Die Kolonie - Jinkang Wang - E-Book

Die Kolonie E-Book

Jinkang Wang

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Beschreibung

1971, Provinz Henan, Zentralchina. Die Kulturrevolution hat das Land in einen blutigen Taumel gestürzt. Zusammen mit Millionen anderen wird die Studentin Guo Qiuyun zur Umerziehung auf eine Farm geschickt. Dort begegnet sie ihrer Jugendliebe Yan Zhe wieder, und gemeinsam fassen sie einen ehrgeizigen Plan: Sie wollen ein geheimes Ameisenserum an den Menschen testen, um sie kooperativer zu machen und den blutigen Wirren ein Ende zu setzen …

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Das Buch

1970, Provinz Henan, Zentralchina. Die Kulturrevolution hat das Land in einen blutigen Taumel gestürzt. Zusammen mit Millionen anderen wird die Studentin Guo Qiuyun zur Umerziehung auf eine Farm geschickt. Dort begegnet sie ihrer Jugendliebe Yan Zhe wieder, und gemeinsam fassen sie einen ehrgeizigen Plan: Sie wollen ein geheimes Ameisenserum an den Menschen testen, um sie kooperativer zu machen und den blutigen Wirren ein Ende zu setzen …

Der Autor

Wang Jinkang, Jahrgang 1948, ist zusammen mit Cixin Liu und Han Song einer der »Großen Drei« der chinesischen Science-Fiction. Er hat jahrelang als Ingenieur und Entwickler in der Ölförderindustrie gearbeitet, bis er mit seinen ersten Kurzgeschichten über Nacht berühmt wurde. Seitdem hat Wang Jinkang mehr als 15 Romane und über 80 Erzählungen verfasst, für die er mit so vielen Preisen wie kaum ein anderer chinesischer Autor ausgezeichnet wurde.

Erfahren Sie mehr über Wang Jinkang und Science-Fiction aus China auf:

WANG JINKANG

DIE

KOLONIE

ROMAN

AUSDEMCHINESISCHEN

VONMARCHERMANN

DEUTSCHEERSTAUSGABE

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe ist unter dem Titel (Yi Sheng) bei Fujian Publishing erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 2/2023

Copyright © 2007 by Wang Jinkang

German rights authorized by

China Educational Publications Import & Export Corp., Ltd.

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Salter

Covergestaltung: Das Illustrat, München,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-27282-1V003

www.diezukunft.de

INHALT

PROLOG

ERSTESBUCH – DIEAMEISEN

ZWEITESBUCH – DIEKÖNIGIN

DRITTESBUCH – DIEAMEISENESSENZ

ANMERKUNGEN

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden,

doch den historischen Hintergrund hat der Autor

am eigenen Leib erlebt.

PROLOG

Als sich vor sechsunddreißig Jahren, in einem anderen Jahrhundert und, so scheint es beinahe, in einem anderen Leben, die zu der Zeit achtzehnjährige Guo Qiuyun, eine von Millionen gebildeter junger Menschen, die damals aus den Städten aufs Land verschickt worden waren, heimlich mit ihrem Geliebten Yan Zhe traf, einem jungen Städter wie sie, am Staubecken der Farm, auf der beide mit ihresgleichen arbeiteten, da erreichte beide aus heiterem Himmel eine schockierende Nachricht: Angeblich wollte der Leiter der Farm, Lai Ansheng, Yan Zhe ermorden.

Anfangs schenkten beide dieser Behauptung keinen Glauben. Lai Ansheng mochte ein Tyrann und obendrein ein Schürzenjäger sein, dem sie alles Mögliche zutrauten – aber ein Mord und noch dazu am helllichten Tag?! Das erschien ihnen dann doch allzu abwegig.

Dass die Warnung ausgerechnet von Zhuang Xuexu überbracht wurde, schmälerte ihre Glaubwürdigkeit noch zusätzlich. Als Kind war Xuexu ihrer beider Nachbar gewesen und obendrein Yan Zhes Klassenkamerad. Auch Qiuyun hatte dieselbe Schule besucht, nur zwei Stufen unter ihnen, und alle drei waren einmal befreundet gewesen. Doch als die Kulturrevolution ausgebrochen war, hatte Xuexu wie so viele Menschen in China sein wahres Gesicht gezeigt – ein Gesicht, von dem er vielleicht nicht einmal selbst etwas geahnt hatte. Yan Zhes Vater Yan Fuzhi und seine Mutter Yuan Chenlu wurden an der Schule, an der sie unterrichteten, so lange gequält, bis sie im Selbstmord Zuflucht suchten, und Xuexu war derjenige gewesen, der den ersten Stein geworfen hatte. Selbst hier auf der Farm, auf die es sie alle drei verschlagen hatte, brachte er noch immer kein Wort der Reue über die Lippen.

Yan Zhe hegte seit dem Tod seiner Eltern einen tiefen Hass auf seinen einstigen Freund. Und ausgerechnet dieser Verräter wollte sich jetzt als sein Retter aufspielen?

In diesen wahnwitzigen Zeiten war jedoch gerade das normal, was zunächst der Vernunft zu widersprechen schien. Die Lawine von Ereignissen, die sie alle drei in den folgenden Monaten überrollte, sollte im Nachhinein bestätigen, dass Xuexu tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte: Bei dem Blutbad, das er damit indirekt heraufbeschworen hatte, fand über ein halbes Dutzend Menschen einen gewaltsamen Tod, darunter der Kopf des Mordkomplotts Lai Ansheng, zwei seiner Komplizen, der Informant Xuexu, Genosse Wei von der Volkskommune und seine Geliebte, die Genossin Gu. Yan Zhe selbst starb zwar nicht von Lais Hand, wie Xuexu gewarnt hatte, doch er verschwand spurlos und ist bis heute verschollen.

Die Erinnerung an ihn hinterließ eine blutige Wunde in Qiuyuns Herzen. Sie glaubte zunächst, diese Wunde würde nie verheilen, doch nichts ist so zauberkräftig wie die Zeit. Nach und nach vernarbte die Wunde, bis Qiuyun den Tod ihres Geliebten schließlich akzeptierte – denn wenn er noch am Leben gewesen wäre, hätte er sich gewiss nicht für immer wer weiß wo verkrochen und wäre dort geblieben, nachdem sich die Wogen der Katastrophe schon längst geglättet hatten.

Qiuyun kehrte nach den Ereignissen auf der Farm in ihre Heimatstadt zurück, arbeitete in einem staatseigenen Betrieb, der Hanfseile herstellte, heiratete und gebar Kinder, ehe sie als eine der Letzten ihrer Generation doch noch studierte. Zurück an ihrer alten Schule, der Ersten Mittelschule von Beiyin, unterrichtete sie Chinesisch, und schließlich fing sie an, sich um ihre Enkelkinder zu kümmern. Der Alltag mit seinen Sorgen hielt sie so sehr auf Trab, dass sie keine Zeit fand, auf die Vergangenheit zurückzublicken. Ihre alten Erinnerungen hatte sie gründlich weggeräumt und in den Tiefen ihres Gedächtnisses eingeschlossen, wo sich eine dicke Staubschicht darauf legte.

Vielleicht war es göttliche Fügung, jedenfalls hörte Qiuyun, als sie schon pensioniert war, von einem »wundersamen Vorfall«, der sich auf dem einstigen Gelände ihrer Farm ereignet hatte: Ein Zug von Ameisen, so hieß es, sei an Yan Zhes leeres Grab »gepilgert«. Um dieser Nachricht auf den Grund zu gehen, kehrte sie mit ihrem Mann Gao Ziyuan im Schlepptau noch einmal an ihre alte Arbeitsstätte zurück. Die Farm selbst existierte nicht mehr, und nicht nur die achtundsechzig jugendlichen Städter von damals hatten sich längst in alle Winde zerstreut, sondern auch die achtzehn älteren einheimischen Bauern, die hier gearbeitet hatten. Viele von ihnen waren vielleicht schon tot. Die primitiven Lehmbehausungen, in denen die jungen Leute gewohnt hatten, waren von der Flut hinweggeschwemmt worden. Nur von dem Getreidespeicher und dem Haus des Farmleiters, beide aus Ziegelsteinen gemauert, standen noch ein paar Überreste. Die Fensterscheiben und Türen waren gestohlen worden, die zurückgebliebenen Lücken klafften leer und schwarz in den Mauerresten – wie die Augenhöhlen von Toten, denen man die Augäpfel herausgerissen hat.

Qiuyun suchte die acht Gräber auf der höchsten Anhöhe der Farm auf – darunter auch das leere von Yan Zhe – und gedachte der dort begrabenen Toten. Der Regen von sechsunddreißig Jahren hatte die Grabhügel noch nicht flach gespült, vermutlich, weil das ganze Gelände von kniehoch wucherndem Gestrüpp bedeckt war.

