11,99 €
Ehe der Bildhauer oder Steinmetz sein Material, den Stein, bearbeitet, unterzieht er ihn einer Klangprobe: Durch den Nachklang erfährt er, ob der Block Fehler, Hohlräume, Risse oder Einsprengungen aufweist. Siegfried Lenz unterwirft auch die Personen seines Romans einer Klangprobe: Er konfrontiert sie mit dem Phänomen des Zerfalls. Indem er die Geschichte des Steinmetzes Hans Bode und seiner Familie erzählt, zeigt er die Vergänglichkeit unserer Welt auf. Diese E-Book-Ausgabe von "Die Klangprobe" wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz' ergänzt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 513
Siegfried Lenz
Die Klangprobe
Roman
Literatur
Hoffmann und Campe Verlag
Über Nacht hatten sie wieder mal sein Meisterwerk versaut, die – wie ich glaube – gelungenste Figur, die er jemals gemacht hat, den »Wächter«. Ich sah es schon von der Bushaltestelle aus, erkannte es an den Leuten, die sich vor dem mittleren Rosenbeet, das mit kalkweißen Steinen umlegt war, versammelt hatten und zu der überlebensgroßen Figur hinaufglotzten, grinsend und amüsiert und bestens unterhalten. Sie stießen sich an, sie hatten sich Erheiterndes zu zeigen – alte Kerle zumeist und kurzhalsige Frauen mit Plastiktüten und vollgestopften Einkaufstaschen –, und hier und da steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten etwas, das ihre gute Laune wach hielt. Wie immer, wenn es darauf ankommt, standen die Ampeln auf rot, und zu allem Überfluß kam auch noch die Kolonne mit dem Staatsbesuch vorbei: weiße Mäuse auf Motorrädern vorneweg und dahinter der kugelsichere Mercedes, in dem das vernarbte Ananasgesicht saß. Nach dem letzten Wagen, in dem die Leute vom Staatsschutz fuhren, kam ich endlich hinüber, doch ich konnte nicht gleich erkennen, was sie diesmal mit dem »Wächter« angestellt hatten, der, aus dichtem, kristallinem Kalkstein genommen, im mittleren der drei Rosenbeete stand.
Offenbar hatte der »Wächter« – eine der ersten Auftragsarbeiten meines Alten – etwas an sich, das den Mutwillen von allen möglichen Leuten weckt; junges Volk und Saufbrüder und Typen, die glaubten, sich etwas beweisen zu müssen, hatten bereits an ihm ihre Phantasie erprobt: einmal hatten sie einen Luftballon an seinen Wanderstab gebunden, ein andermal eine Zigarre in den lauschend offenen Mund gezwängt; sie hatten dem »Wächter« – der nackt war, dessen körperliches Ebenmaß ihm aber soviel Würde verlieh, daß man die Nacktheit vergaß – Kaugummi angeklebt, eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, Rosen vor sein kümmerliches Geschlecht gehängt oder ihm mit bunter Kreide einen geringelten Badeanzug verpaßt. Jedesmal, wenn so etwas passierte, war ich einen ganzen Tag lang deprimiert, und ich wünschte mir dann, daß sie die Figur an einem andern Ort aufgestellt hätten, bei den Wildenten in den Alsteranlagen oder, von mir aus, bei den Elenantilopen in Hagenbecks Tierpark, jedenfalls nicht in dem mittleren der drei Rosenbeete vor dem mächtigen Hamburger Kaufhaus.
Obwohl es längst zu regnen aufgehört hatte, trugen etliche der Frauen, die sich vor dem »Wächter« eingefunden hatten, diese durchsichtigen Plastikhauben, mit denen sie an Sülzköpfe erinnerten, und die alten Kerle, die wie angeleimt herumstanden, machten den Eindruck, als würde ihnen gerade das Erlebnis der Woche beschert. Über ihre Köpfe hinweg sah ich, wofür der »Wächter« hatte herhalten müssen: er, dessen Blick unter halb geschlossenen Lidern weniger den Zugängen zum Kaufhaus galt als der Ferne, in der er etwas wahrgenommen hatte, trug eine schwarze Augenklappe, die ihm irgend jemand in der Nacht angelegt hatte. Mit diesem Ding, das man bei Bindehautentzündung verschrieben bekommt, glich die Figur, auf deren breitwangigem Gesicht ein leichtes resigniertes Lächeln lag, einem schläfrigen Piraten, wirklich, einem mittellosen, pensionierten Piraten. Bei diesem Anblick war ich ganz schön geladen, ich zwängte mich durch die Leute, die gleich zu maulen anfingen, stapfte durch das aufgeweichte Rosenbeet, zog mich auf den Sockel hinauf und versuchte, die Augenklappe zu entfernen. Ich muß zugeben: ich bin ziemlich füllig, auf einem feuchten Sockelsims zu balancieren ist nicht gerade meine Stärke; dennoch hätte ich es geschafft, wenn da keine Zuschauer gewesen wären. Die freuten sich natürlich, die juchzten und spornten mich an, und ich hob mich auf die Zehenspitzen, langte Mal um Mal hinauf und befingerte und befummelte Kinn und Hinterkopf des »Wächters«, ohne das verdammte Gummiband der Augenklappe zu erreichen. Gewiß hätte ich ihnen keinen größeren Gefallen tun können, als runterzukippen, aber schließlich reichte mir ein Zimmermann seinen gedrehten Wanderstock hinauf, und mit dessen Hilfe gelang es mir, das Gummiband am Hinterkopf hochzuschieben. Warum einige Zuschauer klatschten, als ich die herabfallende Augenklappe fing, habe ich nie begriffen; verständlicher war es mir schon, daß ein paar mich vorwurfsvoll musterten, gerade als hätte ich ihnen den Fernseher abgeschaltet.
Selbstverständlich beschloß ich, meinem Alten kein Wort darüber zu sagen, was sie diesmal mit seinem »Wächter« angestellt hatten. Vor dem Haupteingang des Kaufhauses, der von zwei lachhaften Miniaturwindmühlen flankiert war, schmiß ich die Augenklappe in einen Abfallbehälter, gab dem rotäugigen Wermutbruder, der dort wie immer bettelnd herumlungerte, seine Mark und steuerte auf die Aufzüge zu. Obwohl mein Mitleid sich abgenutzt und verringert hatte, tat mein Alter mir von Zeit zu Zeit immer noch leid: ich mußte daran denken, wie er vor vielen Jahren mit dem ersten Auftrag nach Hause gekommen war, zuversichtlich, selbstbewußt und prall vor Gewißheit, die Zukunft in der Tasche zu haben: Hans Bode, der aufstrebende Bildhauer.
Auch wenn du es vielleicht vergessen hast – ich werde mich immer an die Stunden in deiner Werkstatt erinnern, an deine unendlichen Erzählungen über Steine, und auch daran, wie du mich eingeweiht hast in das Geheimnis ihrer Dauer. Du wußtest alles über sie: wie sie entstanden sind in vulkanischen Krämpfen und wie sie, erstarrt, ihre Ruhe fanden; du wußtest, was Farbton und Form besagen, und du konntest Adern und Flecken deuten und jedem Stein seine Härte ansehen und die Elemente nennen, aus denen er bestand. Steinmoose und Farne und im Schiefer die Meerlilie: alles, was in ewige Gefangenschaft geraten war, hast du mir gezeigt und dabei Geschichten erzählt vom Erkalten der trägen Massen und von tausendjährigen Wanderungen.
Unsere Aufzüge waren mal wieder hängengeblieben oder hatten sich selbst blockiert, weil sie überbelastet waren; darum nahm ich die Rolltreppe und ließ mich hochbaggern zur Lebensmittelabteilung. Gegen unsere Verkäuferinnen ließ sich nichts sagen, es waren, bis auf wenige Ausnahmen, ausgesuchte Mädchen, die verdammt gutsitzende weiße Kittel und auf dem Kopf ein kleidsames Schiffchen trugen; sie waren freundlich gegen jedermann, lächelten zuvorkommend, selbst wenn einer nur ein pappiges Fischbrötchen kaufte, und jedes Achtel Salami wickelten sie dir so sorgfältig ein wie eine Rubinbrosche. Wenn es allerdings auf den Feierabend zuging, dann vergaßen sie wohl, was man ihnen eingeschärft hatte, sie wirkten verdrossen, überlegen und sogar hochmütig; man konnte den Eindruck gewinnen, daß sie nur noch darauf warteten, fürs Fernsehen entdeckt zu werden. Daß sie mich kumpelhaft und nachsichtig behandelten: mein Gott, mir machte es nichts aus, wir teilten ja nichts anderes als den Arbeitsplatz, und mir war seit langem klar, daß man gut beraten ist, wenn man am Arbeitsplatz erst gar nichts anfängt. Sie grüßten mich von den Auslagen, den Kühltruhen, dem Probiertischchen, manche zwinkerten mir zu oder spitzten den Mund zu einem Scheinkuß, so daß ein zufälliger Beobachter von mir und den langbeinigen Mädchen, die erstaunlich oft erkältet waren, wer weiß was hätte denken können, im Ernst. Ich grüßte freundlich zurück, ärgerte mich nicht, als die fabelhaft gewachsene Doris meinen Gang imitierte – ihre Watschelbewegung war einmalig –, drohte ihr nur spielerisch und schloß meinen Arbeitsraum auf.
