Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut - Ole Nymoen - E-Book

Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut E-Book

Ole Nymoen

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Beschreibung

Die Geschwister Karl und Rosa führen ein einfaches Leben auf der Insel Feudalia. Sie helfen auf dem Hof ihrer Eltern, spielen im Wald und sammeln dabei das dringend benötigte Feuerholz für die Familie. Doch eines Morgens steht dort ein Schild: »Holz sammeln verboten. Holzdiebe werden bestraft.« Und dieses Verbot ist nur der Anfang einer großen Veränderung, die das Leben der Geschwister völlig auf den Kopf stellt. Schon bald wird die Familie von ihrem Hof vertrieben. In der Stadt müssen die Eltern, wie die meisten Inselbewohner, nun in Fabriken arbeiten, die reiche Herren von der Nachbarinsel Capitalia eröffnet haben. Während Vater und Mutter mehr schuften als je zuvor, reicht das Geld kaum für die Wohnung und das Essen. Den Menschen auf Feudalia war Wohlstand für alle versprochen worden, aber das erfüllt sich nicht. Doch muss das eigentlich so sein?

Warum haben die Arbeiter nichts vom erwirtschafteten Reichtum? Wieso ist der Wohlstand so ungleich verteilt? Auf der Suche nach Antworten stehen Karl und Rosa vor einem Rätsel – bis sie eine zündende Idee haben. Eine kämpferische Geschichte über Zusammenhalt und den Mut, gemeinsam etwas zu verändern.

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Seitenzahl: 237

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Cover

Titel

Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt

Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut

Mit Illustrationen von Nick-Martin Sternitzke

Insel

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024.

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024

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Umschlaggestaltung mit einem Motiv von Nick-Martin Sternitzke

eISBN 978-3-458-78178-3

www.insel-verlag.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Teil I: VORHER

Kapitel 1: Kein Entkommen

Kapitel 2: Der verkaufte Wald

Kapitel 3: Die Königin und der Mann mit Hut

Kapitel 4: Alles verdampft!

Kapitel 5: Ein leiser Abschied

Kapitel 6: Rosas Traum

Teil 2: NACHHER

Kapitel 7: Ein neues Leben

Kapitel 8: Das ganz große Spiel

Kapitel 9: Das Arbeitshaus

Kapitel 10: Das Rätsel des Juggernaut

Kapitel 11: Der große Plan

Kapitel 12: Der Streik

Informationen zum Buch

Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut

Teil I: VORHER

Kapitel 1:

Kein Entkommen

Ein Ungetüm aus Holz, mitten im Wald: So etwas hatte Karl noch nie gesehen. Eigentlich hatte er auf seinem morgendlichen Spaziergang nur etwas Brennholz sammeln wollen, doch einer Laune folgend, war er auf den Hügel gestiegen, von dem aus er das Dorf und die umliegenden Wälder beobachten konnte.

An gewöhnlichen Tagen liebte er es, hier stundenlang in der Sonne zu sitzen und in die Landschaft zu blicken, die nur durch einige kleine Häuser mit rauchenden Schornsteinen unterbrochen wurde. Heute war etwas anders: Nicht das Dorfleben unter ihm fesselte seine Aufmerksamkeit, sondern das Wunderding, das auf dem Hügel thronte.

Karl kannte die einfachen Wagen, mit denen die Bauern der Umgebung am Markttag ihre Ernte in die Stadt brachten. Und da er seinen Vater manchmal dorthin begleiten durfte, kannte Karl auch die prächtigen Kutschen, in denen die Königin von ihren Untertanen herumgefahren wurde. Aber nicht einmal in einem Märchen hatte er von solch einem ungeheuerlichen Fahrzeug gehört, wie es ihm nun gegenüberstand.

Vorsichtig näherte Karl sich dem hölzernen Gefährt, voller Angst, dass es jeden Moment losrollen und ihn überfahren könnte. Doch es blieb reglos stehen, als wollte es von ihm untersucht werden. Es war fast so hoch wie die Bäume ringsum und so breit wie das kleine Häuschen, in dem Karl mit seiner Familie wohnte.

Der Wagen war derart kunstvoll verziert, dass Karl gar nicht wusste, wo er zuerst hinschauen sollte: Auf dem pyramidenförmigen Dach wehten bunte Fähnchen, im Innern befand sich ein goldener Thron. An der Vorderseite prangten zwei starke Pferde aus Holz, die aussahen, als könnten sie jederzeit lospreschen und das Gefährt den Hügel hinunterreißen. Ihre kräftigen, einen Meter über dem Boden schwebenden Beine bewegten sich jedoch nicht, und so stand der Wagen da wie angewurzelt.