Das Gerücht, das Qiuyun zu Ohren gekommen war, war kein leeres Gerede gewesen. Es wimmelte von Ameisen, sie drängten sich überall in dichten, endlosen Strömen, und zum Mittelpunkt ihres Treibens hatten sie Yan Zhes Grab erkoren. Wenn man den Einheimischen glauben konnte, hatte sich diese »Pilgerschar« schon vor drei oder vier Tagen hier versammelt. »Wie seltsam!«, raunten die Dorfbewohner. »Vielleicht kann der Tote Wunder wirken?«

Qiuyun wusste nur zu gut, dass hier keine übernatürlichen Kräfte aus dem Jenseits am Werk waren und dass sich diese Erscheinung sicher streng wissenschaftlich erklären ließ. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie ihr Freund mit einem Extrakt, den er »Ameisenessenz« oder »Altruismusessenz« nannte, in Windeseile Heerscharen von Ameisen anlocken konnte. Damals hatte sich ihr ein ganz ähnliches Naturschauspiel geboten wie jetzt. Die ominöse Essenz, die sich dahinter verbarg, hatte Yan Zhes Vater, ein renommierter Insektenkundler, im Zuge seiner lebenslangen Forschungen entwickelt. Nach dem Tod des Vaters war das Geheimnis dieser Essenz in die Hände des Sohnes übergegangen – womöglich war er also doch nicht gestorben? Vielleicht war er an seine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt, um die Macht zu demonstrieren, die er besaß? Und um allen, vor allem aber Qiuyun zu zeigen, dass er letztlich doch Erfolg gehabt hatte – oder schlicht, dass er noch lebte?

Beseelt von diesem Funken Hoffnung, machte sich Qiuyun auf die Suche nach einer weiteren Spur.

Ein Schatten der Schwermut begleitete sie in dieser Zeit, und sie sprach kaum ein Wort. Ihr Mann Gao Ziyuan war zwar noch nie an diesem Ort gewesen, doch auch er war in jungen Jahren aufs Land verschickt worden. Er war damals schon im zweiten Studienjahr gewesen, während Qiuyun, bevor sie hierhergekommen war, noch die zehnte Klasse besucht hatte. Doch auf der Farm, auf der er gearbeitet hatte – einer Farm, die unter Militärverwaltung stand, auf der Insel Chongming bei Shanghai –, hatte er eine ähnlich entbehrungsreiche Zeit durchlebt wie seine spätere Frau. Er wusste, dass sie hier ihre erste Liebe gefunden hatte, und verstand, welche Gefühle nun wieder in ihr hochkamen. Einfühlsam, wie er war, beschränkte er sich darauf, ihr schweigend Gesellschaft zu leisten, während sie die allenthalben verstreuten Bruchstücke ihrer Erinnerungen auflas. Und dabei entdeckte sie, dass diese Erinnerungen, einmal von ihrer Staubschicht befreit, nicht etwa verblasst waren, sondern noch genauso klar und lebhaft wie eh und je.

Sie glaubte förmlich zu spüren, wie der erste Kuss damals ihren ganzen Körper durchzuckt hatte wie ein Stromschlag. Sie konnte zwischen ihren Fingern fast schon das seidige Fell der Rinder fühlen – einer besonders edlen Rasse, die nach dem zentralchinesischen Nanyang benannt war. Wenn man die Tiere berührte, kräuselte sich ihr Fell in feinen Wellen, die einem über die Fingerspitzen direkt ins Herz drangen. Sie sah wieder all die kleinen Teiche vor sich, die in das dichte Gras an den Hängen der Hügel gebettet waren und so anmutig und blitzblank funkelten wie die Spiegel einer Fee – nur dass sie eine der abscheulichsten Kreaturen Gottes beherbergten: den Blutegel. Und ringsum auf den weiten Feldern, unter einem Himmel, der so blau war, dass ihr das Herz höherschlug, erblickte sie wieder den Weizen, der sich sachte im Sommerwind wiegte …

Als hätte sie eine Zeitreise angetreten, löste sich ihr Bewusstsein von ihrem fünfundfünfzig Jahre alten Körper und betrachtete mit den Augen einer Außenstehenden den Lebensweg der achtzehnjährigen jungen Frau, die es damals aus der Stadt hierherverschlagen hatte. Sie fühlte sich in die Freude und das Leid, die Liebe und den Hass dieser jungen Frau ein, doch die Vergangenheit wiederholte sich nicht einfach vor ihren Augen: Nun, da sie mit dem Blick einer Frau, die die Wendungen des Lebens kannte, auf ihre Jugend zurücksah, stellten sich bei ihr naturgemäß ganz andere Empfindungen ein.

Und während sich ihre Erinnerungen immer mehr verdichteten, nahm auch die junge Frau, die sie einmal gewesen war, immer klarere Konturen an, bis aus der unbeteiligten Betrachterin ein Ich, aus der Fünfundfünfzigjährigen die Achtzehnjährige geworden war.

ERSTES BUCH

DIE AMEISEN

Unter allen tierischen Organismen auf der Erde dürfte die Familie der Ameisen die erfolgreichste darstellen. Sie sind staatenbildende Lebewesen wie wir, doch ihre Gesellschaften sind weit fortschrittlicher und edler als die unseren. Es sind gänzlich altruistische Gesellschaften, in denen jedes Individuum ein Muster an Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft, Disziplin und Fleiß ist. Dieser Altruismus – das ist das Außerordentlichste daran – rührt allein aus den Genen, er ist das Ergebnis ihrer biologischen Konstitution (beispielsweise der Drüsen und der Pheromone). Er ist ihnen angeboren und bleibt ihnen ein Leben lang erhalten, ohne dass sie dafür auf Erziehung oder Bekehrung, Zwang oder Strafe, Religion oder Gesetz, Gefängnisse oder Regierungen angewiesen wären. Deshalb wird jeder Funke ihrer sozialen Energie ohne jeden Reibungsverlust genutzt. Da der Altruismus ihrer Individuen auf einer festen intrinsischen Grundlage beruht, stellen auch ihre Gesellschaften ein Muster an Stabilität und Kontinuität dar, und die Ameisen blicken auf eine ununterbrochene Geschichte von rund achtzig Millionen Jahren zurück.

Wir als die vermeintliche Krone der Schöpfung sollten uns vor ihnen wahrlich in Grund und Boden schämen. Schließlich ist die rund zehntausendjährige Geschichte unserer Zivilisation zum größten Teil von abscheulichen Untaten, blutiger Gewalt, Chaos, maßloser Selbstsucht und moralischem Verfall geprägt. Gott und die Heiligen mögen uns noch so sehr zum Guten bekehren wollen, die angeborene Neigung zum Bösen ist in uns allen stärker, und eine jede friedliche, blühende Gesellschaft, die wir mit viel Mühe errichtet haben, ist auf Sand gebaut und zerfällt in Windeseile.

Zu welchen Höhen könnte sich unsere Kultur doch aufschwingen, wenn wir uns die Ameisenstaaten zum Vorbild nähmen!

(Aus: »Über den Altruismus der Ameisenstaaten«, einem Artikel des Entomologen Yan Fuzhi, erschienen 1948 im britischen Journal of Theoretical Biology)

1.

EINE SCHOCKIERENDE NACHRICHT

Es war der Mai in meinem dritten Jahr auf der Farm, der Weizen war noch nicht reif, und auf den Feldern gab es noch nicht viel zu tun. Ich hockte mit den anderen auf der Brunnenbrüstung und aß. Als ich hörte, dass für den Abend keine politische Schulung anberaumt war, tauschte ich mit Yan Zhe einen vielsagenden Blick. Nach dem Essen wollte sich Li Dongmei, mit der ich zusammenwohnte, mit mir zu einem Spaziergang verabreden, und ich dachte mir irgendeinen Vorwand aus, um mich ihr zu entziehen.

»Hast du keine Augen im Kopf, Dongmei?«, spöttelte Ruan Yueqin. »Qiuyun hat Wichtigeres zu tun.«

Ich errötete und versuchte gar nicht erst, mich zu verteidigen, während die beiden gackernd davonzogen. Kaum wurde es dunkel, sonderte ich mich von den anderen ab und schlich mich zu dem Staubecken, das einen Kilometer vom Hof der Farm entfernt lag – dem üblichen Treffpunkt für unsere heimlichen Zusammenkünfte.

Die Farm war eigens für uns junge Leute aus der Stadt gegründet worden, auch das Staubecken hatten wir erst nach unserer Ankunft ausgehoben. Die jungfräuliche Erde hatten wir ringsum zu einem Damm aufgehäuft und darauf Rizinusbäume gepflanzt. Der Boden in dieser hügeligen Gegend eignete sich eigentlich kaum zur Landwirtschaft: Bei sonnigem Wetter war er steinhart, bei Regen verwandelte er sich im Handumdrehen in einen Morast. Die Erde war karg, und wo die Hasen sie nicht mit ihrem Kot düngten, gedieh nichts, egal was man auch anpflanzte. Nach einer Weile aber hatte ich entdeckt, dass die Rizinusbäume ausgerechnet diesen mageren Boden liebten und auf der ungedüngten Erde des Damms besonders üppig in die Höhe schossen. Wie ein kleiner Wald, ein dichter grüner Schirm, boten die Bäume Yan Zhe und mir Schutz, wenn wir uns heimlich trafen. Obendrein hatten wir beide von der Höhe des Damms aus einen guten Überblick über die Umgebung, sodass wir keine Gefahr liefen, ohne Vorwarnung ertappt zu werden, wenn wir bei unseren Zärtlichkeiten ein wenig über die Stränge schlugen.

Denn Yan Zhe trat bei diesen Treffen immer dreister auf, am Vortag hatte er mir die Hand schon unter die Bluse gesteckt und mir die Brüste massiert. Anfangs hatte ich zwar noch ein wenig Widerstand geleistet, doch ehrlich gesagt war dieser Widerstand rein symbolischer Natur gewesen und unter seinem Ansturm bald ermattet. Wie selig so eine kleine Streicheleinheit von einem Mann eine Frau doch machen konnte! Und wie zittrig noch dazu! Als wäre es ein elektrischer Schlag.