Vom Büro eines Hausdetektivs kann man sehr verschiedene Vorstellungen haben; man kann sich Kabinen denken, in denen Verdächtige sich entkleiden müssen, man kann einschüchternde Gerätschaften vermuten – Lügendetektoren oder Blendscheinwerfer –, und schließlich bleibt es einem auch frei, sich einen behaglich eingerichteten Raum vorzustellen, in dem sympathische Protokollanten sitzen, die jedem Warenhausdieb das Geständnis leicht machen. Die Herren von der Direktion unseres Kaufhauses waren bestimmt Liebhaber der neuen Sachlichkeit, was sich unter anderem darin zeigt, daß sie mir als einzigen Wandschmuck einen Werbekalender zugestanden hatten, mit Abbildungen von Kinderspielzeug aus fünf Jahrhunderten, und als Mobiliar das verjährte Modell eines Tisches sowie zwei Stühle, die mit ihrer geizigen Sitzfläche und der steilen Lehne zu allem anderen einluden, nur nicht zu geruhsamem Dasitzen. Der riesige Aschenbecher stammte von Willi, meinem pfeiferauchenden Kollegen, und die schlichte Keramikvase von den Mädchen der Lebensmittelabteilung, die sie mir zu meinem vierundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatten.
Zuerst trug ich meinen Dienstantritt in das Rapportbuch ein, füllte dann einen Lottoschein aus, öffnete einen neuen Karton mit Karamelbonbons, und nachdem ich mir die weinrote Krawatte umgebunden hatte – unser Abteilungsleiter wünschte tatsächlich, daß die Hausdetektive eine Krawatte trugen –, schaltete ich die schwenkbare versteckte Kamera ein und widmete mich dem Bildschirm. Langsam verzog sich der grisselnde elektronische Schnee, und wie vielleicht jemand vom Himmel auf die Erde blickt – forschend, ausdauernd, kopfschüttelnd und so, daß ihm nichts entgeht –, blickte ich, von Spiegeln unterstützt, die hinter jedes Regal spitzelten, in unsere Lebensmittelabteilung. Ich wunderte mich nicht, daß trotz der frühen Stunde ganze Völkerscharen bei uns durchzogen schätzungsweise fünfzigtausend Kunden, die Drahtkörbe schleppten und Einkaufswagen schoben, und die allesamt darauf aus waren, irgendeine Beute zu machen. Obwohl ich der jüngste Hausdetektiv in unserem Kaufhaus war, dessen Anziehungskraft ziemlich weit in die Niederungen Schleswig-Holsteins hineinstrahlte, hatte ich bereits einen Blick für faule Kunden – ohne daß ich mir den berufsmäßigen Argwohn angeeignet hätte, von dem Willi sich leiten ließ. Mein Mißtrauen erwachte, sobald einer sich aufführte, als sei er ganz erschlagen von allen Angeboten, aber auch die Verkniffenen und die allzu Selbstherrlichen konnten mit meiner gesteigerten Aufmerksamkeit rechnen, und natürlich auch die Typen mit dem unsteten Iltisblick und Kunden, denen man ihre Dreistigkeit an der ganzen Erscheinung ansehen konnte. Aber, Herr im Himmel, um sich über seine Zeitgenossen im klaren zu sein, braucht man nicht ein gutes Jahr lang auf einem elektronischen Ansitz Erfahrungen zu sammeln, das weiß man auch so und ohne Ausbildungskurse.
Ein einziger Schwenk über die Kundenschar genügte, und schon hatte ich mich an einem gepflegten Alten festgesehen, der Ratlosigkeit mimte und kleine Verwirrtheit; ungläubig beugte er sich über Kühltruhen, gab sich wie verloren vor dem weithin laufenden Spalier vollbesetzter Regale, inspizierte staunend unsere Sonderangebote, wobei er es nicht unterlassen konnte, einige Waren zu begrabbeln. An den Probiertischen ließ der alte Knacker nichts aus, was ihm unsere Verkäuferinnen auch reichten: Grillhappen, Fischklößchen, unser hustenförderndes Salzgebäck und fleischfarbene Würfel einer tasmanischen Frucht, er nahm alles freudig an, bedankte sich sogar mit angedeuteter Verbeugung und mümmelte geziert und mit blöder Kennermiene. Als Ingrid ihm auf der Spitze eines gewinkelten Messers Käsehäppchen reichte, setzte er ein Gesicht auf, als wollte er ihr seine Verblüffung und Unentschiedenheit zeigen, was sie dazu verleitete, ihm gleich noch einige Häppchen nachzureichen. Mit unserer getarnten – übrigens mit Tannengrün getarnten – Kamera begleitete ich ihn in die Ecke, in der die »Geschenke des Meeres« – so das von der Decke herabhängende Plakat – gestapelt waren, Sardinen, Thunfisch in Öl, das ziemlich verblaßte Fleisch der Königskrabbe und Muscheln in Gläsern. Es überraschte mich nicht, daß er sich dort, nachdem er kurz gesichert hatte, ein paar Dosen schnappte – Makrelen in Tomatensoße, wie ich feststellte – und sie sich in den Hemdausschnitt steckte, wirklich, nicht in eine seiner zahlreichen Taschen, sondern in den Hemdausschnitt, so daß er das Blech an seiner alten Haut fühlen mußte.
Ich kann machen, was ich will: immer, wenn ich einen miesen Kunden ertappe, stellt sich so ein Gefühl der Bedrückung ein, Ärger selbstverständlich auch, aber vor allem ein Gefühl der Bedrückung und oft genug auch der Trauer. Das war auch bei dem gepflegten alten Knaben der Fall, er ließ mich tatsächlich einen Augenblick schwanken, und ich mußte mich gewaltsam an meine Pflicht erinnern, sonst wäre es mir kaum gelungen, den Warnknopf zu drücken, der an der Kasse ein rotes Lämpchen aufleuchten ließ. Den Rest besorgte unser Abteilungsleiter, über den sich nicht viel sagen läßt – aber soviel vielleicht doch: daß er zierlich war und mitunter mit dem Fuß aufstampfte – übrigens der ungeduldigste Zuhörer, der mir jemals über den Weg gelaufen ist. Strupp-Schönberg hieß er auch noch, Fabian Strupp-Schönberg.
Unter seinem Vorgänger Umbach habe ich leider nur einen Monat arbeiten können, denn er ging in den Ruhestand, er war Kriegsinvalide und hatte sich vom Packer zum Abteilungsleiter hochgedient, und ich fand es einfach umwerfend, wie er mit den Leuten umgehen konnte. Seine Tür stand immer offen, er befürwortete jeden Antrag auf Vorschuß und hatte für jeden von uns ein Lob bereit, aber er warnte auch jeden von uns davor, sich einem Kunden gegenüber erhaben zu fühlen, denn er hatte herausgefunden, daß wir alle auf gewisse Art Jäger sind, auf der Pirsch nach preiswerter Beute. Er lächelte nur, wenn irgendein elegischer Heuchler anmerkte, daß unser Riesenangebot an Waren nichts als Übelkeit verursache und daß nur der Mangel gesund sei und auf gute Gedanken bringe und die Kultur fördere, und immer noch lächelnd bat er dann um Vorschläge, welche der mehr als siebentausend Produkte – von der Ski-Sicherheitsbindung bis zur Kiwi-Konserve – wir denn einstampfen sollten, oder wem allein es denn vorbehalten sein sollte, die anscheinend überflüssigen Sachen abzuschleppen. Wenn einer, dann war Umbach mein Mann, wirklich.
Warum die stämmige Frau mit dem Kinderwagen meinen Verdacht wachrief, konnte ich nicht sagen, jedenfalls tat sie es nicht, weil sie eine von Doris kunstvoll errichtete Pyramide von Melonen umriß und sich einen Dreck darum kümmerte, wohin sie rollten. Zielbewußt, ohne die Preise zu vergleichen, schob sie ihr Gefährt einfach weiter zur Fleisch- und Wurstabteilung, verlangte dort ein paar Markknochen, vermutlich für eine Kraftbrühe, und während Sibylle die Knochen mit der Bandsäge zerteilte, griff die Kundin in einen Korb, schnappte sich gleich mehrere der schwitzenden, graupelzigen Dauerwürste und verstaute sie unter dem Kopfkissen des Kinderwagens. Alles ging so schnell und wirkte so trainiert, daß ich es kaum mitbekam. Und nur, weil ich sie schon mal im Fadenkreuz hatte, entging mir auch nicht, was sich die Dame, die alle Probehäppchen zurückwies, bei den Konserven leistete, bei den Eintopfgerichten: nachdenklich, als bestimme sie den Küchenplan für die ganze Woche, fischte sie sich sieben Dosen raus, unter anderem Gulasch-, Spargel- und serbische Bohnensuppe, und ließ sie unter der Zudecke des Kinderwagens verschwinden. Das sirenenartige, auf- und abschwellende Geschrei des Kindes drang bis in mein Büro, im Ernst. Aber dann riß es mich fast vom Stuhl, als sich eine kleine fleischige Hand über den Wagenrand hob und etwas runterplumpsen ließ, eine Dauerwurst runterplumpsen ließ, und ich mußte die Luft anhalten, als kurz darauf eine Konservendose beidhändig hochgestemmt und über Bord gewälzt wurde. Bevor die Frau das Kind mit dem Kissen erstickte – sie tat es natürlich nicht, aber bei den strafenden Blicken, die sie ihm zuwarf, hätte man das durchaus vermuten können –, drückte ich den Warnknopf und veranlaßte unseren Abteilungsleiter, den Fall persönlich zu übernehmen. Er fand Grund, ein paarmal heftig mit dem Fuß zu stampfen, es hätte nicht viel gefehlt, und die wütende Frau, die ganz schön herumschrie, wäre tätlich geworden, aber schließlich folgte sie ihm kleinlaut in sein Büro.
