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Wer zu Depressionen neigt, macht sich normalerweise durch dunkle Gedanken und Vorstellungen selbst das Leben noch schwerer. Doch wie kommt man aus der Grübelfalle raus? Eine aufmerksame, freundliche, nicht wertende Haltung gegenüber jeglicher Erfahrung, auch gegenüber den schwierigen Gedanken und Gefühlen, das bedeutet Achtsamkeit – und das kann eingeübt werden. Hier werden in gut verständlicher Sprache und mit vielen Beispielen von Betroffenen achtsamkeitsbasierte Möglichkeiten dargestellt und mit praktischen Übungen vertieft.
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Seitenzahl: 213
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Anne Katrin Külz
Die Kraft liegt im Augenblick
Mit Achtsamkeit Depressionen lindern
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © IgorAleks – shutterstock
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN (E-Book) 978-3-451-80641-4
ISBN (Buch) 978-3-451-61336-4
»Reichtum, Ansehen, alles kann man verlieren. Aber das Glück im eigenen Herzen kann nur verschleiert werden.«
(Anne Frank)
An manchen Tagen fühlen wir uns voller sprudelnder Lebendigkeit, Leichtigkeit und Energie. Was uns wichtig ist, gelingt, und wir empfinden uns in Einklang mit der Welt. Andere Tage sind von Unruhe oder Kraftlosigkeit durchzogen – manchmal ohne dass wir wissen, warum. So sehr wir uns bemühen mögen, erscheint der Alltag voller Hürden und wir fühlen uns von Gefühlen oder Gedanken gefangen, die wir lieber nicht hätten. Manchmal können Niedergeschlagenheit und Lustlosigkeit über längere Zeit anhalten und ein Ausmaß annehmen, das über alltägliche Stimmungstiefs hinausgeht. Zusammen mit einigen anderen Merkmalen sprechen wir dann von einer depressiven Symptomatik.
Achtsamkeit als eine wohlwollende, vorurteilsfreie Beziehung zu unserem Erleben kann nicht nur unter günstigen Lebensumständen eine Bereicherung bedeuten. Insbesondere auch für Menschen, die unter Stimmungstiefs leiden oder einem Rückfall in depressives Erleben vorbeugen möchten, kann Achtsamkeit eine große Kraftquelle darstellen, je mehr sie Bestandteil des Alltags wird.
Das Buch möchte mit vielen konkreten Übungen dazu einladen, mit dem Prinzip der Achtsamkeit über unterschiedliche Zugangswege immer besser vertraut zu werden, ähnlich wie man einen Freund oder eine Freundin besser kennenlernt, je mehr man gemeinsam unternimmt.
Als ich vor zwölf Jahren mit meiner therapeutischen Arbeit begann, wollte ich Menschen mit Depression vor allem helfen, sich in möglichst kurzer Zeit wieder möglichst gut zu fühlen. Ich sammelte verschiedene Strategien, von denen ich mir erhoffte, dass sie Betroffene wieder zu Regisseuren ihres Lebens machen und zu einer aktiven, freudvollen Alltagsgestaltung beitragen konnten. Einige Ansätze erwiesen sich in dieser Hinsicht tatsächlich als hilfreich, und dennoch hatte ich gelegentlich den Eindruck, dass das Wesentliche davon nicht berührt wurde. Manchmal hingegen schien sich ein Prozess zu entfalten, der es mir leicht machte, Anteil an der Geschichte des jeweiligen Menschen zu nehmen. In solchen Situationen fanden wir gemeinsam Zugang zu seiner eigenen inneren Kraft, die im Grunde immer schon da war – auch wenn sie von den aktuellen Symptomen und äußeren Belastungen verdeckt sein mochte. Erst mit der Zeit wurde mir deutlich, dass dies durch die Haltung der Achtsamkeit geschah: Je mehr sich in den Therapiestunden eine Aufmerksamkeit entwickelte, die von Freundlichkeit, Gleichmut und Wohlwollen geprägt war, desto mehr Raum schien zu entstehen, auch die schwierigen Gedanken, Gefühle oder Körperwahrnehmungen auf die gleiche Weise zu betrachten und Heilungsprozesse zu entfalten.
