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Im Jahr 1799, als die französische Armee im Krieg nach neuen Rekruten verlangt, greifen die Chouans in der Bretagne erneut zu den Waffen, um gegen die Republik zu kämpfen. Ein neuer Anführer mit dem Spitznamen “Le Gars” wird vom König ins Exil geschickt, um sie anzuführen. Er scheint besonders geschickt und gerissen zu sein, doch der Polizeiminister Fouché kennt seine Schwäche: seine Liebe zu schönen Frauen. Er wählt Marie de Verneuil, eine verführerische junge Frau, aus, um ihn zu bezirzen und dann verhaften zu lassen. Zwischen dem Anführer der Chouan und der jungen Republikanerin entsteht bald eine zerstörerische und verbotene Leidenschaft… Dies ist der erste von zwei Bänden.
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Seitenzahl: 302
Honoré de Balzac
Roman
Band Eins
DIE KÖNISGTREUEN wurde im französischen Original (Les Chouans) zuerst im Jahr 1829 veröffentlicht.
Diese Ausgabe in zwei Bänden wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2022
V 1.0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Band 1
ISBN 978-3-96130-538-4
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Inhaltsverzeichnis
Die Königstreuen. Band Eins
Impressum
Band Eins
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
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Zu guter Letzt
In den ersten Tagen des Jahres VIII, Anfang Vendémiaire, oder, um sich dem gegenwärtigen Kalender anzupassen, gegen Ende des Monats September 1799, erklommen etwa hundert Bauern und eine ziemlich beträchtliche Anzahl Bürger, die am Morgen von Fougères nach Mayenne aufgebrochen waren, den Berg La Pèlerine, der halbwegs zwischen Fougères und Ernée liegt, einer kleinen Stadt, wo die Reisenden gewöhnlich Absteigquartier zu nehmen pflegen.
Dieses in mehr oder weniger zahlreiche Gruppen getrennte Detachement bot eine Auswahl so wunderlicher Kostüme und einen Zusammenschluß so verschiedenartigen Ortschaften und Berufen angehöriger Individuen, daß es nicht überflüssig sein dürfte, ihre Unterschiedsmerkmale zu beschreiben, um dieser Geschichte die lebendigen Farben zu verleihen, denen man heutzutage so großen Wert beimißt, wiewohl sie, gewissen Kritikern zufolge, der Seelenschilderung Abtrag tun.
Einige von den Landleuten, die in der Mehrzahl waren, gingen barfuß und trugen als einziges Kleidungsstück ein großes Ziegenfell, das ihnen vom Hals bis zu den Knien reichte, sowie eine Hose aus ganz grobem weißen Leinen, deren schlecht geschorene Fäden dem Gewerbefleiß ihres Landes ein unrühmliches Zeugnis ausstellten. Die flachen Ringel ihrer langen Haare vermischten sich so ununterscheidbar mit den Haaren der Ziegenhaut und verdeckten ihre der Erde zugekehrten Gesichter so vollständig, daß man dieses Fell recht gut für das ihre halten und auf den ersten Blick die Bedauernswerten mit den Tieren verwechseln konnte, deren Bälge ihnen als Kleidung dienten. Durch diese Haare hindurch sah man indes alsbald ihre Augen blitzen wie Tautropfen in dichtem Gesträuch; und ihre Blicke, obwohl sie menschliche Klugheit spiegelten, konnten unzweifelhaft eher Schrecken als Wohlgefallen hervorrufen. Auf dem Kopf saß ihnen eine schmutzige Kappe aus roter Wolle, ähnlich jener phrygischen Mütze, die die Republik sich damals als Sinnbild der Freiheit zu eigen gemacht hatte. Alle trugen sie über der Schulter einen dicken eichenen Knotenstock, von dessen Ende ein langer, schlecht gefüllter Quersack aus Leinen herabbaumelte.
Andere hatten über ihrem Käppchen einen groben breitrandigen Filzhut, der rundherum mit einer Art wollener Schnur in allerlei Farben eingefaßt war. Diese letzten, ganz und gar in das gleiche Leinen gekleidet, aus dem die Hosen und Quersäcke der erstbeschriebenen gefertigt waren, wiesen in ihrem Anzuge fast nichts auf, das an die neue Zivilisation der Zeit erinnert hätte. Ihre langen Haare fielen auf den Koller eines runden, mit kleinen viereckigen Seitentaschen versehenen Wamses nieder, das nur bis zu den Hüften reichte, eines den Bauern des Westens eigentümlichen Kleidungsstücks. Unter diesem offenen Wamse gewahrte man eine Weste aus demselben Zeug, verziert mit dicken Knöpfen. Ein paar von ihnen gingen in Holzschuhen, während andere ihre Schuhe aus Sparsamkeit in der Hand hielten. Die geschichtliche Aufgabe dieses Kostüms, das durch langen Gebrauch abgenutzt, durch Schweiß und Staub gedunkelt und weniger eigenartig als das vorher beschriebene war, bestand darin, den Übergang zu bilden zu der fast prunkhaften Kleidung einzelner Männer, die, hie und da verstreut, gleich Blüten aus der Truppe hervorleuchteten.
In der Tat stachen ihre Hosen aus blauer Leinewand, ihre roten oder gelben Westen, die mit zwei nebeneinander herlaufenden Reihen kupferner Knöpfe verziert waren und einem viereckigen Küraß ähnelten, ebenso grell von dem weißen Anzug und den Fellen ihrer Kameraden ab, wie Kornblumen und Mohn von einem Roggenfelde. Einige von ihnen trugen jene Holzschuhe, die die Bauern der Bretagne selbst anfertigen; aber fast alle hatten dicke eisenbeschlagene Stiefel und Anzüge aus derbem Tuch, von dem Zuschnitt der alten französischen Anzüge, deren Form von unsern Landleuten noch treu bewahrt wird. Ihr Hemdkragen wurde durch silberne Knöpfe festgehalten, die Herzen oder Ankern nachgebildet waren. Und endlich erschienen ihre Quersäcke besser gespickt als die ihrer Gefährten; außerdem hatten manche von ihnen ihre Ausrüstung durch eine Kürbisflasche ergänzt, die jedenfalls Branntwein enthielt und an einer Schnur von ihrem Halse herabhing.