Ich war ziemlich deprimiert und versuchte mir vorzustellen, mit dieser Frau verheiratet zu sein und all das; wie ich auf dem Bildschirm erkannte, hatte sie nämlich zwei Gesichter, ein hartes, robustes äußeres Gesicht und ein zurückgeschmolzenes, nur noch ahnbares Gesicht, das einem staunenden Mädchen gehörte. Von ferne erinnerte sie mich sogar an ein Mädchen, mit dem ich einmal sehr gern zusammen gewesen wäre; ich hatte sie in dem Film »Wilde Erdbeeren« kennengelernt, in einem lausigen Kino, wir saßen nebeneinander, und ich bot ihr von meinen Erdnüssen an, und sie dankte mir jedesmal mit einem langen Blick. Als ich sie nach Hause begleiten wollte, entschuldigte sie sich damit, daß sie gerade eine schwere Operation überstanden hatte, und mir blieb nichts anderes übrig, als das zu glauben. Eine Operation, daß ich nicht lache! Mir geht es oft so, daß mich jemand, der mir über den Weg läuft, an einen andern erinnert, der mir schon mal irgendwo untergekommen ist.
Endlich wurde unser Abteilungsleiter in die Direktion hinaufbestellt, und ich konnte an seinem Glaskäfig vorbeigehen, ohne sofort einen dieser stechenden, mißtrauischen Blicke einzufangen, mit denen er jeden von uns musterte, der nur mal zur Toilette wollte. Für das Personal hatten sie selbstverständlich eine eigene Toilette eingerichtet, alles war hier karger und anspruchsloser als in der Kundentoilette, statt Stoffhandtüchern, die über Ringelwalzen laufen, gab es nur harte Papierhandtücher, flüssige Seife wurde bei uns nicht nachgefüllt, und um gesprungene Fliesen, die in der Kundentoilette sogleich ersetzt wurden, kümmerte man sich bei uns nicht die Bohne. Die Aussicht von der Personaltoilette war einfach niederschmetternd, denn man blickte genau auf die Rampe, auf der die Abfälle gestapelt wurden, der tägliche Ausschuß, auf den ein bulliger Kerl, dem eine ganze Armada von Lastern gehörte, abonniert war. Mein Gott, was sich da so türmte: Kisten mit Pfirsichen, die nur winzige dunkle Druckstellen aufwiesen, Metallwannen mit Sülzkoteletts und Sauerfleisch, über die das Verfallsdatum gerichtet hatte, Hügel von verschrumpelten Gurken, Milch und Milchprodukten und, wahllos zusammengeworfen, ausgesonderte Poularden mit harmlosen Flecken und schwärzlich angelaufene Blumenkohlköpfe. Länger als nötig mochte sich bestimmt niemand auf der Personaltoilette aufhalten.
Ein paar Stunden lang konnte ich keinen faulen Kunden ertappen; das kam auch vor, und damit mußte man sich abfinden. Ich kann nicht sagen, daß da gleich meine Stimmung stieg oder daß sich mein Glaube an die Menschheit verfestigte und dergleichen, ich stellte nur wieder mal fest, daß es ziemlich öde ist, ehrliche Kunden beim Einkauf zu überwachen. Ehrlichkeit ist nun mal langweilig und gibt nicht sehr viel her – für einen Hausdetektiv, meine ich. Immerhin hatte ich noch nicht den Dritten erwischt, und während ich mich wieder und wieder fragte, wer es wohl diesmal sein könnte, wuchs eine gewisse, wuchs die übliche Spannung. Ich hatte nämlich im Stillen mit mir selbst abgemacht, jeden dritten diebischen Kunden laufen zu lassen. Ich weiß auch nicht, warum; ich weiß nur, daß es mir umso leichter fiel, zwei zu melden und hochgehen zu lassen, wenn ich einen – mit allem, was er eingesackt hatte – unbelangt entkommen ließ. Dabei war mir schon klar, daß nicht jeder, der in den Genuß meiner Großzügigkeit kam, diese Großzügigkeit auch verdiente; oft genug war es mir passiert, daß ich Kunden, die sich nur auf bescheidene Weise vergingen, überführt hatte, andere hingegen, die sich dreist und allzu happig bedienten, folgenlos den Engpaß der Kasse passieren ließ. Das wurmte mich mitunter, dennoch gab ich das System, es schicksalhaft mit jedem Dritten zu halten, nicht auf; auf irgend etwas muß man sich schließlich festlegen.
Diesmal stellte mich der Dritte auf eine ganz schöne Geduldsprobe; in der unaufhörlichen Prozession, die durch unsere Lebensmittelabteilung zog, gab es keinen, der meinen Verdacht erregte, die waren alle so verdammt ehrlich und zahlungswillig, als wollten sie mir meine Entbehrlichkeit beweisen. Und als ich sie entdeckte, glaubte ich auch nicht einen Augenblick, daß sie mein Dritter sein könnte, ich sah mich nur deshalb so an ihr fest, weil sie das anziehendste Gesicht hatte, das jemals bei uns erschienen war, im Ernst. Es war ein sommersprossiges, jungenhaftes Gesicht, auf dem ein scheues Lächeln lag, die Lippen waren leicht geöffnet, und die Augen, um auch das noch zu erwähnen, hatten einen ganz und gar klassischen Schnitt. Sie trug Bubikopf, war schlank und wohl eben über zwanzig.
Ach, Lone, ich weiß noch, wie du hereingeweht kamst, träumerisch und mit zaghaften Bewegungen; du schienst verwundert über dich selbst, konntest dir offenbar nicht erklären, wie du in meine Abteilung geraten warst, in die Lebensmittelabteilung. Unter dem offenen Parka trugst du einen langfallenden marineblauen Pullover und in der Herzgegend einen Aufnäher, auf dem ein kleiner, krummschnäbeliger Vogel abgebildet war, der einem Baumläufer glich. Kein Schmuck war an dir zu finden, nicht einmal ein imitierter Gardinenring, der durchaus zu dir gepaßt hätte. Deiner geschmackvollen Umhängetasche – mehrfach getöntes herbstbraunes Leder, das in Blätterform geschnitten und zusammengenäht war – sah ich sofort an, daß du sie selbst gemacht hattest. Als du vor dem Gewürzständer stehenbliebst und für eine Weile nicht wegfinden konntest von gefüllten Streuern und Tütchen, botest du mir dein Profil an, und da ging mir auf, wie ähnlich du meiner kleinen Schwester Jette warst. Großer Gott, ich will nicht zuviel sagen, aber du schienst von einer einzigen Bereitschaft erfüllt, stille Freude auszudrücken, und je länger ich dich im Auge behielt, desto deutlicher fühlte ich, wie sich deine Freude auf mich übertrug.
Jedenfalls, ich kam und kam nicht von ihrem Anblick los, ich mußte einfach zusehen, wie sie, ohne einen Drahtkorb aufzunehmen oder ein Einkaufswägelchen vor sich herzuschieben, an der Truhe mit den Fischgerichten vorbeiglitt und nachdenklich vor dem wie schlafend dekorierten Wildgeflügel im Federkleid stehenblieb. Sie belegte mich so sehr mit Beschlag, daß ich kaum mitbekam, wie mein Kollege Willi unser Büro betrat, auf dem kleinen Abstelltisch seine finnischen Lehrbücher aufschlug und auch gleich zu murmeln anfing, auf finnisch natürlich. Obwohl er noch nicht einmal dreißig war, hatte er schon vier Kinder, die zu Hause so nervtötend an ihm herumhingen, daß er die Aufgaben für die Abendschule im Büro erledigte; Willi mit seinem füchsischen Dreiecksgesicht, der mir nicht oft genug sagen konnte, daß man sich weiterbringen muß, wenn man etwas erreichen will. Weiterbringen: ich brauche das nur zu hören, dann bekomme ich schon Krämpfe.
Ich ließ ihn bei seinen finnischen Studien und setzte mich so vor den Bildschirm, daß er nicht merkte, wem allein ich meine Aufmerksamkeit widmete. Sie dankte für ein Käsehäppchen und aß es so andächtig, als wollte sie das geheimste Aroma herausschmecken; danach ging sie in die Backwarenabteilung, nahm aus einem Korb ein kurzes Stangenbrot, schnupperte daran, betastete es, und ich glaubte wirklich, daß sie sich nur von der Frische überzeugen wollte. In diesem Augenblick wäre ich gern hinter ihr aufgetaucht, um sie so freundlich wie möglich auf das Schild hinzuweisen, das das Berühren der Backwaren untersagte. Plötzlich sah ich, wie sie das Stangenbrot in die Innentasche ihres Parkas schob und gedankenlos zu den Konfitüren hinüberging. Der Schmerz, den ich da spürte, kam gewiß daher, daß ich mich überrumpelt, widerlegt, mattgesetzt fühlte; mir war es furchtbar peinlich, um die Wahrheit zu sagen; genau so elend wäre mir zumute gewesen, wenn sich meine kleine Schwester Jette unter meinen Augen selbst bedient hätte. Vermutlich stöhnte ich oder gab irgendein Geräusch von mir, denn Willi unterbrach sein finnisches Gemurmel und wollte wissen, ob ich einen in der Falle hätte. Ich schüttelte den Kopf, mimte Gelassenheit und beobachtete gleichzeitig, wie sie sich in der Konfitürenabteilung umtat, hilflos und so, als verursachten ihr unsere Angebote ein Ziehen in den Schläfen, denn sie betastete sie tatsächlich. Schließlich, und damit beendete sie ihre Verlegenheit, wählte sie ein Glas mit Tannenhonig; danach strebte sie, das Honigglas auf offener Hand balancierend, gemächlich und unbefangen auf unsere Kasse zu, reihte sich geduldig in den kleinen Stau ein und bewies, zu wieviel Mädchenhaftigkeit sie noch bereit war, als sie einem feisten Knirps, den seine Mutter in einen Einkaufswagen gesetzt hatte, eine Grimasse schnitt. Das warf mich um, die Grimasse warf mich einfach um, und während sie einem mißmutigen Ehepaar, dessen Taschen sich als zu klein erwiesen, beim Einpacken half, unterbrach ich Willis Studien von Nurmis Sprache. Ich bat ihn, die Aufsicht ausnahmsweise früher zu übernehmen, versprach, ihm bei Gelegenheit alles zu erklären – mein Gott, es war nicht mal eine verdammte Stunde, um die ich ihn bat –, doch er mußte sich zunächst stirnrunzelnd und übellaunig mit sich selbst beraten, und erst nachdem ich ihm angeboten hatte, die doppelte Zeit für ihn einzuspringen, willigte er ein. Auch unter Hausdetektiven kann man deprimierende Erfahrungen machen, im Ernst. Wer weiß, was er sich dachte, als er mich gleich darauf durch die Abteilung hasten sah und mich mit der schwenkbaren Kamera bis zur Rolltreppe verfolgte, der ich im Ernstfall mehr vertraute als den ewig überfüllten Aufzügen.
