Jiang-qing hieß nach einer revolutionären Führerin der Vergangenheit, die versucht hatte, das Volk auf einen neuen Weg zu führen, aber von Feiglingen mit schwacher Gesinnung verraten worden war. Es war nicht richtig, dachte Han Fei-tzu, dass seine Frau vor ihm starb: Ihre Vorfahrin-des-Herzens hatte ihren Gatten überlebt. Außerdem sollten Ehefrauen länger leben als Ehemänner. Frauen waren in sich vollständiger. Sie waren auch besser in der Kunst, in ihren Kindern zu leben. Sie waren nie so allein wie ein einzelner Mann.

Jiang-qing weigerte sich, ihn wieder seinen Grübeleien zu überlassen. »Wonach sehnt sich ein Mann, wenn seine Frau tot ist?«

Rebellisch gab ihr Han Fei-tzu die denkbar falscheste Antwort auf ihre Frage. »Neben ihr zu liegen«, sagte er.

»Die Begierde des Körpers«, sagte Jiang-qing.

Da sie entschlossen war, dieses Gespräch zu führen, nahm Han Fei-tzu den Themenkatalog auf. »Das Begehren des Körpers ist es zu handeln. Es schließt alle Berührungen ein, beiläufige und intime, und alle herkömmlichen Bewegungen. So nimmt er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und glaubt, er habe gesehen, wie seine tote Frau über die Schwelle tritt, und er kann nicht eher zufrieden sein, bis er zur Tür gegangen ist und sich überzeugt hat, dass es nicht seine Frau war. So wacht er aus einem Traum auf, in dem er ihre Stimme gehört hat, und ertappt sich, wie er seine Antwort laut spricht, als könne sie ihn hören.«

»Was noch?«, fragte Jiang-qing.

»Ich bin der Philosophie überdrüssig«, sagte Han Fei-tzu. »Vielleicht fanden die Griechen Trost darin, aber ich nicht.«

»Das Begehren des Geistes«, sagte Jiang-qing beharrend.

»Weil der Geist von der Erde ist, ist er der Teil, der aus alten Dingen neue schafft. Der Gatte sehnt sich nach allen unerledigten Dingen, die er und seine Frau in Angriff genommen hatten, als sie starb, und all den niemals begonnenen Träumen darüber, was sie getan hätten, hätte sie gelebt. Daher wird ein Mann wütend auf seine Kinder, weil sie viel zu sehr ihm ähneln und nicht annähernd genug seiner toten Frau. So hasst ein Mann das Haus, in dem sie gemeinsam gelebt haben, weil er es entweder nicht verändert, so dass es so tot ist wie seine Frau, oder weil er es verändert, so dass es nicht mehr zur Hälfte von ihr geschaffen wurde.«

»Du darfst auf unsere kleine Qing-jao nicht wütend sein«, sagte Jiang-qing.

»Warum?«, fragte Han Fei-tzu. »Wirst du bleiben und mir helfen, sie zu lehren, eine Frau zu sein? Ich kann sie nur lehren, das zu sein, was ich bin – kalt und hart, scharf und stark, wie Obsidian. Wie kann ich umhin, zornig zu sein, wenn sie zu solch einem Menschen heranwächst, während sie dir doch so ähnlich sieht?«

»Weil du sie auch alles lehren kannst, was ich bin«, sagte Jiang-qing.

»Wenn ich irgendeinen Teil von dir in mir hätte«, sagte Han Fei-tzu, »hätte ich dich nicht heiraten müssen, um zu einer vollständigen Person zu werden.« Nun hänselte er sie, indem er die Philosophie benutzte, um das Gespräch von den Schmerzen fortzulenken. »Das ist das Begehren der Seele. Weil die Seele aus Licht besteht und in der Luft existiert, ist sie der Teil, der Vorstellungen entwirft und bewahrt, besonders die Vorstellung vom Selbst. Der Gatte sehnt sich nach seinem ganzen Selbst, das gemeinsam aus dem Mann und der Frau bestand. Daher schenkt er niemals irgendeinem seiner Gedanken Glauben, denn in seinem Kopf ist immer eine Frage, auf die die Gedanken seiner Frau die einzig mögliche Antwort waren. Daher kommt ihm die ganze Welt tot vor, denn er kann nicht darauf vertrauen, dass angesichts dieser nicht zu beantwortenden Frage irgendetwas seine Bedeutung behält.«

»Sehr tiefsinnig«, sagte Jiang-qing.

»Wäre ich ein Japaner, würde ich Seppuku begehen und meine Eingeweide in die Urne mit deiner Asche geben.«

»Sehr nass und schmutzig«, sagte sie.

Er lächelte. »Dann sollte ich vielleicht ein alter Hindu sein und mich auf deinem Scheiterhaufen verbrennen.«

Aber sie war der Scherze überdrüssig. »Qing-jao«, flüsterte sie. Sie erinnerte ihn daran, dass ihm die glanzvolle Tat, mit ihr zu sterben, verwehrt blieb. Jemand musste sich um die kleine Qing-jao kümmern.

Also antwortete Han Fei-tzu ihr in vollem Ernst. »Wie kann ich sie lehren, zu sein, was du bist?«

»Alles Gute in mir«, sagte Jiang-qing, »kommt vom Weg. Wenn du sie lehrst, den Göttern zu gehorchen, die Vorfahren zu ehren, die Menschen zu lieben und den Herrschern zu dienen, werde ich genauso wie du in ihr sein.«

»Ich würde sie den Weg als Teil von mir lehren«, sagte Han Fei-tzu.

»So nicht«, sagte Jiang-qing. »Der Weg ist kein natürlicher Teil von dir, mein Gatte. Selbst wenn die Götter jeden Tag zu dir sprechen, bestehst du darauf, in einer Welt zu leben, in der man alles mit natürlichen Ursachen erklären kann.«

»Ich gehorche den Göttern.« Er dachte verbittert, dass er keine andere Wahl hatte; schon den Gehorsam zu verzögern war eine Folter.

»Aber du kennst sie nicht. Du liebst ihre Werke nicht.«

»Der Weg ist, die Menschen zu lieben. Den Göttern gehorchen wir nur.« Wie kann ich Götter lieben, die mich bei jeder Gelegenheit erniedrigen und quälen?

»Wir lieben die Menschen, weil sie Geschöpfe der Götter sind.«

»Halte mir keine Predigt.«

Sie seufzte.

Ihre Traurigkeit schmerzte ihn wie der Stich einer Spinne. »Ich wünschte, du könntest mir auf ewig Predigten halten«, sagte Han Fei-tzu.

»Du hast mich geheiratet, weil du wusstest, dass ich die Götter liebe und dass es dir völlig an der Liebe für sie mangelte. So habe ich dich zu einem vollständigen Menschen gemacht.«

Wie konnte er mit ihr streiten, wenn er doch wusste, dass er selbst jetzt die Götter für alles hasste, das sie ihm jemals angetan hatten, für alles, wozu sie ihn jemals getrieben hatten, für alles, was sie ihm in seinem Leben gestohlen hatten?

»Versprich es mir«, sagte Jiang-qing.

Er wusste, was diese Worte bedeuteten. Sie spürte den Tod auf ihr; sie legte die Last ihres Lebens auf ihn. Diese Last würde er frohen Herzens tragen. Es war der Verlust ihrer Gesellschaft auf dem Weg, wovor er sich seit langem so entsetzlich fürchtete.

»Versprich mir, dass du Qing-jao lehren wirst, die Götter zu lieben und immer auf dem Weg zu wandeln. Versprich mir, dass du sie genauso zu meiner Tochter machen wirst wie auch zu deiner.«

»Auch wenn sie nie die Stimme der Götter hören sollte?«

»Der Weg ist für jeden da, nicht nur für die Gottberührten, für die, zu denen die Götter sprechen.«

Vielleicht, dachte Han Fei-tzu, doch es war viel leichter für die Gottberührten, dem Weg zu folgen, denn für sie war der Preis, von ihm abzuweichen, schrecklich. Das gewöhnliche Volk war frei; es konnte vom Weg abweichen und würde jahrelang den Schmerz dafür nicht spüren. Doch die Gottberührten konnten nicht einmal eine Stunde lang vom Weg abweichen.

»Versprich es mir.«

Ich werde es tun. Ich verspreche es.

Doch er konnte die Worte nicht laut aussprechen. Er wusste nicht, warum, doch er zögerte.