Für mich war es dabei immer wieder eine beeindruckende Entdeckung, wie entscheidend für unser Wachstum und unser Wohlbefinden die Beziehung ist, die wir zu unseren eigenen inneren Erfahrungen aufbauen. Ein offener, freundlicher Blick auf alles, was im Augenblick geschieht, kann wie ein Sonnenstrahl wirken, der eine Blume zum Aufblühen bringt – selbst wenn das, was wir erleben, schwierig oder schmerzlich sein mag.
Diese Erfahrungen haben mich dazu bewogen, mich immer intensiver mit der Haltung der Achtsamkeit auseinanderzusetzen.
Vielleicht leiden Sie unter wiederkehrenden Stimmungstiefs, haben depressive Phasen hinter sich und möchten einem Rückfall vorbeugen, haben Angehörige, die von Depressionen betroffen sind, interessieren sich einfach für das Thema Achtsamkeit oder arbeiten selbst therapeutisch mit Menschen, die unter Depressionen leiden. Ganz gleich aus welchem Grund Sie sich dafür entschieden haben, das Buch zur Hand zu nehmen: Die geschilderten Ansätze eignen sich für Menschen mit Depressionserfahrung ebenso wie für Menschen, die bislang selbst keine depressiven Phasen erlebt haben.
Auch wenn Sie aktuell von einer Depression betroffen sind, können die beschriebenen Achtsamkeitsübungen als Ergänzung oder Bereicherung psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlungsmöglichkeiten hilfreich sein. In diesem Fall möchte ich Sie jedoch bitten, sich zunächst therapeutische Unterstützung zu suchen, denn das Buch kann kein Ersatz für eine persönliche Betreuung durch eine Psychotherapeutin bzw. einen Psychotherapeuten oder eine Ärztin bzw. einen Arzt sein. Wenn Sie aktuell in Therapie sind, kann es zudem sinnvoll sein, mit der behandelnden Person über die Ansätze in diesem Buch zu sprechen, bevor Sie mit dem Üben beginnen.
Das Buch ist als kleine Schatzkiste mit Anregungen gedacht, um sich auf Entdeckungsreise zu begeben und persönliche Wege für die Anwendung von Achtsamkeit im Alltag zu finden. In erster Linie stelle ich Achtsamkeitsübungen vor, die ich in meiner psychotherapeutischen Praxis als hilfreich empfunden habe. Zu Beginn werde ich die wesentlichen Merkmale der Depression, ihre unterschiedlichen Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten kurz vorstellen; außerdem möchte ich anhand von Beispielen einen »Geschmack« von Achtsamkeit vermitteln. Im weiteren Verlauf lernen Sie Übungen für verschiedene Lebensbereiche kennen, die zur Aneignung und Vertiefung einer achtsamen Haltung im Alltag einladen. Unter den Anleitungen sind auch einige Übungen aus der achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie (»mindfulness based cognitive therapy«, »MBCT«) nach Mark Williams, Zindel Segal und John Teasdale – teils in leicht abgewandelter Form – zu finden. Vielleicht mag die Lektüre eine Anregung für manche sein, selbst einmal solch einen Kurs zu besuchen.
Außerdem stelle ich einige Übungsanregungen aus der Akzeptanz- und Commitmenttherapie vor, einem psychotherapeutischen Ansatz, bei dem achtsamkeitsbasierte Vorgehensweisen und die Ausrichtung auf persönliche Werte und Ziele eine wichtige Rolle spielen.
Dort, wo manche meiner Patienten mit ihrer eigenen Geschichte und ihren persönlichen Erlebnissen zur Sprache kommen, habe ich zum Zwecke der Anonymität einige Merkmale wie Geschlecht oder Beruf etwas verändert.