Einige Städter zeigten sich inmitten dieser halbwilden Mannschaft, gleichwie um die letzte Grenze der Zivilisation dieser Gegenden zu bezeichnen. Mit runden Hüten, Klapphüten oder Mützen bekleidet und mit Stulpstiefeln oder durch Gamaschen festgehaltenen Schuhen an den Füßen boten sie, wie die Bauern, beträchtliche Verschiedenheiten in ihrem Äußeren.
Etwa zehn von ihnen trugen die unter dem Namen der Carmagnole bekannte republikanische Weste. Andere, zweifellos reiche Handwerker, steckten vom Kopf bis zu den Füßen in gleichfarbenem Tuch. Die am gewähltesten Gekleideten zeichneten sich durch Fräcke oder Überröcke von mehr oder minder abgetragenem blauen oder grünen Zeuge aus. Diese Teufelskerle hatten Stiefel von verschiedener Form an und fuchtelten mit dicken Stöcken, wie Leute, die gute Miene zum bösen Spiel machen. Ein paar sorgfältig gepuderte Köpfe mit einigermaßen gut geflochtenen Haarzöpfen zeigten jene Art von Gepflegtheit, die uns den Beginn von Reichtum oder Erziehung verrät.
Wenn man alle diese Männer betrachtete, die, selbst erstaunt, sich beisammen zu finden, wie durch Zufall zueinander gekommen waren, hätte man sie für die durch eine Feuersbrunst vertriebenen Bewohner einer Ortschaft halten können. Aber Zeit und Ort gaben dieser Menschenschar einen ganz anderen Charakter.
Ein mit den inneren Zwistigkeiten, die Frankreich damals aufwühlten, vertrauter Beobachter hätte die kleine Anzahl von Bürgern leicht erkannt, auf deren Treue die Republik innerhalb dieser Truppe zählen durfte, einer Truppe, die fast ganz aus Leuten bestand, welche vor vier Jahren im Kriege gegen sie gelegen hatten.
Noch ein letzter hervorspringender Zug ließ keinerlei Zweifel über die geteilten Ansichten dieses Detachements. Einzig die Republikaner marschierten mit einer Art von Munterkeit. Was die anderen Mitglieder betraf, so zeigten sie, wenn auch ihre Kleidung merkliche Unterschiede aufwies, doch in Gesicht und Haltung jenen gleichförmigen Ausdruck, den das Unglück verleiht: Bürger und Bauern, alle trugen den Stempel tiefen Trübsinns. Ihr Schweigen hatte etwas Grimmiges, und sie schienen unter das Joch eines einzigen, gleichen Gedankens gebannt, der, ohne Zweifel schrecklicher Natur, von ihnen sorgsam verborgen gehalten wurde, denn ihre Mienen waren undurchdringlich. Nur die außergewöhnliche Langsamkeit ihrer Fortbewegung verriet geheime Erwägungen.
Einige von ihnen, die sich durch einen vom Halse hernieder hängenden Rosenkranz auszeichneten (trotz der Gefahr, die sie durch die Beibehaltung dieses Zeichens einer allerdings mehr unterdrückten als beseitigten Religion liefen), schüttelten von Zeit zu Zeit das Haar zurück und hoben argwöhnisch den Kopf. Dann ließen sie die Blicke ebenso aufmerksam wie verstohlen über die Wälder, Pfade und Felsen hingleiten, welche die Straße umschlossen, mit dem Gebaren eines Hundes, der, die Nase unter dem Wind, das Wild aufzuspüren sucht; wenn sie dann nichts als das eintönige Geräusch der Schritte ihrer schweigenden Gefährten vernahmen, senkten sie von neuem die Köpfe und nahmen wieder ihre verzweifelte Haltung an, Verbrechern vergleichbar, die ins Zuchthaus geführt werden, um dort zu leben und zu sterben.
Der Marsch dieser nach Mayenne bestimmten Kolonne, die entgegengesetzten Elemente, aus der sie bestand, und die verschiedenartigen Empfindungen, die sie ausdrückte, das alles erklärte sich ziemlich natürlich durch die Anwesenheit einer anderen, die Spitze des Zuges bildenden Truppe.
Etwa fünfhundert Soldaten marschierten ihr, mit Waffen und Bagage, unter dem Kommando eines Halbbrigadeführers voran. Es ist nicht überflüssig, für diejenigen, welche dem Drama der Revolution nicht beigewohnt haben, hier anzumerken, daß diese Bezeichnung den durch die Patrioten als zu aristokratisch verpönten Titel eines Obersten ersetzte.
Diese Soldaten gehörten einer in Mayenne einquartierten Infanterie-Halbbrigade an. In jener Zeit der Unruhen wurden von den Bewohnern des Westens alle Soldaten der Republik »Blaue« genannt. Dieser Beiname stammte von den ersten, blau und roten Uniformen, an die die Erinnerung noch so frisch ist, daß ihre Beschreibung sich erübrigt. Die Truppe der Blauen diente demnach als Eskorte für dieses Aufgebot von Männern, die fast sämtlich gegen ihren Willen nach Mayenne marschieren mußten, wo ihnen die militärische Zucht alsbald den gleichen Geist, die gleiche Uniform und die Gleichförmigkeit des Gebarens geben sollte, die ihnen jetzt noch so vollkommen mangelten.