Bei der Erinnerung daran streichelte ich mir sacht den Busen, während ich auf dem Damm auf Yan Zhe wartete. So innig sehnte ich seine Umarmung und die Liebkosung seiner Hände herbei, dass meine Wangen glühten.

Dieser Abend war einer der wenigen in jener Zeit, an denen wir keine ideologische Schulung über uns ergehen lassen mussten. Unsere Farm gehörte zur Volkskommune »Roter Stern« der Stadt Beiyin im Kreis Jiucheng, und Jiucheng wiederum war damals offiziell zu einem von vier mustergültigen Kreisen in ganz China ernannt worden. Entsprechend hohe Wellen schlug bei uns die »Treue-Bewegung«. An den Straßen wurden überall Statuen von Liu Shaoqi und seiner Gattin Wang Guangmei errichtet: Nackt und auf Knien wurde das Verräterpaar zur Schau gestellt, die Frau mit grotesk herunterbaumelnden Brüsten und heraushängender Zunge. Und auf den Feldern wurden zahlreiche »Treue-Altäre« mit der Büste unseres geliebten Führers erbaut. Leider war unser Kreis so arm, dass diese Altäre einen alles andere als imposanten Anblick boten: Sie bestanden aus nichts als ein paar rohen Lehmziegeln, zur kümmerlichen Größe eines Hühnerkäfigs angehäuft – dem Großen Vorsitzenden erwiesen wir damit wenig Ehre.

Auch weitere Formen der Verehrung waren im Kreis Jiucheng allgegenwärtig, darunter »Treue-Tänze« vor dem Bildnis des Großen Steuermanns oder das Ritual des »morgendlichen Ersuchens um Anweisungen und des abendlichen Berichterstattens«, das wie eine tägliche Andacht vor den Worten des Vorsitzenden Mao Zedong (volkstümlich auch Mao-Bibel genannt) praktiziert wurde. Selbst wer nur in einem Geschäft etwas einkaufen wollte, erwies zuerst mit ein paar Floskeln jenem Kleinen Roten Buch seine Ehrerbietung, als sei er ein Untergrundkämpfer, der mit einem geheimen Kennwort seine Kontaktperson anspricht.

Wann immer von höchster Stelle aus der Hauptstadt eine neue Weisung erging, wurde sie im Kreis Jiucheng unverzüglich verbreitet. Nicht selten wurden wir Jugendlichen auf der Farm von einer Lautsprecherdurchsage aus dem Schlaf gerissen, die uns mitten in der Nacht zum Studium der jüngsten Direktive auf den Dreschplatz beorderte. Nach erfolgter Schulung teilten wir uns in Trupps auf und schwärmten unter großem Getöse und mit brennenden Fackeln in die umliegenden Dörfer aus, um ein Haus nach dem anderen abzuklappern und an die Türen und Fenster zu klopfen: »Liebe Leute, wir bringen euch geistige Nahrung! Wir bringen euch die neueste Weisung!«

Ohne die Lampen zu entzünden oder gar die Tür zu öffnen, brummte dann gewöhnlich einer der aufgeschreckten Bewohner durch das Papierfenster: »Ja, bitte, dann lasst mal hören.«

Begleitet vom Gekläff der Hunde, verlasen wir daraufhin im Schein der Fackeln lauthals das Dekret, ehe wir zum Nachbarhaus weiterzogen. Wenn wir endlich die ganze Umgebung belästigt hatten, graute oft schon der Morgen.

Doch in letzter Zeit hatten derlei Strapazen womöglich auch unseren Großen Steuermann in Peking ermüdet, jedenfalls ergingen solche Weisungen nun deutlich seltener als früher.

Zwei Jahre zuvor hatte er noch kurzerhand verkündet: »Die gebildeten Jugendlichen sollen von den Städten aufs Land und in die Berge gehen und sich von den einfachen Bauern umerziehen lassen.« Darum holte man auch ein paar Dutzend Bauern auf unsere neu gegründete Farm, damit sie die verantwortungsvolle Aufgabe der Umerziehung übernahmen. Doch als wir erst einmal auf dem Land eingetroffen waren und die vermeintlich so einheitliche Klasse der »einfachen Bauern« – oder korrekter gesprochen: der »armen und unteren Mittelbauern« – in eine bunt gemischte Schar aus lauter handfesten Individuen zerfiel, verflüchtigte sich sehr bald unser Gefühl, auf einer heiligen Mission zu sein. Denn vieles an diesen Bauern war durchaus unheilig.

So hatten nicht wenige von ihnen aufseiten der Nationalrevolutionären Armee der Kuomintang gekämpft. Lao Chu etwa, der Führer unserer zweiten Gruppe, hatte dort als Maschinengewehrschütze gedient. Er war eigentlich ein biederer und rechtschaffener Kerl, der nicht viele Worte machte, doch einmal, als wir gerade mit Erdarbeiten beschäftigt waren, sprang er, von einer plötzlich aufwallenden Nostalgie beflügelt, mit einem mächtigen Satz in die Grube, hielt seinen Spaten vor sich, als wäre es seine Waffe, und rief:

»Ich zeige euch mal, wie man mit einem MG feuert! Ruckzuck bestreicht man einen ganzen Halbkreis mit einer Salve! Die von der Achten Armee waren lausig bewaffnet, die hatten einen Mordsbammel vor unseren MGs!«

Ein anderer Bauer namens Chen Decai war, so erzählte man sich, der nichtsnutzige Sohn eines reichen Grundbesitzers. Mit seiner Opiumsucht hatte er das väterliche Vermögen durchgebracht und sich mit seinem liederlichen Lebenswandel auch noch den Tripper eingefangen.

Wieder andere Bauern waren faul und verfressen, und viele ließen sich über nichts so gern aus wie über Frauen und Sex. Natürlich gab es unter ihnen auch nicht wenige grundanständige Menschen wie den Rinderhirten Gao Xiangfu oder die Führer der ersten, zweiten und vierten Gruppe, Lao Xiao, Lao Chu und Lao Pang. Doch alle hatten sie eine Schwäche gemein: ihren Mangel an Bildung. Sie wussten weder, welche Dynastien im alten China geherrscht hatten, noch, warum Regen fiel oder wie ein Regenbogen entstand. Und die Worte unseres Großen Vorsitzenden konnten sie sich auch nicht merken.

Wenn wir auf unseren Massenversammlungen zusammen eine Parole wiederholen sollten, sorgten sie deshalb immer wieder unfreiwillig für Gelächter. Galt es beispielsweise, unseren »entschiedenen Widerstand gegen die unrechtmäßige Okkupation unserer Insel Zhenbaodao durch die sowjetischen Revisionisten und Imperialisten« zu verkünden, gipfelnd in dem Schlachtruf: »Kampf dem Egoismus und Revisionismus!«, so wurde bei ihnen aus dem »Revisionismus« der »Revisismus« und aus der »unrechtmäßigen Okkupation« die »unrechtmäßige Kopulation«.

Unser Farmleiter Lai Ansheng war noch vergleichsweise gebildet, wenn auch auf einem sehr niedrigen Niveau: Während seiner Zeit als Freiwilliger in der Armee hatte er sich vielleicht hundert Schriftzeichen angeeignet. Nach seiner Rückkehr ins zivile dörfliche Leben hatte er im Alter von über vierzig Jahren noch immer keine Familie gegründet und galt damit in den Augen der Bauern als gescheiterte Existenz. Doch dann, mit dreiundvierzig Jahren, nahm sein Schicksal eine unverhoffte Wendung, als er von der Volkskommune zum stellvertretenden Leiter der Farm für die gebildeten Jugendlichen ernannt wurde. Nicht lange danach wurde der Leiter, der Genosse Hu, zum stellvertretenden Leiter des Revolutionskomitees der Volkskommune befördert, und Lai selbst stieg damit sogar zum Farmleiter auf.

In seiner neuen Position fühlte er sich ganz in seinem Element. Dabei kam ihm nicht nur seine tyrannische und skrupellose Natur zupass, sondern auch die politische Gunst der Stunde – die vorgebliche »Umerziehung« durch die Bauern, der wir Jugendlichen uns zu unterwerfen hatten, und unsere inbrünstige Hoffnung, in unsere Heimatstadt zurückkehren zu dürfen. Unter diesen Umständen gelang es ihm, sich eine absolute Macht zu sichern. Nur im vergangenen Herbst bei der Verbuchung der Arbeitspunkte war seine Autorität vorübergehend durch eine Wandzeitung erschüttert worden, ausgelöst durch den Eklat um einen geheimen Sonderzuschlag für die Bauern. Doch nachdem er diese Krise gemeistert hatte, war seine Macht unerschütterlicher denn je.

Nicht zuletzt fühlte er, der mittlerweile fünfundvierzigjährige Junggeselle, sich auch deshalb wie im Schlaraffenland, weil ihm nicht weniger als zweiunddreißig blutjunge Frauen aus der Stadt anvertraut waren – eine Versuchung, der er nur schwer widerstehen konnte. Und so bildete er mit wachsendem Eifer seine »revolutionären Gespanne« (um eine zeitgenössische Phrase aufzugreifen) mit uns jungen Mädchen – angeblich hatte er schon mehrere von uns ins Bett gelockt. Doch das waren nur Gerüchte, die wir Jugendlichen uns zutuschelten. Noch konnte niemand einen handfesten Beweis gegen den Farmleiter vorbringen – abgesehen von dem Zeugenbericht, den mir Sun Xiaoxiao zwei Tage zuvor anvertraut hatte.