Als sie in der Stille auf seinen Eid wartete, hörten sie auf dem Kiesweg vor dem Haus das Geräusch schneller Schritte. Es konnte nur Qing-jao sein, die aus dem Garten Sun Cao-pis nach Hause kam. Nur Qing-jao durfte zu dieser Zeit, da alle ganz besonders leise waren, laufen und Lärm machen. Sie warteten in dem Wissen, dass sie direkt ins Zimmer ihrer Mutter kommen würde.

Die Tür glitt fast geräuschlos auf. Sogar Qing-jao hatte genug von der Stille erfahren, um ganz leise zu sein, wenn sie in der Nähe ihrer Mutter war. Obwohl sie auf Zehenspitzen ging, konnte sie sich kaum davon abhalten, über den Boden zu tänzeln, ja fast zu springen. Doch sie verzichtete darauf, ihre Mutter zu umarmen; sie erinnerte sich an diese Lektion, obwohl die schreckliche Schwellung, die vor drei Monaten entstanden war, als Qing-jaos eifrige Umarmung ihrer Mutter den Kiefer gebrochen hatte, längst aus Jiang-qings Gesicht verschwunden war.

»Ich habe im Bach im Garten dreiundzwanzig Karpfen gezählt«, sagte Qing-jao.

»So viele«, sagte Jiang-qing.

»Ich glaube, sie haben sich mir gezeigt«, sagte Qing-jao. »Damit ich sie zählen konnte. Keiner von ihnen wollte fehlen.«

»Ich liebe dich«, flüsterte Jiang-qing.

Han Fei-tzu hörte ein neues Geräusch in ihrer rasselnden Stimme – ein Knallen, als platzten Blasen bei ihren Worten.

»Glaubst du, dass ich so viele Karpfen gesehen habe, weil die Götter zu mir sprechen werden?«, fragte Qing-jao.

»Ich werde die Götter bitten, zu dir zu sprechen«, sagte Jiang-qing.

Plötzlich ging Jiang-qings Atem schnell und hart. Han Fei-tzu kniete augenblicklich nieder und betrachtete seine Frau. Ihre Augen waren groß und voller Angst. Der Augenblick war da.

Ihre Lippen bewegten sich. Verspreche es mir, sagte sie, obwohl ihr Atem nur noch keuchende Geräusche erzeugen konnte.

»Ich verspreche es«, sagte Han Fei-tzu.

Dann hielt ihr Atem inne.

»Was sagen die Götter, wenn sie zu einem sprechen?«, fragte Qing-jao.

»Deine Mutter ist sehr müde«, sagte Han Fei-tzu. »Du solltest jetzt hinausgehen.«

»Aber sie hat mir nicht geantwortet. Was sagen die Götter?«

»Sie verraten Geheimnisse«, sagte Han Fei-tzu. »Niemand sagt sie weiter.«

Qing-jao nickte altklug. Sie trat einen Schritt zurück, als wolle sie gehen, blieb dann aber stehen. »Darf ich dich küssen, Mama?«

»Ganz leicht auf die Wange«, sagte Han Fei-tzu.

Qing-jao, die für eine Vierjährige klein war, musste sich nicht sehr tief bücken, um ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange zu geben. »Ich liebe dich, Mama.«

»Du gehst jetzt besser, Qing-jao«, sagte Han Fei-tzu.

»Aber Mama hat nicht gesagt, dass sie mich auch liebt.«

»Doch, das hat sie. Vorher. Erinnerst du dich? Aber sie ist sehr müde und schwach. Geh jetzt.«

Er legte genug Strenge in seine Stimme, dass Qing-jao ohne weitere Fragen ging. Erst als sie fort war, wurde Han Fei-tzus Besorgnis um sie von anderen Gefühlen verdrängt. Er kniete über Jiang-qings Leiche nieder und versuchte sich vorzustellen, was nun mit ihr geschah. Ihre Seele war losgeflogen und befand sich nun bereits im Himmel. Ihr Geist würde viel länger verweilen; vielleicht würde ihr Geist in diesem Haus wohnen, falls sie hier wirklich glücklich gewesen war. Abergläubische Menschen nahmen an, die Geister aller Toten seien gefährlich, und stellten Schilder auf und trafen Maßnahmen, um sie abzuwehren. Doch die, die dem Weg folgten, wussten, dass der Geist eines guten Menschen niemals schädlich oder destruktiv war, denn die guten Eigenschaften im Leben entstanden durch die Liebe des Geistes zum Erschaffen. Falls Jiang-qings Geist blieb, würde er viele Jahre lang ein Segen für das Haus sein.

Doch noch in dem Augenblick, in dem er versuchte, sich laut der Lehre des Weges ihre Seele und ihren Geist vorzustellen, war eine kalte Stelle in seinem Herzen, die davon überzeugt war, dass von Jiang-qing lediglich dieser spröde, ausgetrocknete Körper übriggeblieben war. Heute Abend würde dieser Körper so schnell wie Papier verbrennen, und dann würde sie bis auf die Erinnerungen in seinem Herzen verschwunden sein.

Jiang-qing hatte recht. Ohne sie, die sie seine Seele vervollständigte, zweifelte er bereits an den Göttern. Und die Götter hatten es bemerkt – sie bemerkten es immer. Plötzlich verspürte er den unwiderstehlichen Drang, das Ritual der Reinigung durchzuführen, bis er seine unwürdigen Gedanken verloren hatte. Selbst jetzt konnten sie ihn nicht unbestraft lassen. Selbst jetzt, wo seine Frau tot vor ihm lag, beharrten die Götter darauf, dass er ihnen Gehorsam leistete, bevor er auch nur eine einzige Träne der Trauer um sie vergießen konnte.

Zuerst wollte er seinen Gehorsam verzögern, zurückstellen. Er hatte sich beigebracht, das Ritual um einen ganzen Tag aufzuschieben, während er alle äußerlichen Anzeichen seiner innerlichen Qual verbarg. Ihm gelang das jetzt – aber nur, indem er sein Herz völlig kalt hielt. Und das war sinnlos. Angemessene Trauer konnte nur kommen, nachdem er die Götter zufriedengestellt hatte. Noch während er dort kniete, begann er mit dem Ritual.

Er zuckte noch und drehte sich, wie das Ritual es vorschrieb, als ein Diener verstohlen in den Raum sah. Obwohl der Diener nichts sagte, hörte Han Fei-tzu das schwache Gleiten der Tür und wusste, was der Diener schließen würde: Jiang-qing war tot, und Han Fei-tzu war so rechtschaffen, dass er mit den Göttern kommunizierte, noch bevor er dem Haushalt von ihrem Tod berichtete. Zweifellos würden einige sogar vermuten, dass die Götter gekommen waren, um Jiang-qing zu holen, da sie für ihre außerordentliche Heiligkeit bekannt war. Niemand würde argwöhnen, Han Fei-tzus Herz könne noch in dem Augenblick, da er betete, voller Verbitterung darüber sein, dass die Götter selbst in diesem Augenblick Gehorsam von ihm zu verlangen wagten.

O Götter, dachte er, wenn ich wüsste, dass ich euch für immer los sein könnte, wenn ich mir einen Arm abtrennte oder die Leber herausschnitte, ich würde nach dem Messer greifen und den Schmerz und Verlust gern hinnehmen, nur um frei zu sein.

Auch dieser Gedanke war unwürdig und verlangte noch mehr Reinigung. Es dauerte Stunden, bevor die Götter ihn endlich freigaben, und dann war er zu müde, und ihm war zu elend zumute, um zu trauern. Er erhob sich und holte die Frauen, damit sie Jiang-qings Leiche für die Verbrennung vorbereiteten.

Um Mitternacht kam er als letzter zum Scheiterhaufen, eine schläfrige Qing-jao in den Armen. Sie hatte die Finger fest um die drei Zettel geschlossen, die sie mit ihrem kindlichen Gekritzel für ihre Mutter geschrieben hatte. ›Fisch‹, hatte sie geschrieben, und ›Buch‹ und ›Geheimnisse‹. Das waren die Dinge, die Qing-jao ihrer Mutter mit in den Himmel gab. Han Fei-tzu hatte versucht, sich die Gedanken vorzustellen, die Qing-jao gehabt haben mochte, als sie diese Worte niederschrieb. Fisch zweifellos wegen der Karpfen im Bach im Garten. Und Buch – das war leicht zu verstehen, denn bis zum Schluss hatte Jiang-qing ihrer Tochter laut vorlesen können. Aber warum Geheimnisse? Welche Geheimnisse hatte Qing-jao für ihre Mutter gehabt? Er konnte sie nicht fragen. Man spricht nicht über die Zettel, die man den Toten mitgibt.