Achtsamkeit ist trainierbar wie andere Dinge auch – unabhängig von Bildungsgrad, religiöser Orientierung oder kultureller Herkunft. Eine Haltung der Achtsamkeit einzuüben, braucht jedoch ebenso Zeit wie zu lernen, ein Auto zu steuern, Klavier zu spielen oder Salsa zu tanzen. Daher empfiehlt es sich, die Übungen in diesem Buch regelmäßig zu wiederholen. Geben Sie sich Zeit! Am Anfang ist das manchmal gar nicht so einfach, da man nicht weiß, wo es hingeht. Wie fühlt sich Achtsamkeit an? Ist sie so etwas wie Entspannung oder eine Art Trance? Oder wird sie eher wach machen, die Sinne schärfen?
Wenn es Ihnen so geht wie den meisten Menschen, wird Ihr Verstand vermutlich immer wieder Bewertungen für die beschriebenen Ansätze und praktischen Übungen parat haben. Bekanntlich sind Urteile eine gute Möglichkeit, um sich zu orientieren und eine hilfreiche Richtung im Leben einzuschlagen. Gleichzeitig engen wir uns nicht selten mit unseren Bewertungen frühzeitig ein. Es ist, als ob wir eine Schublade aufziehen, einen Sachverhalt hineinpacken, die Schublade schließen und keine weiteren Änderungen aufnehmen. Im Gegensatz dazu hat Jon Kabat-Zinn die Haltung, die beim Einüben von Achtsamkeit hilfreich ist, »Anfängergeist« genannt: eine offene, wache Einstellung, die es ermöglicht, immer wieder unvoreingenommen an eine Sache heranzugehen und sich von Widerständen nicht irritieren zu lassen. Vielleicht gelingt es Ihnen, mit dieser offenen Einstellung zu experimentieren und sich zunächst einige Wochen Zeit für die Ansätze in diesem Buch zu schenken, auch wenn Ihnen manche Dinge zunächst ungewohnt oder wenig brauchbar erscheinen mögen.
Vielleicht möchten Sie sich während des Lesens Stellen anstreichen, die für Sie selbst besonders wichtig sind, oder Notizen zu Erkenntnissen, Einwänden oder interessanten Punkten machen. Manche Menschen finden es auch hilfreich, ihre Einsichten und Überlegungen zu Achtsamkeit mit anderen Personen zu besprechen, sei es in der Familie, im Freundeskreis, in Selbsthilfegruppen oder im Rahmen ihrer Psychotherapie.
Fast alle der vorgestellten Ansätze und Übungsanregungen sind in langer, oft jahrtausendealter Tradition entstanden. Besondere Dankbarkeit empfinde ich gegenüber Thich Nhat Hanh und den Mönchen und Nonnen aus Plum Village und dem Europäischen Institut für Angewandten Buddhismus (EIAB). Danken möchte ich auch Mark Williams, der mich nicht zuletzt durch seine Wertschätzung und Wärme in der Vermittlung von MBCT anhaltend für das Konzept begeistert hat. Außerdem bin ich etlichen Freunden und Kollegen für den bereichernden Austausch, die gemeinsame Achtsamkeitspraxis und die Anregungen zur Depressionsbehandlung dankbar, insbesondere Monika Wendl, Nina Rose und Elisabeth Schramm. Weiterhin danke ich Thomas Heidenreich für die inspirierenden Supervisionen der Achtsamkeitsgruppen und den Hinweis auf die Werke von Walt Whitman. Schließlich möchte ich Peter Raab für die Initiierung des Buchprojektes und die kompetente, angenehme Betreuung bei der Erstellung des Manuskripts danken. Meine größten Lehrmeister für das Leben im Augenblick waren und sind meine Kinder Jonathan, Marie, Amelie, Liam und Jaron und mein Mann Joscha, die mir immer wieder liebevoll und lebhaft den Zugang zum Wesentlichen schenken und für die ich tiefe Dankbarkeit empfinde. Ebenso danke ich von Herzen meinen Eltern, Geschwistern und Freunden, die durch ihre Anteilnahme, ihren frischen Blick auf das Achtsamkeitsthema und ihr Vertrauen in das Gelingen des Buches stets unterstützend waren. Mein größter Dank richtet sich schließlich an alle Patienten, die mich an ihren Erfahrungen haben teilnehmen lassen und ohne die dieses Buch nie entstanden wäre.