Die Kolonne war das mühsam zusammengebrachte Kontingent aus dem Bezirk von Fougères, das dieser für das Aufgebot zu stellen hatte, welches das Exekutivdirektorium der Französischen Republik durch Gesetz vom letztvergangenen 10. Messidor befohlen hatte. Die Regierung hatte hundert Millionen und fünftausend Mann verlangt, um ihren Armeen rasch Hilfstruppen senden zu können, nachdem sie von den Österreichern in Italien, von den Preußen in Deutschland geschlagen waren und in der Schweiz durch die Russen bedroht wurden, denen Suwarow Hoffnung auf die Eroberung Frankreichs machte.
Die Départements des Westens, unter dem Namen der Vendée bekannt, die Bretagne und ein Teil der unteren Normandie, die dank den Mühen des Generals Hoche nach vierjähriger Fehde seit drei Jahren zur Ruhe gekommen waren, schienen diesen Augenblick erfaßt zu haben, um den Kampf von neuem aufzunehmen.
Angesichts so vieler Angriffe fand die Republik ihre ursprüngliche Tatkraft wieder. Sie hatte sich zunächst mit der Verteidigung der angegriffenen Départements beschäftigt, indem sie die Sorge dafür den patriotischen Einwohnern durch einen der Artikel des Gesetzes übertrug. Auf diese Weise entzog sich die Regierung, die weder über Truppen noch über Geldmittel für das Innere des Landes verfügte, den Schwierigkeiten durch eine gesetzliche Spiegelfechterei: da sie den vom Aufstand bedrohten Provinzen nichts zu schicken vermochte, schenkte sie ihnen ihr Vertrauen. Vielleicht auch, daß sie hoffte, durch diese Maßnahme, indem sie nämlich die Bürger gegeneinander bewaffnete, den Aufstand im Keime zu ersticken.
Der erwähnte Artikel, die Quelle furchtbarer Vergeltungsmaßregeln, war folgendermaßen abgefaßt: In den Départements des Westens werden freie Kompagnien gebildet.
Diese unpolitische Verfügung veranlaßte den Westen, eine so feindselige Haltung einzunehmen, daß das Direktorium daran verzweifelte, auf den ersten Anhieb darüber Herr zu werden. Deshalb verlangte es wenige Tage danach von der Gesetzgebenden Versammlung Maßregeln hinsichtlich der leichten Kontingente, die kraft des Artikels über die freien Kompagnien aufzustellen waren.
So befahl denn ein neues Gesetz, das wenige Tage vor dem Beginn dieser Geschichte öffentlich bekanntgemacht wurde und am dritten Ergänzungstage des Jahres VII durchgegangen war, diese schwachen Aufgebote in Legionen zu organisieren. Die Legionen sollten die Namen der Départements Sarthe, Orne, Mayenne, Ille-et-Vilaine, Morbihan, Loire-Inférieure und Maine-et-Loire tragen. Diese in erster Linie für die Bekämpfung der Chouans bestimmten Legionen dürften – so sagte das Gesetz – unter keinen Umständen an die Grenzen verschickt werden.
All diese langweiligen, aber unbekannten Einzelheiten erklären den Zustand der Schwäche, in dem sich das Direktorium befand, und den Marsch dieses von den Blauen angeführten Männertrupps. Es ist im übrigen vielleicht nicht überflüssig, anzuführen, daß die schönen patriotischen Erlasse des Direktoriums niemals eine andere Ausführung als ihre Bekanntmachung im Gesetzblatt erlebten. Nachdem sie nicht mehr durch große sittliche Ideen, durch Patriotismus oder Schreckensherrschaft gestützt waren, die sie früher einmal ausführbar gemacht hatten, schufen die Dekrete der Republik Millionen und Soldaten, von denen nichts in den Staatssäckel oder in die Armee floß. Die Triebfeder der Revolution hatte sich in ungeschickten Händen abgenutzt, und die Gesetze erfuhren in ihrer Anwendung den Stempel der Zeitverhältnisse, anstatt diese zu beherrschen.
Die Departements Mayenne und Ille-et-Vilaine wurden damals von einem alten Offizier befehligt, der, gewohnt, seine Maßregeln je nach der Gunst der Umstände zu ergreifen, versuchen wollte, der Bretagne ihre Kontingente abzuzwingen, vor allem das von Fougères, einem der bedenklichsten Herde der Chouannerie. Auf solche Art hoffte er, die Stoßkraft dieser bedrohlichen Gebiete abzuschwächen.
Er bediente sich der illusorischen Verfügung der Regierung, um zu bekräftigen, daß er auf der Stelle die Ausgehobenen bewaffnen und ausrüsten werde und daß er auf einen Monat den Sold für sie bereithalte, den die Regierung diesen Ausnahmetruppen zugebilligt hatte.
Obwohl die Bretagne sich damals jeder Art von Militärdienst widersetzte, gelang das Unternehmen anfangs auf Grund jener Versprechungen und des unverdrossenen Eifers, mit dem dieser Offizier sich seiner annahm. Aber er glich auch einem schwer zu überraschenden Wächterhund; sobald er einen Teil des Kontingents im Bezirk zusammenlaufen sah, argwöhnte er einen geheimen Beweggrund für diese rasche Zusammenrottung von Männern, und vielleicht riet er nicht falsch, wenn er glaubte, sie wollten nur Waffen an sich bringen. Ohne auf die Säumigen zu warten, ergriff er sogleich Maßnahmen, um seinen Rückzug nach Alençon zu bewerkstelligen, das heißt, sich den unterworfenen Landgebieten zu nähern.
Indes machte die wachsende Insurrektion dieser Gegenden den Erfolg des Unternehmens recht zweifelhaft. Dennoch hatte dieser Offizier, der, seinen Instruktionen gemäß, tiefstes Stillschweigen über die Mißerfolge unserer Armeen sowie über die wenig vertrauenerweckenden Nachrichten aus der Vendée bewahrte, an dem Morgen, an dem unsere Geschichte einsetzt, versucht, durch einen Eilmarsch nach Mayenne zu gelangen, wo er sich wohl versprach, das Gesetz kraft seines guten Willens durchzuführen, indem er die Reihen seiner Halbbrigade durch seine bretonischen Rekruten auffüllte.
