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Zwischen den Bäumen saß ein Mädchen mitten in den Sternblumen und sein blondes Haar leuchtete in der Sonne wie goldene Seide. Hohenlohe im 14. Jahrhundert: Bei einem Raubüberfall wird die junge Raghild lebensbedrohlich verletzt. Sie erinnert sich nicht an den Täter und die Angst vor dem Unbekannten will sie und ihre Familie nicht mehr loslassen. Doch dieser Übergriff ist erst der Anfang - es folgt eine Kette von Ereignissen, die das Leben der Kreßburger für immer verändert: Krieg, Intrigen und Verluste bestimmen von nun an ihr Dasein. Aber zwischen den feindlichen Parteien überdauern auch Freundschaften und verbotene Liebe erblüht. Der letzte Funke Hoffnung ist noch nicht erloschen … Grundlage des Romans ist der Konflikt zwischen König Heinrich VII. von Luxemburg und Eberhard dem Erlauchten, Graf von Württemberg, im Jahr 1308.
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Seitenzahl: 420
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Hohenlohe im 14. Jahrhundert: Die Kreßburger, ansässig im Grenzland zwischen Hohenlohern und Öttingern, bekommen die Konflikte der mächtigen Familien zu spüren. Die Kinder des Herrn Stephan von Kreßburg, Lianna, Raghild und Michael, werden in die kriegerischen Handlungen hineingezogen, ständig bedroht von ihrem älteren Cousin Wolfun, der sich um die Herrschaft auf der Kreßburg betrogen fühlt. Nachdem Liannas Verlobter bei einem Vermittlungsversuch auch noch von Wolfun ermordet wird, eskalieren die Kämpfe. Als der Friede in greifbare Nähe rückt, stehen viele vor den Trümmern ihrer Existenz. Aber zwischen den feindlichen Parteien überdauern Freundschaften und entstehen trotz aller Widerstände Liebesbeziehungen. Die Überlebenden wissen, dass sie neue Hoffnung brauchen: Raghild, die verschleppte Kreßburgerin, Kraft, der auf der Seite König Heinrichs kämpft, und der geheimnisvolle Sohn eines Sarazenen, der als Ausgestoßener zum Spion wird.
Historische Grundlage ist der Konflikt zwischen König Heinrich VII. von Luxemburg und Eberhard dem Erlauchten, Graf von Württemberg im Jahr 1308.
Anita Tesch stammt vom Niederrhein und zog mit 24 Jahren in die Region Hohenlohe. Ein Symposium zur Stadtgeschichte Crailsheims gab den Anstoß zum vorliegenden Roman. Sie ist Berufsschullehrerin für Pflegeberufe und widmet sich in ihrer Freizeit leidenschaftlich gerne der Schreibfeder. So entstand ihr Debütroman »Die Kressburg« über mehrere Jahre. Heute lebt und arbeitet Anita Tesch in Bad Kissingen.
ANITA TESCH
ROMAN
DER KLEINE BUCH VERLAG
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind imInternet unter www.dnb.de abrufbar.
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ISBN: 978-3-7650-2128-2
Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen:ISBN: 978-3-7650-9107-0
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Der Überfall geschah auf dem Rückweg von Marienbrunn, und mit ihm begann die Kette der Ereignisse, die das Leben der Kreßburger für immer veränderte. Der letzte Sonntag vor dem Osterfest im Jahr 1308 war ein warmer, sonniger Nachmittag, so früh im Jahr eine Seltenheit in den Waldbergen zwischen Crailsheim und Dinkelsbühl.
Raghild, die jüngste Tochter des Herrn Stephan, hatte den alten Einsiedler bei der Quelle besucht, die zwei Wegstunden nordwestlich der Kreßburg lag. Einer alten Legende nach sollte die Quelle heilkräftiges Wasser haben, man hatte dort auch eine Kapelle gebaut. Hin und wieder kamen Pilger, aber gegenüber dem großen Wallfahrtsort Ellwangen weiter südlich war der Flecken bedeutungslos.
Die Kreßburger, zu deren Gebiet Marienbrunn gehörte, sorgten für den Unterhalt der Kapelle, weil in früherer Zeit einer von ihnen durch das Wasser von einer schweren Krankheit geheilt worden war. So besuchten die Bewohner der Burg die Kapelle regelmäßig, und auch die Töchter des Herrn hielten bei ihren Ausritten öfter dort an.
Heute war Raghild dem Knappen, der sie dorthin begleitet hatte, entwischt, weil sie über den Bergrücken zurückreiten wollte. Diese steile Abkürzung war den Mädchen zu Pferd verboten, aber sie wusste, dass dort die schönsten Waldanemonen wuchsen. Wo der Höhenzug zum Schönbach hin abfiel, standen jedes Frühjahr ganze Anemonenfelder, und die Böschung schien aus einem einzigen grünen Teppich voller weißer Sterne zu bestehen, der das tote Laub des Vorjahres überwucherte. In den Wäldern hing schon ein grüner Schimmer von den Blattknospen, die sich langsam öffneten, und Raghild hatte unterwegs bereits Schlüsselblumen und das violette Knabenkraut gesehen. Sie lenkte ihr Pferd aus dem Wald heraus auf den Pfad am Bach. Er war so schmal, dass das Reiten hier schwierig und das Absteigen fast unmöglich war. Deshalb wurde auch der Weg nur wenig benutzt, die meisten kannten ihn gar nicht. Wer nach Marienbrunn wollte, nahm die breite Straße über Wüstenau.