Mindestens tausendmal hatte ich im Kino gesehen, wie einer flieht und von mehr oder weniger sympathischen Burschen verfolgt wird, und ebenso oft hatte ich es erlebt, daß Fliehende und Verfolger auf die immer gleiche einfallslose Art behindert wurden: kaum hatten sie nämlich ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht, wurden sie auch schon von einem lärmenden Karnevalszug gebremst, oder es schloß sich eine Eisenbahnschranke vor ihnen, und wenn nicht dies, so wurden sie von einer in Panik geratenen Rinderherde aufgehalten oder von den Teilnehmern einer politischen Demonstration zum Warten gezwungen. Ohne Behinderung geht wohl keine Flucht ab, und eine Verfolgung wohl ebensowenig. Jedenfalls hatte ich es noch nicht einmal bis zur Rolltreppe geschafft, als sich der Strom der heraufgebaggerten Kunden verdickte, schätzungsweise eine Million drängten gleichzeitig heran, umschlossen, umschnürten mich – zumeist diese stämmigen, kurzhalsigen Frauen, die erbarmungslos ein einziges Ziel verfolgen –, so daß mir gar nichts anderes übrigblieb, als zu kämpfen und mich gewaltsam herauszupflügen. Herr im Himmel, wenn ich an all das denke, was diese Leute mir androhten, nur, weil ich in eine andere Richtung wollte; so ein Riesenbrötchen meinte tatsächlich, man müsse die Luft aus mir herauslassen – die Luft! Ich kam mir wirklich vor wie in einem dieser blödsinnigen Filme, und als ich endlich den Nebenausgang erreichte, mußte ich erst einmal stehenbleiben und tief durchatmen.
Draußen auf dem Parkplatz fiel mich gleich der Wind an, der hier immer ging, ein launisch wechselnder Fallwind, der Sand und Blätter und Plastikfetzen in Spiralen drehte und den Kunden, die Kisten und Taschen zu ihren Autos schleppten, Tränen in die Augen trieb. Ich hatte mich noch nicht einmal umgesehen, da erkannte ich sie auch schon wieder: gegen den Wind gelegt, der ihr Haar zauste, an ihrem Parka riß, ging sie an den Autoreihen vorbei, verhielt ab und zu, reckte sich, hielt Ausschau; doch auf einmal wurde sie unsicher und kehrte suchend zurück. Sie kam direkt auf mich zu. Sie sah mich mit ihren sehr hellen Augen an und lächelte scheu, und mir gelang nichts anderes, als ihr Lächeln zu erwidern und ihr zuzunicken; etwas anderes gelang mir nicht. Eine Sekunde lang glaubte ich im Ernst, daß sie sich gestellt fühlte und daß sie mir schuldbewußt ausliefern wollte, was sie bei uns auf die Seite gebracht hatte; Gott sei Dank tat sie mir das nicht an, sie ging weiter zu den langen Blumenständen im Freien, an denen zwei kaum beachtete Frauen – bestimmt ohne Gewerbeschein – die Schönheit des Sommers verkauften. Während ich ihr folgte, bestätigte ich mir, daß ich nie zuvor ein so anziehendes Gesicht gesehen hatte.
Gleich hinter den Blumenfrauen kniete auf einem ausgebreiteten Sack ein bärtiger Gitarrenspieler, er spielte und sang mit geschlossenen Augen, er sang eins dieser sattsam bekannten Klagelieder, in denen es um Verlassenheit, um vergebliche Erwartung und all das ging, doch obwohl er die Augen geschlossen hielt, bekam er jedesmal mit, wenn man ihm eine Münze hinwarf, denn er dankte immer mit einer steifen Verbeugung. Dicht vor ihm, das Kinn in beide Hände gestützt, saß ein Junge mit borstigem Kopf und schmächtigen Schultern, er saß starr und ganz verzückt da und blickte unverwandt auf die Finger und auf das Instrument des Spielers. Als die Frau den Jungen entdeckte, beschleunigte sie ihre Schritte und rief auch gleich seinen Namen, doch Fritz – so hieß das Bürschchen – hörte nicht oder wollte nicht hören, Fritz saß da wie verzaubert, unempfindlich für alles, was um ihn herum geschah. Einen Augenblick stand die Frau ratlos da, dann kniete sie sich hin und umarmte den Jungen und flüsterte ihm etwas ins Ohr, und jetzt wandte Fritz ihr sein Gesicht zu, musterte sie zuerst vorwurfsvoll taxierend, gleich darauf aber freudig und erleichtert. Schnell griff er nach ihrer Hand, ließ sich hochziehen, hatte den Spieler und sein Spiel schon vergessen – es ist einfach atemberaubend, wie übergangslos sich Fritz und seinesgleichen von einer Sache trennen und einer anderen zuwenden können –, und folgte bereitwillig der Frau, staksig, fohlenhaft und zu kleinen Hüpfern aufgelegt.
Ich kann mir nicht erklären, warum ich nicht einen einzigen Moment schwankte, ob ich sie sich selbst überlassen oder auf ihrer Spur bleiben sollte, ich kann mir überhaupt vieles nicht erklären, jedenfalls zuckelte ich hinter ihnen her, als bestünde eine rätselhafte Bindung zwischen uns. Auf Abstand bedacht, überquerte ich nach ihnen den Parkplatz, konnte es aber an der Bushaltestelle nicht vermeiden, in ihre Nähe zu kommen. Um nicht in ihr Blickfeld zu geraten, drehte ich mich weg und studierte wohl zwanzigmal den verdammten Fahrplan und achtete dabei auf die komischen Zeichen und Signale, die die beiden austauschten. Es war ein regelrechtes Geheimalphabet, dessen sie sich bedienten, im Ernst. Immerhin bekam ich schon an der Haltestelle mit, daß sie Lone hieß, Lone, und daß sie von dem schmächtigen Bürschchen immer nur mit diesem Namen angesprochen wurde. Als endlich der Bus kam und die Türen zischend aufflogen, ließ ich allen den Vortritt, stieg als letzter ein und suchte erst einmal festen Stand zwischen den Einkaufstaschen und den Plastiktüten und all der preiswerten Beute. Mir machen Ausdünstungen und Enge nichts aus, ich bin daran gewöhnt, aber den Geruch nach Kümmel, den kann ich nicht ertragen, von Kümmel wird mir einfach schlecht. Die Frau, die nach Kümmel roch, hielt außerdem noch den gewaltigsten Gladiolenstrauß gepackt, den man sich denken kann, und als ich versuchte, von ihr fortzukommen, wischte mir dieser Strauß über Gesicht und Hals, einmal so heftig, daß einer dieser verfluchten Stengel knickte. Jesus Christus, gab das ein Gemaule! Nachdem die Eigentümerin des Straußes sich mit dem geknickten Stengel abgefunden hatte, schlug sie tatsächlich vor, für Leute von übertriebener Raumverdrängung einen besonderen Bus mit Anhänger einzusetzen. An der Haltestelle, vor einem trostlosen Krankenhaus, in dem ich nicht mal sterben möchte, drängten sich noch mehrere Krankenschwestern herein, sie schoben, sie schubsten – alles mit dieser unerbittlichen Munterkeit –, und auf einmal stand ich unmittelbar hinter Fritz. Ich packte zwei Haltestangen und stemmte mich gegen die andrängenden Körper der Krankenschwestern, denen zu meinem Erstaunen kein einziges der gestärkten Häubchen verrutschte; doch ich konnte nicht verhindern, daß der Junge in die Klemme geriet, zur Seite gedrückt wurde und auf Lones Schoß landete. Beide sahen zu mir auf, beide lächelten verständnisvoll, ich aber wandte mich schnell ab.