Han Fei-tzu stellte Qing-jao auf die Füße; sie hatte nicht fest geschlafen, so dass sie augenblicklich aufwachte und langsam blinzelte. Han Fei-tzu flüsterte ihr etwas zu, und sie rollte ihre Zettel zusammen und steckte sie in die Ärmel der Mutter. Sie schien nichts dagegen zu haben, die kalte Haut ihrer Mutter zu berühren – sie war noch zu jung, um gelernt zu haben, bei der Berührung des Todes zu erschaudern.

Auch Han Fei-tzu scheute nicht davor zurück, die Haut seiner Frau zu berühren, als er seine drei Zettel in den anderen Ärmel steckte. Was sollte er sich nun vor dem Tod fürchten, wo er seine schlimmste Arbeit schon verrichtet hatte?

Niemand wusste, was auf seinen Zetteln geschrieben stand. Die anderen wären entsetzt gewesen, denn er hatte geschrieben: ›Mein Körper‹, ›Mein Geist‹ und ›Meine Seele‹. So verbrannte er sich auf Jiang-qings Scheiterhaufen ebenfalls und begleitete sie, wohin sie auch ging.

Dann legte Mu-pao, Jiang-qings geheime Magd, die Fackel an das heilige Holz, und der Scheiterhaufen brach in Flammen aus. Die Hitze des Feuers war schmerzhaft, und Qing-jao versteckte sich hinter ihrem Vater und spähte nur gelegentlich um ihn herum, um ihre Mutter bei ihrem Aufbruch auf ihrer endlosen Reise zu beobachten. Han Fei-tzu jedoch hieß die trockene Hitze willkommen, die seine Haut versengte und die Seide seiner Robe spröde machte. Ihr Körper war nicht so ausgetrocknet gewesen, wie es den Anschein gehabt hatte; lange, nachdem sich die Zettel zu Asche zusammengezogen hatten und in den Rauch des Feuers hochgeblasen worden waren, zischte ihre Leiche noch immer, und der schwere Weihrauch, der überall um das Feuer herum brannte, konnte den Geruch des verbrennenden Fleisches nicht vor ihm verbergen. Das ist es, was wir hier verbrennen: Haut, Fleisch, Aas, nichts. Nicht meine Jiang-qing. Nur die Gestalt, die sie in diesem Leben getragen hatte. Das, was diese Leiche zu der Frau machte, die ich liebte, ist noch am Leben, muss noch am Leben sein. Und einen Augenblick lang glaubte er, er könne sehen, oder hören, oder irgendwie fühlen, wie Jiang-qing überging.

In die Luft, in die Erde, in das Feuer. Ich bin bei dir.

Kapitel 2

 

Eine Begegnung

 

›Das Seltsamste an den Menschen ist, wie sich die Männer und Frauen zusammenfinden. Sie liegen ständig im Krieg miteinander, können sich nie in Ruhe lassen. Sie scheinen einfach nicht zu begreifen, dass Männer und Frauen zwei verschiedene Spezies mit völlig anderen Bedürfnissen und Wünschen sind, die lediglich zusammenkommen müssen, um sich fortzupflanzen.‹

›Natürlich empfindest du so. Deine Paarungsgefährten sind nur verstandlose Drohnen, Ausweitungen deines Ichs, ohne eigene Identität.‹

›Wir kennen unsere Liebhaber und haben ein perfektes Verständnis für sie. Die Menschen erfinden einen imaginären Liebhaber und legen diese Maske auf das Gesicht des Körpers in ihrem Bett.‹

›Das ist die Tragik der Sprache, mein Freund. Die, die einander nur durch symbolische Darstellungen kennen, sind gezwungen, einander vorzustellen. Und weil ihre Vorstellungskraft nicht vollkommen ist, irren sie sich oft.‹

›Das ist die Quelle ihres Elends.‹

›Und zum Teil auch ihrer Kraft, glaube ich. Dein Volk und meins paaren sich, jeweils aus eigenen evolutionsbedingten Gründen, mit völlig verschiedenartigen Partnern. Unsere Partner sind uns intellektuell immer hoffnungslos unterlegen. Menschen paaren sich mit Wesen, die ihre Überlegenheit herausfordern. Es gibt Konflikte zwischen den Partnern, aber nicht, weil ihre Kommunikation der unseren unterlegen ist, sondern weil sie überhaupt miteinander kommunizieren.‹

 

Valentine Wiggin las ihren Aufsatz noch einmal durch und nahm hier und da ein paar Korrekturen vor. Als sie fertig war, standen die Worte über ihrem Computerterminal in der Luft. Sie war sehr mit sich zufrieden, Rymus Ojman, den Vorsitzenden des Kabinetts des Sternenwege-Kongresses, so deftig und ironisch auseinandergenommen zu haben.

»Haben wir einen weiteren Angriff auf die Herren der Hundert Welten abgeschlossen?«

Valentine drehte sich nicht zu ihrem Mann um. Anhand seiner Stimme wusste sie genau, was für ein Ausdruck auf seinem Gesicht lag, und so erwiderte sie das Lächeln, ohne ihn anzusehen. Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe konnten sie einander deutlich sehen, ohne hinschauen zu müssen. »Wir haben Rymus Ojman ins Lächerliche gezogen.«

Jakt beugte sich in ihr winziges Büro. Sein Gesicht war dem ihren so nahe, dass sie seinen leisen Atem hören konnte, als er die ersten Absätze las. Er war nicht mehr jung; die Anstrengung, sich in ihr Büro zu beugen, die Hände auf den Türrahmen zu legen, ließ seinen Atem schneller gehen, als es ihr gefiel.

Dann sprach er, doch sein Gesicht war so nahe, dass sie spürte, wie seine Lippen ihre Wangen streiften. Die Berührung kitzelte bei jedem Wort. »Von jetzt an wird sogar seine Mutter hinter vorgehaltener Hand lachen, wann immer sie den armen Hund sieht.«

»Es war nicht leicht, es komisch zu machen«, sagte Valentine. »Ich ertappte mich immer wieder, wie ich ihn brandmarkte.«

»So ist es besser.«

»Oh, ich weiß. Hätte ich meine Wut offen gezeigt, hätte ich ihn all seiner Verbrechen bezichtigt, wäre er nur umso mächtiger und furchtbarer erschienen, und die Herrschaft-durch-Gesetze-Fraktion hätte ihn umso mehr geliebt, während die Feiglinge auf allen Welten sich nur umso tiefer vor ihm verbeugt hätten.«

»Wenn sie sich noch tiefer verbeugen wollen, müssen sie dünnere Teppiche kaufen«, sagte Jakt.

Sie lachte, vor allem, weil das Kitzeln seiner Lippen auf ihrer Wange unerträglich wurde. Allmählich quälte es, sie auch mit einem Verlangen, das auf dieser Reise einfach nicht befriedigt werden konnte. Das Sternenschiff war zu klein und überfüllt; ihre ganze Familie befand sich an Bord, und so etwas wie eine Privatsphäre gab es wirklich nicht. »Jakt, wir haben die Hälfte der Strecke bald hinter uns. Wir haben während der Skrika-Fänge jedes Jahr unseres Lebens länger enthaltsam gelebt.«

»Wir könnten ein Schild an die Tür hängen. Bitte nicht stören!«

»Dann könntest du genauso gut das Schild an die Tür hängen: ›Drinnen frischt nacktes älteres Ehepaar Erinnerungen auf.‹«

»Damit meinst du doch nicht mich?«

»Du bist über sechzig.«

»Wenn sich der ältere Soldat noch erheben und salutieren kann, soll er ruhig bei der Parade mitmarschieren.«

»Keine Parade, bis die Reise vorüber ist. Es sind ja nur noch ein paar Wochen. Wir haben nur noch das Treffen mit Enders Stiefsohn vor uns, und dann nehmen wir wieder Kurs auf Lusitania.«

Jakt wich von ihr zurück, schob sich über die Schwelle und richtete sich im Gang auf – einer der wenigen Stellen im Raumschiff, wo er wirklich aufrecht stehen konnte. Doch er stöhnte dabei.

»Du knarrst wie eine rostige alte Tür«, sagte Valentine.