Raghild hielt an der etwas breiteren Stelle vor der Wegbiegung an, stieg vorsichtig ab und schlang den Zügel um einen Baumstamm. Von hier musste sie zu Fuß weiter, aber schon nach wenigen Schritten stieß sie einen Freudenruf aus. Die Sonne schien warm auf den Hang, und der Teppich aus Anemonen war noch nie so dicht gewesen. Raghild nahm den dünnen Schleier ab und breitete ihn aus, um die gepflückten Blumen hineinzulegen. Sie war so vertieft in ihre Beschäftigung, dass sie das knackende Geräusch weiter oberhalb gar nicht bemerkte. Aus dem Gebüsch kam ein Mann und blieb betroffen stehen. Offensichtlich hatte er hier niemanden erwartet. Für einen Augenblick hielt er inne, um das Bild zu betrachten, das sich ihm bot. Zwischen den Bäumen saß ein Mädchen mitten in den Sternblumen und sein blondes Haar leuchtete in der Sonne wie goldene Seide.
»Wie die Frühlingsfee«, murmelte der Mann vor sich hin. Aber er hatte keine Zeit, denn seine Verfolger waren ihm dicht auf den Fersen. Das Mädchen dort unten war offensichtlich allein, und das Pferd konnte er von seinem erhöhten Standpunkt aus auch sehen. Wenn er das bekäme, wäre sein Entkommen gesichert.
Erst als er den Hang hinunterrutschte, wurde Raghild aufmerksam. Sie betrachtete erstaunt den Fremden und überlegte, was er wohl hier wollte. Er trug ein schwarzes Lederwams sowie derbe Hosen und Stiefel. An der Seite hing ein langer Dolch, sonst sah sie keine Waffen. Ein Bauer war er offensichtlich nicht, aber für einen Edelmann war seine Kleidung zu abgetragen, und ein Ritter wäre hier niemals zu Fuß unterwegs. Sie hob ihre Blumen auf und ging zurück zu ihrem Pferd, um den Fremden zu erwarten. Erst als er unmittelbar vor ihr stand und sie seinen blutverschmierten Arm und sein finsteres Gesicht sah, erschrak sie heftig. Sie war ganz allein, und wer sollte ihr helfen, wenn …
»Seid Ihr allein, mein Fräulein?«
Er sprach wie ein Edelmann, auch wenn er nicht danach aussah. Und er hatte wohl in ihrem verängstigten Gesicht die Antwort schon gelesen, denn er trat noch einen Schritt näher und griff nach dem Zügel, den sie in der Hand hielt.
»Ihr müsst mir Euer Pferd überlassen«, erklärte er.
Falba, ihre Lieblingsstute? »Nein!« Plötzlich war Raghild viel zu wütend, um sich zu fürchten. Was glaubte der Mann eigentlich, wen er vor sich hatte? Falba war ein Geschenk ihres Vaters, und nur der Knappe Gerfried durfte sie versorgen und reiten, wenn sie selbst keine Zeit hatte.
»Ich weiß zwar nicht, wer Ihr seid und was Ihr hier wollt, aber wie könnt Ihr es wagen, gegen eine Dame so aufzutreten? Macht Platz, damit ich aufsitzen kann!«
Er betrachtete amüsiert das zornige Geschöpf. Ihre Augen blitzten, das fein gezeichnete Gesicht war gerötet und ihre Hand zog hart den Zügel zurück, während sie im anderen Arm noch immer die Anemonen trug. Sie reizte ihn, und unter anderen Umständen hätte es Spaß gemacht, ihr zu zeigen, wer der Herr war. Aber es blieb keine Zeit, sich mit dem Mädchen zu befassen, jeden Moment konnten die Verfolger über den Berg kommen. Er streckte wieder seine Hand nach dem Pferd aus, aber sie stieß ihn zurück. Da verlor er die Geduld. Er packte das Mädchen und stieß es zur Seite. Raghild schrie auf, verlor das Gleichgewicht und stürzte den Abhang hinunter. Er hörte ihren Kopf mit einem dumpfen Geräusch gegen einen Baumstamm prallen. Am Bach blieb sie liegen, der Schleier war aufgegangen und die Sternblumen lagen überall verstreut. Er machte eine unwillkürliche Bewegung, um ihr nachzuklettern, aber in dem Moment hörte er von oben aufgeregte Stimmen. Die Verfolger!
Das Mädchen war vermutlich tot, das war Pech. Aber er hatte das Pferd, und darauf allein kam es an. Er zerschnitt den Gurt des Damensattels, riss ihn herunter und sprang auf.
Im Dörfchen Lustenau am Fuße des Kreßberges nutzten die Bauern den Sonntag, um einen Spaziergang an den Äckern vorbei zu machen. Viele blickten besorgt drein, denn niemand wusste, ob man dieses Jahr in Frieden die Felder bestellen konnte. Der Streit zwischen König Heinrich und Eberhard dem Erlauchten von Württemberg wurde immer bedrohlicher und konnte in kurzer Zeit das ganze Land mit Krieg überziehen.