Ich schob also diese unangenehmen Gedanken beiseite, um mich auf mein bevorstehendes Treffen mit Yan Zhe zu freuen, während ich, die Arme um die Knie geschlungen, auf dem Damm saß und wartete. Wie schön doch das Staubecken im Mondschein schimmerte! Im spiegelglatten Wasser leuchteten der Vollmond und die Sterne. Vom fröhlichen Gequake der Frösche und dem Gezirpe der Zikaden begleitet, glitten ein paar Sumpfhühner unter hellen Rufen tief über das nächtliche Wasser. Meine Arme waren ins kühle Mondlicht getaucht.

Im Süden lag ein weites Brachland, das an die Provinz Hubei grenzte. Vor der Gründung der Volksrepublik China war dies ein gesetzloser Landstrich gewesen. Räuberbanden, deren Anführer oft einige Berühmtheit erlangten, hatten hier ihr Unwesen getrieben, und in den Tümpeln und Brunnen waren nicht wenige Tote verrottet.

»Lass dich nicht davon täuschen, wie arm und heruntergekommen Jiucheng jetzt ist«, hatte mich Yan Zhe einmal belehrt. »Im Kaiserreich, vor allem zur Zeit der Östlichen Han-Dynastie vor gut zweitausend Jahren, war diese Region berühmt für ihren Wohlstand. Viele Generäle und hohe Beamte kamen von hier, auch einige Kaiserinnen, darunter Yin Lihua, die legendäre Schönheit und zweite Gemahlin von Kaiser Guangwu, der im Jahr fünfundzwanzig nach Christus die Östliche Han-Dynastie gründete.«

Wahrscheinlich, so ging es mir durch den Kopf, hatte Yin Lihua in ihrer Jugend genau wie ich auf einem Damm oder Ackerrain gesessen, zum selben Mond aufgeblickt und ganz ähnliche Mädchenträume geträumt.

Endlich hörte ich leise Schritte, und schon bahnte sich Yan Zhe einen Weg aus dem Rizinusgebüsch. Sogleich drückte er mich heftig an sich, küsste mich und saugte an meiner Zunge, während seine Hand voll brennender Ungeduld unter meine Bluse drang.

Ich erwiderte seine Zärtlichkeiten, auch wenn ich ihn leise tadelte:

»Du wirst aber auch immer dreister! Ein richtiger Lustmolch bist du geworden! Früher hast du immer noch so kultiviert getan, und jetzt?«

Er grinste nur und versuchte erst gar nicht, sich zu rechtfertigen, während seine Hand weiter und weiter vorrückte. Erst als sie schließlich unter meine Gürtellinie vorzustoßen drohte, gebot ich ihr Einhalt.

»Jetzt reicht es aber! Sei nicht so unersättlich! Für alles andere musst du dich bis nach der Hochzeit gedulden.«

Obwohl Yan Zhe mächtig in Wallung geraten war, war er doch Gentleman genug, um mich nicht weiter zu bedrängen. Nachdem er seine Begierde mühsam gezügelt und sich einigermaßen beruhigt hatte, setzten wir uns nebeneinander auf den Damm.

Ich zog ein Bündel Essensmarken hervor und hielt es ihm hin. »Die habe ich für dich aufgespart. Du weißt ja, dass ich keine große Esserin bin. Bald kommt die Weizenernte, da musst du ordentlich was im Magen haben.«

Doch er schlug mein Geschenk aus. »Nicht nötig, ich habe genug für diesen Monat. Ach ja, übrigens, Lao Huo, der Buchhalter, hat mir gestern verraten, dass es bei der Abrechnung in diesem Sommer wieder nicht viel zu holen gibt. Wenn es hoch kommt, zwanzig oder dreißig Yuan pro Kopf. Und einer wie ich muss sogar noch draufzahlen, obwohl ich mit meinen zehn Arbeitspunkten schon zu den besten Arbeitskräften gehöre.«

Die Arbeitspunkte, die jeder von uns für seine Arbeitsleistung zugeteilt bekam, waren lächerlich wenig wert: Die tüchtigsten Arbeiter unter uns konnten mit ihrem Mehr an Punkten das Mehr an Essensmarken, die sie dafür verbrauchten, nicht aufwiegen. Yan Zhe war zwar eher schmal gebaut, doch er schuftete wie ein Berserker, weshalb die Bauern einhellig über ihn urteilten:

»So ein schmächtiger, hübscher Junge, aber rackert wie um sein Leben! Was ihm an Kraft fehlt, macht er an Fleiß doppelt wett.«

Als wir nicht lange nach unserer Ankunft auf der Farm das Staubecken ausgehoben hatten, hatte er sich am Tag davor drei Blutblasen an der Hand zugezogen und zwei Spaten zerbrochen. Dem Lagerverwalter Siwa blutete bei diesem Anblick das Herz – nicht etwa angesichts der Blasen, sondern angesichts des Materialverschleißes.

»Junge«, grummelte er immer wieder, »ihr Burschen aus der Stadt könnt einfach nicht pfleglich mit euren Sachen umgehen.«

»Setz mir den Schaden einfach auf die Rechnung, damit er mir von den Arbeitspunkten abgezogen wird, in Ordnung?«, unterbrach ihn Yan Zhe schließlich entnervt.

»Auf die Rechnung?«, erwiderte Siwa verächtlich. »Weißt du, für wie viele Tage dich das deine Arbeitspunkte kosten würde? Junge, auch wenn es dir darum nicht leidtut – mir schon! Dieses Mal drücke ich noch ein Auge zu und setze es dir nicht auf die Rechnung – aber pass mir in Zukunft ja besser auf!«

Wie sehr der Lagerverwalter mit seinen Worten recht hatte, sollte sich bei der Endabrechnung des ersten Jahres zeigen, als jedes Farmmitglied für seine Arbeitsleistung gerade einmal zwanzig oder dreißig Yuan verbucht bekam. In Arbeitstage umgerechnet, entsprach das nicht einmal einem Jiao pro Tag. Zwei Spaten dagegen kosteten einen Yuan, sodass Yan Zhe mit seinen zehn Arbeitspunkten rund zwei Wochen hätte schuften müssen, um den Schaden zu ersetzen. Erst Siwa habe ihm wirklich die Augen geöffnet, was seine Arbeit eigentlich wert sei, kommentierte er später ironisch.

Ich drängte ihm jetzt meine Essensmarken auf, indem ich sie ihm einfach in die Tasche steckte.

»Das macht doch nichts, wenn du am Ende ohne Geld dastehst«, versuchte ich, ihn lächelnd zu trösten. »Ich werde schon was bekommen, und das kannst du dann haben – ich weiß sowieso nicht, was ich damit anstellen soll.«

Das sei nicht nötig, erwiderte er. »Tatsächlich«, fügte er nach einem Zögern hinzu, »haben mir meine Eltern eine beträchtliche Summe Geld hinterlassen. Das Geld stammt eigentlich von unseren Verwandten im Ausland, die uns damit vor der Kulturrevolution unterstützt haben. Aber mein Vater hat es nie angerührt, selbst während der Hungersnot nicht. Er meinte, er habe Großes damit vor. Niemand ahnt etwas von diesem Geld, und man hat es auch nie beschlagnahmt. Aber ich hüte es genauso sorgsam, denn auch ich will damit etwas Großes tun.«

Es rührte mich, dass er mir ein derart gewichtiges Geheimnis anvertraute. Ich hatte keine Ahnung, was er damit »Großes tun« wollte, und fragte ihn auch nicht danach; ich antwortete nur:

»Mach mit deiner Erbschaft, was immer du im Sinn hast. Und wenn du knapp bei Kasse bist, nimm mein Geld. Mein Vater ist ja gerade aus dem Lager entlassen worden, und jetzt, wo er wieder Geld verdienen kann, muss unsere Familie auch nicht mehr jeden Fen zweimal umdrehen.«

Mein Vater war ein städtischer Transportarbeiter mit einem absolut untadeligen Familienhintergrund aus der Arbeiterklasse, doch während der Kulturrevolution war er als Anführer der von ihm und seinen Kollegen gegründeten »Roten Revolutionären Vereinigung« in die Plünderung eines Waffenarsenals durch die Rebellenbewegungen verwickelt gewesen und, als sich die ersten Wirren der Kulturrevolution gelegt hatten, zu einem Jahr Arbeitslager verurteilt worden. Nur deshalb war auch ich damals trotz meines Familienhintergrunds mit den anderen gebildeten Jugendlichen aufs Land verschickt worden.

»Ich soll dir von meinen Eltern ausrichten, dass sie die ganze Zeit ein Auge auf dein Elternhaus gehabt haben, damit sich dort nicht irgendwelches Gesindel einnistet. Du musst dir deswegen keine Sorgen machen.«

Meine Eltern hatten einen Narren an Yan Zhe gefressen, und mein Vater hatte mir noch mit auf den Weg gegeben, ich solle meinen Freund ruhig mit Geld unterstützen. »Der Junge ist aber auch wirklich arm dran – die Eltern schon tot und kein Verwandter, der ihm unter die Arme greift!« Doch ich behielt seine Worte lieber für mich, um Yan Zhe nicht in seiner Selbstachtung zu kränken.