»Ich habe gehört, wie du die gleichen Geräusche machtest, als du von deinem Schreibtisch aufgestanden bist. Ich bin nicht der einzige senile, klapprige, elende alte Tattergreis in unserer Familie.«

»Verschwinde und lass mich den Artikel senden.«

»Ich bin es gewohnt, auf einer Reise arbeiten zu müssen«, sagte Jakt. »Aber hier erledigen die Computer alles, und dieses Schiff rollt oder schlingert niemals in der See.«

»Lies ein Buch.«

»Ich mache mir Sorgen um dich. So viel Arbeit und keine Spiele lassen Val zu einer griesgrämigen alten Schachtel werden.«

»Jede Minute, die wir uns hier unterhalten, entspricht achteinhalb Stunden Realzeit.«

»Unsere Zeit hier auf diesem Raumschiff ist genauso real wie ihre Zeit da draußen«, sagte Jakt. »Manchmal wünschte ich, Enders Freunde hätten keine Möglichkeit gefunden, dass unser Raumschiff Verbindung mit dem Land hält.«

»Dafür ist eine gewaltige Menge Computerzeit erforderlich«, sagte Val. »Bislang konnte nur das Militär mit fast lichtschnell fliegenden Raumschiffen kommunizieren. Wenn Enders Freunde das bewerkstelligen konnten, bin ich es ihnen schuldig, es auch zu benutzen.«

»Du tust das alles doch nicht, weil du jemandem etwas schuldig bist.«

Das entsprach allerdings der Wahrheit. »Wenn ich jede Stunde einen Essay schreibe, Jakt, bedeutet das für den Rest der Menschheit, dass Demosthenes nur alle drei Wochen etwas veröffentlicht.«

»Du kannst unmöglich jede Stunde einen Essay schreiben. Du musst schlafen und essen.«

»Du sprichst, ich höre zu. Verschwinde, Jakt.«

»Wenn ich gewusst hätte, dass die Rettung eines Planeten vor der Vernichtung bedeuten würde, dass ich wie ein Eunuch leben muss, hätte ich niemals zugestimmt.«

Das war nur halb im Spaß gesagt. Es war für ihre gesamte Familie eine schwere Entscheidung gewesen, Trondheim zu verlassen – auch für sie, obschon sie wusste, dass sie Ender wiedersehen würde. Die Kinder waren jetzt alle beinahe erwachsen; sie betrachteten diese Reise als großes Abenteuer. Ihre Vorstellungen von der Zukunft waren nicht so sehr an einen bestimmten Ort gebunden. Keiner von ihnen war wie ihr Vater Seemann geworden; sie alle wollten Gelehrte oder Wissenschaftler werden und wie ihre Mutter ein Leben mit öffentlichen Vorträgen und privaten Betrachtungen führen. Sie konnten ihr Leben ohne große Veränderungen auf jeder Welt verbringen. Jakt war stolz auf sie, andererseits jedoch enttäuscht, dass die sieben Generationen zurückreichende Familientradition, das Leben auf den Meeren Trondheims zu verbringen, mit ihm enden würde. Trondheim aufzugeben war das schwerste, was sie je von Jakt hätte verlangen können, und er hatte ohne Zögern zugestimmt.

Vielleicht würde er eines Tages dorthin zurückkehren, und die Meere, das Eis, die Stürme, die Fische, die unerträglich süßen grünen Wiesen des Sommers würden noch dort sein. Aber seine Mannschaften würden verschwunden sein, waren bereits verschwunden. Die Männer, die er besser als seine eigenen Kinder, besser als seine Frau gekannt hatte – diese Männer waren bereits fünfzehn Jahre älter, und wenn er zurückkehrte, falls er zurückkehrte, würden weitere vierzig Jahre verstrichen sein. Dann würden ihre Enkelsöhne die Schiffe bemannen. Sie würden den Namen Jakt nicht mehr kennen. Er wäre ein ausländischer Schiffseigner, der aus dem Himmel gekommen war, kein Seemann, kein Mann mit dem Gestank und dem gelblichen Blut der Skrika an seinen Händen. Er wäre dann keiner von ihnen mehr.

Wenn er sich also beschwerte, dass sie ihn vernachlässigte, wenn er sie wegen des Mangels an Intimitäten während ihrer Reise hänselte, steckte mehr dahinter als nur das verspielte Begehren eines alternden Ehemannes. Ob er nun wusste, was er damit sagte, oder nicht, sie verstand die wahre Bedeutung seiner Angebote: Hast du mir nichts zu geben nach allem, was ich für dich aufgegeben habe?

Und er hatte recht – sie trieb sich härter an, als es eigentlich notwendig war. Sie machte mehr Opfer, als gemacht werden mussten – und verlangte von ihm ebenfalls zu viel. Nicht die bloße Anzahl subversiver Artikel, die Demosthenes während dieser Reise veröffentlichte, machte den Unterschied aus. Es kam darauf an, wie viele Menschen lasen und glaubten, was sie schrieb, und wie viele danach als Feinde des Sternenwege-Kongresses dachten, sprachen und handelten. Vielleicht noch wichtiger war die Hoffnung, dass einige Mitglieder der Bürokratie des Kongresses selbst dazu bewegt werden würden, sich stärker der Menschlichkeit verpflichtet zu fühlen und ihre Solidarität zu der wahnwitzigen Institution aufzugeben. Einige würden sich durch ihre Artikel bestimmt ändern. Nicht viele, aber vielleicht genug. Und vielleicht noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass sie den Planeten Lusitania zerstörten.

Wenn nicht, würden sie und Jakt und diejenigen, die so viel aufgegeben hatten, um sie auf dieser Reise von Trondheim zu begleiten, Lusitania gerade noch rechtzeitig erreichen, um umzudrehen und zu fliehen – oder mit allen anderen Wesen dieser Welt vernichtet zu werden. Es war nicht unvernünftig, dass Jakt so angespannt war und mehr Zeit mit ihr verbringen wollte. Es war unvernünftig, dass sie sich so ausschließlich ihrer Aufgabe widmete und jeden wachen Augenblick benutzte, Propagandaschriften zu verfassen.

»Du schreibst das Schild für die Tür, und ich sorge dafür, dass du nicht allein in der Kabine bist.«

»Frau, du lässt mein Herz hopsen wie eine sterbende Flunder«, sagte Jakt.

»Du bist so romantisch, wenn du wie ein Fischer sprichst«, sagte Valentine. »Die Kinder werden wissen, dass du nicht einmal die drei Wochen dieser Reise die Hände von mir lassen konntest, und sich totlachen.«

»Sie haben unsere Gene. Sie werden uns anfeuern, bis weit in unser zweites Lebensjahrhundert geil zu bleiben.«

»Ich bis weit in mein viertes Jahrtausend.«

»Wann kann ich dich in meiner Kabine erwarten, uralte Frau?«

»Wenn ich diesen Essay gesendet habe.«

»Und wie lange wird das dauern?«

»Noch ein Weilchen, nachdem du gegangen bist und mich in Ruhe gelassen hast.«

Mit einem tiefen Seufzer, der mehr gespieltes als echtes Elend enthielt, trottete er den mit einem Teppichboden ausgelegten Gang entlang. Nach einem Augenblick erklang ein Scheppern, und sie hörte, wie er einen Schmerzensschrei ausstieß. Einen spöttischen Schmerzensschrei natürlich; er hatte sich am ersten Tag der Reise den Kopf an der Metallverstrebung gestoßen, doch seitdem waren seine Zusammenstöße des komischen Effekts halber absichtlich erfolgt. Doch natürlich hatte niemand jemals laut gelacht – es war eine Familientradition, nicht zu lachen, wenn Jakt eine seiner Slapstick-Einlagen bot. Andererseits war Jakt kein Mann, der lautstarke Ermutigung von anderen brauchte. Er selbst war sein bestes Publikum; man konnte nicht sein ganzes Leben lang Seemann sein und eine Mannschaft führen, wenn man nicht ziemlich selbstgenügsam war. Soweit Valentine wusste, waren sie und die Kinder die einzigen Menschen, die er willentlich jemals gebraucht hatte.

Selbst dann hatte er sie nicht so dringend gebraucht, dass er sein Leben als Seemann und Fischer nicht fortsetzen konnte und tagelang, oft Wochen und manchmal sogar Monate von zu Hause fort war. Anfangs, als sie so hungrig aufeinander waren, dass sie einfach niemals befriedigt waren, hatte Valentine ihn gelegentlich begleitet. Doch nach wenigen Jahren war ihr Hunger der Geduld und dem Vertrauen gewichen; wenn er fort war, recherchierte sie und schrieb ihre Bücher, um ihm und den Kindern dann ihre gesamte Aufmerksamkeit zu widmen, wenn er zurückkehrte.