Ob ich es wollte oder nicht, ich mußte zwei Schulmädchen zuhören, die ihre Sitzplätze wohl schon früh erobert hatten, sie trugen Pullover aus zarter Angorawolle und silberne Kettchen um den Hals; belustigt sprachen sie über ihren Sportlehrer, der sich in den Ferien einen Bart hatte wachsen lassen, einen rotflammenden irischen Bart, der ihn selbst beim Vorturnen nicht irritierte, der Klasse aber den Eindruck verschaffte, als schwinge ein tollkühner Opa zwischen den Holmen des Barrens, so daß sie bei jedem Abgang vor Begeisterung klatschte und trampelte. Unwillkürlich mußte ich an meine eigene Junglehrerprüfung denken, sie lag noch nicht lange zurück, ein gutes Jahr nur, ein Jahr, in dem ich es mir abgewöhnt hatte, auf die erhoffte Nachricht von der Schulbehörde zu warten. Ich dachte an den bekümmerten Glückwunsch meines Prüfers, er hieß Klaus Kampe, er gab mir gewiß nur aus Mitleid ein »gut«, und während er uns Zigaretten drehte, versicherte er mir, daß mich auch eine bessere Zensur nicht davor bewahren würde, auf dem Bahnsteig für arbeitslose Pädagogen zu landen. Ihm war genau so elend zumute wie mir. Lieber Jan Bode, sagte er, für unsereins sind die Züge abgefahren. Er schaute mich fortwährend an mit seinem verhangenen, traurigen Blick und nickte zu jedem seiner Sätze. Um mir meine Lage nach bestandener Prüfung zu erklären, bemühte er das Bild von der Leiter. Früher, sagte er, da ging alles automatisch, man stieg auf, Sprosse für Sprosse, und man konnte mit Recht erwarten, daß jede einzelne Sprosse trug, und so weiter. Heute muß man darauf gefaßt sein, daß gleich die ersten drei, vier Sprossen fehlen, einfach herausgebrochen sind, man ist verurteilt, am Fuß der Leiter zu bleiben, das Loch ist unbezwingbar, man muß Abschied nehmen von einst verbrieften Erwartungen. Nachdem er sich ziemlich allgemein über den Begriff der Arbeit ausgelassen hatte, den wir neu definieren müßten, gab er mir kumpelhaft zu verstehen, daß ich bei der Wahl meiner Studienfächer wohl einen Fehler gemacht hatte. Warum bloß Englisch und Kunstgeschichte, Menschenskind, so fragte er, warum nicht Mathe und Chemie? Als ich ihn verließ, war ich so deprimiert, daß ich mit dem Gedanken spielte, alles aufzugeben und Schäfer zu werden, in der Provence oder in der Lüneburger Heide; ich stellte mir vor, daß zwei schwarze Hunde die Herde bewachen würden und daß ich bei Schafskäse und Rotwein alt werden könnte, betreut von einer gutaussehenden Schäferin und umspielt von ein paar Schäferkindern.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Lone und den Jungen, ich war entschlossen, sie nicht entkommen zu lassen, bevor ich mehr über sie erfahren hätte. Wie zappelig Fritz war, wie wißbegierig! Einmal wollte er so ein blödes koloriertes Reklamebild neben dem Busfenster erklärt bekommen; das Bild zeigte ein festlich gekleidetes Paar, das gerade ein schönes, abseits gelegenes Haus verlassen hatte und vertrauensvoll auf einen Schlüssel blickte, den der Mann triumphierend hochhielt. Geduldig erklärte Lone ihm, daß jedem alleingelassenen Haus Gefahren drohen, von Einbrechern, von Dieben und allerlei lichtscheuem Gesindel, und daß es nur gut ist, ein Sicherheitsschloß zu haben; ein Sicherheitsschloß bewacht das Heim. An ihre Schulter geschmiegt, leicht schnaufend und auf einem Mundwinkel kauend, hörte Fritz ihr zu, es war unentscheidbar, ob er die geschilderten Gefahren begriff. Unten am Hafen wechselten sie den Bus, sie kündigten ihren Entschluß frühzeitig an, indem sie Hand in Hand zum vorderen Ausgang strebten, ich konnte ihnen geruhsam folgen. Es ging am Spalier der Kneipen entlang, in denen bei jedem ausländischen Flottenbesuch mindestens ein Dutzend landfroher Besatzungsmitglieder verlorengeht – die Kneipen wetteiferten darin, dem Besucher alles zu versprechen, was er gerade entbehrte –, und dann weiter an öffentlichen Gebäuden vorbei, die für das vernarbte Ananasgesicht beflaggt waren, und an Kühlhallen und einer Brauerei, und als wir parallel zum Strom hinfuhren, kam die Sonne heraus. Ich sah, wie die Sonne einen Kerl mit blauroter Säufernase weckte: er blinzelte, hob abwehrend seinen Arm, und um dem Licht zu entkommen, stand er auf, machte einen Schritt über den Gang und sackte auf den freien Sitz neben dem Jungen. Das hätte mich verdammt gleichgültig lassen können, doch ohne daß ich es wollte, visierte ich schon den furunkulösen Nacken des Burschen an, um ihn mit einem Handkantenschlag, wie wir ihn im Ausbildungskurs für Hausdetektive gelernt hatten, an die Einhaltung guter Sitten zu erinnern. Doch der Kerl bewegte nur stumm die Lippen und blickte ungläubig auf die dünnen, nackten Beine des Jungen, die von Kratzern bedeckt waren. Unwillkürlich rückten sie zusammen, Lone und Fritz, die neue Nachbarschaft war ihnen ungemütlich, und auf der Höhe des kleinen ölschimmernden Segelboothafens stiegen sie so überraschend aus, daß ich beinahe zurückgeblieben wäre. Ich mußte den Notknopf drücken, um die Bustür noch einmal zu öffnen; in der Deckung der milchglasverkleideten Haltestelle verharrte ich und ließ sie vorausgehen zur Dampferanlegestelle. Dort zeigten sie sich gegenseitig, was die Elbe hinabführte an Kanthölzern, an Dosen, Plastikfetzen und dergleichen.
Nachdem Fritz sich ein gebleichtes Stöckchen aus dem Wasser gefischt hatte, sprangen sie auf den dreckigen Elbsand hinunter, auf dem jede vergangene Flut ihre Markierung hinterlassen hatte; großer Gott, was sich da für ein Mist ablagerte! Über ihnen, auf den Bänken am Wanderweg, saßen ein paar sehr alte Knacker, Insassen eines Altersheims, die hier immer reglos in der Sonne dösten und sich nun bei ihrem Anblick belebten. Fritz zog seine Schuhe und die kurzen Strümpfe aus, watete ins Wasser, rief Lone an und machte ihr vor, wie hoch er springen und wie toll er plantschen konnte, und danach zeigte er ihr, wie die trübe ablaufende Elbe sich an seinen Beinen staute und kleine Wirbel machte; die alten Knacker lächelten zustimmend.
Immer auf gleichbleibenden Abstand bedacht, folgte ich ihnen auf dem Wanderweg, drehte mich weg, wenn sie zurückblickten, oder mimte den empfindsamen Betrachter, indem ich eine schattende Hand an die Stirn legte, um die Fahrwasserzeichen im Glitzern des Stroms auszumachen. Als sie eine freie Bank unter alten schrundigen Bäumen fanden, wagte ich es nicht, an ihnen vorüberzugehen und noch einmal ihr Blickfeld zu kreuzen; ich scherte aus, überquerte den Rasen und suchte Deckung hinter Rhododendren und Hartriegelbüschen, wobei ich tat, als studierte ich das Wachstum der Schößlinge. Ich möchte nicht zuviel sagen, doch auch bei einer Freiluftbeobachtung kann man Erfahrungen machen.
Ach, Lone, ich entsinne mich noch, wie du ein broschiertes Buch und einen Stift aus deiner Tasche fischtest und Fritz ermahntest, für ein paar Minuten Ruhe zu geben; doch er hörte nicht auf, sich anzuschleichen und dir die Augen zuzuhalten, Tierlaute nachzuahmen oder auf der Banklehne herumzuturnen. Einmal versteckte sich der Junge hinter einem Baum, und als er merkte, daß du seine Kuckucksrufe überhörtest, fing er an, um Hilfe zu rufen, und da blieb dir nichts anderes übrig, als ihn zu suchen; natürlich wußtest du, wo er steckte, denn du sahst seine Hand und seine Knie, während er sich um den Baum herumtastete, aber du tatest so, als ob du wahnsinnige Angst hättest. Schließlich, als du ihn mit gemachter Trauer für verloren erklärtest, sprang er hervor, rannte gegen dich an, preßte sein Gesicht gegen deinen Bauch und jauchzte vor Wiedersehensfreude. Das warf mich um, wirklich. Das warf mich um. Und dann trabtet ihr Hand in Hand zur Bank zurück, und du holtest aus deinem Parka das kleine Stangenbrot und das Honigglas heraus, und Fritz begann vor Ungeduld zu trampeln. Wie geschickt du Brocken von dem Stangenbrot abbrachst und ihn dann lehrtest, den Brocken in den Honig zu tauchen, ihn nach schneller Drehung herauszuheben, langgezogene Fäden mit einer Wickelbewegung aufzunehmen und den ganzen Brocken auf einmal in den Mund zu stopfen! Fritz schaffte es nicht; alles geriet ihm so heftig, so ungeschickt, daß Honigfäden sich um seine Finger wickelten und daß er die halbe Bank bekleckerte; da gab er es auf und öffnete einfach seinen Mund und wollte von dir gefüttert werden.
Um die Wahrheit zu sagen, ich hätte euch stundenlang zusehen können bei dieser Fütterung; für Fütterungen habe ich mich immer interessiert, nicht nur bei Seelöwen und Vögeln, und ich bedauerte tatsächlich, daß das Stangenbrot nicht für länger reichte.