Dieses späterhin so berühmt gewordene Wort »Rekrut« vertrat damals in den Gesetzen zum ersten Male die zuvor für den republikanischen Söldner gebräuchliche Bezeichnung »Ausgehobener«.
Bevor er von Fougères aufbrach, hatte der Kommandant seine Soldaten heimlich angewiesen, Kartätschenpatronen sowie die für alle seine Leute erforderlichen Brotrationen mitzunehmen, um nicht wegen der Länge der Marschroute die Aufmerksamkeit der Rekruten zu erwecken; und er rechnete wohl damit, sich nicht in der Etappe Ernée aufzuhalten, wo die Männer des Kontingents, die sich inzwischen von ihrer Überraschung erholt haben würden, mit den im benachbarten Gelände unzweifelhaft sehr zahlreich vorhandenen Chouans sich hätten verständigen können.
Das düstere Schweigen, das in den Reihen der von dem Manöver des alten Republikaners überrumpelten Rekruten herrschte, und die Langsamkeit ihrer Fortbewegung den Berg hinauf erregten aufs höchste das Mißtrauen unseres Halbbrigadeführers, der Hulot hieß; die hervorstechendsten Züge der vorangegangenen Beschreibung waren für ihn vom lebhaftesten Interesse; und daher marschierte er stillschweigend inmitten von fünf jungen Offizieren, die sämtlich die Nachdenklichkeit ihres Führers respektierten. Im Augenblick jedoch, wo Hulot auf dem Gipfel der Pèlerine anlangte, wandte er plötzlich den Kopf gleichsam instinktmäßig, um die unruhigen Gesichter der Ausgehobenen zu betrachten, und brach sein Schweigen.
Tatsächlich hatte die stetige Verlangsamung des Schrittes bereits eine Entfernung von ungefähr zweihundert Schritt zwischen die Bretonen und ihre Eskorte gelegt.
»Was zum Teufel haben nur all diese Laffen?« rief er mit tiefer Stimme. »Unsere Rekruten laufen hinterdrein anstatt voran, will mir scheinen.«
Bei diesen Worten drehten sich die begleitenden Offiziere mit einer spontanen Bewegung um, die etwa dem durch plötzlichen Lärm verursachten Emporschnellen aus dem Schlafe vergleichbar war. Die Sergeanten und Korporale machten es ihnen nach, und die Kompagnie hielt an, ohne doch das willkommene Wort: Halt! vernommen zu haben.
Wenn die Offiziere zunächst einen Blick auf die Truppenabteilung geworfen hatten, die, einer langen Schnecke ähnlich, die Pèlerine hinankroch, so wurden diese jungen Leute, die die Vaterlandsverteidigung gleich so vielen anderen ihren hohen Studien entrissen und in denen der Krieg das künstlerische Gefühl noch nicht ertötet hatte, durch das Schauspiel vor ihren Augen alsbald derart gefesselt, daß sie nichts erwiderten auf eine Bemerkung, deren Bedeutung sie nicht verstanden.
Obwohl sie von Fougères kamen, wo das vor ihnen stehende Bild gleichfalls zu sehen war, wenn auch durch die Andersartigkeit der Perspektive verändert, konnten sie doch nicht umhin, es ein letztes Mal zu bewundern, ähnlich jenen Kunstfreunden, denen ein Musikstück um so mehr Genuß bereitet, je genauer sie seine Einzelheiten kennen.
Von dem Kamm der Pèlerine erscheint vor dem Auge des Wanderers das große Tal von Couësnon, an dessen einem Hauptpunkte die Stadt Fougères sich vom Horizont abhebt. Ihr Schloß beherrscht von der Höhe des Felsens, auf dem es erbaut ist, drei oder vier wichtige Straßen, eine Lage, die es ehemals zu einem der Schlüssel der Bretagne machte.
Von hier aus überschauten die Offiziere das durch die üppige Fruchtbarkeit seines Bodens ebenso wie durch die Mannigfaltigkeit seiner Aussichten bemerkenswerte Talbecken in seiner ganzen Ausdehnung. Von allen Seiten erheben sich, amphitheatralisch ansteigend, die Schieferberge; sie verstecken ihre rötlichen Flanken unter Eichenwäldern und verbergen in ihren Abhängen Täler voller Waldesfrische. Diese Felsen beschreiben einen weiten, runden Gürtel, in dessen Innerem sich in sanfter Milde eine riesige grasige Ebene ausdehnt, die wie ein englischer Garten gezeichnet ist. Die Vielzahl der lebenden Hecken, die die unregelmäßig geformten und zahlreichen, mit Bäumen bestandenen Erbgüter umziehen, verleiht diesem grünenden Teppich unter den Landschaften Frankreichs ein ungewöhnliches Aussehen und umschließt gesegnete Herrlichkeiten, die in der Wirkung ihrer mannigfaltigen Gegensätze wohl dazu angetan sind, auch die kälteste Seele zu ergreifen.
In diesem Augenblick war das Bild der Landschaft von dem flüchtigen Glanze belebt, durch welchen die Natur ihre unvergänglichen Schöpfungen zuweilen noch zu erhöhen liebt. Während die Truppe das Tal durchquerte, hatte die aufgehende Sonne allmählich die leichten weißen Dämpfe zerstreut, die an frühen Septembermorgen über den Wiesen lagern. Just während die Soldaten sich umdrehten, schien eine unsichtbare Hand der Landschaft den letzten der Schleier wegzuziehen, mit denen sie sie verhüllt hatte, feine Wetterwolken, durchsichtigem Gazestoff vergleichbar, wie er kostbare Dinge zu bedecken pflegt, und durch den hindurch sie die Neugierde erregen.