»Würde Vater doch nur nach Hause zurückkehren, damit Mutter aus ihrem Zimmer kommt und wieder mit uns spricht«, pflegten sich die Kinder damals zu beschweren. Ich war keine sehr gute Mutter, dachte Valentine. Es ist reines Glück, dass die Kinder so gut geraten sind.

Der Essay hing noch immer über dem Terminal in der Luft. Sie musste ihm nur noch den letzten Schliff geben. Unter dem Text setzte sie den Cursor in die Mitte und tippte den Namen, unter dem all ihre Artikel veröffentlicht wurden:

 

Demosthenes

 

Diesen Namen hatte ihr älterer Bruder Peter ihr gegeben, als sie gemeinsam Kinder waren, vor fünfzig Jahren – nein, vor dreitausend.

Der bloße Gedanke an Peter reichte noch immer aus, sie aufzuwühlen, es sie innerlich kalt und heiß durchfließen zu lassen. Peter der Grausame, Peter der Gewalttätige, dessen Verstand so subtil arbeitete und so gefährlich war, dass er mich mit zwei Jahren und die Welt mit zwanzig Jahren manipulieren konnte. Als sie im 22. Jahrhundert auf der Erde noch Kinder waren, hatte er die politischen Schriften großer Männer und Frauen, lebender und toter, studiert, nicht, um ihre Vorstellungen zu begreifen – die erfasste er auf Anhieb –, sondern um zu lernen, wie sie sie vorbrachten. Um praktisch zu lernen, wie man wie ein Erwachsener klingt. Als er das beherrschte, brachte er es Valentine bei und zwang sie, unter dem Namen Demosthenes unbedeutende demagogische politische Schriften zu verfassen, während er unter dem Namen Locke ausgeklügelte staatsmännische Essays verfasste. Dann speisten sie sie in die Computernetzwerke ein, und nach wenigen Jahren befanden sie sich am Herzen der größten tagespolitischen Themen.

Damals stieß Valentine bitter auf – und es traf sie heute noch immer ein wenig, da sie es vor Peters Tod niemals aufgelöst hatten –, dass er, von Machtgier verzehrt, sie gezwungen hatte, die Art Artikel zu schreiben, die seinem Charakter entsprachen, während er die friedensliebenden, erhabenen Gefühlsregungen ausdrückte, die ihrer Natur entsprachen. In jenen Tagen war ihr der Name ›Demosthenes‹ wie eine schreckliche Last vorgekommen. Alles, was sie unter diesem Namen schrieb, war eine Lüge, und nicht einmal ihre Lüge, sondern Peters. Eine Lüge innerhalb einer Lüge.

Aber jetzt nicht mehr. Nicht mehr seit 3000 Jahren. Ich habe den Namen zu meinem eigenen gemacht. Ich habe Geschichtsbücher und Biographien geschrieben, die das Denken Millionen Gelehrter auf den Hundert Welten veränderten und dabei halfen, die Identitäten Dutzender Nationen zu formen. Das ist daraus geworden, Peter. Das ist aus dem geworden, wozu du mich machen wolltest.

Bis auf die Tatsache, dass sie nun, als sie den Essay betrachtete, den sie gerade geschrieben hatte, begriff, dass sie sich zwar von Peters Oberhoheit befreit hatte, aber noch immer seine Schülerin war. Alles, was sie über Rhetorik und Polemik wusste, hatte sie von ihm oder wegen seines Beharrens gelernt. Und obwohl sie diese Fähigkeiten nun für eine edle Sache einsetzte, führte sie trotzdem genau dieselben politischen Manipulationen durch, die Peter so geliebt hatte.

Peter war schließlich zum Hegemon geworden, zu Anfang der Großen Expansion war er sechzig Jahre lang Herrscher über die gesamten Menschheit; er war derjenige gewesen, der all die miteinander im Streit liegenden Staaten der Menschheit vereinigt und auf die gewaltige Aufgabe eingeschworen hatte, Sternenschiffe zu allen Welten zu schicken, auf denen einst die Krabbler gehaust hatten, und dann weitere bewohnbare Welten zu entdecken, bis zur Zeit seines Todes schließlich alle Hundert Welten entweder besiedelt worden oder zumindest Kolonistenschiffe zu ihnen unterwegs waren. Natürlich sollten weitere tausend Jahre vergehen, bevor der Sternenwege-Kongress erneut die gesamte Menschheit unter einer Regierung vereinigte, doch die Erinnerung an den ersten Hegemon war das Herz der Geschichte, die die menschliche Einheit möglich gemacht hatte.

Aus einer moralischen Einöde wie Peters Seele waren Harmonie, Einheit und Frieden gekommen. Während Enders Erbe, soweit sich die Menschheit erinnerte, aus Mord, Massenmord, Xenozid bestand.

Ender, Valentines jüngerer Bruder, den zu besuchen sie und ihre Familie unterwegs waren, war der zärtliche, der Bruder, den sie liebte und früher zu beschützen versucht hatte. Er war der gute. Ja, er hatte zwar einen Anflug von Skrupellosigkeit, der der Peters gleichkam, doch er hatte den Anstand, von seiner eigenen Brutalität abgestoßen zu werden. Sie hatte ihn so innig geliebt, wie sie Peter verabscheut hatte; und als Peter seinen jüngeren Bruder von der Erde verbannt hatte, die Peter zu beherrschen entschlossen war, ging Valentine mit Ender – ihre endgültige Zurückweisung von Peters persönlicher Hegemonie über sie.

Und hier bin ich wieder, dachte Valentine, mitten in der Politik.

Sie sprach scharf, mit der abgehackten Stimme, die ihrem Terminal verriet, dass sie einen Befehl gab. »Senden«, sagte sie.

Das Wort ›Senden‹ erschien über ihrem Essay in der Luft. Normalerweise hätte sie damals, als sie wissenschaftliche Arbeiten schrieb, ein Ziel angeben müssen – den Essay über irgendwelche verschlungenen Wege, so dass er nicht so leicht zu Valentine Wiggin zurückgeführt werden konnte, an einen Verleger schicken müssen. Nun jedoch erledigte eine subversive Freundin Enders, die unter dem offensichtlichen Codenamen ›Jane‹ arbeitete, all das für sie – sie brachte das Kunststück fertig, eine Nachricht über den Verkürzer von einem Schiff, das fast mit Lichtgeschwindigkeit flog, in eine Nachricht umzuwandeln, die von einem auf einem Planeten installierten Verkürzer gelesen werden konnte, für den die Zeit über fünfhundert Mal schneller verging.

Da die Kommunikation mit einem Sternenschiff große Mengen planetarer Verkürzer-Zeit verschlang, wurden normalerweise nur Navigationsdaten und Befehle gesendet. Lediglich hochrangige Beamte der Regierung oder des Militärs durften ausführliche Textbotschaften übermitteln. Valentine begriff nicht, wie es ›Jane‹ gelang, so viel Verkürzer-Zeit für diese Textübertragungen zu bekommen – und gleichzeitig zu verhindern, dass jemand herausfand, woher diese subversiven Dokumente kamen. Des Weiteren benutzte ›Jane‹ Verkürzer-Zeit, indem sie ihr die veröffentlichten Reaktionen auf ihre Schriften sendete und ihr alle Argumente und Strategien mitteilte, die die Regierung benutzte, um gegen Valentines Propaganda zu arbeiten. Wer auch immer ›Jane‹ war – und Valentine vermutete, dass ›Jane‹ einfach der Name für eine geheime Organisation war, die die höchsten Regierungsebenen durchsetzt hatte –, sie war außerordentlich gut. Und außerordentlich tollkühn. Doch wenn Jane das Risiko einging, sich bloßzustellen, war es Valentine ihr – ihnen – schuldig, so viele Traktate wie möglich zu produzieren und sie so mächtig und gefährlich wie möglich zu gestalten.

Wenn Worte tödliche Waffen sein können, muss ich sie mit einem Arsenal ausstatten.

Doch sie war auch eine Frau; und sogar Revolutionäre dürfen ein Privatleben haben, nicht wahr? Augenblicke der Freude – oder vielleicht nur der Erleichterung, die hier und da abgezweigt wurden. Sie erhob sich von ihrem Sitz, ignorierte die Schmerzen, die daher stammten, dass sie sich bewegte, nachdem sie so lange gesessen hatte, und zwängte sich zur Tür ihres winzigen Büros hinaus – eigentlich eines Vorratsraums, bevor sie das Sternenschiff ihren Zwecken gemäß umgebaut hatten. Sie schämte sich ein wenig, weil sie so versessen darauf war, zu dem Raum zu kommen, in dem Jakt auf sie wartete. Die meisten großen revolutionären Propagandisten der Geschichte hätten drei Wochen der körperlichen Abstinenz ertragen können. Oder etwa nicht? Sie fragte sich, ob jemals eine Untersuchung über diese Frage vorgenommen worden war.