Plötzlich verstummten die Gespräche, denn über die Dorfstraße aus festgetretenem Lehm kam im schnellen Trab ein Reiter. Er war noch jung, hatte eine kräftige Gestalt und ein scharf geschnittenes Gesicht mit einer gebogenen Nase.
Es waren ausnahmslos freundliche Gesichter, die sich ihm zuwandten, denn der junge Michael von Kreßburg wurde von den Leuten noch mehr geliebt als sein Vater, Herr Stephan, der das Land mit Umsicht verwaltete. Es lebte sich gut unter der Herrschaft der Kreßburger, vor allem seit Stephan den Besitz geerbt hatte und keinem mehr lehenspflichtig war.
Aber heute Abend musste Michael es eilig haben, denn er hielt nicht an, um mit jemandem zu sprechen, sondern erwiderte nur freundlich die Grüße und ließ seinen Rappen rasch den Berg hinauftraben, auf dessen höchster Spitze die Kreßburg lag.
Dort übergab er sein Pferd einem Knappen und meinte:
»Reibe ihn gut ab, Gerfried. Er hat den Weg von der Flügelau hierher in weniger als drei Stunden gemacht.«
Gerfried strahlte so stolz, als hätte er die Strecke selbst zurückgelegt. Seit er sich um die Pferde kümmerte, nahm er eine besondere Stellung unter den Knappen ein.
Michael nickte ihm zu und ging mit schnellen Schritten zur Oberburg hinauf, wo er nach wenigen Augenblicken in der Halle stand, in der seine Eltern zusammensaßen. Der alte Herr hatte sich über eine Pergamentrolle gebeugt und seine Frau hielt eine Seidenstickerei in den Händen. Sie erwiderten seinen fröhlichen Gruß erstaunt und Frau Anna setzte hinzu:
»Warum kommst du heute Abend noch nach Hause, wir haben dich erst morgen erwartet? Und du siehst so verschwitzt aus, ist deine Nachricht so eilig?«
»Woher wisst Ihr, dass ich eine Nachricht für Euch habe?«
»Dazu muss man nur dein eifriges Gesicht ansehen«, antwortete sein Vater lächelnd. »Und eine schlechte Botschaft kann es demnach auch nicht sein.«
»Ihr habt recht, es ist eine gute Neuigkeit. Als ich heute zur Flügelau kam, war mein Freund Gernot so glücklich, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Ihr wisst ja, dass er sonst ein ziemlich verschlossener Mensch ist.«
»Wir mögen ihn alle«, erwiderte Stephan. »Ich habe mich immer darüber gefreut, dass ihr beide Freunde seid, genauso wie sein Vater Heinrich und ich.« Sein Gesicht verdüsterte sich plötzlich. »Wäre es doch genauso mit meinem Bruder Dietrich und seiner Familie. Seit Jahren haben wir nichts mehr von ihm gehört, und wie sich seine Kinder verändert haben, wissen wir auch nicht. Aber ich habe dich unterbrochen, du wolltest uns von Gernot erzählen.«
»Ja, Vater«, sagte Michael ernster als bisher. »Denkt Euch, Gernot hat sich mit Onkel Dietrichs Tochter Brunhild verlobt. In den letzten Monaten hat er mir zwar manchmal angedeutet, dass er in eine Dame verliebt ist, die ich nicht kenne, aber nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass es eine von Lohr ist. Ich hätte ihm auch abgeredet von der ganzen Sippschaft, und so hat er mir zum ersten Mal etwas verheimlicht.«
»Das war sein gutes Recht. Wie kannst du schlecht über Menschen reden, die du kaum kennst, und die außerdem deine nächsten Verwandten sind?!« Es kam selten vor, dass der alte Mann auf diese Weise mit seinem Sohn sprach.
»Verzeiht mir, Vater, aber das erregt mich jedes Mal aufs Neue. Dieser Mensch lässt keine Gelegenheit aus, Euch zu verleumden. Und das nur, weil es ihm vor fünfzehn Jahren nicht gelungen ist, an Eurer Stelle hier oben Burgherr zu werden!«, ereiferte sich Michael. »Als damals der alte Herr von Lahre ohne Erben starb, wussten alle, dass sein Besitz an die Familie der Öttinger fallen würde. Ihr beide wart seine Lehnsmänner, und das Beste, was man erwarten konnte, war eine Weiterführung des Vertrages. Aber Ihr habt dem Lahre zweimal das Leben gerettet und nicht Onkel Dietrich! Und es war sein Recht, Euch die Kreßburg als freies Eigentum zu hinterlassen, obwohl Euer Bruder älter war. Jetzt sitzt er als Lehnsmann der Öttinger auf Lohr und schadet uns, wo er kann. Hätte ich die Gelegenheit, würde ich ihm zeigen, was ich von ihm halte!«
»Er ist mein Bruder, und wenn ich ihm nichts nachtrage, hast du auch kein Recht dazu. Vergiss das nicht!«
Michaels Zorn verflog allmählich. Und als er das traurige Gesicht seiner Mutter sah, bedauerte er, überhaupt davon gesprochen zu haben.