Innerhalb des weiten Horizontes, den die Blicke der Offiziere umspannten, bot der Himmel nicht die leichteste Wolke dar, die durch ihre Silberklarheit bezeugt hätte, dieses unendliche blaue Gewölbe sei das Firmament. Er war vielmehr wie ein seidener Baldachin, getragen von den verschiedenen Bergesgipfeln, und in die Lüfte gesetzt, um eine so herrliche Vereinigung von Wiesen, Feldern, Bächen und Hainen zu beschirmen.
Die Offiziere wurden es nicht müde, diesen weiten Raum zu überblicken, in dem so viele ländliche Schönheit gesammelt lag. Die einen wählten lange, bevor sie ihre Blicke auf der erstaunlichen Fülle der Baumgruppen ruhen ließen, die die strenge Färbung einiger gelber Sträucher um bronzene Töne bereicherte und die das Smaragdgrün der unregelmäßig hineinschneidenden Wiesen noch mehr hervorhob. Andere wurden durch die Kontraste gefesselt, die von den rötlichbraunen Feldern ausgingen, auf denen sich der geschnittene Buchweizen in kegelförmigen Garben erhob, an die Gewehrpyramiden erinnernd, die der Soldat im Feldlager aufstellt, während andere Felder durch die Stoppeln des geernteten Roggens wie vergoldet erschienen. Da und dort der dunkle Schiefer einiger Dächer, denen weiße Rauchwolken entstiegen; dann wieder zogen die lebhaften silbrigen Einschnitte der gewundenen Nebenbäche des Couësnon das Auge kraft jener trügerischen optischen Wirkungen auf sich, die, ohne daß man zu sagen wüßte, warum, die Seele ungewiß und träumerisch machen.
Die würzige Frische der Herbstwinde, der starke Waldesduft erhoben sich wie eine Weihrauchwolke und berauschten die Bewunderer dieses schönen Landes, die voll Entzücken seine unbekannten Blumen, seinen kräftigen Pflanzenwuchs, sein Grün betrachteten, das es wohl mit dem Englands aufnehmen kann, seines Nachbarlandes, mit dem es den Namen gemein hat.
Einige Rinder belebten diese schon so dramatische Szene. Die Vögel sangen und ließen damit das Tal in einer sanften, gedämpften Melodie erklingen, die in den Lüften nachzitterte.
Wenn auch die gesammelte Einbildungskraft sich den reichen Wechsel von Schatten und Licht vorstellen könnte, die dunstigen Umrisse der Berge, die phantastischen Durchblicke an Stellen, wo der Baumwuchs fehlte, wo Gewässer sich ausbreiteten, wo gefällige Wegkrümmungen dahineilten; wenn die Erinnerung sozusagen diesem Bilde Farben verleiht, das ebenso flüchtig ist, wie der Moment, in dem es aufgefangen wird, so werden diejenigen, die für solche Schauspiele empfänglich genug sind, doch nur einen unvollkommenen Begriff des zauberhaften Anblickes haben können, durch welchen die noch eindrucksfähige Seele der jungen Offiziere überwältigt wurde.
Als sie sich daher jetzt sagten, daß diese armen Leute ungern ihr Land und ihre liebgewordenen Sitten verließen, um auf fremder Erde vielleicht zu sterben, verziehen sie ihnen unwillkürlich ein Zögern, das sie verstanden. Und mit jener den Soldaten natürlichen Großmut verbargen sie ihr Zugeständnis unter dem angeblichen Wunsche, die militärischen Punkte dieser schönen Gegend in Augenschein zu nehmen.
Doch Hulot, den wir von nun an den Kommandanten nennen wollen, um die wenig wohllautende Bezeichnung Halbbrigadeführer zu umgehen, war einer jener Militärs, die in unmittelbar drohender Gefahr nicht geneigt sind, sich von den Reizen einer Landschaft gefangennehmen zu lassen, und sei sie ein Paradies auf Erden. Er schüttelte also den Kopf mit verneinender Gebärde und zog seine dichten schwarzen Augenbrauen zusammen, die seinem Gesicht einen strengen Ausdruck gaben.
»Warum zum Teufel kommen sie nicht?« fragte er zum zweiten Male mit seiner im Kriegesdrangsal grob gewordenen Stimme. »Ist vielleicht in dem Dorfe irgendeine Muttergottes, der sie erst noch die Hand schütteln wollen?«
»Du fragst, warum?« antwortete eine Stimme.
Als der Kommandeur Töne vernahm, die von dem Horne zu stammen schienen, mit dem die Landleute jener Täler ihre Herden zu sammeln pflegen, drehte er sich so ungestüm um, als habe ihn die Spitze eines Degens berührt, und erblickte zwei Schritte weit entfernt eine Persönlichkeit von noch viel wunderlicherem Aussehen als alle jene, die nach Mayenne geführt wurden, um der Republik zu dienen.
Der Unbekannte, ein untersetzter, breitschultriger Mensch, wandte ihm einen Kopf zu, der fast so dick war wie der eines Ochsen, mit dem er mehr als eine Ähnlichkeit aufwies. Weite Nasenlöcher ließen seine Nase noch kürzer erscheinen, als sie ohnehin schon war. Seine breiten, durch schneeweiße Zähne aufgeworfenen Lippen, seine großen, runden schwarzen Augen, die von dräuenden Brauen beschattet waren, seine hängenden Ohren und roten Haare gehörten weniger unserer schönen kaukasischen Rasse an als der Gattung der Pflanzenfresser, und das völlige Fehlen der übrigen Kennzeichen des bürgerlichen Menschen machte diesen kahlen Kopf noch merkwürdiger.
Das von der Sonne wie bronzierte Gesicht, dessen eckige Konturen eine leise Ähnlichkeit mit dem Granit zeigten, der den Boden dieser Gegenden bildet, war der einzige sichtbare Teil des Körpers dieses seltsamen Wesens. Vom Halse ab war es in einen Kittel gehüllt, eine Art von Bluse aus rotem Leinen, noch gröber als das Hosenzeug der ärmlichsten unter den Rekruten.