Je länger Karl sich mit dem Ungetüm vertraut machte, desto größer wurde seine Verwunderung. Sein bisheriges Dasein war ohne Überraschungen verlaufen. Wie viele Kinder seines Landes führte er ein einfaches Leben und half seinen Eltern bei der Ernte oder im Haushalt. Das aus wenigen Familien bestehende Dorf verließ er höchstens, um seinem Vater ab und an für ein paar Stunden auf dem Markt zur Hand zu gehen. Ansonsten war ein Tag wie der andere, allein der Wechsel der Jahreszeiten brachte Veränderung. Und nun ein solches Rätsel!

Karl liebte Rätsel. Seine Mutter musste sich ständig neue ausdenken, um ihn auf die Probe zu stellen. Während er im Wald nach Brennholz suchte oder auf dem Acker Rüben erntete, brütete er dann über den Gedankenspielen seiner Mutter, bis ihm ein Licht aufging. Die Arbeit war dadurch nur halb so eintönig. Im Kombinieren war er folglich geübt, doch sosehr er sich auch anstrengte: kein Hinweis auf die Herkunft des hölzernen Ungetüms.

»Die Räder eines so schweren Fahrzeugs müssten eigentlich Spuren hinterlassen«, überlegte Karl, aber der Boden rings um den Wagen schien unberührt. Keine Furchen, die angedeutet hätten, von wo er dorthin gelangt war. Je länger Karl darüber nachdachte, desto unmöglicher erschien ihm die Position des Gefährts: Um den Holzkoloss über die sanft ansteigende Wiese den Hügel hinaufzuziehen, hätte es eines Dutzends starker Männer bedurft, und aus den anderen Richtungen konnte er nicht gekommen sein, da die Lichtung auf der Kuppe ansonsten von dichten Bäumen umgeben war.

Damit nahmen die Rätsel kein Ende: »Wem der Wagen wohl gehört?«, grübelte Karl. Der Thron war leer, ein Kutscher war ebenso wenig in Sicht wie ein Wächter. »Ein Thron ohne König?« Karl schien das unvorstellbar. Wer würde schon einen Thron unbewacht lassen, so dass sich jeder draufsetzen konnte? Und dann schoss Karl eine letzte und besonders besorgniserregende Frage durch den Kopf: Wie konnte es sein, dass der Wagen auf dem abschüssigen Boden so ruhig stand? Hoch oben über dem Dorf, in dem Karls Familie lebte? Dem Jungen war, als wappne sich das Gefährt zum Angriff, als wäre es bereit, loszurollen und die wenigen Häuser mitsamt ihren Bewohnern zu verschlingen. Es schien, als hielten unzählige unsichtbare Hände ihn in seinem gefährlichen Gleichgewicht und als würde ein Windhauch ausreichen, um ihn ins Rollen zu bringen.

Karl sah sich besorgt um: Weiterhin war niemand zu sehen, er war mutterseelenallein mit dem Koloss. Noch nicht einmal ein Tier verirrte sich auf den Hügel: kein Fuchs, kein Vogel, nichts und niemand. Ihm wurde immer mulmiger, denn bis auf seine eigenen Schritte und seinen Atem hörte er keinen Laut.

Plötzlich veränderte sich etwas: Graue Wolken schoben sich vor die Sonne, der Himmel zog sich immer weiter zu, der Wind frischte auf. Die Fahnen auf dem Holzdach wogten hin und her. Und nun passierte es: Kaum merklich geriet der Wagen in Bewegung. Mit einem lauten Schmatzen begannen die Räder sich zu drehen, Millimeter für Millimeter kroch das Holzmonster vorwärts. Karl lief daneben her und blickte dann panisch in die Richtung, in die es rollte: In einiger Entfernung war das Dorf zu sehen, auf das der Wagen zusteuern würde, wenn niemand ihn aufhielt.

Karl rannte zu den Vorderrädern und versuchte verzweifelt, eines davon zu blockieren. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, doch sosehr er sich auch anstrengte, das Gefährt war zu schwer, und nun erwachten auch die Verzierungen zum Leben. Die Fahnen auf dem Dach vereinten sich wie durch Zauberhand zu einem Segel, das den Wind aufnahm und den Wagen beschleunigte. Die Pferde an der Vorderseite erwachten aus ihrem hölzernen Schlaf. Sie konnten zwar mit ihren Hufen den Boden nicht erreichen, traten aber nach Karl, der im letzten Moment auswich und sich neben dem Ungetüm auf den Boden warf. Es war zu spät, er konnte nichts mehr tun.