»Verzeiht mir«, bat er noch einmal. »Ich will Euch weiter von Gernot erzählen. Er ist so glücklich, dass ich mich wirklich mit ihm freue. Sein Vater lädt uns alle zur Hochzeit ein. Das Fest beginnt zwei Tage vor Pfingsten und soll bis zum Pfingstsonntag dauern.«
»Dann werden wir zum ersten Mal nach vielen Jahren Dietrich und seine Familie wiedersehen«, meinte Anna und sah ihren Mann an. »Es wird keine leichte Begegnung sein, aber vielleicht wird der alte Streit doch noch beigelegt.«
Über den Abhang am Schönbach schwärmten die Männer von Wüstenau, der kleinen Festungsanlage, die zur Kreßburg gehörte. Diesmal sollte ihnen der Wilderer nicht entkommen. Seit Monaten schoss er in ihrem Gebiet alle Tiere ab, und Herr Stephan hatte befohlen, ihn endlich festzunehmen.
Hier am Hang würde er nur langsam vorankommen, denn er war verletzt und blutete. Seinen Bogen hatten sie auch schon gefunden.
»Ruhe!«, rief auf einmal der lange Friedung, der die Schar anführte.
»Hört ihr nichts?« Sie lauschten angestrengt. Richtig, das war ein Hufschlag, der sich rasch entfernte.
»Wenn er sein Pferd hier hatte, bekommen wir ihn nie«, meinte einer.
»Unsinn«, erwiderte Friedung, »hier gibt es nirgendwo einen Platz, an dem man ein Pferd längere Zeit lassen könnte. Wir müssen nachsehen.« Sie erreichten den schmalen Pfad und suchten ihn ab. Plötzlich rief einer der Männer, der die Kurve schon erreicht hatte: »Seht doch nur! Da unten am Bach!«
Alle drängten sich um ihn und starrten den kurzen Hang hinab. Fast im Wasser lag bewegungslos ein Mädchen, dessen Schleier aufgegangen war. Ihr Haar schimmerte in der Sonne, und um sie herum verstreut lagen die weißen Anemonen.
»Das Fräulein Raghild«, flüsterte Friedung entsetzt, »die Kreßburgerin!« Jeder von ihnen kannte Herrn Stephans jüngste Tochter.
»Ist sie tot?«, fragte ein Junge. Friedung antwortete nicht. Er rutschte den Hang hinab und hob Raghilds Kopf an. Über seine Hände lief Blut, aber er hörte, wie sie leise stöhnte. Seine Gefährten sahen von oben gespannt zu.
»Rasch, helft mir!«, schrie er. »Sie lebt noch! Wir müssen sie so schnell wie möglich auf die Kreßburg schaffen. Baut eine Bahre!«
Eine Stunde später trugen sie das Mädchen in das Dorf Lustenau. Ein junger Bursche war vorausgelaufen, um Hilfe zu holen. Vom Kreßberg herunter sprengte Michael auf seinem Rappen, ihm folgte Gerfried mit einem weiteren Pferd am Zügel. Während der junge Mann abstieg, jagte der Knappe nach einem Blick auf die Tragbahre weiter auf der Straße nach Dinkelsbühl, um den Arzt zu holen. Die Männer setzten die Bahre ab, und Michael beugte sich über seine Schwester. Sie rührte sich nicht, als er sie anredete und vorsichtig ihren Kopf hob. Inzwischen hatten sich alle Dorfbewohner versammelt, und von der Burg herab rumpelte ein Wagen, der die Verletzte nach oben bringen sollte. Aber Michael winkte ab.
»Das Holpern des Wagens kann sie umbringen. Wir müssen sie hinauftragen.« Er sprach nicht aus, was er befürchtete: dass Raghild längst tot war. Aber hier war eine eingehende Untersuchung unmöglich.
Die Männer drängten herbei, um zu helfen, und Michael wählte die vier Stärksten aus. Sie trugen ihre Herrin rasch, aber vorsichtig den Berg hinauf. Er selbst ging nebenher und forschte ängstlich nach einem Lebenszeichen in ihrem Gesicht.
Am Burgtor kam ihm schreckensbleich sein Vater entgegen.
»Was ist mit Raghild?«
»Wir wissen es noch nicht. Sind Mutter und Lianna jetzt da?« Stephan nickte. Man trug Raghild in ihr Zimmer und hob sie vorsichtig auf das Bett. Inzwischen erstattete der lange Friedung den beiden Herren Bericht.
»Er muss auf ihrem Pferd geflüchtet sein«, erklärte er. »Anders hätte er nicht entkommen können.« Da kam Lianna, die ältere Tochter, aus dem Zimmer.
»Sie lebt noch, ist aber nicht bei Bewusstsein«, erklärte sie auf die fragenden Blicke der Männer. »Wann kann der Arzt hier sein?«
»Nicht vor morgen früh«, erwiderte Michael. »Schafft ihr es so lange?«
»Wir müssen«, antwortete Lianna entschlossen, »aber Ihr, Vater, müsst Mutter beruhigen. Ich bleibe bei Raghild.« Sie betraten den freundlich eingerichteten Raum, den Lianna und Raghild gemeinsam bewohnten. Frau Anna war am Bett ihrer Tochter zusammengesunken und weinte leise vor sich hin. Stephan legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Anna, ich bitte dich«, sagte er so ruhig wie möglich, »dein Weinen hilft Raghild nicht. Komm mit hinunter in die Halle. Lianna weiß am besten von uns allen, was zu tun ist. Sie wird hier bleiben.« Anna machte eine fahrige Bewegung mit der Hand.