Dieser Kittel, in dem ein Altertumskenner die Saye (saga) oder den Saxon der Gallier erkannt haben würde, ging bis zur Mitte des Körpers und war durch grobbearbeitete Holzstücke, von denen einige noch berindet waren, an zwei engen Röhren aus Ziegenpelz befestigt. Die Kitzhäute, um sich der Landessprache zu bedienen, die ihm Lenden und Beine einhüllten, ließen keine menschliche Form darunter erkennen. Riesige Holzschuhe verbargen seine Füße. Seine langen, glänzenden Haare, die denen seiner Ziegenhäute ähnelten, fielen in zwei gleichen Teilen zu beiden Seiten seines Gesichtes nieder und glichen der Haartracht jener mittelalterlichen Statuen, wie man sie in manchen Domen noch sieht.
An Stelle des Knotenstockes, den die Rekruten über der Achsel trugen, hielt er, wie ein Gewehr an die Brust gedrückt, eine kräftige Peitsche, deren geschickt geflochtene Riemen doppelt so lang zu sein schienen wie die gewöhnlicher Peitschen.
Das plötzliche Auftauchen dieses sonderbaren Wesens schien sich leicht erklären zu lassen. Auf den ersten Blick vermuteten einige der Offiziere, der Unbekannte sei ein Ausgehobener oder Rekrut (man brauchte noch den einen Ausdruck für den anderen), der sich zu der Kolonne zurückwendete, als er sie haltmachen sah. Nichtsdestoweniger setzte das Erscheinen des Mannes den Kommandanten in außergewöhnliches Erstaunen; wenn er sich auch nicht im geringsten davon einschüchtern zu lassen schien, wurde seine Stirn dennoch sorgenvoll; und nachdem er den Fremden genau gemustert, wiederholte er mechanisch und wie wenn düstere Gedanken ihn beschäftigten:
»Ja, warum kommen sie nicht? Weißt du es denn?«
»Weil,« antwortete der fremde Sprecher mit einer Aussprache, die verriet, daß es ihn mühsam genug ankam, Französisch zu reden, »weil dort«, er streckte seine grobe, breite Hand nach Ernée zu aus, »Maine liegt und weil dort die Bretagne zu Ende ist.«
Hierauf schlug er kräftig auf den Boden, indem er seinen schweren Peitschenstiel dem Kommandanten vor die Füße klatschte. Der Eindruck, den die Feierlichkeit der Zurechtweisung des Unbekannten auf die Zuhörer dieser Szene hervorbrachte, war nicht unähnlich dem, den ein Tamtamschlag inmitten eines Musikstückes verursachen würde. Das Wort Zurechtweisung genügt kaum, um den Haß, die Rachegelüste wiederzugeben, die in der hochmütigen Bewegung, Kurzangebundenheit, der von wilder, kalter Energie erfüllten Haltung lagen. Die Grobheit dieses wie mit der Axt zugehauenen Mannes, sein rauhes Äußeres, die stumpfe Unwissenheit, die seinen Zügen aufgeprägt war, all das machte ihn zu einer Art von barbarischem Halbgott. Er nahm eine prophetische Haltung ein, so daß er an dieser Stelle wie der Geist der Bretagne selbst erschien, der sich nach einem Schlummer von drei Jahren erhob, um einen Krieg wieder aufzunehmen, nach dem selbst der Sieg nichts als Trauer bringen konnte.
»Das ist ja ein sauberer Patron«, brummte Hulot. »Er kommt mir vor wie der Abgesandte von Leuten, die willens sind, mit Gewehrfeuer zu parlamentieren.«
Nachdem er diese Worte zwischen den Zähnen hervorgestoßen, ließ der Kommandant seinen Blick der Reihe nach von diesem Menschen über die Landschaft schweifen, von der Landschaft über die Truppe, von der Truppe über die jähen Abdachungen der Straße, deren Kämme von hohem bretonischen Ginster beschattet waren; zum Schluß heftete er ihn wieder ganz plötzlich auf den Unbekannten, indem er ihn gleichsam einem stummen Verhör unterzog, an dessen Schluß er die unvermittelte Frage setzte:
»Wo bist du her?« Sein gespanntes und durchbohrendes Auge suchte die Geheimnisse dieses undurchdringlichen Gesichtes zu erforschen, das mittlerweile den blöden Ausdruck des Stumpfsinns angenommen hatte, wie ihn der Bauer in Stunden der Ruhe zu tragen liebt.
»Aus dem Lande der Gars,« antwortete der Mann, ohne sich im geringsten erschrocken zu zeigen.
»Dein Name?«
»Marche-à-terre.«
»Warum führst du dem Gesetz zum Trotz den Beinamen eines Chouans?«
Marche-à-terre, um ihn bei dem Namen zu nennen, den er sich gab, betrachtete den Kommandanten mit so echt zur Schau getragener Blödigkeit, daß der Offizier glaubte, er sei nicht verstanden worden.
»Gehörst du zum Aufgebot von Fougerès?«
Auf diese Frage antwortete Marche-à-terre durch ein »Ich weiß nicht«, dessen trostloser Tonfall jede weitere Unterhaltung abschnitt. Er setzte sich ruhig an den Rand des Weges, zog aus seinem Kittel ein paar dünne, schwärzliche Buchweizenfladen hervor, jenes Nationalgebäck, dem nur der Bretone einen armseligen Genuß abzugewinnen vermag, und begann in stumpfer Teilnahmlosigkeit zu essen, wobei er ein so unbedingt überzeugendes Bild gänzlicher Vernunftlosigkeit verkörperte, daß die Offiziere, die ihn so vor sich sahen, ihn bald mit einem der Tiere verglichen, die dort die fetten Weiden des Tales abgrasten, bald mit den Wilden Amerikas oder mit einem Eingeborenen vom Kap der Guten Hoffnung.