Sie stellte sich noch immer vor, wie ein Forscher wohl einen Antrag auf Bewilligung finanzieller Unterstützung für solch ein Projekt verfassen würde, als sie die Vierbett-Kabine erreichte, die sie mit Syfte und deren Mann Lars teilten, der ihr erst ein paar Tage vor ihrem Abflug einen Heiratsantrag gemacht hatte, als er begriff, dass Syfte Trondheim wirklich verlassen würde. Es war nicht einfach, mit frisch Verheirateten eine Kabine zu teilen – Valentine kam sich immer wie ein Eindringling vor, wenn sie den Raum betrat. Doch sie hatte keine andere Wahl. Obwohl es sich bei diesem Sternenschiff um eine Luxusjacht mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten handelte, war es einfach nicht für so viele Passagiere geschaffen.

Ihre zwanzig Jahre alte Tochter Ro und Varsam, ihr sechzehnjähriger Sohn, teilten sich eine weitere Kabine mit Plikt, ihrer lebenslangen Lehrerin und der besten Freundin der Familie. Die ursprünglichen Besatzungsmitglieder der Jacht, die sich entschlossen hatten, mit ihnen auf die Reise zu gehen – es wäre unrecht gewesen, sie alle zu entlassen –, benutzten die beiden anderen Kabinen. Die Brücke, der Speisesaal, die Kombüse, der Salon, die Schlafkabinen – alle Räume waren voller Menschen, die ihr Bestes gaben, die Verärgerung darüber, so eingepfercht leben zu müssen, nicht außer Kontrolle geraten zu lassen.

Doch im Augenblick befand sich keiner von ihnen auf dem Gang, und Jakt hatte bereits ein Schild an ihre Tür geklebt:

 

Bleibt draußen oder sterbt

 

Es war mit ›Der Eigner‹ unterschrieben. Valentine öffnete die Tür. Jakt stand so dicht neben der Tür an die Wand gelehnt, dass sie sich erschreckte und einen leisen Schrei ausstieß.

»Schön zu wissen, dass mein Anblick Schreie des Vergnügens bei dir auslösen kann.«

»Des Erschreckens.«

»Tritt ein, meine süße Aufwieglerin.«

»Du weißt ja, dass technisch gesehen ich die Eignerin dieses Sternenschiffes bin.«

»Was dein ist, ist auch mein. Ich habe dich deines Besitzes wegen geheiratet.«

Er schloss die Tür der Kabine und verriegelte sie.

»Mehr bin ich nicht für dich?«, fragte sie. »Nur Grundbesitz?«

»Ein kleines Fleckchen Land, auf dem ich pflügen und pflanzen und ernten kann, alles zu seiner richtigen Zeit.« Er griff nach ihr; sie trat in seine Arme. Seine Hände glitten leicht ihren Rücken hinauf und umfingen ihre Schultern. Sie fühlte sich in seiner Umarmung geborgen, niemals eingeengt.

»Es ist schon spät im Herbst«, sagte sie. »Es geht auf den Winter zu.«

»Vielleicht ist es an der Zeit zum Eggen«, sagte Jakt. »Oder es ist vielleicht schon an der Zeit, das Feuer zu schüren und die alte Hütte warm zu halten, bevor der Schnee kommt.«

Er küsste sie, und es fühlte sich wie beim ersten Mal an.

»Wenn du mich heute bitten würdest, dich noch einmal zu heiraten, würde ich ja sagen«, sagte Valentine.

»Und wenn ich dir heute zum ersten Mal begegnet wäre, würde ich dich bitten.«

Sie hatten dieselben Worte schon viele, viele Male gesprochen. Und doch lächelten sie, als sie sie hörten, denn sie waren noch immer wahr.

 

Die beiden Sternenschiffe hatten ihr gewaltiges Ballett fast vollendet, tanzten mit großen Sprüngen und komplizierten Richtungsänderungen durch den Raum, bis sie sich endlich treffen und berühren konnten. Miro Ribeira hatte den gesamten Verlauf von der Brücke seines Sternenschiffs aus beobachtet; er hatte die Schultern eingezogen und den Kopf auf die Stütze seines Sitzes gelehnt. Auf andere wirkte diese Haltung immer unbeholfen. Wann immer Mutter ihn damals auf Lusitania in dieser Stellung erwischt hatte, war sie zu ihm gekommen und hatte darauf bestanden, ihm ein Kissen zu bringen, damit er es bequem hatte. Sie schien einfach nicht begreifen zu können, dass er den Kopf nur in dieser unbeholfen wirkenden Haltung ohne bewusste Anstrengung aufrecht halten konnte.

Er ertrug ihre Belehrungen, weil es nicht der Mühe wert war, mit ihr zu streiten. Mutter dachte und bewegte sich immer so schnell, dass es ihr fast unmöglich war, langsam genug zu agieren, um ihm zuhören zu können. Seitdem er einen Gehirnschaden erlitten hatte, als er durch das Disruptorfeld schritt, das die Kolonie der Menschen vom Wald der Schweinchen trennte, war seine Sprache unerträglich langsam hervorzubringen und schwierig zu verstehen. Miros Bruder Quim, der Religiöse, hatte gemeint, er solle Gott dankbar sein, überhaupt noch sprechen zu können – in den ersten paar Wochen hatte er lediglich kommunizieren können, indem er jede Nachricht Buchstabe um Buchstabe zusammensetzte.

In mancher Hinsicht jedoch war es besser gewesen, Mitteilungen zu buchstabieren. Zumindest war Miro dabei stumm gewesen; er hatte nicht seine eigene Stimme hören müssen. Der dumpfe, unbeholfene Klang, die quälende Langsamkeit. Wer von seiner Familie hatte schon die Geduld, ihm zuzuhören? Selbst bei denjenigen, die es versuchten – seine jüngere Schwester Ela; sein Freund und Stiefvater Andrew Wiggin, der Sprecher für die Toten; und Quim natürlich –, konnte er Ungeduld spüren. Sie neigten dazu, seine Sätze für ihn zu beenden. Sie mussten die Dinge beschleunigen. Obwohl sie also sagten, sie wollten mit ihm sprechen, obwohl sie sich tatsächlich zu ihm setzten und zuhörten, konnte er nicht frei zu ihnen sprechen. Er konnte nicht über Vorstellungen sprechen; er konnte keine langen, komplizierten Sätze von sich geben, denn wenn er endlich fertig war, wussten seine Zuhörer nicht mehr, wie er angefangen hatte.

Miro war zum Schluss gekommen, dass das menschliche Gehirn genau wie ein Computer Daten nur mit einer bestimmten Geschwindigkeit aufnehmen konnte. Wenn man zu langsam wurde, schweifte die Aufmerksamkeit des Zuhörers ab, und die Informationen waren verloren.

Aber auch nicht nur die Zuhörer. Miro musste fair sein – er war mit sich genauso ungeduldig wie sie. Wenn er an die schiere Anstrengung dachte, die nötig war, eine komplizierte Idee zu erklären, wenn er erwartungsvoll versuchte, die Worte mit den Lippen, der Zunge und dem Kiefer zu bilden, und sie ihm nicht gehorchen wollten, wenn er daran dachte, wie lange das alles dauern würde, kam er sich normalerweise zu müde vor, um überhaupt zu sprechen. Sein Verstand raste so schnell wie eh und je und dachte mitunter so viele Gedanken, dass Miro am liebsten sein Gehirn abgeschaltet und sich gewünscht hätte, dass es schwieg und ihm Frieden gab. Doch diese Gedanken verblieben bei ihm; er teilte sie mit niemandem.

Bis auf Jane. Mit Jane konnte er sprechen. Sie war ihm zum ersten Mal zu Hause auf seinem Terminal erschienen; ihr Gesicht hatte auf dem Bildschirm Gestalt angenommen. »Ich bin eine Freundin des Sprechers für die Toten«, hatte sie gesagt. »Ich glaube, wir können diesen Computer dazu bringen, etwas schneller zu reagieren.« Von da an hatte Miro festgestellt, dass Jane die einzige Person war, mit der er problemlos sprechen konnte. Zum einen war sie unendlich geduldig. Sie führte seine Sätze niemals zu Ende. Sie konnte darauf warten, dass er sie selbst beendete, so dass er sich niemals gedrängt fühlte, niemals den Eindruck hatte, sie zu langweilen.