Das massive Gefährt rollte immer schneller, und niemand, kein Mensch und keine Naturgewalt, hätte es aufhalten können. Karl musste hilflos mit ansehen, wie der Wagen über Stock und Stein stürzte und immer mehr Fahrt aufnahm. Dann fiel ihm ein, dass niemand von dem drohenden Unheil wusste! Er rannte los und schrie wie wild, um die schlafenden Dorfbewohner zu wecken und zu warnen. Doch er war zu weit entfernt, niemand konnte ihn hören. Verzweifelt hetzte er dem Wagen hinterher, der mittlerweile in voller Geschwindigkeit den Hügel hinabrollte.

Das gigantische Gefährt fuhr erst durch den kleinen Bach, der den Wald vom Dorf trennte. Dann krachte der Wagen in die Obstbäume am Rand der Siedlung. Oft hatte Karl an heißen Sommernachmittagen in ihrem Schatten gelegen, nun wurden die Apfel- und Kirschbäume von einem Moment auf den anderen umgerissen und entwurzelt. Karl blieb keine Zeit, ihnen hinterherzutrauern, denn der Wagen fuhr ungebremst weiter. Der Zusammenstoß schien ihm wenig geschadet zu haben, im Gegenteil: Er hatte sich die Bäume einverleibt und war ein merkliches Stück größer geworden. Als der aufgewirbelte Staub sich gelegt hatte, konnte Karl in der Ferne erkennen, wie ein Zaun niedergemäht wurde: Die Latten wirbelten durch die Luft und wurden dann von dem hölzernen Riesen aufgenommen, der mit ihnen das letzte Hindernis zwischen sich und den Häusern aus dem Weg geräumt hatte. Mittlerweile war der hinterherhechelnde Karl nah genug am Dorf, dass die Bewohner ihn hören konnten.

»Achtung, Alarm!«, rief er aus vollem Hals. Auf sein panisches Geschrei hin öffneten sich die Türen der Bauernhäuser, und die verschlafenen Leute schauten verwirrt auf die Straße.

Doch es war zu spät: Das Gefährt hatte die ersten Gebäude erfasst und würde das ganze Dorf niederwalzen. Als der Wagen das Haus von Karls Familie erreichte, krachte es – und Karl erwachte.

Kapitel 2:

Der verkaufte Wald

Karl war jetzt hellwach, und sein Herz klopfte heftig. Obwohl er begriff, dass der alles überrollende und verschlingende Wagen nur in seinem Traum existiert hatte, fürchtete er sich vor dieser unheimlichen Gefahr. Ob das ein böses Vorzeichen war, rätselte er, auf seinem Bett sitzend, die Decke bis unters Kinn gezogen.

In dem kleinen Zimmer, das er sich mit seiner Schwester Rosa teilte, sah alles unverändert aus. Durch die Fensterläden fiel etwas Licht auf das schmale Bücherregal, in dem neben Märchenbüchern die vom Vater sorgfältig geschnitzten Holzfiguren standen, zu denen nur noch das passende Schachbrett fehlte. Spätestens zu Karls elftem Geburtstag sollte es fertig sein. Darüber hinaus war die Kammer nur mit zwei Stühlen und einem kleinen Tisch ausgestattet. Alles war aus Tannen- und Eichenholz gefertigt, denn von solchen Bäumen war das Dorf umgeben. Dann bemerkte Karl, dass er Rosa geweckt hatte, deren Bett neben seinem stand. Sie blickte ihn unsicher, fast ängstlich an und setzte sich auf.

»Du hast ganz komisch vor dich hin gemurmelt«, sagte sie, »am Ende hast du sogar kurz aufgeschrien. Geht es dir gut?«

»Ich, ich …«, stammelte Karl, aber in seiner Verwirrung brachte er keinen geraden Satz heraus. »Ich erzähle dir später, was ich geträumt habe.«

Karl stieg leise aus dem Bett, schlüpfte in seine Pantoffeln und schlich vorsichtig über die knarzenden Holzdielen, um die Eltern nicht zu wecken. Sein Vater und seine Mutter schienen noch zu schlafen. Offenbar war es noch nicht sechs, denn um diese Uhrzeit standen sie für gewöhnlich auf, um ihr Tagwerk zu verrichten. Im Haus schien alles normal zu sein, Karl war erleichtert.