Durch dieses Gebaren getäuscht, begann selbst der Kommandant schon seine Beunruhigung zu vergessen, als er bei einem letzten Blick der Vorsicht auf den Mann, den er als den Herold eines bevorstehenden Gemetzels im Verdacht hatte, wahrnahm, daß seine Haare, sein Kittel, seine Ziegenfelle voller Tannennadeln, Blätter, kleiner Reiser und Dornen hingen, wie wenn der Chouan einen langen Weg durch dichtes Gestrüpp hinter sich hätte. Er warf dem neben ihm stehenden Leutnant Gérard einen bedeutsamen Blick zu, packte ihn heftig an der Hand und sagte leise zu ihm:
»Wir sind Wolle holen gegangen, aber wir werden geschoren zurückkehren.«
Schweigend blickten die erstaunten Offiziere einander an.
Die soeben beschriebene Szene wird verständlicher werden durch eine kurze Abschweifung, die hier am Platze ist, um eine gewisse Art von Nörglern davon zu überzeugen, daß Hulots Befürchtungen nicht ohne Grund waren, Leute, die gern alles anzweifeln, weil sie nichts sehen, und die auch die Existenz Marche-à-terres und der westfranzösischen Bauern mit ihrem damals so prachtvollen Verhalten in Abrede stellen könnten.
Von ganz Frankreich ist die Bretagne derjenige Landstrich, wo die altgallischen Gebräuche die stärksten Spuren zurückgelassen haben. Und die Teile der Provinz, in denen noch heutzutage die ungezügelte Lebensweise, der abergläubische Geist unserer rohen Vorfahren ungeschmälert zu finden sind, heißen das Land der Gars (Buben). Wird ein Bezirk von vielen solcher Wilden bewohnt, die dem soeben in unserer Erzählung aufgetretenen ähneln, so sagen die Leute der Umgegend: die Gars aus dem und dem Kirchspiel.
Dieser klassische Name ist wie eine Belohnung für die Treue, mit der sie sich bemühen, die Überlieferungen der gälischen Sprache und der gälischen Sitten zu bewahren. So trägt ihr Leben tiefe Spuren des Volksglaubens und der abergläubischen Gebräuche der alten Zeiten. Dort werden die Lehenssitten noch hochgehalten. Dort findet der Altertumsforscher noch aufrechtstehende Druidensteine. Dort schreckt der Geist der modernen Zivilisation davor zurück, ungeheure Urwälder zu durchdringen. Unglaubliche Wildheit, roher Starrsinn, aber auch Eidestreue; vollständiges Fehlen unserer Gesetze, unserer Sitten, unserer Kleidung, unserer Münzarten, unserer Sprache ebensogut wie patriarchalische Einfachheit und heroische Tugenden tragen dazu bei, daß die Bewohner dieser Landstriche ärmer an geistigen Kräften sind als die Mohikaner und Rothäute Südamerikas. Die Stelle der Bretagne im Herzen Europas macht sie zu einem viel merkwürdigeren Gegenstand der Betrachtung, als etwa Kanada ist. Von Lichtstrahlen umflossen, deren wohltuende Wärme es nicht erreicht, ähnelt dieses Land einer erkalteten Kohle, die dunkel und schwarz in der Glut eines Feuerherdes liegt.
Die Versuche einiger wohlmeinender Geister, diesen schönen, an ungekannten Schätzen so reichen Teil Frankreichs der bürgerlichen Gesellschaft und einem gedeihlichen Fortkommen zu erschließen, scheitern ebenso wie die Anstrengungen der Regierung angesichts der Reglosigkeit einer Bevölkerung, ie sich völlig den Gebräuchen eines unvordenklichen Herkommens hingibt.
Dieses Unglück erklärt sich hinreichend aus der Natur eines noch von Schluchten, Gießbächen, Seen und Morästen durchfurchten Erdbodens; eines Bodens, der, von Erdbastionen ähnelnden Einzäunungen starrend, die aus jedem Feld eine Zitadelle machen, aller Straßen und Kanäle entbehrt; erklärt sich ferner aus dem Geiste einer unwissenden, unserer modernen Landwirtschaft abholden Bevölkerung, voll all der Vorurteile, deren Gefahren durch die Einzelheiten dieser Geschichte vor Augen geführt werden sollen.
Die malerische Anlage des Landes, die abergläubischen Vorstellungen seiner Bewohner schließen sowohl die zielbewußte Entwicklung des Einzelcharakters wie die Vorteile sozialer Natur aus. Dort gibt es keine Dörfer. Dünn über das Land gesät sind die wenig fest gebauten Wohnstätten, die man »Logis« nennt. Jede Familie lebt wie in einer Wüste für sich. Die einzigen Zusammenkünfte sind die kurzen Versammlungen, die der Sonntag oder ein kirchlicher Feiertag der Gemeinde schenkt. Diese stummen Versammlungen, die der »Rektor« (Titel des Pfarrers), der einzige Meister dieser grobsinnigen Geister, leitet, dauern nur wenige Stunden. Nachdem er der furchtbaren Stimme des Priesters gelauscht hat, kehrt der Bauer für eine Woche in seine ungesunde Hütte zurück; er verläßt sie, um zu arbeiten, betritt sie wieder, um zu schlafen. Sucht ihn jemand dort auf, so ist es der Rektor, die Seele der Gegend. Die Stimme dieses Priesters hatte es auch zuwege gebracht, daß Tausende von Männern sich gegen die Republik wandten und daß jene Teile der Bretagne fünf Jahre vor der Zeit, in welcher unsere Geschichte beginnt, Massen von königstreuen Soldaten lieferten.