Ebenso danke ich von Herzen meinen Eltern Dorothee und Rainer. Sie haben mir Geborgenheit und Vertrauen in das Mysterium des Lebens geschenkt. Dank gilt auch meinen Geschwistern und Freunden, die durch ihre Anteilnahme, ihren frischen Blick auf das Achtsamkeitsthema und ihre Zuversicht in das Gelingen des Buchprojekts stets unterstützend waren.
»Ich habe das Gefühl, dass mein Boot da unten in der Tiefe gegen etwas gestoßen ist, gegen etwas Großes.Und nichts geschieht! Nichts ... Stille ... Wellen ...– Nichts geschieht? Oder ist alles geschehen,und wir stehen jetzt, still, im neuen Leben?«
(Juan Ramón Jiménez)
Zuerst dachte Mark, dass es nur Stress sei. Er wachte in den frühen Morgenstunden auf, grübelte mehrere Stunden am Tag über schwierige Situationen im Büro nach, aß nur noch aus Pflichtgefühl und konnte sich zunehmend schlechter konzentrieren. Allmählich befiel ihn jedoch auch ein Gefühl von Sinnlosigkeit und er empfand immer weniger Freude an seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Basketballspielen. Hatte er früher gerne Telefonanrufe entgegengenommen, zuckte er nun bei jedem Klingeln des Telefons zusammen – die Vorstellung, dass jemand etwas von ihm wollte, jagte ihm unerklärliche Versagensängste ein. Als er sich zu erschöpft fühlte, um arbeiten gehen zu können, suchte er einen Psychotherapeuten auf.
Auch Sylvia hatte den Eindruck, nichts mehr richtig genießen zu können. Neben der Trennung von ihrem Partner hatte sie den Umzug in eine andere Stadt zu bewältigen, wo sie sich zunächst unbehaglich und isoliert fühlte. Auch wenn sie wusste, dass Trennungen und Ortswechsel nichts Außergewöhnliches sind, schämte sie sich zunehmend für ihre Lebenssituation und musste sich immer wieder nach ihrer Schuld an den vergangenen Ereignissen fragen. Da sie von Tag zu Tag weniger Energie hatte, blieb sie schließlich die meiste Zeit im Bett liegen, wo es ihr noch am erträglichsten schien. Erst nach mehreren Monaten konnte sie sich eingestehen, dass sie an Depressionen litt, und professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Seitdem treten die depressiven Phasen in Abständen von wenigen Jahren immer wieder auf. Sylvia weiß inzwischen, wie siemit den Symptomen am besten umgehen kann; dennoch fühlt sie sich immer wieder aus der Bahn geworfen.
Depressionen sind sehr häufige seelische Erkrankungen, an denen fast jeder fünfte Mensch im Lauf seines Lebens leidet. Fast sechs Millionen Menschen in Deutschland haben behandlungsbedürftige Symptome einer Depression, also mehr als das Dreifache der Einwohnerzahl einer Großstadt wie Hamburg. Frauen sind fast doppelt so häufig betroffen wie Männer. Dabei unterscheiden sich Depressionen grundlegend von Stimmungsschwankungen im Alltag, was für Außenstehende jedoch nicht immer leicht nachvollziehbar ist.