Noch wichtiger war vielleicht, dass er für sie seine Worte nicht so vollständig ausbilden musste wie für menschliche Zuhörer. Andrew hatte ihm ein persönliches Terminal gegeben – einen Computerempfänger, der von einem ähnlichen Juwel umschlossen wurde wie das, das Andrew in seinem Ohr trug. Von diesem günstigen Ausgangspunkt konnte Jane mit Hilfe der Sensoren des Juwels jedes Geräusch wahrnehmen, das er machte, jede Bewegung der Muskeln in seinem Kopf. Er musste nicht jedes Geräusch vollenden, er musste es nur beginnen, und sie verstand ihn. So konnte er faul sein. Er konnte schneller sprechen und wurde verstanden.

Und er konnte auch stumm sprechen. Er konnte subvokalisieren – er musste nicht diese unbeholfene, bellende, heulende Stimme benutzen. Wenn er also mit Jane sprach, konnte er schnell und natürlich sprechen, ohne daran erinnert zu werden, dass er ein Krüppel war. Wenn er mit Jane sprach, fühlte er sich wie er selbst.

Nun saß er auf der Brücke des Frachters, der den Sprecher für die Toten erst vor ein paar Monaten nach Lusitania gebracht hatte. Er schreckte vor dem Rendezvous mit Valentines Schiff zurück. Wäre ihm ein anderer Ort eingefallen, wohin er gehen könnte, er wäre vielleicht dorthin gegangen – er hatte nicht den geringsten Wunsch, Andrews Schwester Valentine oder sonst jemandem zu begegnen. Er wäre zufrieden gewesen, auf ewig allein in dem Sternenschiff bleiben zu können und nur mit Jane zu sprechen.

Aber das konnte er nicht. Er würde nie wieder zufrieden sein.

Zumindest waren diese Valentine und ihre Familie eine neue Erfahrung. Auf Lusitania kannte er jeden oder zumindest jeden, an dem ihm etwas lag – die gesamte wissenschaftliche Gemeinde dort, die Menschen mit Bildung und Verständnis. Er kannte sie alle so gut, dass er nicht umhin konnte, ihr Mitleid zu sehen, ihre Trauer darüber, was aus ihm geworden war. Wenn sie ihn musterten, konnten sie nur den Unterschied zwischen dem sehen, was er zuvor gewesen und was aus ihm geworden war.

Es bestand die Möglichkeit, dass neue Menschen – Valentine und ihre Familie – imstande waren, ihn anzuschauen und etwas anderes in ihm zu sehen.

Doch auch das war unwahrscheinlich. Fremde würden ihn anschauen und weniger als die sehen, die ihn gekannt hatten, bevor er zum Krüppel geworden war. Zumindest wussten Mutter, Andrew, Ela und Ouanda und all die anderen, dass er einen Verstand hatte, dass er imstande war, Ideen zu verstehen. Was werden neue Menschen denken, wenn sie mich sehen? Sie werden einen Körper sehen, der bereits verkümmert ist; sie werden meinen schlurfenden Gang sehen; sie werden mich beobachten, wie ich Hände wie Klauen benutze, wie ein dreijähriges Kind einen Löffel umklammere; sie werden meine dumpfe, halb verständliche Stimme hören; und sie werden annehmen, dass solch ein Mensch keine komplizierten oder schwierigen Dinge verstehen kann.

Warum bin ich hierhergekommen?

Ich bin nicht gekommen. Ich ging. Ich bin nicht hierhergekommen, um diese Menschen zu treffen. Ich bin dort aufgebrochen. Gegangen. Nur habe ich mich selbst belogen. Ich dachte daran, auf eine Reise von dreißig Jahren zu gehen, doch so wird es nur ihnen vorkommen. Für mich sind nur anderthalb Wochen vergangen. Überhaupt keine Zeit. Und schon ist meine Zeit der Einsamkeit vorbei. Die Zeit, die ich allein mit Jane verbracht habe, die mir zuhört, als sei ich noch ein menschliches Wesen, ist verstrichen.

Beinahe. Beinahe hätte er die Worte gesprochen, die das Rendezvous abgebrochen hätten. Er hätte Andrews Sternenschiff stehlen und auf eine Reise gehen können, die ewig gedauert hätte, ohne dass er noch einmal einer anderen lebenden Seele gegenübertreten musste.

Doch solch ein nihilistischer Akt entsprach ihm nicht, noch nicht. Er war zum Schluss gekommen, dass er noch nicht verzweifelt hatte. Vielleicht konnte er noch etwas tun, was ihm eine Rechtfertigung gab, in diesem Körper weiterzuleben. Und vielleicht würde es damit beginnen, dass er sich mit Andrews Schwester traf.

Die Schiffe vereinigten sich nun; ihre Nabelschnüre schlängelten sich hinaus und tasteten suchend, bis sie einander berührten. Miro sah auf den Monitoren zu und lauschte den Computerberichten über jede erfolgreiche Verbindung. Die Schiffe vereinigten sich auf jede mögliche Art und Weise, so dass sie den Rest der Reise nach Lusitania im perfekten Zweiergespann zurücklegen konnten. Sie würden alle Hilfsmittel miteinander teilen. Da es sich bei Miros Schiff um einen Frachter handelte, konnte es kaum mehr als eine Handvoll Menschen aufnehmen, dafür aber einen beträchtlichen Teil der lebensnotwendigen Vorräte des anderen Schiffes; gemeinsam errechneten die beiden Bordcomputer ein perfektes Gleichgewicht.

Nachdem sie die beste Verteilung der Fracht ermittelt hatten, errechneten sie genau, wie schnell jedes Schiff beschleunigen konnte, damit beide wieder in perfektem Gleichklang annähernde Lichtgeschwindigkeit erreichten. Es war eine äußerst heikle und komplizierte Abstimmung zwischen den beiden Computern nötig, die genau wissen mussten, welche Lasten ihre Schiffe beförderten und was sie leisten konnten. Sie war abgeschlossen, bevor die Passagierröhre die beiden Schiffe vollständig miteinander verbunden hatte.

Miro hörte schlurfende Schritte im Gang, der von der Röhre zur Brücke führte. Er drehte seinen Stuhl und sah, wie sie auf ihn zukam. Sie ging etwas gebückt, ihr Haar weiß, mit ein paar mausgrauen Strähnen. Als sie stehen blieb, betrachtete er abschätzend ihr Gesicht. Alt, aber nicht ältlich. Falls sie angesichts dieser Begegnung Nervosität empfand, zeigte sie sie nicht. Aber andererseits hatte sie nach allem, was Andrew und Jane ihm über sie erzählt hatten, schon eine Menge Leute kennengelernt, die wesentlich furchterregender waren als ein zwanzigjähriger Krüppel.

»Miro?«, fragte sie.

»Wer sonst?«, sagte er.

Sie brauchte einen Augenblick, nur einen Herzschlag, um die seltsamen Geräusche zu verstehen, die aus seinem Mund kamen.

»Ich bin Valentine«, sagte sie.

»Ich weiß«, gab er zurück. Er machte die Sache mit seinen lakonischen Erwiderungen nicht gerade einfacher, aber was sonst gab es zu sagen? Es handelte sich nicht gerade um eine Begegnung zwischen Staatsführern, bei der eine Reihe lebenswichtiger Entscheidungen getroffen werden musste. Doch er musste sich etwas Mühe geben, um nicht feindselig zu wirken.

»Dein Name, Miro – er bedeutet ›Ich schaue hin‹, nicht wahr?«

»Ich schaue genau hin. Vielleicht auch ›Ich schenke Beachtung‹.«

»Es ist wirklich nicht so schwer, dich zu verstehen«, sagte Valentine.

Es verblüffte ihn, dass sie die Sache so offen ansprach.

»Ich glaube, ich habe mehr Probleme mit deinem portugiesischen Akzent als mit dem Gehirnschaden.«

Einen Augenblick lang hämmerte sein Herz wie verrückt – sie sprach offener über seine Lage als jeder andere, von Andrew einmal abgesehen. Aber andererseits war sie auch Andrews Schwester. Er hätte damit rechnen müssen, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm.