Ich weiß auch nicht, wie man das erklären kann, doch wenn ich jemanden beobachte, habe ich nach einer gewissen Zeit das verdammte Gefühl, selbst beobachtet zu werden, ich spüre dann ein Brennen im Nacken, spüre einen Zwang, meine Harmlosigkeit zu demonstrieren, indem ich mich betont entkrampft gebe, unsinnige Bewegungen mache und pfeife oder den Geistesabwesenden spiele. Gerade wollte ich damit beginnen, als Lone den Jungen aufforderte, eine Weile Ruhe zu geben und unten am Strand zu spielen oder im Buschwerk hinter den Bäumen – an ihren Gesten erkannte ich das. Fritz quengelte, Fritz schmollte, er stand eine ganze Zeit unschlüssig da, schließlich aber griff er sein Stöckchen, musterte mit schräggelegtem Kopf die Umgebung und trottete über den Rasen zu den Rabatten – nicht ohne vorher, vermutlich um Lone am Verlassen des Platzes zu hindern, um die Bank eine halbkreisförmige magische Linie in den Boden geritzt zu haben. Zu der durchhängenden, schmiedeeisernen Kette trottete er, mit der ein gut mannshohes Denkmal eingezäunt war, ein Ehrenmal für die im Krieg Gefallenen der Handelsmarine. Forsythien und Hartriegelzweige, die längst hätten gestutzt werden müssen, verbargen es; vom Wanderweg aus ließ sich nicht mehr erkennen als ein schimmerndes, aus Sandstein genommenes Reliefbild.
Großer Gott, es ließ mich nicht kalt, zu beobachten, wie der Junge über die Kette stieg, die Zweige auseinanderbog und weniger überrascht als grüblerisch das Denkmal musterte – schließlich war es die vorletzte Arbeit meines Alten, eine Auftragsarbeit aus jener Zeit, in der er noch geglaubt hatte, als freier Bildhauer leben zu können. Obwohl mir schon allerhand geboten werden muß, bevor bei mir Ergriffenheit aufkommt, hatte mich dieses Denkmal bereits am Tag der Enthüllung ergriffen. Fern am Horizont, unter leerem Himmel, versank da übers Heck ein Frachtschiff, nur noch der geknickte Mast war zu sehen und der steil aufragende Bug; vorn, auf einem altmodischen Stockanker, saß als gleichmütiger Beobachter der Tod, der in einer Hand ein Tiefenlot, in der anderen sein eigenes Logbuch hielt: gleich würde er die letzte Eintragung machen für das von Torpedos getroffene, von einer Mine zerrissene oder von einer Salve versenkte Schiff. Der Tod trug übrigens eine Matrosenmütze, von der bei angenommenem Wind die Bänder flatterten. Wenn es vielleicht auch nicht die beste Arbeit von Hans Bode war, zu seinen bemerkenswerten zählte sie gewiß.
Jedenfalls berührte es mich, das Denkmal nach einer Ewigkeit wiederzusehen, und als der Junge es mit seinem Stöckchen leicht und wahllos zu betrommeln begann, ging es mir seltsam an die Nerven; aber ich beherrschte mich, hielt mich zurück und beobachtete, wie er mit dem Stöckchen hier leicht schabte, dort pausenreich, als erwarte er ein Echo, klopfte und schließlich, unter verstärktem Druck, mit der Stockspitze zu kratzen begann. Nur durch einen Busch gedeckt, erkannte ich, daß Fritz den aufragenden Bug des sinkenden Schiffes kratzend bearbeitete, und wie sich aus dem Reliefbild Krümel und Scheibchen lösten und auf den eingeschwärzten Sockel fielen; unablässig lösten sie sich, rissen, platzten ab, gerade als hätte der Stein seine Härte verloren und all das, was ihm das Geheimnis der Dauer verlieh. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre hervorgekommen und hätte dem Bürschchen Bescheid gestoßen. Doch Fritz, vermutlich gelangweilt von kleiner Zerstörungsarbeit, unterbrach das Kratzen, musterte maßnehmend das Denkmal und schlug plötzlich, den Stock beidhändig führend, zu. Er schlug zu. Er traf das Logbuch, das der Tod schreibbereit in der Hand hielt. Der Stock federte zwar zurück, doch vom porösen Stein platzten gleich mehrere dünne Scheiben ab, so daß das Logbuch nicht nur verdünnt, sondern auch seltsam benagt aussah. Ich brauche wohl kaum zu erklären, wie mir zumute war; der Junge jedenfalls erschrak, lauschte, warf sich durch das Gebüsch und rannte, so schnell er konnte, zur Bank zurück.
Es war, wie gesagt, eine Ewigkeit her, seit ich zum letzten Mal hier gewesen war, und ich war sicher, daß es auch den Schöpfer des Reliefbilds eine lange Zeit nicht mehr hierher geführt hatte, an dies einst umstrittene, langsam zugewachsene, und wenn nicht vergessene, so doch kaum beachtete Denkmal. Was ich mit angesehen hatte, beunruhigte mich so sehr, daß ich mir erst einmal selbst nähere Gewißheit verschaffen wollte; also zwängte ich mich durch das verdammte Gebüsch und untersuchte auf meine Art den Stein, schabte ein bißchen, pochte, wischte mit den Fingerkuppen über Teile des Reliefbilds, und zum Schluß inspizierte ich auch den Sockel. Auf ihm lagen Körner und Krümel und abgeplatzte Scheiben, die der Stein schon länger und bestimmt ohne Einwirkung des Stöckchens verloren hatte – seltsamerweise nicht an der Wetterseite, zur Elbe hin, sondern sozusagen in Lee, dort, wo weder Wind noch Regen oder Hagel sich am Stein zu schaffen machten. Was sich aus dem Stein gelöst hatte, gab nichts her, zumindest konnte ich nichts herauslesen über die Ursachen des Zerfalls; dennoch beschloß ich, zu Hause zu erzählen, was ich zufällig entdeckt hatte. Um den Beweis mitzuliefern, breitete ich mein Taschentuch aus, scharrte Abgeplatztes und Abgesondertes zusammen und schnürte es zu einem kleinen Bündel, und für einen Augenblick kam ich mir dabei im Ernst wie ein wirklicher Detektiv bei der Spurensuche vor.
Die Bank unter den schrundigen Bäumen war leer, ich konnte gucken und gucken: keine Lone, kein Fritz. Wie zur Entschädigung glitt im Hintergrund ein Gebirge von Tanker vorbei, die ziemlich verdreckte »Golden Bay«. Ich rannte zum Wanderweg, suchte zuerst elbabwärts, sah nur alte Einzelgänger und hunderttausend Mütter mit Kinderwagen; auch elbaufwärts, bis zur Anlegestelle hin, waren die beiden nicht zu entdecken. Vermutlich saßen sie an Bord des frisch gelackten, in der Sonne glänzenden Fährschiffs, das gerade abgelegt hatte und in die Fahrrinne hinausdrehte. Obwohl sie ja nun wirklich keinen Grund hatten, auf mich zu warten, kam ich mir vor, als hätten sie mich im Stich gelassen, tatsächlich. Ich war jedenfalls ziemlich deprimiert und konnte mich mit ihrem Verschwinden einfach nicht abfinden. An der Bushaltestelle war ich so enttäuscht und verdrossen, daß ich einem kleinen Mädchen eine pampige Antwort gab; die Kleine, die behutsam das Bündel mit den abgeschabten Steinproben befühlte, fragte mich nämlich, ob ich da zufällig Bernsteinstücke drin hätte, und ich sagte: Nein, nur die abgedrehten Nasen von kleinen Mädchen, die zuviel wissen wollten. Das tat mir sogleich verflucht leid, denn im allgemeinen nehme ich die Fragen von Kindern ernst. Ich gab mir Mühe, mich bei der Mutter blickweise zu entschuldigen, doch die starrte nur auf meine Haare, in denen, wie ich später im Bus feststellte, ein paar welke Blätter steckten, Hartriegelblätter, um es genau zu sagen.
Es ist kaum zu glauben, wieviel Aufmerksamkeit mein zum Bündel geknotetes Taschentuch fand, alle im Bus glotzten es an, sogar der Fahrer; ich möchte nicht wissen, was zum Teufel die über mich dachten; man braucht nur etwas an sich zu haben, das sie nicht auf einen Blick erklären können, und schon stellen sie ihre Mutmaßungen an. Ich hielt das Bündel auf meinem Schoß, und während wir die traditionsreiche Chaussee neben dem Strom hinabrollten, mußte ich an die öffentliche Erregung denken, die das Ehrenmal einst hervorgerufen hatte. Jesus Christus, wie gereizt sie damals waren, wie empört, vor allem ein paar Mitglieder einer Marine-Kameradschaft, die am Tod unter der Matrosenmütze Anstoß nahmen; doch auch ein Teil der Presse gab zu verstehen, daß dem Ehrenmal Ausdruckskraft und Würde fehlten, und daß man mit öffentlichen Geldern nur einen mäßigen Ulk bezahlt habe. Die Auseinandersetzung wurde noch bissiger, als ein pensionierter Denkmalspfleger, der selbst zur See gefahren war und zweimal sein Schiff verloren hatte, in einer Wochenzeitung für den Bildhauer und seine Arbeit Partei nahm und im Ehrenmal Gefühls- und Geschichtswerte zwar kritisch, doch angemessen aufbewahrt fand und ihm außerdem einen überzeugenden Kunstwert zuerkannte. Fade Allegorik, sagten da die andern, die sich in ihrer Vergangenheit verunglimpft fühlten, und einige sprachen sogar von infantiler Schmähung. Was dem Künstler Hans Bode damals zu schaffen machte, war weniger das Unverständnis als die Empörung einiger Leute; die regten sich tatsächlich so auf, als hätte mein Alter ihnen ihre geliebten Takelblusen gestohlen.