Betroffene erzählen oft, dass sie sich in depressivem Zustand wie in einer anderen Welt fühlen – alles, was das »normale« Leben ausmacht, wirkt unerreichbar fern. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass sich Depressionen auf viele Bereiche auswirken: Denken, Fühlen, Verhalten und körperliche Empfindungen können gleichzeitig betroffen sein, was meistens eine große Belastung für den erkrankten Menschen darstellt. Wenn Sie selbst oder nahe Angehörige bereits Erfahrungen mit Depressionen gesammelt haben, ist Ihnen vielleicht am eindrücklichsten eine Veränderung des Gefühlslebens aufgefallen: Niedergeschlagenheit oder emotionale Leere machen sich breit, oder das ganze Befinden ist von Schwermut geprägt. Vergnügen und Interesse an früheren Alltagsfreuden bleiben aus, und manchmal gelingt es kaum, sich zu alltäglichen Handlungen wie Haarewaschen oder Einkaufen aufzuraffen. Vielen Betroffenen fällt es schwer, sich zu konzentrieren, sodass bereits Gespräche oder das Lesen der Zeitung als Herausforderung erlebt werden. Während einige unruhig in der Wohnung auf- und ablaufen, gelingt es anderen kaum, das Bett zu verlassen, so stark ist das Gefühl von Schwere und Kraftlosigkeit. Viele Menschen haben kaum mehr Appetit und verlieren Gewicht; seltener werden Depressionen auch von ungewöhnlich großem Hunger begleitet. Das sexuelle Lustempfinden ist oft verringert oder gar nicht mehr vorhanden. Häufig ist die Stimmung am Morgen auf dem Tiefpunkt und bessert sich im Laufe des Tages etwas. So können einige Betroffene abends eine etwas optimistischere Sicht auf die Dinge entwickeln, werden jedoch häufig in den frühen Morgenstunden wieder von Grübelattacken geplagt. Nur selten macht die Depression vor dem Denken Halt. So scheinen in depressiven Phasen fast immer auch ungünstige Denkmuster und Vorstellungen über die eigene Person und die Welt eine Rolle zu spielen. Manche laufen ganz automatisch auf unterschwelliger Ebene ab, andere drängen sich immer wieder als zweifelnde, anklagende und urteilende Selbstgespräche ins Bewusstsein. Typisch sind hierbei Gedanken wie: »Hätte ich nicht doch das Jobangebot annehmen/die Beziehung halten/den Kaufvertrag unterschreiben müssen?«, »Ich bin auf ganzer Linie gescheitert.«, »Ich bin eine Niete.«, »Es wird nie wieder besser werden…« Manchmal werden Minderwertigkeitsgefühle und Hoffnungslosigkeit so groß, dass Gedanken an den Tod auftauchen. Aus Scham, aus Angst, zur Last zu fallen, oder aus Resignation wenden sich viele Betroffene mit ihrer inneren Not nicht an Angehörige. Hier ist es jedoch hilfreich, als Außenstehender genaue Fragen zu stellen, um die Situation des Betroffenen einschätzen zu können und ggf. zu professioneller Hilfe zu ermutigen.
Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung sprach von der Depression als einer »Dame in Schwarz«, die man lieber als Gast zu Tisch laden und anhören solle, als sie vertreiben zu wollen. Wer verschiedene Menschen mit Depression kennt, weiß, dass die »Dame in Schwarz« ganz unterschiedlich auftreten kann. Manchmal schleicht sie sich leise ins Zimmer und scheint das Licht zu dämpfen, manchmal nimmt sie resolut Platz, nimmt mit schriller Stimme alle Aufmerksamkeit in Anspruch und nichts bleibt mehr wie es war.
Wichtig erscheint mir an dem Bild, dass sich in Phasen der Niedergeschlagenheit womöglich auch eine Chance verbirgt. Das mag vielleicht zunächst schwer vorstellbar sein: Depressionen scheinen oft jede Freude am Leben zu ersticken, lassen das ganze Dasein sinnlos erscheinen, rauben jede Hoffnung auf Besserung und verbreiten nicht selten ein starkes Gefühl von Lähmung, Erschöpfung oder unerträglicher Anspannung.
Dennoch können Depressionen immer auch Veränderungen anstoßen: anregen, innezuhalten, sich aus belastenden Kreisläufen herauszuziehen, im Leben neu auszurichten, eigene Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen und sich auf die Suche nach denjenigen Dingen zu begeben, die über die aktuelle Verzweiflung hinausragen und dem Leben Sinn verschaffen können.
Noch etwas anderes macht das Bild von der »Dame in Schwarz« wertvoll: Der depressive Mensch ist der Gastgeber, doch er ist nicht die Depression. Immer ist da ein Abstand zwischen demjenigen, der unter dem Quälgeist »Depression« leidet, und der Depression selbst; die beiden sind zwei verschiedene Einheiten.