Rosas Eltern waren vor einigen Jahren gestorben. Nach ihrem Tod war sie zu Karls Familie gezogen, da die Väter gut miteinander befreundet gewesen waren. Schnell hatte Karl Rosa liebgewonnen wie eine Schwester, und er war glücklich, dass seine Eltern bereit waren, für ein weiteres Kind zu sorgen.

Zehnjährige können manchmal anstrengend sein, wusste Karl, da er schließlich so alt war – genauer gesagt: zehn Jahre und sieben Monate. Rosa war nur wenige Wochen älter. Durch sie war das Haus lebendiger geworden, Karl hatte eine gewitzte Spielgefährtin gewonnen, und plötzlich sagte noch jemand »Mama« und »Papa« zu den Eltern. Daran hatten sich alle schnell gewöhnt, und zusammen waren sie eine Familie.

Derzeit waren Karl und Rosa fast gleich groß und sie fragten sich, wer wohl eines Tages das Wettrennen am Türrahmen gewinnen würde. Dort wurden sie nämlich jeden Monat gemessen, und die Mutter ritzte die neuesten Stände genau ein. Aktuell war Karl einen Zentimeter größer als Rosa. Ansonsten sahen die beiden sich kaum ähnlich: Während Karls Gesicht durch seine spitz zulaufende Nase an das eines Füchschens erinnerte, hatte Rosa eine kleine Stupsnase voller Sommersprossen. Und während Karls braune Haare sich kaum bändigen ließen (selbst wenn man sie stundenlang bürstete, standen sie noch ab), fielen Rosas Haare immer perfekt: Es kostete sie jeden Morgen nur wenige Augenblicke, ihr orangerotes Haar zu zwei formschönen Hörnchen aufzustecken.

Karls Herz schlug nun ein bisschen langsamer, augenscheinlich war alles in Ordnung. Er atmete auf und schlich auf Zehenspitzen durch die gemütliche Küche, die zugleich als Wohnzimmer diente. Dann kroch er zurück in sein Bett und wartete, bis alle erwacht waren.

Beim Frühstück war er nicht so aufgedreht und gesprächig wie sonst, der Wagen donnerte noch durch seine Gedanken. Rosa hingegen schien besonders vergnügt.

Vater und Mutter besprachen, dass sie in den nächsten Tagen das Feld pflügen wollten. Die Pferde, die den schweren Pflug hinter sich herziehen mussten, waren ausgeruht und gut genährt. Wenn nicht überraschend ein Unwetter aufzog, sollte der Acker in etwa einer Woche bestellt sein.

Seitdem Karl alt genug war, dass sich seine Mutter nicht mehr den ganzen Tag um ihn kümmern musste, arbeitete sie ebenso hart auf dem Feld und im Stall wie der Vater. Jede Hand wurde gebraucht. Zwar gab es zwei junge Burschen, die beim Ausmisten des Stalls oder bei der Ernte halfen und die merkwürdigerweise beide Jan hießen, aber sie hatten oft nicht genug Zeit. Sie waren nämlich die beiden jüngsten Söhne vom benachbarten Hof, wo sie ebenfalls schuften mussten. Doch da die Erträge des Guts, das ihrer Familie gehörte, nicht ausreichten, verdienten sie sich bei den Nachbarn etwas dazu. Auch Rosa und Karl mussten mit anpacken. Obwohl sie meist froh und munter waren, merkten sie schon in jungen Jahren, dass das Leben ganz schön anstrengend sein konnte. Das allerdings war keine Ausnahme auf der Insel Feudalia, sondern so erging es fast allen, die dort wohnten.

Schon die Eltern waren auf Feudalia geboren, und auch deren Eltern und deren Eltern und so weiter. Das kleine Eiland bestand aus zwölf durch holprige Straßen miteinander verbundenen Dörfern, in denen jeweils kaum mehr als 20 Leute wohnten. Nur in der Stadt lebten und arbeiteten etwas mehr als 1000 Menschen. Dort gab es auch einen Hafen.