Die Brüder Cottereau, kühne Schmuggler, die diesem Kriege ihren Namen liehen, übten ihr gefährliches Handwerk von Laval bis Fougères aus. Aber die Aufstände der Landschaften hatten nichts Edles an sich, und man konnte mit voller Überzeugung sagen, daß, wenn die Vendée aus der Räuberei einen Krieg machte, die Bretagne aus dem Kriege eine Räuberei machte. Die Ächtung der Fürsten, die vernichtete Religion waren für die Chouans nur Vorwände zur Plünderung, und die Ereignisse dieses Bürgerkrieges hatten etwas von der wilden Rauheit der Sitten dieser Landschaft.
Als dann wirkliche Verteidiger der Monarchie kamen, um Soldaten unter dieser unwissenden und kriegslustigen Bevölkerung anzuwerben, versuchten sie vergebens, diesen Unternehmungen unter der weißen Fahne, die die Chouannerie verhaßt gemacht hatten, etwas wie Größe zu verleihen, und die Chouans sind ein denkwürdiges Beispiel dafür geblieben, wie gefährlich es ist, die wenig zivilisierten Massen eines Landes aufzuwühlen.
Das Bild des ersten Tales, das die Bretagne den Augen des Reisenden bietet, die Schilderung der Männer, aus denen sich der Trupp der Aufgebotenen zusammensetzte, die Beschreibung des auf der Höhe der Pèlerine erschienenen Gars geben in aller Kürze ein treues Bild der Provinz und ihrer Bewohner. Eine geschulte Einbildungskraft ist imstande, sich nach diesen Einzelheiten den Schauplatz und die Werkzeuge des Krieges vorzustellen. Dort waren seine Elemente. Die so blütenreichen Hecken dieser schönen Täler verbargen damals unsichtbare Angreifer. Jedes Feld war zu dieser Zeit eine Festung, jeder Baum eine verborgene Falle, jeder alte Weidenstumpf wurde als strategisches Versteck benutzt. Überall war Kriegsschauplatz. An den Straßenbiegungen lauerten die Büchsenmündungen den Blauen auf, die junge Mädchen, ohne sich ihrer Schändlichkeit bewußt zu werden, lachenden Mundes ins Feuer lockten. Sie machten dann mit ihren Vätern und Brüdern eine Wallfahrt und baten irgendeine wurmstichige Madonna um neue Ränke und um Vergebung der alten. Die Religion oder vielmehr der Fetischismus dieser unwissenden Geschöpfe entkleidete den Mord seiner Gewissensbisse. So wurde denn, nachdem der Kampf einmal entbrannt war, alles im Lande gefährlich: Lärm und Stille, Schonung und Grausamkeit, häuslicher Herd und offene Heerstraße. In dieser Verräterei lag Überzeugung. Es waren Wilde, die Gott und dem Könige in der Weise dienten, in der die Mohikaner Krieg führen.
Um jedoch diesen Kampf in allen Punkten genau und treu zu schildern, muß der Geschichtschreiber anfügen, daß sofort, nachdem der Frieden Hoches unterzeichnet war, die Gegend wieder lachend und freundschaftlich wurde. Und Familien, die sich am vorhergehenden Abend noch gegenseitig zerrissen, aßen am nächsten Tage ungefährdet unter demselben Dach.
In dem Augenblick, da Hulot die geheimen Tücken erkannte, welche das Ziegenfell Marche-à-terres verriet, war er von dem Bruche dieses glücklichen, dem Genie des Generals Hoche zu verdankenden Friedens überzeugt, dessen Aufrechterhaltung dem Offizier jetzt unmöglich schien. So würde denn der Krieg nach einer Pause von drei Jahren wieder aufleben, und ohne Zweifel schrecklicher als früher! Die Revolution, die seit dem 9. Thermidor milder geworden war, würde nun vielleicht den Charakter des Schreckens wieder annehmen, durch den sie sich allen guten Geistern verhaßt gemacht hatte. Das Geld der Engländer hatte, wie stets, zu den Unruhen in Frankreich beigetragen. Die Republik, von dem jungen Bonaparte verlassen, der ihr Schutzgeist zu sein schien, war allen Anzeichen nach außerstande, so vielen Feinden Widerstand zu leisten, von denen der grausamste sich zuletzt zeigte. Der durch tausend kleine Teilaufstände angekündigte Bürgerkrieg gewann einen ganz neuen Charakter von Bedenklichkeit in dem Augenblicke, da die Chouans es darauf anlegten, eine so starke Eskorte anzugreifen.
Dies waren die Überlegungen, die, wenn auch nicht in solcher Kürze, Hulot durch den Kopf gingen, nachdem er in dem Auftauchen Marche-à-terres den Beweis eines geschickt vorbereiteten Überfalls aus dem Hinterhalt zu erkennen glaubte. Denn er allein gab sich zunächst Rechenschaft über die Gefahr.
Das Stillschweigen, das den prophetischen Worten des Kommandeurs an Gérard folgte (und das die vorhergehende Szene abschließt), wurde von Hulot dazu benutzt, seine Kaltblütigkeit wiederzuerlangen. Der alte Soldat hatte beinahe gewankt. Und er konnte die Wolken nicht von seiner Stirne vertreiben, als er sich sagte, daß er bereits von den Schrecken eines Krieges umgeben sei, dessen Scheußlichkeiten Kannibalen hätten empören können.
Hauptmann Merle und Adjutant Gerard, seine beiden Freunde, versuchten sich die Befürchtungen zu deuten, die auf Hulots Gesicht geschrieben standen und die ihnen etwas so Ungewohntes waren, und betrachteten Marche-à-terre, wie er am Wegrande seinen Fladen verzehrte, ohne die geringste Beziehung zwischen dieser Art von Tier und der Erregung ihres unerschrockenen Kommandanten herstellen zu können.
Indes klärte Hulots Miene sich bald auf. Während er noch das unglückliche Geschick der Revolution beklagte, freute er sich schon wieder darauf, für sie kämpfen zu dürfen; er versprach sich freudig, sich von den Chouans nicht zum besten halten zu lassen und den so unglaubhaft schlauen Menschen zu ergründen, den sie ihm die Ehre antaten, gegen ihn auszuschicken.