Depressionen mögen eine große Belastung und Zumutung im wahrsten Wortsinn sein – sie bleiben unser Gegenüber und wir können Wege des Umgangs mit ihnen finden.
Wann aber spricht man von Depressionen und wann sollten wir eher von einem vorübergehenden Stimmungstief oder kurzzeitiger Erschöpfung ausgehen?
Die Kriterien für eine depressive Episode sind nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) dann erfüllt, wenn sich seit mindestens zwei Wochen mindestens zwei Hauptsymptome (Niedergeschlagenheit, Interessenverlust und Antriebslosigkeit) und mindestens zwei zusätzliche Symptome wie z. B. Konzentrationsschwierigkeiten und Gefühle von Wertlosigkeit in den Alltag eingeschlichen haben. Treten mindestens zwei Hauptsymptome und vier zusätzliche Symptome gleichzeitig auf, spricht man von einer mittelschweren depressiven Episode. Wenn alle drei Hauptsymptome und mindestens fünf zusätzliche Symptome erfüllt sind, gilt die Depression als schwer. Bei einer leichten Depression können in der Regel noch alle Lebensbereiche (z. B. Arbeit, soziale Kontakte, Freizeit) bewältigt werden. Bei einer mittelgradigen Depression ist die Funktionsfähigkeit in zumindest einem Lebensbereich (z. B. Arbeit) beeinträchtigt. Bei einer schweren Depression erfährt der Betroffene in nahezu allen Lebensbereichen Einschränkungen seiner Funktionsfähigkeit.
Treten depressive Phasen immer wieder auf, spricht man von einer sogenannten rezidivierenden depressiven Störung. Der Abstand zwischen den Phasen ist ganz unterschiedlich; im Schnitt liegen fünf Jahre zwischen zwei depressiven Episoden. Daneben gibt es eine anhaltende, etwas mildere depressive Verstimmung, Dysthymie genannt, die mindestens zwei Jahre besteht und nicht die Schwerekriterien einer depressiven Episode erfüllt. Tritt während einer Dysthymie gleichzeitig eine Depression auf, spricht man von einer »Double Depression«. Außerdem gibt es Depressionen, die mit Phasen ungewöhnlich gehobener Stimmung abwechseln, sogenannte bipolare Störungen. Manchmal entstehen leichtere Formen einer depressiven Verstimmung, die nicht alle Schwerekriterien für eine Depression erfüllen, nach einem einschneidenden Ereignis oder in Zusammenhang mit längeren Belastungen. Das können ganz unterschiedliche Ursachen wie z. B. der Tod eines Angehörigen oder ein Unfall, Arbeitslosigkeit, Belastungen am Arbeitsplatz oder Eheprobleme sein. Man spricht dann von einer Anpassungsstörung.
Warum kann es uns so leicht passieren, von der »Dame in Schwarz« besucht zu werden, selbst dann, wenn wir im Grunde über alles zu verfügen scheinen, was wir im Leben brauchen, und keine schweren Verluste betrauern oder drohende Gefahren bewältigen müssen?
Hier gibt es zum einen eine erblich bedingte Anfälligkeit, unter ungünstigen Umständen eher an einer Depression zu erkranken. So hat man beispielsweise festgestellt, dass Verwandte von Menschen mit Depression ein höheres Risiko tragen, selbst eine depressive Episode zu erleben. Mithilfe genetischer Studien wurden einige Gene entdeckt, die mit einem erhöhten Depressionsrisiko in Zusammenhang stehen könnten.
Zum anderen können auch belastende Kindheitserfahrungen eine große Rolle spielen, ebenso wie Stress und schwierige Lebensbedingungen über einen längeren Zeitraum dazu beitragen können, Symptome einer Depression zu entwickeln. Bei vielen Betroffenen lässt sich ein Auslöser erkennen; manche Depressionen entwickeln sich jedoch auch, ohne dass ein bestimmtes Ereignis vorausgeht. Man nimmt an, dass keine einzelne Ursache zu einer Depression führt, sondern immer verschiedene Faktoren, die miteinander in Wechselwirkung stehen.