Rosa und Karl versuchten immer mal wieder, wenn ihnen langweilig war, bis 1000 zu zählen. Ihre Mutter unterrichtete die beiden im Rechnen, denn eine Schule gab es zwar in der Stadt, aber das war nichts für die Kinder aus den Dörfern. Sie hatten einfach keine Zeit dafür, da sie schließlich den Eltern bei der Arbeit helfen mussten. Oft brachten sich Karl und Rosa daher selbst etwas bei: Rosa liebte Zahlen, Karl Buchstaben. Sie rechnete lieber, und er las gerne etwas vor – am liebsten Märchen. Die Tage waren oft eintönig, heute verging wie gestern, und der nächste Tag stellte ebenfalls nichts Neues in Aussicht. Nicht einmal gefährliche Tiere lauerten irgendwo, wenn man einmal von den Wildschweinen absah, die sich im dichten Wald herumtrieben. Allerdings sollte ihnen im Laufe dieser Geschichte schon bald ein ganz ungewöhnliches Tier zuflattern.

Auch gab es nur wenige Spielkameraden: Die Kinder im Dorf – etwa ihre Freunde Margarethe, Walter und Leon – mussten selbst oft auf den Höfen ihrer Eltern arbeiten. Daher konnten Rosa und Karl nur in der kurzen Zeit zwischen der Arbeit und der Dämmerung etwas mit ihnen unternehmen. Allein im Winter, wenn weder gesät noch geerntet wurde, konnten die Kinder jeden Tag zusammen spielen. Allerdings war es dann so kalt, dass niemand gern vor die Tür ging.

Karl und Rosa hassten Langeweile, weshalb sie sich immer wieder neue Spiele einfallen ließen – oder sie begleiteten ihren Vater in die Stadt. Ob Apfelmarmelade, frische Milch von ihren zwei Kühen oder manchmal auch ein paar Eier, wenn die Hühner fleißig genug waren: All das verkaufte der Vater auf dem Markt. Das Getreide hingegen, das für das Auskommen der Familie besonders wichtig war, lieferte er an die zwei besten Bäcker der Insel. Von dem Geld konnte die Familie sich kaufen, was sie zum täglichen Leben brauchte, und manchmal blieb sogar etwas übrig, das die Mutter für schlechte Zeiten sparte. Schließlich brachte nicht jedes Jahr eine gute Ernte.

Heute jedoch stand kein Ausflug in die Stadt an. »Hoffentlich«, dachten Rosa und Karl gleichzeitig, »müssen wir nicht den Stall ausmisten!« Die Schweine quiekten zwar immer lustig, wenn gefegt und geschrubbt wurde, aber sie hatten meist eine schöne Schweinerei hinterlassen, wobei die Kühe und Hühner keineswegs besser waren. Nur sagt eben niemand »Küherei« – und »Hühnerei« bedeutet etwas anderes. Rosa rümpfte schon jetzt die Nase, auch wenn sie noch auf der Holzbank hockte und die Eltern erwartungsvoll anblickte.

Dann jedoch hörten sie aus dem Mund des Vaters beruhigende Worte: »Heute gibt es für euch Kinder wenig zu tun. Warum geht ihr nicht einfach in den Wald, um dort ein bisschen zu spielen?« Karl und Rosa freuten sich, ließen es sich aber nicht allzu sehr anmerken. Als sie in Richtung Tür strebten, bekamen sie von der Mutter noch einen Auftrag mit auf den Weg: »Bringt bitte etwas Holz mit. Der nächste Winter …«, setzte sie an, »…kommt bestimmt«, vervollständigten Rosa und Karl sogleich. Wann immer die Mutter einen Satz mit »Der nächste …« begann, kam das »bestimmt« bestimmt, ob es nun um den Sommer, den Regen oder den Wochenmarkt ging.

Die Kinder lachten und die Mutter tat so, als würde sie gar nicht verstehen, warum das so ulkig sein sollte. Karl und Rosa zogen los. Holz auflesen, damit genügend Vorrat für den Ofen im Haus war, fühlte sich gar nicht wie richtige Arbeit an. Es blieb viel Zeit für andere Dinge, und stets hielten sie Ausschau nach besonders gerade gewachsenen Ästen, um daraus Spazierstöcke, Speere oder Schwerter zu schnitzen. Denn Spielzeug, das man einfach irgendwo kaufen konnte, gab es fast nirgends auf Feudalia.