»Richte deinen Eltern meinen Dank aus«, antwortete er nach einem kurzen Schweigen. »Aber vielleicht brauche ich das Haus in der Stadt gar nicht mehr, sie können also gern darin einziehen.«

Ihm schwante, er würde für den Rest seines Lebens auf dem Land bleiben müssen, und tatsächlich waren für einen Jugendlichen wie ihn mit einem derart problematischen Familienhintergrund die Zukunftsaussichten denkbar düster. Weil ich ihn nicht mit ein paar billigen Phrasen trösten wollte, schwieg ich, und auch er sagte nichts mehr. Stattdessen griff er neben sich und schleuderte einen Erdklumpen in den Teich. Die aufgeschreckten Frösche verstummten für einen Moment, ehe sie umso erregter wieder drauflosquakten. Ich wusste, dass unser Gespräch schmerzhafte Erinnerungen an seine Eltern in ihm wachgerufen hatte, und versuchte, ihn auf andere Gedanken zu bringen.

»Als du gerade die Erde geworfen hast«, warf ich schmunzelnd ein, »ist mir die Geschichte mit Lao Huo wieder eingefallen. Erinnerst du dich noch an den ganzen Ärger, den er damit ausgelöst hat?«

»Wie könnte ich das vergessen!«, lachte Yan Zhe. »Unglaublich, dass ein Kerl in seinem Alter sich noch zu so etwas hinreißen lässt!«

Unser Buchhalter Lao Huo war gänzlich ergraut und klapperdürr. Eine besonders lächerliche Erscheinung gab er ab, wenn er zum Essen auf der Brunnenbrüstung hockte: Er saß dann derart zusammengekauert da, dass seine spitzen Knie ihm über die Schultern und fast bis an die Ohrläppchen seines dazwischen eingezwängten Kopfes ragten.

»So sieht nur einer von königlichem Geblüt aus!«, witzelte einmal einer von uns Jugendlichen namens Lin Jing. »Wie heißt es doch gleich über Liu Bei in den Drei Reichen: ›Seine Ohren hingen ihm bis zu den Schultern hinab, seine Hände reichten ihm bis unter die Knie.‹ Bei Lao Huo muss es heißen: ›Seine Knie reichten ihm bis über die Schultern, seine Ohren hingen ihm bis zu den Knien hinab.‹ Das ist sogar ein noch königlicheres Aussehen!«

Alle lachten, nur Lao Huo vergrub seinen Kopf noch tiefer zwischen den Knien, ohne sonst eine Regung zu erkennen zu geben.

Lange Zeit hielten wir ihn für mindestens sechzig Jahre alt – bis einmal eine junge Frau von Mitte dreißig, mit kurzem Haar und jugendlicher Ausstrahlung, ihn besuchen kam. Als die beiden nach dem Abendessen noch einen Spaziergang unternahmen und ich ihnen mit einem Pulk anderer Mädchen an dem Graben begegnete, der die Farm umschloss, plapperte Sun Xiaoxiao drauflos:

»Lao Huo, deine Tochter ist echt hübsch!«

Den beiden schoss prompt das Blut ins Gesicht, und da dämmerte uns erst, dass sie ein Ehepaar waren. Danach erfuhren wir auch, dass der Buchhalter in Wahrheit gerade einmal vierzig Jahre alt war. Und obendrein war er auch noch ein richtiger staatlicher Kader.

Alle Kader, die zu einer Jugendlichenfarm aufs Land versetzt worden waren, waren zuvor mehr oder weniger in Ungnade gefallen. Vielleicht hatten sie sich während der Kulturrevolution auf die falsche Seite gestellt oder waren mit ihrem Verhalten irgendwie angeeckt, hatten Geldprobleme oder Kontakte ins Ausland. Dem Genossen Hu zum Beispiel, der unser erster Farmleiter gewesen war, haftete damals noch das Etikett des Kapweglers an, also eines Parteimitglieds, das den kapitalistischen Weg ging. Doch selbst ein Kader, dessen Ruf derart ramponiert war, stand auf einer Farm wie der unseren immer noch eine ganze Klasse über den Jugendlichen – er war der Hirte, die Jugendlichen seine Schafe.

Lao Huo war denn auch der Einzige unter allen Kadern, die wir kannten, der derart furchtsam auftrat. Jedes welke Blatt schien ihm Angst einzuflößen, als könnte es ihm den Schädel zertrümmern. Er redete nur im Flüsterton, krümmte sich vor, wenn er einem anderen begegnete, und hob den Blick allenfalls auf Hüfthöhe seines Gegenübers. Und ausgerechnet dieser kläglichen Figur, die weniger Raum für sich beanspruchte als eine Ameise, war im vorigen Sommer – ungefähr zur gleichen Zeit wie jetzt – ein schweres Missgeschick passiert.

Er kam damals gerade mit seinem Kassierer von der Volkskommune zurück – die Dunkelheit war schon hereingebrochen –, und als sie den Graben erreichten, der die Farm umgab, hörten sie plappernde und kichernde Mädchenstimmen, die wie Spatzengezwitscher aus dem nahen Rizinusgebüsch hervordrangen. Eine der Stimmen erkannte der Buchhalter: Sie gehörte Zhang Keyu, die ihm vergleichsweise vertraut war, weil sie oft in der Küche aushalf.

Und nun geschah das Verblüffende: In einem Anfall kindlichen Übermuts – dieses ältliche Männchen hatte sich also tatsächlich etwas Kindliches bewahrt, das unter seiner fest verschlossenen Schale nur darauf wartete, einmal auszubrechen – wisperte Lao Huo seinem Begleiter zu: »Denen jagen wir mal einen tüchtigen Schreck ein.«

Er las den erstbesten »Ingwerbrocken« vom Boden auf – so nannten wir die nur halb verwitterten, unregelmäßig wie Ingwerwurzeln geformten Steine, die überall zwischen den Hügeln verstreut lagen – und schleuderte ihn in die Dunkelheit. Und prompt kam die Antwort zurück: ein Schmerzensschrei! Der Stein hatte der armen Keyu einen halben Schneidezahn ausgeschlagen. Ihre Lippen jedoch waren erstaunlicherweise unversehrt geblieben – gewiss hatte sie gerade lauthals gelacht, als Lao Huos Wurfgeschoss sie präziser als eine amerikanische Lenkrakete getroffen hatte.

Lai Ansheng war damals gerade vom Stellvertreter zum Farmleiter aufgestiegen und auf dem Gipfel seiner Macht. Als er von Lao Huos Vergehen erfuhr, tobte er vor Wut und stauchte ihn nach Strich und Faden zusammen. Überdies befahl er ihm, auf einer Massenversammlung öffentlich seine Schuld zu bekennen – danach werde er weitere »strenge Maßnahmen ergreifen«, je nachdem, welches Maß an Reue der Buchhalter zu erkennen gebe.

Zur eigens anberaumten Kampf- und Kritiksitzung fanden sich sämtliche Bauern und Jugendlichen ein. Es war mucksmäuschenstill. Nur die Gaslampe, die Lao Huos kreidebleiches Gesicht beschien, zischelte vor sich hin. Die Hände in die Hüften gestemmt, baute sich Lai Ansheng auf dem Podest auf und durchbohrte den Missetäter mit seinem grimmigen Blick. Als Lao Huo seine Selbstkritik verlas, zitterten ihm die Hände so sehr, dass er den Zettel nicht ruhig halten konnte, und seine dürren Beine schlotterten. Unten vor dem Podest pressten wir Jugendlichen uns die Hände auf die Münder, um nicht lauthals loszuprusten. Später behauptete jemand, vor lauter Angst habe sich der Buchhalter in die Hose gemacht, und der Urin sei aus seinen Hosenbeinen nur so herausgeplätschert, aber das war vermutlich nur böser Tratsch.

Nach dieser Sitzung wagte Lao Huo weniger denn je, anderen Menschen in die Augen zu sehen. Die größte Furcht flößte ihm Lai Ansheng ein: Ein Blick des Farmleiters genügte, und er fing an zu zittern. Wie die Bauern zu sagen pflegten: Der Schreck machte ihm die Galle kaputt.

Wenigstens zog dieser Schreck für ihn keine ernsthaften Konsequenzen nach sich. Dank der Fürsprache seines Opfers ging er am Ende gänzlich straffrei aus. Lediglich für Keyus Zahnkrone musste er aufkommen. Danach trieben die Jungen für eine längere Zeit erst einmal ihre Späße mit ihr, und Keyu selbst gewöhnte es sich an, beim Lachen die Oberlippe zu straffen, um ihren neuen Goldzahn nicht zu entblößen.

Mit all diesen Erinnerungen im Kopf imitierte ich nun vor Yan Zhe den tragikomischen Auftritt des Buchhalters auf der Kampf- und Kritiksitzung. »Ich w-will meine Sch-Schuld von Gr-Grund auf b-büßen«, stammelte ich am ganzen Körper schlotternd, »und ein n-neuer Mensch w-werden. – Und? Habe ich ihn gut getroffen?«

»Ja«, lachte Yan Zhe, »das hast du. Aber das ist nicht gerade nett, dass du dich über diesen Unglückswurm auch noch lustig machst!«

»Mir tut nur seine Frau leid. Wie kann sie es ihr Leben lang mit diesem erbärmlichen Tropf aushalten, wo sie doch noch so jung ist!«

»Da liegst du falsch. Ich habe gehört, dass es bei diesem ungleichen Paar besonders liebevoll zugeht. Nachdem ihn seine Frau an dem einen Abend besucht hatte, hat einer der Köche von nebenan erzählt, dass die beiden …«

»Was? Was hast du denn auf einmal?«

Doch er grinste nur in sich hinein, und weil ich mir denken konnte, dass er sich eine der Zoten verkniffen hatte, wie sie sich die Männer gern erzählen, fragte ich nicht weiter nach.