»Aber ich kann sie doch nicht verlassen«, jammerte sie. »Mein armes Kind – wenn sie nun stirbt, ohne dass ich bei ihr bin?«
»Du kannst ihr jetzt nicht helfen«, sagte Stephan eindringlich. »Komm mit mir hinunter!«
Die Burgfrau, seit vielen Jahren an Gehorsam gegen ihren Mann gewöhnt, erhob sich langsam. Stephan legte den Arm um ihre Schulter und führte sie hinaus. Michael folgte den beiden, wandte sich aber in der Tür noch einmal um.
»Brauchst du irgendetwas, Lianna? Kann ich gar nicht helfen?«
Seine Schwester schüttelte den Kopf. Sie kniete neben dem Bett und tupfte mit einem feuchten Tuch vorsichtig das Blut von Raghilds Gesicht.
»Ich habe schon alle nötigen Anweisungen gegeben. Du kannst hier nichts tun. Kümmere dich um die Eltern …« Sie drehte sich um. Ihr Gesicht wirkte härter als sonst, die Augen schienen unnatürlich groß und dunkel. »Wer war es?«, fragte sie leise.
»Der Wilderer, den wir schon seit Monaten jagen. Friedung und seine Leute hatten ihn fast erreicht, als er beim Schönbach Raghild traf. Er ist auf ihrem Pferd geflüchtet. Der Knappe war nicht bei ihr, er ist gerade erst gekommen. Sie muss ihm heimlich entwischt sein, sie wollte wohl unbedingt dort Anemonen pflücken.«
Lianna wischte seine letzten Worte mit einer ungeduldigen Handbewegung weg, der Knappe interessierte sie nicht.
»Musste er sie deshalb beinahe umbringen? Was ist er? Ein Mensch oder ein tollwütiges Tier?« Ihre Stimme war immer noch leise, aber das beunruhigte Michael stärker, als wenn sie geweint oder geschrien hätte. »Du wirst ihn finden, Michael. Du wirst ihn finden und dann …« Sie vernahm einen leisen Seufzer. Lianna fuhr herum und beugte sich über ihre Schwester. Raghild hatte die Augen aufgeschlagen, aber offenbar erkannte sie ihre Geschwister nicht. Sie versuchte sich aufzurichten und stöhnte erneut. Lianna hielt sie fest.
»Du musst liegen bleiben, Raghild. Du musst ganz ruhig sein. Es wird alles wieder gut!«
Michael strich ihr sanft über den Arm. »Hast du Schmerzen, Kleines?« fragte er.
Aber sie antwortete nicht, sondern schloss die Augen und verfiel erneut in Bewusstlosigkeit.
Am Morgen kam Gerfried mit dem Arzt aus Dinkelsbühl zurück. Der untersuchte die Wunde eingehend, legte einen neuen Verband an und bat Lianna, die ihm geholfen hatte, mit hinauszukommen. Im Vorraum warteten die Eltern und Michael.
»Herr, der Zustand Eurer Tochter ist sehr ernst«, meinte der Arzt. »Es ist eine starke Schwellung eingetreten. Die Hirnschale ist zwar nicht zerbrochen, doch ich weiß nicht, ob das Fräulein je wieder gesund wird. Auch der große Blutverlust hat sie geschwächt. Sie braucht völlige Ruhe, aber auch bei der sorgfältigsten Pflege kann ich nicht sagen, ob sie am Leben bleibt.«
Anna brach erneut in Tränen aus. Lianna fasste nach der Hand des Arztes. »Ich will sie pflegen. Wir werden alles tun, was möglich ist, und wenn der Himmel gnädig ist, wird sie leben!«
»Aber Ihr könnt das nicht allein schaffen. Ich werde die nächsten Tage hier bleiben.« Er wandte sich an Stephan. »Herr, Eure Gemahlin ist nicht gesund genug für eine so schwere Pflege. Lasst bitte eine Nachricht zum Spital von Dinkelsbühl bringen, die Schwestern vom Orden der heiligen Elisabeth sind in der Krankenpflege geübt. Eine von ihnen soll herkommen, um Fräulein Lianna zu helfen.«
»Ich schicke sofort einen Boten und einen Wagen, der die Schwester abholen wird«, erklärte Stephan aufstehend.
Lianna ging in das Krankenzimmer zurück. Sie fiel neben Raghilds Bett auf die Knie. »Du musst leben«, flüsterte sie, »du musst leben, damit wir es auch überstehen. Ich will alles für dich tun … Gütiger Himmel, lass sie am Leben!«
Tage vergingen. Die Schwester aus Dinkelsbühl war eingetroffen und teilte sich mit Lianna die Pflege. Raghilds Zustand veränderte sich wenig, und das Schwierigste war, ihr Nahrung einzuflößen, weil sie fast immer bewusstlos war.