Rosa und Karl hielten sich meist in der Nähe des Waldrands auf, schließlich wurde es umso dunkler, je dichter der Forst wurde. Dort war es, um ehrlich zu sein, ziemlich unheimlich. Das aber hätten Rosa und Karl voreinander nicht zugegeben. Rosa wollte nicht, dass Karl dachte, sie hätte Angst – und umgekehrt gab sich Karl ebenfalls mutiger, als er in Wirklichkeit war. Deshalb hatte Karl während des Frühstücks gegrübelt, ob er Rosa von seinem Albtraum überhaupt erzählen sollte. Zwar sagte er sich immer wieder: »Ach was, es war nur ein Traum!«, besorgt war er trotzdem. Er trödelte versonnen hinter Rosa her, die bereits den Bach erreicht hatte. Dann fasste er sich ein Herz und sprintete zu ihr. Als er sie nach Luft schnappend erreicht hatte, platzte es aus ihm heraus: »Rosa, du wirst nicht glauben, was ich heute geträumt habe!« Rosa wollte etwas Altkluges entgegnen, doch Karl redete weiter wie ein Wasserfall: »Alle seid ihr überrollt worden, von einem riesigen Wagen, mit Fähnchen dran. Wie eine große Hütte auf Rädern sah er aus, von dort raste er auf das Dorf zu.« Karl zeigte aufgeregt auf den Hügel und erzählte wild durcheinander, sprang in der Geschichte hin und her, beschrieb mal den Wagen, mal seine Angst und wiederholte schließlich: »Alle seid ihr überrollt worden.«

Seine Schwester blickte ihn verwirrt an und fragte: »Und dann?«

Er antwortete gereizt: »Na, was wohl, dann bin ich aufgewacht.«

»Ach so«, murmelte Rosa fast enttäuscht.

»Wie? Sonst fällt dir nichts ein?«

»Was soll ich sagen, Karl? Es war ein Traum. Nur ein Traum.«

»Danke für die Erklärung!«, entgegnete er trotzig, »das weiß ich selber. Aber alles war so lebendig, so wirklich, so schrecklich … Ich habe Angst, dass dieser Traum ein böses Vorzeichen ist.«

Rosa sah ihn fragend an: »Was meinst du damit, ein Vorzeichen?«

»Ein Vorzeichen warnt einen vor etwas, das erst in der Zukunft stattfindet.«

»So wie Mama, wenn sie meint, dass der nächste Winter bestimmt kommt?«

»Nein, ein Vorzeichen kündigt etwas völlig Unerwartetes an. Weißt du, ich habe einen solchen Wagen noch nirgendwo gesehen. Weder bei den anderen Bauern noch bei den Kaufleuten in der Stadt. Nicht einmal unsere Königin hat eine Kutsche, die damit vergleichbar wäre. Selbst ihr Paradewagen würde gleich mehrfach davon verschluckt werden. Du kannst es dir nicht vorstellen. Vor allem wurde das Ungetüm immer größer und größer. Es sah aus, als würde es die Bäume nicht nur entwurzeln, sondern gleich auffressen, ebenso wie die Hütten und Häuser. Kennst du etwa eine Kutsche, die isst und wächst?«

Rosa musste lachen, wurde jedoch gleich darauf ernst: »Nein, nicht einmal gehört habe ich von so etwas. Jetzt weiß ich, was du mit Vorzeichen meinst. Nur: Wovor könnte es denn eine Warnung sein?«

»Das weiß ich eben nicht«, sagte Karl ungeduldig. Er hatte gehofft, dass Rosa eine Deutung für seinen Traum wüsste. Nun war sie allerdings genauso durcheinander wie er.

»Lass uns erst einmal ein bisschen Holz sammeln, vielleicht fällt uns später etwas zu deinem Traum ein«, schlug sie vor. Karl willigte ein. Sie sprangen über den schmalen Bach und wollten gerade zu den Tannen losrennen, als sie plötzlich vor Schreck zusammenfuhren: Ein rotes Band war als Absperrung zwischen den Bäumen gespannt. Karl wusste, dass er dieses Mal nicht träumte. Das Band war echt.

»Was ist das?«, fragte Rosa.