»Qiuyun«, begann er stattdessen, »ich habe eine schlechte Nachricht. Ich weiß nicht, ob ich dir davon erzählen soll – besser nicht, denn das würde dir ziemlich aufs Gemüt schlagen. Ich weiß ja, dass du vor nichts so eine große Angst hast.«

»Was redest du da? Nun sag schon! Na los!«

Er zeigte auf das Staubecken vor uns. »Dort drin gibt es auch Blutegel. Das ist kein Gerücht, an Liu Weidong hat sich gestern beim Baden einer festgesaugt.«

Mich überlief ein kalter Schauder. Ich hatte von klein auf einiges durchgemacht, und meine Mutter pflegte zu sagen: »Du warst die wildeste Göre der Welt, du hast weder Himmel noch Hölle gefürchtet. Sogar Skorpione hast du gepackt!« Tatsächlich fasste ich als fünfjähriges Kind einmal einen Skorpion an. Zum Glück bemerkte mein älterer Spielkamerad Xuexu noch rechtzeitig, was ich da trieb, riss mich beiseite und trat das Tier tot.

Das einzige Wesen, das mir Angst einflößte, war der Blutegel. Schuld daran war das viele Gerede unserer Nachbarinnen, aber auch meiner Mutter.

»Kein Tier unter der Sonne«, so behaupteten sie, »ist so heimtückisch wie der Blutegel. Er saugt sich so klammheimlich an dir fest, dass du gar nichts davon merkst. Sein Speichel verhindert, dass dein Blut gerinnt, damit er dich nach Lust und Laune aussaugen kann. Hat er sich einmal an dich geheftet, und du entdeckst ihn nicht schnell genug, dringt er in deine Adern ein. Oder er findet in deinem Unterleib die passende Öffnung – wir Frauen sind da besonders gefährdet! –, und schon schlüpft er in dich hinein, während du ahnungslos im Fluss badest. Oder du willst nur ein bisschen Wasser trinken und trinkst seine Eier gleich mit – dann nisten sie sich in deinem Magen, deiner Lunge, ja, sogar in deinem Gehirn ein, und für dich kommt jede Rettung zu spät.«

Zumindest die ersten beiden Aussagen stimmten – das erlebte ich, nachdem ich aufs Land gekommen war, am eigenen Leib. Der Rest war wahrscheinlich ein bisschen übertrieben, aber schon allein die Vorstellung machte mir mächtig Angst, denn wenn auch nur ein Körnchen Wahrheit daran war, dann konnte sich niemand, egal wie vorsichtig, vor so viel Heimtücke schützen.

Meine erste indirekte Begegnung mit Blutegeln hatte ich, nachdem wir auf der Farm einen Brunnen gegraben hatten. Der Brunnen lag gleich neben der Kantine, sodass wir mit seinem Wasser immer unsere Schüsseln abwuschen. Einmal hörte ich plötzlich einen Frosch, der auf dem Grund des Brunnens kläglich quakte. Verdutzt fragte ich unseren Gruppenführer Lao Xiao: »Woher kommt denn der Frosch? Wir haben den Brunnen doch gerade erst gegraben?!«

»So was passiert hier öfter«, antwortete er. »Wenn die Felder trocken sind, hüpfen die Frösche am Abend herum, und wenn einer nicht aufpasst, landet er in einem Brunnen und kommt nie wieder raus. Die kleinen Kinder haben doch dieses Spiel, das nennen sie: ›Der Frosch hüpft in den Brunnen‹ – das kommt daher.«

»Und warum schreit er jetzt so jämmerlich?«, fragte ich weiter.

»Wahrscheinlich hat sich ein Blutegel an ihm festgesaugt. So ein Egel saugt an allem, was Blut hat. So kleine Tiere wie ein Frosch sind dann hoffnungslos verloren. Die saugt der Egel aus, bis kein Tropfen Blut mehr in ihnen ist.«

Seine Worte ließen mich erschaudern. »Aber wie kommt denn der Blutegel in den Brunnen?«, fragte ich ungläubig nach. »So ein Egel kann doch nicht springen wie ein Frosch!«

Lao Xiao stutzte. »Da bin ich jetzt auch überfragt, aber irgendwie hat der liebe Gott das eben so eingerichtet. Ich weiß nur, dass es in den Bergen Landegel gibt, die können dich von Weitem anspringen, sobald sie dich gewittert haben. Aber die Wasseregel, die wir hier haben, können eigentlich keine größeren Strecken zurücklegen.«

Seitdem schaute ich immer erst genau hin, ob in dem Brunnenwasser auch keine Blutegeleier schwammen, bevor ich damit meine Schüssel sauber machte.

Der Untergrund unserer Farm hatte eine Eigenart: Er war kaum wasserdurchlässig. Für den Getreideanbau war das ein Nachteil, doch dafür hatten sich in unserer Gegend lauter kleine Teiche gebildet. Sie hatten sich an die wellige Oberfläche des Geländes angepasst und waren meistens länglich-oval, aber es gab auch rundlichere, ja, sogar kreisrunde Teiche, die anmutig wie Spiegel aus einem Märchenreich in die Landschaft gebettet waren. Ihr Wasser war außerordentlich klar, fast durchsichtig. Die Gewächse darin leuchteten sattgrün, und die langen Halme wiegten sich sachte mit den Wellen. Manchmal sah man einen kleinen Fisch oder Frosch darin schwimmen, und das wirkte so mühelos und geschmeidig, als würde er in der Luft schweben. Am schönsten waren die Teiche am Abend, wenn die untergehende Sonne das Wasser rot färbte und die Landschaft, die sich darin spiegelte, so sanft schimmerte, als wäre sie mit einer Kamera mit Kontrastfilter aufgenommen.

Bevor wir das große Staubecken gegraben hatten, hatten Yan Zhe und ich uns immer an diesen kleinen Teichen getroffen, wo ich dann meine nackten Füße in das wohlig kühle Wasser hielt und sie sachte mit der Strömung schwanken ließ. Ich fühlte mich so sehr zu diesen Teichen hingezogen, dass ich eines Abends, als die Sonne das Wasser wieder einmal rötete, der Versuchung nicht länger widerstehen konnte und all meine Bedenken beiseiteschob.

»Ich habe unglaublich Lust zu baden«, gestand ich Yan Zhe. »Kannst du für mich aufpassen, ob auch niemand kommt? Aber nicht heimlich gucken!«

Grinsend willigte er ein. Sonst hatten wir Jugendlichen immer in einem Staubecken beim Nachbardorf gebadet: die Jungen vor dem Abendessen, die Mädchen danach, wenn die Dunkelheit schon hereinbrach. In stillschweigendem Einvernehmen hatten wir uns auf diese Geschlechtertrennung geeinigt. Deshalb war es nun das erste Mal, dass ich in Yan Zhes Sichtweite baden würde, obwohl wir schon so lange ein Liebespaar waren. Der Gedanke, er könnte die Situation ausnutzen, ließ mir keine Ruhe, und ich ermahnte ihn mehrmals, er dürfe auf keinen Fall spannen. Er versprach es mir nochmals feierlich, und als wollte er seinen Worten Taten folgen lassen, trat er ein paar Schritte zurück und drehte mir den Rücken zu. Rasch schlüpfte ich aus meiner Kleidung und glitt ängstlich und freudig erregt zugleich ins Wasser.

Im nächsten Moment stürmte er herbei, riss mich an Land und drückte mich an sich. Meine Scham verwandelte sich in Wut, ich versuchte, mich mit aller Kraft aus seiner Umarmung zu befreien, und schrie ihn mit schriller Stimme an: »Du Schuft! Du schamloser Kerl! Du hast mich angelogen!«

Statt sich irgendwie zu rechtfertigen, hielt er mir nur meine Kleidung hin. Als ich mich wieder angezogen hatte, drückte er meinen Kopf Richtung Teich.

»Schau dir erst mal an, was da im Wasser herumschwimmt. Danach kannst du mich immer noch beschimpfen. Na los, nun schau schon.«

»Ich gebe zu«, fuhr er grinsend fort, »dass ich heimlich einen Blick riskiert habe, bevor du ins Wasser gestiegen bist. Aber dann ist mir etwas anderes ins Auge gesprungen: das, was da im Teich herumschwimmt. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriffen habe, was es ist. Tut mir echt leid, dass ich dich so unsanft aus dem Wasser herausgerissen habe, obwohl du nackt warst, aber ich weiß, dass du vor nichts anderem so große Angst hast, also – habe ich notgedrungen den Sittenstrolch gespielt.«

In meiner Wut stellte ich mich erst einmal taub, doch schließlich gab ich dem Druck nach, mit dem er meinen Kopf Richtung Teich schob, und folgte mit meinem Blick seinem ausgestreckten Zeigefinger – und da sah ich die Blutegel, mindestens sieben oder acht Stück, blauschwarz mit einem Muster aus fünf gelben Streifen auf dem Rücken. Sie waren sehr groß – wenn sie sich langmachten, sicher über zehn Zentimeter – und hatten spitz zulaufende Enden, sodass sie wie in die Länge gezogene Spindeln wirkten. Völlig entspannt schwammen sie im Wasser, indem sie ihre Körper beugten und streckten. Wenn ich nicht so eine tiefe Abscheu gegen sie empfunden hätte, hätte ich fast zugeben müssen, dass ihre Bewegungen voller Anmut und Eleganz waren. Sie wirkten so gelassen und selbstsicher, als wüssten sie genau, dass sie in ihrer kleinen Welt die Herren waren.