An der Endhaltestelle erwartete mich mein Hund. Manchmal lag er da stundenlang auf der Lauer, den Kopf zwischen den eingeschlagenen Vorderpfoten, nur um mich zu begrüßen; er war eine Mischung aus Schnauzer und Spaniel, und sein Eigensinn wurde nur noch von seiner Intelligenz übertroffen. Ich hatte ihm den Namen »Hund« gegeben – nicht, weil es mir an Phantasie für Namen fehlte, sondern aus Protest gegen Zeitgenossen, die ihre Hunde Whisky oder Tango oder sogar Wotan nennen; ich meine, mit solchen blödsinnigen Namen beleidigen die Leute nur ihre abhängigen Begleiter. Als sich einmal ein Kunde zu uns chauffieren ließ, der seinen Hund Widukind nannte, ist mir beinahe schlecht geworden, im Ernst; jedenfalls gab dieser Besuch den Ausschlag dafür, daß ich später meinem Vierbeiner den Namen »Hund« gab. Wenn Hund neben mir ging, wollte er immer etwas tragen, und nachdem wir uns mit dem üblichen Nasenkuß begrüßt hatten, fischte ich ihm aus einem Abfallbehälter eine verbeulte Cola-Dose, und dann trotteten wir den lockeren Sandweg hinab, an einer Siedlung von Reihenhäusern vorbei, die anscheinend nur für Streitsüchtige gebaut worden war, denn man konnte da zu keiner Tageszeit vorbei, ohne Zeuge von Gekeife und Schimpf und Drohung zu werden. Zwischen ihren handtuchgroßen Gärtchen hatten sie Sichtblenden oder Matten aufgestellt, nur um sich nicht sehen zu müssen, doch das hinderte sie nicht daran, sich ohne Blickkontakt anzugeifern, durch Blenden und Matten hindurch. Das warf mich jedesmal um, wirklich. Mein Atem ging erst wieder normal, wenn ich das schüttere Laubwäldchen erreicht hatte, in dem die Leute aus den Reihenhäusern nie anzutreffen waren.
Von dort aus, vom Wäldchen, wo der Weg sich zum Strombett hin senkte, konnte man bereits das Tor unseres Werkplatzes erkennen und das grauweiße Firmenschild, auf dem nicht mehr stand als: Hinrich und Hans Bode Grabsteine – Grabdenkmäler. Auch die getürmten Rohblöcke – Sandstein, Granit und Marmor – konnte man erkennen und, weil es alles überragte, das schiefergedeckte Haus, in dem wir lebten. Es hatte zahlreiche Fenster und war einmal eine Schule gewesen, eine Landschule, zu der die Kinder einst meilenweit pilgern mußten bei Regen und Schnee. Aus alter Gewohnheit rannte Hund jetzt voraus, um mich am Tor offiziell zu begrüßen – mit Sprüngen und Kopfstößen gegen meinen Magen – und ganz plötzlich, geduckt und mit fließenden Haaren, weiterzustürmen zum Hauseingang, wo dann die Hauptbegrüßung mit Klammergriffen und dergleichen erfolgen sollte.
Aber erst einmal mußte ich an Großvater Hinrich vorbei. Er lebte in der ehemaligen Hausmeisterwohnung und saß immer nur am Fenster und las oder grübelte über das Gelesene nach, und als er mich entdeckte, rief er gleich und winkte und wollte wissen, was ich ihm aus der Leihbibliothek mitgebracht hätte. Er hatte nie besondere Wünsche, er überließ es mir allein, Bücher für ihn auszuleihen, und obwohl ich in den Jahren mitbekam, daß er die Bücher am meisten liebte, nach deren Lektüre er sich ganz benommen fühlte, gab ich es nicht auf, ihm gelegentlich einen sogenannten Klassiker unterzuschmuggeln. Er las sie alle, benommen jedoch fühlte er sich nur nach Dostojewskis »Schuld und Sühne«, und zwar so sehr, daß er es dem Verfasser gleich schreiben wollte. Einmal war er nahe daran, auch an Dickens zu schreiben, ein andermal an Victor Hugo, aber vermutlich fühlte er sich bei ihnen nicht benommen genug und ließ es bei der Absicht bleiben. Jedenfalls, als der alte Knabe die Hände nach neuem Lesefutter ausstreckte, mußte ich ihm sagen, daß ich aus beruflichen Gründen nicht dazu gekommen war, in die Leihbibliothek zu gehen. Er war nicht allzu enttäuscht, er lächelte verständnisvoll und machte sich zum sechsten Mal an eine Lebensbeschreibung von Rasputin.
Ach, alter Steinmetz, nie werde ich den Sonntag vergessen, an dem du uns alle hierherschlepptest, zu der aufgelassenen Schule, die du nicht zuletzt deshalb erwerben wolltest, weil der Schulhof sich als Werkplatz anbot. Wir alle maulten während der Fahrt, und du selbst klagtest wie immer über Schmerzen in den Gelenken, aber als wir dann hier einfielen, beherrschte uns nur noch Entdeckerfreude. Du schrittest den Schulhof aus und machtest dir Skizzen, und wir rannten durch die Korridore, stürmten die ehemaligen Klassenräume und zogen die Spülungen sämtlicher Toiletten. Und später hörten wir staunend zu, wie du alles entwarfst, einteiltest, für uns zurechtdachtest, indem du jedem Raum Namen gabst und schon bestimmtest, wo die Werkstatt, wo der Lagerschuppen errichtet werden sollten. Uns Kinder, Großvater, hattest du sofort auf deiner Seite, und als wir uns in dem einstigen Lehrerzimmer versammelten, um Rat zu halten, mußtest du nur noch deinen Sohn Hans überzeugen, dem alles zu groß und abgelegen vorkam, und das schafftest du, ohne wütend zu werden. Du bist überhaupt der einzige Mensch, den ich nie wütend erlebt habe.
Ich war so in Gedanken, daß ich den Block aus gelbem, geschliffenem Juramarmor übersah, der gerade am Laufkran über mir schwebte; Ernie, mein jüngster Bruder, rief mir eine Warnung zu und grinste und deutete vergnügt – wirklich vergnügt – auf den von einem Kranztau umschlossenen, am Lasthaken pendelnden Block. Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, doch wem solch ein Klotz auf den Fuß fällt, der muß ziemlich lange am selben Fleck ausharren. Das kleine Bündel in der Hand, wanderte ich suchend über den Werkplatz, bis ich Nikolas in der offenen Hütte fand. Nikolas war ein Jugendfreund meines Vaters und sein ältester Geselle, er arbeitete gerade an einem Auftrag, den sie von einem Mann aus Marseille bekommen hatten. Herr im Himmel, war das ein Grabmal! Es zeigte ein Freundespaar, das ganz aus Marmor genommen war: tief beugte sich ein Jüngling über das Gesicht seines entspannt liegenden Freundes, nicht verzweifelt oder schmerzerfüllt, sondern eher bereit, die Stirn des Liegenden zu küssen und ihm etwas zuzuflüstern, ein Versprechen, ein Trostwort oder so. Für einen jungen französischen Tänzer war das Grabmal bestimmt, angeblich die größte Begabung des Tanztheaters; seine Leidenschaft für Motorräder war ihm zum Verhängnis geworden. Nikolas legte gerade letzte Hand an; sorgsam, die Nickelstahlbrille auf der Nase, fuhr er tastend über die Figuren hin, suchte nach Löchern und größeren Poren im Stein und kittete sie mit Schellack aus, dem er Farbpulver beigemischt hatte. Gefühlvoll glitten die knotigen Finger über den noch matten Stein, machten ihn bereit fürs Polieren.
Na, sagte Nikolas, als er mich entdeckte, und ich sagte auch nur: Na – und dann gab er mir die Hand und lud mich ein, das Grabmal von allen Seiten zu begutachten. Er war nicht ganz zufrieden; wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätten auf dem ausgestreckten Jüngling noch einige Herbstblätter liegen sollen, gekrüllt und wie hingeweht, aber der Meister war dagegen gewesen. Ich wäre auch dagegen gewesen, denn die Haltung der beiden Marmorfiguren sagte genug, und Herbstblätter hätten hier wirklich nur wie eine symbolische Zugabe gewirkt. Nachdem ich das Grabmal, so wie es war, ausreichend bewundert hatte, gab ich Nikolas das verknotete Taschentuch und forderte ihn auf, einen Blick auf den Inhalt zu werfen, einen fachkundigen Blick. Er guckte mich überrascht an, nahm zögernd das Bündel, wog es zuerst in der Hand, rieb dann vorsichtig und fühlte und versuchte den Inhalt zu erraten, bevor er das Tuch aufknotete. Auch Nikolas wußte alles über Steine. Er hat zwar nicht den ganzen Kalender der Erdzeitalter im Kopf wie mein Alter, aber manchmal hatte er uns einfach sprachlos gemacht mit seinen Kenntnissen. Jedenfalls wischte er sich über seine bucklige Stirn und starrte verwundert auf die Körner und Scheibchen und brauchte eine ganze Weile, bis er fragte: Woher, woher hast du das? Guck mal genau hin, sagte ich. Er nahm ein paar Steinproben auf und hob sie nah vor die Augen, betrachtete die scharfen Ränder der Scheibchen, besah sich und rollte die Körner, drückte sie einzeln, kratzte an ihnen, und dabei öffneten sich seine Lippen und ließen den kantigen Stummelzahn sehen, der den Ausdruck seines Gesichts bestimmte. Was soll ich sagen, fragte er leise. Was du siehst, sagte ich, einfach, was los ist mit dem Stein. Ohne Unsicherheit in der Stimme sagte er: Krank, wenn du mich fragst, der Stein ist krank. Er löst sich auf, wie du siehst, er schalt ab, er zerfällt. Bist du ganz sicher, fragte ich. Mir war gar nicht wohl, ich spürte so ein verdammtes Schnüren in der Brust, vielleicht ahnte ich zum ersten Mal, daß uns etwas bevorstand, das keiner für möglich gehalten hätte. Nikolas hob abermals die grusigen Stücke und Scheibchen vors Auge, drehte und befingerte sie und sagte ruhig: Das war nicht der Frost, Jan, und das sieht mir auch nicht nach Salz- oder Temperaturverwitterung aus. Mir scheint, daß sich die natürlichen Bindemittel in den Poren gelöst haben. Aber wie, fragte ich, wodurch; und er darauf: Dieser Stein ist befallen; ich sehe, daß er fault, Jan.