Wenn Lianna die verzweifelten Gesichter ihrer Eltern und Michaels finstere Miene sah, stellte sie sich zuversichtlicher als sie war.
Aber in den endlosen Stunden am Bett ihrer Schwester wuchs ihr Hass auf den Unbekannten, der das alles verschuldet hatte. In der ganzen Umgebung suchte man nach dem Wilderer, Michael war ständig unterwegs, aber es war alles umsonst. Der Fremde schien wie vom Erdboden verschluckt, und auch die Stute Falba, deren Beschreibung inzwischen jeder kannte, fand man nicht wieder.
Am siebten Tag nach dem Überfall besuchte Lianna zum ersten Mal wieder die Messe, die der Burgkaplan Thomas las. Dass Ostern war, hatte sie völlig vergessen. Die Geschichte von der Auferstehung hatte sie schon oft gehört, aber Raghild würde nicht auferstehen. Die Worte der Liturgie schwirrten unverstanden an ihr vorbei, sie fühlte sich so ausgebrannt, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Nach dem Segen verließ sie die Kapelle, um sich draußen auf die niedrige Mauer zu setzten. Die Aussicht war herrlich, das zarte Grün der Bäume leuchtete vor dem blauen Himmel. Im Tal breiteten sich das Dorf und die Felder wie ein Brettspiel aus. Hier oben hatte sie immer mit Raghild gesessen. Wieder Raghild. Würde sie je wieder hier sitzen?
Von hinten näherten sich Schritte.
»Der Herr sei mit Euch, Fräulein Lianna«, sagte Pater Thomas. Unfähig zu antworten, blickte das Mädchen auf und nickte.
»Darf ich mich ein wenig zu Euch setzen?« Sie deutete mit einer Handbewegung auf den Platz neben sich und starrte wieder hinunter. Lianna fühlte sich nicht in der Lage, über Raghild oder die Eltern zu sprechen. Wenn er nur nicht auch noch davon anfing! Aber welches andere Gesprächsthema gab es überhaupt noch in der Kreßburg?
Pater Thomas hatte aber nicht die Absicht, über das Leid der anderen zu sprechen. Er hatte Liannas Veränderung mit noch größerer Sorge betrachtet als die Verzweiflung der übrigen Familie. Lianna pflegte ihre Schwester, hatte sie ständig vor sich, ohne ihr wirklich helfen zu können und verbitterte dabei immer mehr. Er sah von der Seite in ihr Gesicht und wartete. Nach einer Weile blickte Lianna auf und schaute ihn fragend an.
»Herrin«, sagte der Pater leise, »Ihr leidet.«
Da war es mit Liannas Fassung vorbei. Sie ballte die Fäuste und versuchte vergeblich, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. »Ich leide? Raghild! Sie leidet! Sie wird jeden Tag schwächer. Wir alle werden jeden Tag elender. Und ich kann nichts tun … nicht einmal beten. Könnt Ihr nicht beten, Pater? Um ein Wunder?« Liannas Stimme war erst heftig gewesen, wurde aber immer leiser.
»Und der Fremde, der Eure Schwester überfallen hat?«
Sie hob mit einem Ruck den Kopf, ihre Augen funkelten.
»Wenn ich nur wüsste, wer es war! Wenn ich ihn nur hier hätte! Jede Nacht, wenn ich nicht einschlafen kann, grüble ich darüber nach, was das für eine Bestie sein muss.« Sie sah dem Pater ins Gesicht. »Jetzt seid Ihr entsetzt über mich, weil ich so etwas sage.«
»Nein, Herrin. Ich bin froh, dass Ihr das aussprecht. Und ich glaube, ich kann es verstehen.«
»Aber Ihr predigt Barmherzigkeit und Vergebung. Und … ja, und Feindesliebe.« Lianna spuckte das letzte Wort fast aus.
»Ja, Herrin. Aber nicht nur das. Unser Glaube lehrt uns auch, für die Verzweifelten Verständnis zu haben. Seht, ich kann Eure Schwester nicht gesund machen. Ich bete für sie, so wie für Eure ganze Familie – aber ganz besonders für Euch.«
»Für mich? Warum besonders für mich?«
»Weil Ihr mehr leidet als die anderen, weil Ihr krank seid. Euer Herz ist krank.«
»Mein Herz?«
»Ja, Herrin. Ihr seid krank vor Hass. Ihr zerstört Euch selbst.«
Lianna wandte sich ab und sah über das Land, ohne es wirklich wahrzunehmen. Hatte Pater Thomas recht? Ihr Kopf schmerzte, sie fuhr mit der Hand über die Stirn. Sie war zu erschöpft, um darüber nachzudenken. Langsam stand sie auf. Auch der Geistliche erhob sich und fasste nach ihrer Hand.
»Ihr müsst damit aufhören«, sagte er eindringlich, »Es wird für Euch und Eure Familie alles leichter, wenn Ihr aufhört zu hassen.«
Sie zog ihre Hand zurück. »Ich muss zu Raghild. Ich wünsche Euch einen guten Tag, Pater.«
»Gott schütze Euch, Herrin.«
Pater Thomas sah ihr bekümmert nach und ging dann in die Kapelle zurück. Lianna brauchte seine Gebete noch dringender als er gedacht hatte.