»Vorsicht! Wir sollten leise sein.«

Keiner der beiden hätte sich seine Angst eingestehen wollen, aber geheuer war ihnen die Situation nicht – sonst hätten Karl und Rosa sich wohl kaum mit einem Mal an die Hand genommen. Zögernd gingen sie auf die Absperrung zu, und nach wenigen Metern erkannten sie, dass jemand an einen besonders dicken Baumstamm ein Schild genagelt hatte. Sie lasen die wenigen Worte im Stillen und wiederholten sie dann halblaut: »Holzsammeln ab sofort verboten! Holzdiebe werden hart bestraft. Dieser Waldabschnitt ist verkauft!«

Kapitel 3:

Die Königin und der Mann mit Hut

Am nächsten Morgen brach die Familie früh auf, um in die Stadt zu fahren. Die Warnung, die ihnen das Holzsammeln in großen Buchstaben aufs Schärfste verbot, hatte Karl, Rosa und die Eltern erschüttert: Seit Generationen war es üblich, dass die Familien der Umgebung im Wald ihr Brennholz sammeln durften – vorausgesetzt, es war bereits vom Baum gefallen. Die großen Bäume mit einer Axt zu fällen oder Äste mit einer Säge vom Baum abzutrennen, war ihnen also untersagt. Aber abgestorbene Äste brachen immer wieder ab und konnten als Brennholz verwendet werden. So war es zumindest bislang gewesen: Und nun war es aus damit, ein für alle Mal!

Anfangs hatten die Eltern die Neuigkeit für einen schlechten Scherz der Kinder gehalten. Erst nachdem Karl seinen Vater an den Waldrand gezerrt und ihm das Schild selbst gezeigt hatte, nahm dieser die Schreckenskunde ernst. Fassungslos schüttelte er den Kopf, wurde erst wütend, dann traurig, und auf dem gesamten Heimweg zitterte er vor Entrüstung. Schon sein Vater und dessen Vater zuvor hatten das Holz aufgelesen, und wieso auch nicht? Niemand konnte es gebrauchen, also war es doch besser, wenn es die Familie wärmte, als wenn es im Wald verrottete! Auch die Mutter war verwirrt, dennoch behielt sie ihre gewohnte Ruhe bei.

»Es hilft nichts«, sagte sie, »wir müssen in die Stadt fahren. Dort werden wir erfahren, was hier vor sich geht und was die Königin sich dabei gedacht hat.«

In letzter Zeit war die Meinung der Eltern über Feudalias Königin ins Wanken geraten. Viele Jahre lang hatte die Familie ihr Leben recht ungestört verbracht. Sie arbeitete jeden Tag für den eigenen Unterhalt und wurde dabei in Ruhe gelassen, vorausgesetzt, sie zahlte ihren Zehnt an die Königin. Das heißt: Karl, Rosa und die Eltern mussten einen Teil ihrer Ernte und ihres auf dem Markt verdienten Geldes an die Königin und ihren Hof abgeben.

Zwar murrten die Eltern darüber, denn sie führten ohnehin ein bescheidenes Leben und hatten nicht gerade viel abzugeben. Trotzdem waren sie diesen Befehlen stets gefolgt, denn im Gegenzug versprach die Königin ihnen Sicherheit: Sollte es einmal zu einer Missernte kommen – etwa aufgrund von schlechtem Wetter –, öffnete die Königin ihre großen Getreidekammern und sorgte dafür, dass niemand verhungerte. Auch wenn die Eltern das Gefühl hatten, der Königin im Laufe der Jahre deutlich mehr abzugeben, als sie im Gegenzug in Hungerzeiten erhielten, kam es ihnen niemals in den Sinn, gegen diese Ordnung aufzubegehren.

Vor wenigen Monaten hatte dann eine Neuigkeit die Runde gemacht, die die Eltern in Staunen versetzte. Die Königin hatte befohlen, eine Brücke zur Nachbarinsel Capitalia zu bauen. Dabei hatte es immer geheißen, dass man mit den Menschen in Capitalia nichts zu tun haben wolle. Das Völkchen dort sei ganz anders, hatte die Königin gesagt, nicht besonders gescheit und unehrlich.

Karl und Rosa war das schon lange merkwürdig vorgekommen: Wieso sollten die auf Capitalia lebenden Menschen denn anders sein als diejenigen, die sie kannten? Die Kinder konnten sich das kaum vorstellen.

Auch die Königin schien ihre Meinung geändert zu haben: Denn von einem Tag auf den andern waren die Bewohner Capitalias nicht mehr Feinde, sondern Freunde. So verkündete es die Königin, und sie ließ eine Brücke errichten, die die Inseln verbinden und den Handel beleben sollte. Angeblich, so lief die Nachricht von Mund zu Mund, würde so der Wohlstand der Insel Feudalia um einiges gesteigert werden. Und dagegen konnte nun wirklich niemand etwas haben!