Betrachtet man die Klippen, die es im Laufe des Lebens zu umschiffen gilt, scheint es eher erstaunlich, dass wir oftmals ohne depressive Phasen durch den Alltag kommen. James Mc Cullough, Psychologieprofessor an der Universität in Virginia, hat in seiner langjährigen Arbeit mit depressiven Menschen bestimmte Entwicklungsbereiche gefunden, in denen Menschen mit chronischer Depression häufig schwierige Erfahrungen gemacht haben. Unsere Erfahrungen führen zu ganz individuellen – häufig auch nicht bewussten – Einstellungen und Erwartungen gegenüber anderen Menschen, sogenannten Prägungen.
So hatte z. B. Peters Mutter ihrem Sohn häufig Vorwürfe gemacht oder ihn durch ihr Gekränktsein unter Druck gesetzt, wenn er wütend wurde oder etwas Widerspenstiges sagte. Seine Vorstellung, die er durch die Beziehung zu seiner Mutter entwickelte, war: »Wenn ich mich nicht anpasse, zerstöre ich alles.« Auch wenn er sich im Rückblick über das Verhalten der Mutter ärgert, fürchtet Peter auch heute noch häufig, seinePartnerin zu enttäuschen, und versteckt sich hinter Gefälligkeitsfloskeln. Dadurch fühlt er sichunbehaglich; oft hat er ein unbestimmtes Gefühl, dass das eigentliche Leben an ihm vorbeizieht und er leer ausgeht.
Sandra wurde durch ihren Onkel über mehrere Jahre sexuell missbraucht. Dieser war gleichzeitig eine wichtige Person gewesen, bei der sie sich zunächst geborgen gefühlt hatte – der Vater hatte die Familie früh verlassen und sie hatte ihn nie kennengelernt. Durch die Erfahrung mit dem Onkel hatte sie den Eindruck gewonnen: »Nähe ist etwas Gefährliches! Ich darf andere Menschen nicht an mich herankommen lassen.« Daher entwickelte sie immer ausgefeiltere Strategien, um andere auf Abstand zu halten. Gleichzeitig fühlte sie sich innerlich einsam.
In der folgenden Tabelle sind die vier zentralen Entwicklungsbereiche und Beispiele für schwierige Prägungen sowie daraus möglicherweise entstehende Verhaltensprobleme im Erwachsenenalter dargestellt.
Um ein Bild von den eigenen Erwartungen gegenüber anderen Menschen und der Welt zu gewinnen, lohnt es sich, die Prägungen durch mehrere zentrale Bezugspersonen zu betrachten, die unseren Lebensweg mitgestaltet haben.
Problembereich
Beispiel für Erfahrung und mögliche Prägung
Mögliches Verhaltensproblem
Zwischenmenschliche Nähe
Mutter hat von einem Tag auf den anderen Lukas und seine Familie verlassen.
»Ich bin es nicht wert, dass man bei mir bleibt.«
Distanzierung von anderen aus Angst vor Enttäuschung, sobald Sympathie und der Wunsch nach Bindung entstehen.
Emotionale Bedürfnisse
Luise musste sich um alkoholkranke Mutter und jüngere Geschwister kümmern.
»Meine Bedürfnisse zählen nicht.«
Aufopferung für andere, eigene Wünsche bleiben auf der Strecke; Luise kann nur schwer Unterstützung annehmen.
Negative Gefühle ausdrücken
Vater verlangte Bewunderung von Frank und reagierte auf Kritik mit tagelangem Schweigen.
»Nur wenn ich mich unterordne, werde ich gemocht.«
Unwohlsein in Gegenwart anderer, ständiges Bemühen, um zu gefallen.
Fehler machen
Leistung hatte einen hohen Stellenwert und Eltern stellten Bernd häufig als Versager dar, weil er ihren hohen Erwartungen in der Schule nicht entsprach.