»Oder ziehst du es vor, dass wir so tun, als gäbe es keine Barriere zwischen dir und anderen Menschen?«

Anscheinend hatte sie seine Erschütterung gespürt. Doch nun kam ihm in den Sinn, dass er wahrscheinlich nicht wütend, sondern eher froh sein sollte, dass sie das Thema nicht verschweigen mussten. Und trotzdem war er wütend, und er brauchte einen Augenblick, bis er den Grund dafür erkannte.

»Mein Gehirnschaden ist nicht dein Problem«, sagte er.

»Wenn er es mir erschwert, dich zu verstehen, ist er ein Problem, mit dem ich mich befassen muss. Sei nicht schon eingeschnappt, junger Mann. Ich habe gerade erst angefangen, dich zu ärgern, und du hast erst angefangen, mich zu ärgern. Also sei nicht sauer, weil ich deinen Gehirnschaden irgendwie als mein Problem hingestellt habe. Ich habe nicht die geringste Absicht, jedes meiner Worte auf die Goldwaage zu legen, aus Angst, ich könnte einen überempfindlichen jungen Mann beleidigen, der der Ansicht ist, die ganze Welt drehe sich um seine Enttäuschungen.«

Miro war außer sich vor Zorn, dass sie schon ein Urteil über ihn gefällt hatte. Es war zudem unfair – und entsprach gar nicht dem, was er von einer Autorin von Demosthenes' Bedeutung erwartet hatte. »Ich glaube nicht, dass sich die ganze Welt um meine Enttäuschungen dreht! Aber glaube du nicht, du könntest hier hereinplatzen und auf meinem Schiff die Dinge in die Hand nehmen!« Das war es, was ihn verärgerte, nicht ihre Worte. Sie hatte recht – ihre Worte waren nichts. Es war ihre Einstellung, ihr vollständiges Selbstvertrauen. Er war es nicht gewöhnt, dass die Menschen ihn ohne Betroffenheit oder Mitleid betrachteten.

Sie nahm in dem Sitz neben ihm Platz. Er drehte sich zu ihr um. Sie ihrerseits wandte den Blick nicht ab, sondern musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Er hat gesagt, dass du ein harter Fall bist. Er hat gesagt, dass du verkrümmt, aber nicht gebrochen bist.«

»Willst du meine Therapeutin spielen?«

»Willst du mein Feind sein?«

»Sollte ich das?«, fragte Miro.

»Genauso wenig, wie ich deine Therapeutin sein sollte. Andrew hat uns nicht zusammengeführt, damit ich dich heilen kann. Er hat uns zusammengeführt, damit du mir helfen kannst. Wenn du das nicht willst, na schön. Wenn doch, auch gut. Lass mich nur ein paar Dinge klarstellen. Ich verbringe jeden wachen Augenblick damit, subversive Propaganda zu schreiben, um die öffentliche Einstellung auf den Hundert Welten und in den Kolonien anzustacheln. Ich versuche, die Menschen gegen die Flotte aufzubringen, die der Sternenwege-Kongress ausgeschickt hat, um Lusitania zu unterwerfen. Deine Welt, nicht meine, wie ich hinzufügen möchte.«

»Dein Bruder ist dort.« Er wollte nicht zulassen, dass sie völlige Selbstlosigkeit für sich beanspruchte.

»Ja, wir beide haben Familie dort. Und wir beide sind bestrebt, die Pequeninos vor der Vernichtung zu bewahren. Und wir beide wissen, dass Ender die Schwarmkönigin auf deiner Welt wiederhergestellt hat, so dass zwei außerirdische Spezies vernichtet werden, wenn der Sternenwege-Kongress seinen Willen bekommt. Es steht sehr viel auf dem Spiel, und ich tue schon alles, was ich nur kann, um diese Flotte aufzuhalten. Wenn es mir nun hilft, diese Aufgabe besser zu erledigen, ein paar Stunden in deiner Gegenwart zu verbringen, dann ist es die Zeit wert, die ich nicht schreiben kann. Aber ich habe nicht die Absicht, meine Zeit damit zu verschwenden, mir ständig den Kopf darüber zu zerbrechen, ob ich dich nun beleidigen könnte oder nicht. Wenn du also mein Widersacher sein willst, kannst du hier oben allein sitzen bleiben, und ich mache mich wieder an die Arbeit.«

»Andrew hat gesagt, du seiest der beste Mensch, den er je gekannt hat.«

»Er kam zu dieser Schlussfolgerung, bevor er miterlebte, wie ich drei barbarische Kinder zu Erwachsenen großzog. Wie ich gehört habe, hat deine Mutter sechs Kinder.«

»Genau.«

»Und du bist das älteste.«

»Ja.«

»Sehr schade. Eltern machen ihre schlimmsten Fehler immer bei den ältesten Kindern. Da wissen die Eltern am wenigsten und sind am besorgtesten. Also ist es umso wahrscheinlicher, dass sie Fehler begehen und gleichzeitig darauf beharren, sie hätten richtig gehandelt.«

Miro gefiel es nicht, dass diese Frau vorschnelle Schlüsse über seine Mutter zog. »Sie ähnelt dir nicht im Geringsten.«

»Natürlich nicht.« Sie beugte sich auf ihrem Sitz vor. »Nun, zu welchem Schluss bist du gekommen?«

»Zu welchem Schluss worüber?«

»Arbeiten wir nun zusammen, oder hast du dich für nichts und wieder nichts aus dreißig Jahren menschlicher Geschichte ausgeklinkt?«

»Was willst du von mir?«

»Geschichten, natürlich. Die Fakten kann ich vom Computer bekommen.«

»Geschichten worüber?«

»Über dich. Die Schweinchen. Dich und die Schweinchen. Diese ganze Sache mit der Lusitania-Flotte begann schließlich mit dir und den Schweinchen. Weil ihr euch eingemischt habt, wollen sie …«

»Wir haben ihnen geholfen!«

»Oh, habe ich schon wieder das falsche Wort benutzt?« Miro funkelte sie an. Doch noch im gleichen Augenblick wusste er, dass sie recht hatte – er war überempfindlich. Das Wort eingemischt war, in einem wissenschaftlichen Zusammenhang benutzt, fast völlig wertneutral. Es bedeutete lediglich, dass er in die Kultur, die er studiert hatte, eine Veränderung eingebracht hatte. Und wenn es tatsächlich einen negativen Beiklang hatte, dann deshalb, weil er seine wissenschaftliche Perspektive verloren hatte – er hatte damit aufgehört, die Pequeninos zu studieren und sie als Freunde behandelt. Dessen war er mit Sicherheit schuldig. Nein, nicht schuldig – er war stolz darauf, diesen Übergang vollzogen zu haben. »Fahre fort«, sagte er.

»All das begann, weil du das Gesetz gebrochen hast und die Schweinchen anfingen, Amarant zu pflanzen.«

»Jetzt nicht mehr.«

»Ja, es ist die reinste Ironie, nicht wahr? Der Descolada-Virus ist eingedrungen und hat jeden Amarant-Züchtungsstamm getötet, den deine Schwester für sie entwickelt hat. Also war deine Einmischung vergeblich.«

»Das war sie nicht«, sagte Miro. »Sie lernen.«

»Ja, ich weiß. Genauer gesagt, sie wählen. Was sie lernen, was sie tun sollen. Du hast ihnen Freiheit gebracht. Ich billige deinen Entschluss von ganzem Herzen. Aber meine Aufgabe ist es, für die Menschen dort draußen auf den Hundert Welten und den Kolonien über dich zu schreiben, und sie werden die Dinge nicht unbedingt so sehen. Ich brauche von dir also die Geschichte, wie und warum du das Gesetz gebrochen und dich in die Belange der Schweinchen eingemischt hast und warum die Regierung und das Volk von Lusitania gegen den Kongress rebellierten, anstatt dich wegzuschicken, damit dir der Prozess gemacht wird und du für deine Verbrechen bestraft wirst.«

»Andrew hat dir diese Geschichte schon erzählt.«

»Und ich habe schon darüber geschrieben. Nun brauche ich die persönlichen Dinge. Ich will anderen Menschen verständlich machen können, dass die sogenannten Schweinchen ein Volk sind. Und ich will, dass sie dich verstehen. Ich muss dafür sorgen, dass sie dich als Person kennenlernen. Wenn es möglich ist, wäre es schön, sie dazu zu bringen, dich zu mögen. Dann wird die Lusitania-Flotte wie eine gewaltige Überreaktion auf eine Bedrohung aussehen, die es nie gab.«

»Die Flotte bedeutet Xenozid.«