Diese Gerüchte klangen schön: neue Freunde auf einer fremden Insel, mehr Wohlstand für alle! Dennoch waren die Eltern misstrauisch geblieben. Ihr Leben war einfach, aber sicher, und sie hatten Angst vor der Veränderung, die sich ankündigte. Da erschien das plötzliche Verbot des Holzsammelns fast schon wie eine Bestätigung ihrer Zweifel.

Also machte sich die Familie auf in die Stadt, mit ihnen kamen Jan und Jan vom Nachbarhof. Die beiden Jans hatten einen kleinen Wagen gespannt, der von einem Ochsen gezogen wurde. In diesem Gefährt durften Karl und Rosa inmitten von Stroh sitzen. So marschierte die Truppe los: vorneweg Jan und Jan, dahinter der Ochse mit dem Wagen, in dem die Kinder saßen und die Landschaft bestaunten, und zu guter Letzt kamen die Eltern, die kaum ein Wort wechselten.

»Kannst du mir deinen Traum noch einmal erklären?«, flüsterte Rosa Karl zu.

»Wieso denn? Du hast mir ja eh nicht geglaubt«, antwortete Karl etwas beleidigt.

Rosa legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm und sagte: »Ich habe erst nicht verstanden, was du mit dem Vorzeichen meinst. Aber so langsam habe ich eine Idee.«

»Wie? Was für eine Idee?«

»Du hast gesagt, dass am Ende des Traums dieser riesige Wagen die ganzen Bäume verschlungen hat, oder?«

»Ja, er ist mitten durch die Bäume gefahren! Und anstatt stehen zu bleiben, ist er nur größer und stärker geworden!«

»Und einen Tag später wird uns verboten, im Wald Holz zu sammeln. Findest du nicht, dass das erstaunlich gut zusammenpasst?«

Karl dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf: »Ich weiß nicht so recht. In diesem Traum ist noch so viel mehr, das ich nicht verstehe. Zum Beispiel, warum auf diesem Wagen ein leerer Thron aus Gold war. Und wieso er immer größer wurde. Das ergibt alles keinen Sinn!«

Auch Rosa wusste keine Antwort. Also schwiegen sie.

Die Eltern taten es ihnen gleich: Keiner der beiden sprach ein Wort. Für gewöhnlich waren sie redselige Leute, heute schienen sie in trübselige Gedanken versunken zu sein. Bereits gestern Abend hatten sie sich den Mund fusselig geredet: Sie hatten lange hin und her überlegt, was sie nun mit sich anfangen sollten, da ihnen das Holzsammeln verboten worden war. Da sie keinen Entschluss fassen konnten, ohne genau zu wissen, was hier vor sich ging, hatten sie den Weg in die Stadt angetreten.

Je näher die Gruppe ihrem Ziel kam, desto aufgeregter wurden die Kinder. Ein solcher Ausflug war eine Seltenheit und normalerweise mit viel Arbeit verbunden: Wenn es an einem Markttag in die Stadt ging, mussten Gemüse, Getreide und Eier verkauft werden. Dieses Mal hingegen war keine Arbeit zu verrichten, da die Eltern ja nur erfahren wollten, was es mit dem Verbot auf sich hatte.

»Ob wir heute die Königin sehen werden?«, fragte Karl Rosa.

»Na, ich hoffe doch! Niemand hat so eine hübsche Kutsche und so prächtige Kleider wie sie! Da gibt es immer etwas zu schauen, wenn sie durch die Stadt gefahren wird. Und denk nur daran, wie sie beim letzten Mal Süßigkeiten in die Menge geworfen hat!«

Aus diesen Tagträumen wurden die Kinder unsanft geweckt, als Jans und Jans Wagen über einen Hubbel des unebenen Weges holperte. Und auch der Vater klang grob, als er sagte: »Na, ihr lasst euch ja leicht um den Finger wickeln!«

»Wieso?«, fragte Rosa und drehte sich zu ihm um.

»Nun, die Königin hat uns gerade erst das Holzsammeln verboten, und ihr freut euch über ihre schönen Kleider und ein paar Bonbons? Das ist doch Unsinn!«, zürnte er.

»Ach, lass die Kinder ruhig reden«, meinte die Mutter beschwichtigend und streichelte dem Vater über den Rücken. Den Rest des Weges legte die Familie schweigend zurück.

*

Bereits am Stadtrand war eine große Unruhe zu spüren: Aus allen Himmelsrichtungen strömten Familien zusammen, einige mit Wagen, die meisten nur zu Fuß.