»Ich werde immer scheitern.«
Vermeidung von neuen Anforderungen und Rückzug, sobald es um Leistungen geht
Den genannten Prägungen ist eines gemeinsam: Sie führen zu zwischenmenschlichen Verhaltensweisen, welche Nähe, Geborgenheit und die Befriedigung eigener Bedürfnisse verhindern. Solche Teufelskreise können sehr stabil sein. So lösen zwischenmenschliche Schwierigkeiten auf Dauer Hilflosigkeit und Resignation aus, die zu Niedergeschlagenheit und verstärktem Rückzug von anderen Menschen führen. Dadurch gelingt es noch weniger, positive Erfahrungen mit anderen Menschen zu machen und eigene Ziele zu erreichen.
Wir alle tragen unsichtbare positive und negative Stempel mit uns herum, die unsere Einstellungen zu anderen Menschen prägen. Oftmals ist es gar nicht so einfach, die eigenen »Stempel« zu bestimmen, da das schon einen inneren Abstand voraussetzt. Vielleicht möchten Sie einmal überlegen, welche Erfahrungen Sie in den vier genannten Bereichen gemacht haben. Wo können Sie auf nährende, befriedigende Erfahrungen zurückblicken? Wo mussten Sie unter Umständen etwas entbehren oder wurden mit Schwierigkeiten konfrontiert?
Dass uns schwierige Erfahrungen nicht einfach kalt lassen, hat jedoch noch einen anderen Grund. Unsere Gehirne sind nicht optimal zum Glücklichsein ausgestattet. So funktioniert das Zusammenspiel zwischen unserem Verstand und dem für Emotionen zuständigen limbischen System nur mäßig. Beispielsweise werden unsere Gedanken häufig von unseren Emotionen eingefärbt oder in ganz andere Richtungen gespült, ohne dass wir es merken. Umgekehrt kann unser Verstand eine Lawine negativer Emotionen wie Angst und Verzweiflung auslösen, weil er sich in schwierigen Sachverhalten festhakt oder Probleme vorwegnimmt, die in Wirklichkeit nie eintreten werden.
Hinzu kommt, dass uns die Evolution mit einer höheren Empfänglichkeit gegenüber negativen Reizen ausgestattet hat als gegenüber positiven. Der Neuropsychologe Rick Hanson hat sehr plausibel aufgezeigt, dass sich unser Verstand viel stärker auf negative Aspekte in unserem Inneren und unserer Außenwelt konzentriert als auf positive. Für Vorzeitmenschen, die ständig gefährdet waren, durch rasch wechselnde Lebensumstände wie Nahrungsknappheit oder äußere Angreifer bedroht zu werden, schien dieser Mechanismus sinnvoll: es war existentiell notwendig, ständig gegen äußere Gefahren gewappnet zu sein. Doch auch wenn wir heute gefahrloser den Sonnenuntergang genießen könnten, anstatt auf das Rascheln im Gras zu hören, ist diese übermäßige Wachsamkeit für mögliche Bedrohungen noch fest in uns verankert. Daher erinnern wir uns möglicherweise beim Gedanken an eine Vortragssituation eher an das kritische Stirnrunzeln der Frau in der zweiten Reihe als an den vor uns sitzenden Mann, der uns anerkennend zugelächelt hat.
Weil unser Wohlbefinden sehr stark von den Entwicklungsbedingungen unseres Umfeldes abhängt und unser Gehirn recht »störungsanfällig« konstruiert ist, betonen Forscher wie Paul Gilbert, Professor für Klinische Psychologie in Derby, immer wieder, dass wir uns viele Dinge, die in unserem Gehirn vor sich gehen, nicht ausgesucht haben. Folglich müssen wir auch keine Schuldgefühle haben oder uns Selbstvorwürfe machen, wenn wir nicht so fühlen und denken, wie wir das gerne täten. Das gilt insbesondere auch für psychische Erkrankungen wie Depressionen.
Dass wir als Menschen anfällig für Stimmungstiefs sind, bedeutet jedoch nicht, dass wir Depressionen nicht beeinflussen können.