Lianna hatte die Nonne abgelöst und saß neben Raghilds Bett. Sie lag immer noch bewegungslos und reagierte weder auf ihren Namen noch auf Berührungen. Die Brühe, die Lianna ihr einzuflößen versuchte, rann aus dem Mundwinkel über ihre Wange. Lianna wischte die Tropfen weg und lehnte sich entmutigt zurück. Die Worte des Paters hallten wie ein dumpfes Echo in ihrem Kopf: Euer Hass zerstört Euch selbst.
Sie betrachtete ihre bewusstlose Schwester, und wieder überlief es sie kalt beim Gedanken an den Täter. Stimmte es, was der Pater sagte? Machte sie durch Ihren Rachedurst wirklich alles noch schlimmer? Michael war gestern Abend völlig erschöpft nach Hause gekommen, und sie hatte ihn gleich im Zwinger begierig nach dem Ergebnis seiner Suche gefragt. Tagelang war er unterwegs gewesen, hatte aber keine Spur gefunden, und sein bedrücktes Gesicht hatte sie verärgert. Es war einfach nicht gerecht. Raghild lag da, keiner konnte ihr helfen, und der Täter ging straffrei aus.
Plötzlich konnte sie es im Zimmer nicht mehr aushalten. Sie rief eine Magd herbei, die auf die Kranke aufpassen sollte, und lief in den Bergfried. Erst oben auf dem Söller fühlte sie sich etwas besser. Hier wehte immer ein Wind, und man konnte das ganze Land überblicken. Lianna lehnte sich über die Brüstung.
Michaels unglückliches Gesicht fiel ihr wieder ein. Sie hatte von ihm verlangt, den Mann zu finden. Vielleicht wusste ihr Bruder längst, dass es hoffnungslos war. Aber sie hatte immer wieder davon angefangen und ihm keine Ruhe gelassen, weil sie selbst keine Ruhe fand. Allmählich spürte sie ein Schamgefühl in sich hochsteigen. Pater Thomas hatte recht, sie musste damit aufhören, sie machte alles nur schlimmer. Sie würde Michael bitten, zu Hause bei den Eltern zu bleiben. Hier wurde er dringender gebraucht als bei dieser sinnlosen Suche. Lianna fühlte sich leer und ausgelaugt, als sie wieder in das Krankenzimmer zurückging.
Weitere fünf Tage stand Raghilds Leben auf Messers Schneide. Lianna mühte sich immer gleich liebevoll um ihre Schwester und stand genauso ratlos den Fragen ihrer Eltern gegenüber. Sie weinte sich oft in den Schlaf, aber der Gedanke an den Fremden verblasste, seit sie mit ihrem Bruder darüber gesprochen hatte, dass es keinen Sinn hatte, weiterzusuchen.
Und dann, am zwölften Tag nach dem Überfall, kam Raghild zum ersten Mal zu sich und sah ihre Familie, die sich in Windeseile um ihr Bett versammelte, mit klarem Bewusstsein an. Sie war zu schwach, um zu sprechen, aber von da an machte ihre Genesung Fortschritte. Zwei Wochen später konnte sie wieder aufstehen, und Pater Thomas las eine besondere Messe zum Dank für ihr Gesundwerden.
Nur einmal fragte Herr Stephan sie nach dem Überfall, aber seine Tochter konnte sich nicht mehr daran erinnern. Der ganze Tag war aus ihrem Gedächtnis verschwunden – Raghild wusste nicht einmal, dass sie in Marienbrunn gewesen war. Sie wurde ängstlich und unruhig, aber der Arzt erklärte dem besorgten Vater, dass solche Gedächtnislücken nach einer schweren Kopfverletzung häufiger vorkamen. Man dürfe das Mädchen nicht weiter beunruhigen. Dass Raghild sich je wieder erinnern konnte, war unwahrscheinlich. Und damit gab es auch keine Hoffnung mehr, den Täter durch ihre Beschreibung zu finden.
Lianna war das inzwischen gleichgültig. Wichtig war nur, dass es der Kleinen besser ging, und zu dieser Überzeugung brachte sie schließlich auch ihren Vater.
Inzwischen wurden in der Wasserburg der Grafen von Flügelau und auf der Burg Lohr die Hochzeitsvorbereitungen getroffen. Vor allem die Lohrer bemühten sich, ihre Tochter für die Verbindung mit dem Grafen besonders reich auszustatten.
Die Nachricht von dem Unglück auf der Kreßburg war natürlich auch bis zu ihnen gedrungen, aber Herr Dietrich hatte nur schadenfrohe Bemerkungen darüber gemacht. Als sie nun hörten, dass Raghild wieder gesund war und die ganze Familie zur Hochzeit kommen wollte, waren alle überrascht.
»Jetzt wo sie ihn beschreiben kann, werden sie den Mann wohl finden«, sagte Wolfun, der Älteste, mit gespannter Stimme.
»Das kann sie nicht«, erwiderte Brunhild, die mit dem Boten von Gernot gesprochen hatte. »Sie hat die Erinnerung daran verloren.«
»Dann hat Stephan jetzt eine Schwachsinnige zur Tochter?«, erkundigte Herr Dietrich sich hämisch.