Mich überlief ein kalter Schauder nach dem anderen. Wenn Yan Zhe mich nicht herausgerissen hätte, dann … Ich wagte gar nicht, mir auszumalen, was dann geschehen wäre. Voll Dankbarkeit schmiegte ich mich an seine Brust und küsste ihn reuig.

An diesem Abend konnten wir uns lange nicht von unserem lauschigen Plätzchen losreißen. Wir sahen zu, wie sich die rote Wasseroberfläche langsam schwarz färbte. Ich wagte nicht mehr, meine nackten Füße in das Wasser zu halten, und beim Gedanken daran, wie oft ich das vorher getan hatte, fuhr mir noch nachträglich der Schreck in die Knochen.

Mir wollte einfach nicht in den Kopf, wie sich ausgerechnet an so einem schönen Ort die abscheulichste Kreatur auf Erden hatte einnisten können – wenn das keine göttliche Heimtücke war, was dann?

Nachdem das neue Staubecken ausgehoben war, trafen wir beide uns nicht mehr an diesen Teichen. Auch die anderen jungen Leute badeten nun im neuen Becken. Seltsam war nur, dass ich dort nie einen Blutegel entdeckte – war dieses Staubecken etwa nur deshalb so sauber, weil es frisch gegraben war? Aber die Egel waren doch sogar bis in den neuen Brunnen vorgedrungen! Umso mehr freute ich mich lange Zeit darüber, dass dieses Becken scheinbar egelfrei war. Denn wo sonst hätte ich baden sollen, wenn selbst dieser paradiesische Flecken Erde an die widerlichen Kreaturen verloren gewesen wäre!

Und nun hatte Yan Zhe mir die Augen geöffnet und mir auch diese letzte Idylle zerstört. In was für einer trügerischen Sicherheit ich mich noch am Vortag gewiegt hatte, als ich hier gebadet hatte! Mich überlief es eiskalt.

»Ins Staubecken werde ich mich nun auch nicht mehr trauen«, klagte ich bedrückt. »Ich kann mich jetzt nur noch mit ein bisschen Brunnenwasser im Zimmer waschen.«

Yan Zhe fühlte sich nun auch schuldig, so als hätte er mir diesen Kummer verursacht. »Eigentlich wollte ich es dir ja nicht sagen – aber dass du so eine Heidenangst vor Blutegeln hast, passt auch gar nicht zu dir. Und dabei dachte ich, du hättest deine Angst überwunden, seit wir den Reis angepflanzt haben!«

Ursprünglich hatten wir auf der Farm ausschließlich Weizen angebaut, doch im zweiten Jahr hatten wir damit angefangen, den Anbau auf Wasserreis umzustellen, sodass ich einer Konfrontation mit den scheußlichen Kreaturen nicht länger ausweichen konnte. Ich hatte mich nach Kräften bemüht, meine Angst zu unterdrücken, und aus Scham niemandem davon erzählt, denn die alten Bauern und die Jungen aus der Stadt gaben sich völlig gelassen und setzten eine gleichgültige Miene auf, wenn die Rede auf die Blutegel kam. In Wahrheit fürchtete zumindest Yan Zhe die Egel genauso sehr wie ich – oder wenigstens verabscheute er sie genauso sehr. Nur durfte er sich als Mann nichts von seiner Angst anmerken lassen, damit er nicht zum Gespött der anderen wurde.

Mir jedenfalls konnte er nichts vormachen. Wenn ich hörte, wie er sich bemühte, so unbekümmert wie die anderen von den Egeln zu reden, dachte ich mir unwillkürlich: Ihr Männer habt es auf dieser Welt doch wirklich schwer.

Meine erste richtige Begegnung mit den Egeln gestaltete sich dann viel harmloser, als ich sie mir vorher ausgemalt hatte. Als ich mich zum ersten Mal auf einem Schemel in das Reisfeld hockte, um die Setzlinge herauszuziehen, und meine nackten Füße ins schlammige Wasser getaucht waren, konnte ich vor lauter Angst keinen klaren Gedanken mehr fassen. Alle naslang hob ich die Füße aus dem Wasser, um sie zu mustern. Erst als ich nach einer Stunde immer noch keinen Egel gefunden hatte, entspannte ich mich ein wenig.

Nach zwei Stunden, als ich die Füße erneut untersuchte, entdeckte ich am Knöchel zu meinem Entsetzen einen feinen Blutstreifen. Ich bekam eine Gänsehaut. Und tatsächlich fand ich einen kleinen Egel, der still und leise an meinem Unterschenkel saugte. Wie sehr hatte ich mich vor genau dieser Situation gefürchtet! Nun jedoch, da sie wirklich eingetreten war, fühlte sie sich nicht weiter dramatisch an.

Sogleich schnappte ich mir die Schuhsohle, die ich mir vorher griffbereit zurechtgelegt hatte – so hatten die Bauern es uns empfohlen –, und schlug den Blutsauger mit einem kräftigen Hieb von meinem Bein. Dann transportierte ich ihn mit einem Halm auf den Ackerrain, wo ich ihn mit einem Stein zu Brei zerquetschte. Denn die Bauern hatten uns ausdrücklich gewarnt, wie zäh so ein Tier sei: Um es zu töten, dürfe man keine halben Sachen machen. Die sicherste Methode sei, es mit einem Stock aufzuspießen und ihm das Innerste nach außen zu kehren. Doch dazu konnte ich mich nicht überwinden.

Danach wurden mir die Blutegelattacken zu einem vertrauten Anblick. Manchmal saugten gleichzeitig drei oder vier von ihnen an mir, und bald flößten sie mir keine Furcht mehr ein. Anfangs zermalmte ich noch gewissenhaft jedes einzelne der kleinen Scheusale, doch in einem Reisfeld findet sich nicht so leicht ein Stein, und die Arbeit ließ es nicht zu, dass ich jedes Mal zum Ackerrain lief, um mir einen zu suchen. Mit der Zeit stumpfte ich genauso ab wie alle anderen: Wir pflückten die Egel nur noch von unseren Beinen und schleuderten sie möglichst weit weg auf das angrenzende unbewässerte Feld – und fertig. Von dort würden sie zwar ganz gewiss wieder auf das Reisfeld zurückkriechen, doch wir hielten uns an das Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Als nun Yan Zhe also zu mir sagte, ich hätte doch gar keine Angst mehr vor den Egeln, schüttelte ich den Kopf. »Ich habe keine Angst mehr davor, dass sie mir an den Beinen saugen. Aber dass sie in meinen Körper eindringen, während ich bade, davor habe ich immer noch Angst.«

»Nun siehst du aber Gespenster!«, erwiderte er schmunzelnd. »So außerordentliche Fähigkeiten haben diese Viecher nun auch wieder nicht. Jeden Tag baden bei uns so viele Leute – und ist schon mal irgendjemandem davon ein Egel in den Bauch gekrochen?«

»Wer weiß!«, widersprach ich. »Man sagt, dass so ein Blutegel sich jahrelang im Körper eines Menschen verstecken kann, ehe er sein Opfer krank macht.«

Da gab er es auf, mit mir zu diskutieren. »Na, wenn das so ist, traue ich mich jetzt auch nicht mehr zum Baden ins Wasser.«

Keiner von uns konnte mit Sicherheit sagen, ob so ein Blutegel tatsächlich in den Körper seines Wirts eindringen konnte oder nicht. Also ließen wir das Thema fallen. Als später der schönste Bulle unserer Farm elend zugrunde ging, hieß es, ein Egel habe sich in seinem Magen eingenistet. Ob dieses Gerücht der Wahrheit entsprach, wage ich nicht zu entscheiden.

»Ach übrigens«, lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung, »meine große Schwester hat heute jemandem eine Flasche Chilisoße für dich mitgegeben. Sie weiß, dass du für dein Leben gern Chilis isst, und hat die Soße extra für dich gemacht. Ich bringe sie dir morgen mit.«

Ich habe nur eine ältere Schwester. Sie ist zehn Jahre älter als ich und hat mich von klein auf sehr verwöhnt. Den ganzen Tag trug sie mich auf den Schultern umher, bis sie mit fünfzehn Jahren anfing, in einer Traktorenwerkstatt in Jiucheng als Dreherin zu arbeiten. Als ich aufs Land verschickt wurde, hatte sie schon zwei Kinder zur Welt gebracht. Ihr Leben war so strapaziös und noch dazu von ständiger Geldnot geprägt, dass sie damals fast schon wie eine ältere Frau aussah.

Als ich mich für einen Ort auf dem Land entscheiden sollte, wählte ich Jiucheng, um meiner Schwester nahe zu sein. »Dann kann sich deine große Schwester ein bisschen um dich kümmern«, hatten mir meine Eltern vorher zugeredet. Yan Zhe kam mit mir. Kaum war ich auf der Farm eingetroffen, legte meine Schwester fast dreiundzwanzig Kilometer mit dem Fahrrad zurück, um mich zu besuchen. Wir hatten gerade Erntezeit, und die Plackerei erreichte ihren Höhepunkt. Meiner Schwester fiel sofort auf, dass meine Haut überall da, wo meine Glieder aus den Ärmeln und Hosenbeinen hervorlugten, von der Sonne rotbraun gebrannt war und von der weißen Haut darüber abstach. Und als sie dann auch noch das Süßkartoffelbrötchen bemerkte, das ich an das Kopfende meines Bettes gelegt hatte und nicht wegwerfen wollte, obwohl es schon grün schimmelte, da schossen ihr die Tränen in die Augen.