Wir schwiegen, denn wir hörten den Schritt meines Vaters, einen Schritt, den jeder bei uns kannte. Unbemerkt annähern konnte er sich nicht. Seit dem Unfall, als nach dem Sägen ein paar schwere Platten vom Blockwagen stürzten und seinen Fuß zerdrückten, hinkte er und hatte sich angewöhnt, mit seinen durch Stahlkappen verstärkten Schuhen über den Boden zu scharren. Auf dem Sandweg oben beim Laubwäldchen hinterließ er manchmal Spuren, als sei da ein Dreitonner entlanggerumpelt, im Ernst. Wie so oft, beachtete er mich kaum, er wandte sich gleich dem Grabmal zu, schnappte sich einen festgewickelten Leinwandballen, trug auf die Figur des liegenden Jünglings ein bißchen Wachs auf, das zusammen mit Terpentin zu einem Teig gerührt war, und begann probeweise zu polieren. Er wäre nicht er selbst gewesen, wenn er nicht gleich etwas zu monieren gehabt hätte. Ohne aufzublicken beanstandete er, daß da noch löchrige Stellen im Stein waren, wollte wissen, ob Nikolas zum Vorpolieren geraspeltes Blei und grobgepulverten Alaun verwendet hätte, und stellte mit seinem typischen Raunzton fest, daß nicht genug wollene Lappen dalagen. Großer Gott, er hatte eben an allem etwas auszusetzen, nichts reichte ihm aus, doch seine ewige Unzufriedenheit galt nicht nur den anderen, sondern auch sich selbst. Er trug seine blaue, verschmierte Schürze und auf seinem Seehundskopf den krempenlosen Filzhut, auf dem Steinstaub und Schweiß eigentümliche Muster gebildet hatten. Ich weiß auch nicht, wie es kam, doch wenn ich den krummen untersetzten Mann mit dem gewölbten Nacken bei der Arbeit sah, empfand ich oft ein gewisses Bedauern für ihn, ein widerstrebendes Bedauern, wenn es jemand genau wissen will. Der Staub all der gesägten und geschliffenen Steine hatte sich in seiner Haut festgebissen. Seine Finger waren dick und vernarbt, der Hals glich einem geschwollenen Strang. Immer wirkte sein Gesicht anklägerisch und verfinstert, am Morgen nicht weniger als am Abend, gerade als müßte er dauernd zu Gericht sitzen. Ich möchte nicht zuviel sagen, aber ich glaubte ihm auch einen nie ausgesprochenen Groll ansehen zu können und die zählebige Enttäuschung über einen aufgegebenen Traum, den die Genugtuungen in der Werkstatt nicht ersetzen konnten.
Jedenfalls, als er mit seinem ewigen Mißmut dastand und probeweise die Jünglingsfigur polierte, schwankte ich, ob ich ihm die aufgelesenen Steinproben überhaupt zeigen sollte. Doch dann tat es Nikolas. Nikolas wartete, bis mein Alter den Leinwandballen hinwarf, trat an ihn heran, schlug das Taschentuch auf und sagte: Guck dir das mal an, Meister, was meinst du? Der große Meister hatte für die Krümel und Scheibchen zuerst nur einen abschätzigen Blick übrig, immerhin fragte er dann aber: Was soll damit sein? Ich meine, das Zeug stammt von einem kranken Stein, sagte Nikolas. Krank, sagte der Meister, krank, da muß viel passieren, bevor der Stein krank wird. Lustlos betrachtete er die Proben, stutzte auf einmal, sah sich fest und wollte plötzlich wissen, woher der Grus und die Splitter stammten, und ich sagte: Von deinem Reliefbild am Wanderweg, ich war da unten. Da sah er mich verblüfft an, verengte die Augen und schüttelte ungläubig den Kopf – gerade als hätte er mir alles zugetraut, nur eben das nicht: einen Gang zu seinem halbvergessenen Marine-Ehrenmal. Ich war mal wieder da, sagte ich, und das Zeug, das hab ich da aufgelesen, es platzt und fällt einfach ab, schon bei leichten Berührungen. Jetzt untersuchte er die Brocken etwas sorgfältiger, schien jedoch nicht beunruhigt zu sein. Jedem Werkstein droht Veränderung, wenn er aus seinen natürlichen Verhältnissen herausgenommen wird, sagte er zu Nikolas; du mußt doch wissen, was der Standort bedeutet. Mir sieht es nach Chemie aus, sagte Nikolas, irgendwas Unbekanntes, und mein Alter darauf, mit dieser knurrenden Entschiedenheit: Kein Sulfidstaub, keine fettigen Rußpartikel, es sind nur die üblichen Einflüsse. Also nur Witterung, fragte Nikolas. Ja, sagte der Meister, soviel ich erkennen kann, nur Witterung. Du hast es doch selbst erlebt – vorn, wo Wind und Regen ihr Werk tun, ist der Stein weniger gefährdet als auf der Rückseite, das ist nun einmal so, an der Rückseite beginnt er zuerst abzuschalen.
Das war schon der ganze Senf, den er dazu zu geben hatte, mehr wollte er nicht sagen. Keine Beunruhigung, keine Nachdenklichkeit, kein Wunsch, in den verbeulten blauen Kleintransporter zu klettern und gleich mal hinüberzufahren, um das gefährdete Werk in Augenschein zu nehmen. Als ich ihm dazu riet, als ich ihm sagte, daß er um den Sockel herum allerhand finden würde, was vielleicht nicht so leicht zu erklären sei, sah er mich mit einem Blick an, der mir zu jedem weiteren Wort die Lust nahm. Das ging auch anderen so: wenn mein Alter sie mit einem bestimmten Blick ansah, verzichteten sie auf jedes weitere Wort. Es konnte einen wahnsinnig machen, wirklich, vor allem, weil man selbst nicht genau wußte, warum man plötzlich schwieg. Jedenfalls, es interessierte ihn nicht, ob wir mit seinem Befund zufrieden waren, er gab mir das Bündel, verließ mit gesenktem Gesicht die offene Hütte und trottete auf den Werkplatz hinaus. Auf einmal aber verlangsamte er seine Schritte, wandte sich zu uns um und winkte mir, und in diesem Augenblick glaubte ich tatsächlich, daß er mir etwas zu seinem Marine-Ehrenmal und meiner Entdeckung sagen würde; doch als ich bei ihm war, gestand er mir nur, daß er blank sei. Ich bin blank, Jan, sagte er, wieder einmal; kannst du mir mit fünfzig aushelfen? Das warf mich um, denn es war erst ein paar Tage her, seit ich ihm mit hundert ausgeholfen hatte, und insgesamt stand er bei mir schon mit zweihundertvierzig in der Kreide. Als hätte er mitbekommen, daß ich seine ganzen Schulden schnell zusammenzählte, sagte er: Ich weiß, wieviel es sind, mach dir keine Sorgen, spätestens im nächsten Monat bekommst du alles zurück. Das sagte er nicht etwa höflich oder mit freundlicher Stimme, sondern übellaunig wie immer und mit knurrendem Unterton. Achselzuckend gab ich ihm den Fünfziger und war nicht überrascht, daß er den Geldschein wegsteckte, ohne sich zu bedanken, und mich einfach stehenließ. Andere mögen ihre Gläubiger ein bißchen achtsamer behandeln – Hans Bode nicht, der nicht.
Hinter jeder Tür war es still. Ich ging den trüben, gefliesten Korridor hinab, in dem oft auch tagsüber das Licht brannte, lauschte kurz an Jettes Tür und an der Tür meines jüngsten Bruders Ernie, doch da regte sich nichts, auch im ehemaligen Lehrerzimmer, das mein Alter zum Wohnraum hatte umbauen lassen, schien nichts los zu sein. Schulen, auch ehemalige Schulen, können einem ganz schön tot vorkommen, sobald Stille in ihnen ausbricht. Mir war elend zumute, meine Gesichtshaut brannte, und im Magen fühlte ich einen heißen, reibenden Schmerz. Noch bevor ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete – es war der einstige Klassenraum für die älteren Schüler –, ahnte ich, daß mich auf dem Schreibtisch eine Nachricht meiner kleinen Schwester erwartete, rot eingekastelt, mit mindestens fünf Ausrufezeichen. Es verging kaum ein Tag, an dem Jette mir nicht dringende Bitten oder Anweisungen hinterließ, die sie mitten auf die grüne Schreibunterlage legte und mit dem versteinerten Seeigel beschwerte. Gib den Tieren Wasser, stand diesmal auf dem Zettel, dahinter eine Menge Ausrufezeichen und dazu ein übertrieben kunstvolles J für Jette.