Viel konnte sie zwar nicht für mich tun, doch wann immer ich auf dem Weg in unsere Heimatstadt bei ihr vorbeikam, kaufte sie ein ganzes Pfund Eier und briet mir eine Schüssel voll Rührei. Mein wortkarger Schwager nahm meine beiden kleinen Neffen dann stets zum Spielen nach draußen. Den Grund dafür begriff ich erst später: Die Eltern hatten Angst, dass die Kleinen mein Essen mit den Augen verschlingen würden, denn so eine große Schüssel Rührei bekamen sie selbst nie vorgesetzt.

So ausgehungert, wie ich immer war, verschmauste ich das Rührei, als wäre es ein wahres Festmahl. Auch Yan Zhe nahm ich einmal zu meiner Schwester mit. Prompt briet sie nur für ihn noch eine zweite Schüssel Rührei. Als ich ihm aber nun von der Chilisoße erzählte, die sie angeblich eigens für ihn gekocht hatte, grinste er nur wortlos in sich hinein, und ich las etwas Abschätziges aus seiner Miene.

»Was grinst du denn so?«, stellte ich ihn zur Rede. »Ich weiß, dass du etwas gegen meine Schwester hast – du bist ja nur ein Mal mit mir mitgekommen und dann nie wieder. Du bist so undankbar! Sie hat dich so großzügig bewirtet! Hast du dich an dem Rührei überfressen oder was?«

Von meinen Vorwürfen in Bedrängnis gebracht, gab er endlich zu:

»Deine Schwester hat mich wirklich gut behandelt, aber ich konnte spüren, dass sie es nicht gutheißt, dass wir beide zusammen sind. Deshalb hat sie diese Chilisoße auch bestimmt nicht extra für mich gemacht, da musst du mir gar nichts vorflunkern.«

Er hatte recht: Meine Schwester hatte sich einmal lange unter vier Augen mit mir unterhalten und dabei nachdrücklich auf mich eingeredet, ich solle mit ihm Schluss machen. Gegen ihn selbst hatte sie gar nichts einzuwenden, sie missbilligte nur seinen familiären Hintergrund: Er komme aus politisch und finanziell allzu schlechten Verhältnissen, so erklärte sie mir bekümmert. Von dieser Bürde würde ich mich mein Leben lang nicht befreien können.

»Ein armes Ehepaar hat nichts als Sorgen. Denk an meine Worte, sonst bereust du es eines Tages!«

Trotzdem war es mir ein Rätsel, woraus Yan Zhe ihre Ablehnung herausgelesen hatte. Bei seinem Besuch hatte sie sich jedenfalls nichts anmerken lassen.

Ich versuchte damals erst gar nicht, sie eines Besseren zu belehren, und änderte nichts an meiner Beziehung zu Yan Zhe. Stattdessen bat ich meine Schwester um die Flasche Chilisoße, ohne ihr zu sagen, für wen sie gedacht war. Allerdings konnte sie es sich sicher auch selbst denken, schließlich esse ich nicht gern scharf. Tatsächlich wollte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Meine Schwester sollte ruhig wissen, wie ich zu meinem Freund stand, und gleichzeitig wollte ich sie und ihn ein Stückchen näher zusammenbringen. Dass er meinen Plan so prompt durchschaut hatte, quittierte ich nur mit einem Lächeln und gab mir keine Mühe, es abzustreiten. Den Kopf an seine Schulter gelehnt, betrachtete ich schweigend die Wolken, die am vollen Mond vorüberzogen. Da verstummte auch er und folgte meinem Blick.

»Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?«, beendete ich nach einer Weile die Stille.

»Na klar. An dem Tag war ich gerade mit meinen Eltern aus Peking in unsere alte Heimat zurückgezogen. Du hast mit Zhuang Xuexu in unserem Hof gehockt und ein Ameisennest ausgegraben. Ich glaube, du warst damals noch keine sechs Jahre alt. Du warst dunkel und schmächtig, ein richtiges hässliches Entlein. Wer hätte gedacht, dass dieses Entlein sich mal in so einen Schwan verwandeln würde!«

»Ich bin doch kein Schwan!«, wehrte ich bescheiden ab. »Wenn es hochkommt, bin ich eine gewöhnliche Ente. Weißt du eigentlich, was ihr – ich meine: du und deine Eltern – für einen Eindruck auf mich gemacht habt, als ich euch das erste Mal gesehen habe?«

Er drehte sich zu mir und musterte mich aufmerksam. »Na?«

Lächelnd blickte ich zum nächtlichen Sternenhimmel empor und hüllte mich in Schweigen. Manche schönen Dinge bleiben besser ungesagt, selbst unter Menschen, die einander sehr nahestehen. Ich wollte den Eindruck, den ich damals gewonnen hatte, für immer in meinem Herzen hüten.

2.

DIE WISSENSCHAFT VON DEN AMEISEN

Yan Zhe entstammte einer der vier einflussreichsten alteingesessenen Familien von Beiyin. Zu ihrer Blütezeit besaß die Familie Yan rund tausend Mu, also an die siebzig Hektar Land. Nach der Gründung der Volksrepublik China wurde ihr ländlicher Grund- und Immobilienbesitz restlos beschlagnahmt. Ihre städtischen Immobilien dagegen galten als Betriebsvermögen und hätten den offiziellen politischen Leitlinien zufolge eigentlich im Familienbesitz verbleiben sollen. Tatsächlich jedoch verloren die Yans auch den Großteil dieses Besitzes: Ihre Häuser wurden ohne jede Entschädigung von diversen kleineren staatlichen Organisationen wie der lokalen Ein- und Verkaufsgenossenschaft, der Kreditgenossenschaft und dem Büro des Nachbarschaftskomitees in Beschlag genommen. Faktisch wurden also auch diese Besitztümer konfisziert. Am Ende blieb den Yans nichts als ein großer Hof am Stadtrand, den die Familie ursprünglich einmal als Maulbeergarten genutzt hatte: eine bis auf ein paar Strohhütten weitgehend unbebaute Fläche voller Maulbeerbäume, umgeben von einem niedrigen Lehmwall. Weil die Alten in der Familie bereits verstorben waren und die mittlere Generation sich größtenteils im Ausland niedergelassen hatte, hatte dieser Hof lange leer gestanden und sich in ein Paradies für uns spielende Nachbarskinder verwandelt.

Yan Zhes Vater Yan Fuzhi war in jungen Jahren zum Studium nach England gegangen und hatte sich als Entomologe in der internationalen Fachwelt einen Namen gemacht. Nach der Gründung der Volksrepublik China war er in sein Vaterland zurückgekehrt und hatte an einer renommierten Pekinger Universität eine Professur angetreten. Seine alte Heimatstadt hatte er in diesen Jahren kaum einmal besucht. 1957 jedoch, während der Kampagne gegen Rechtsabweichler, wurden einige seiner Äußerungen als »bösartige Attacken« auf die revolutionäre Gesinnung angeprangert: Man dürfe, so hatte er kritisiert, »nicht aufgrund von politischen Kriterien die Vererbungslehre von Mendel und Morgan unterdrücken«; die sowjetische Lehre von Mitschurin und Lyssenko sei »nichts als eine politische Missgeburt« und Lyssenko selbst »ein Scharlatan reinsten Wassers«. Mehr noch: »Eine Wissenschaft, der man die Freiheit genommen hat, wird ersticken.«

Diese Aussagen hätten eigentlich genügt, um ihn zum »Ultrarechten« abzustempeln. Glücklicherweise legte ein hoher Kader ein gutes Wort für ihn ein: Während des Koreakriegs habe sich Yan als Insektenkundler darum verdient gemacht, die bakteriologische Kriegsführung der amerikanischen Imperialisten aufzudecken. In der Folge wurde er nicht mehr als »rechtes Element« gebrandmarkt, sondern nur noch als »rechtes Objekt« und samt Familie in seine alte Heimat geschickt.

Nachdem er auf den verwaisten Hof zurückgekehrt war, erzählten mir die Erwachsenen in meinem Umfeld von seiner Einstufung als »rechtes Objekt«. Doch ich wurde aus diesem Ausdruck nicht schlau, gerade weil ich schon wusste, was das Wort »Objekt« normalerweise bedeutete: Wenn die »Rechten«, wie ich naturgemäß glaubte, Herrn Yan zu ihrem Ziel gemacht hatten, wer waren dann diese Rechten? Etwa seine Frau?

Nein, belehrten mich die Erwachsenen: Ein »rechtes Objekt« erfülle zwar eigentlich alle Voraussetzungen, um als Rechter zu gelten, aber die Regierung habe Milde mit ihm walten lassen und ihn deshalb nicht zum »rechten Element« erklärt. Und Tante Yuan, die Frau von Onkel Yan, sei weder ein rechtes Element noch ein rechtes Objekt, sondern nur von ihrem Mann in die Sache hineingezogen worden. Deshalb sei im Grunde sie das rechte Objekt.