»Nein, sie ist auch geistig wieder völlig gesund. Der Arzt meint, solche Gedächtnislücken kämen bei Kopfverletzungen öfter vor. Sie wird sich wohl nie mehr daran erinnern«, antwortete Brunhild.
Wolfun nahm einen tiefen Zug aus seinem Humpen. »Wie schade. Und jetzt haben wir das Vergnügen mit der ganzen Sippschaft?«
Sein Vater sprang wütend auf und begann, in der Halle auf und ab zu gehen. »Das Schlimmste von allem ist, dass ich mich mit diesem Mann an einen Tisch setzen soll und hören muss, wie ihn jeder den Herrn der Kreßburg nennt. Brunhild, konntest du den Flügelauern das nicht ausreden?«
Brunhild ließ die Spindel sinken und sah ihren Vater groß an. »Ihr wisst doch, dass nicht nur mein Schwiegervater und Onkel Stephan Freunde sind, sondern dass auch Michael schon lange Gernots bester Freund ist. Wie kann ich sie dann bitten, die Kreßburger auszuschließen?«
»Das ist es ja gerade«, grollte Dietrich. »Am Ende bleibt es nicht bei dieser einmaligen Begegnung. Ich sehe schon Situationen auf uns zukommen! Dass aber einer von denen Pate meiner Enkel wird, wirst du verhindern, Brunhild!«
»Ihr habt ganz recht, Herr Vater«, fiel Wolfun ein. »Ist eine solche Beziehung erst einmal angeknüpft, kann man sie nur schwer wieder abbrechen. Wir sollten deshalb alle deutlich machen, dass wir mit diesen Leuten nichts zu tun haben wollen.«
Kunrad, der Zweitälteste, schüttelte den Kopf. »Wie denkst du dir das, Wolfun? Wir können uns doch nicht weigern, sie zu grüßen oder mit ihnen an der Tafel zu sitzen, ohne den Gastgeber zu kränken?«
»Allerdings«, mischte sich Gisela, die jüngere Tochter ein, »schon Brunhild zuliebe dürfen wir keinen Streit anfangen.«
»Seit wann redest du mit, wenn sich Männer unterhalten?«, fragte Wolfun scharf. Gisela senkte erschrocken den Kopf. Hätte sie doch geschwiegen! Wolfun zu reizen war noch schlimmer als den Vater zu verärgern, das wusste sie genau. Statt Brunhild zu helfen, hatte sie alles noch schlimmer gemacht.
Frau Katharina erhob sich und strich nervös mit den Händen über ihr Kleid. »Wenn es dir recht ist, gehe ich mit den Mädchen, um noch etwas für die Aussteuer fertig zu machen«, sagte sie leise.
Dietrich nickte nur, und sie winkte ihre Töchter eilig hinaus. »Wie konntest du dich bloß einmischen? Ist die Geschichte mit den Kreßburgern nicht schlimm genug?«, empfing sie ihre Jüngste im Vorraum. Gisela schossen die Tränen in die Augen.
»Es tut mir so leid … ich wollte doch nur …«, stammelte sie.
»Sie hat mir nur helfen wollen, Frau Mutter«, sagte Brunhild, legte den Arm um die schluchzende Gisela und strich ihr mit der anderen Hand über das schwarz glänzende Haar. »Weine nicht mehr, Gisela. Du wirst sehen, es geht alles gut«, beschwichtigte sie und dachte: Den Trost brauche ich genauso wie sie.
»Ich hoffe, du lernst etwas daraus, Gisela«, sagte Frau Katharina abschließend. »Kommt jetzt, es ist noch viel vorzubereiten bis Pfingsten.«
In der Halle war es einige Minuten still, nachdem die Frauen hinausgegangen waren. Schließlich wandte sich Kunrad an den Jüngsten der drei Brüder. »Was meinst du zu alldem, Rudolf, du hast noch gar nichts gesagt?«
Rudolf fuhr sich nachdenklich mit der Hand über den kurzgeschnittenen Bart. »Ich denke, wir müssen die Sache auf uns zukommen lassen. Wir werden ja sehen, wie die Kreßburger sich zu uns stellen. Vielleicht meiden sie uns wie die Pest, und wenn nicht, brauchen wir uns trotzdem nicht mit ihnen abzugeben.«
»Ich weiß auf jeden Fall, was ich tue, wenn ihr beide den Schwanz einkneift«, schnaubte Wolfun. »Ich werde dafür sorgen, dass der Kreßburger wenigstens beim Turnier wie ein Hanswurst aussieht! Der wird Zeit seines Lebens an mich denken! Und danach wird er kaum wünschen, seine lieben Verwandten wieder zu sehen!«
»Ich bin froh, dass wenigstens einer meiner Söhne unsere Ehre vertritt! Bravo, Wolfun, so kenne ich dich wieder. In den letzten Wochen hast du mir gar nicht gefallen, aber das spricht mir aus der Seele.« In Dietrichs Augen glühte es unheimlich. »Mach ihn so lächerlich, dass er sich nirgendwo mehr blicken lassen kann. Und wenn er sich dabei die Knochen bricht, ist es umso besser.
Zeige diesem Mann, der sich meinen Bruder nennt, wer den besseren Nachfolger hat!«
Am Freitag vor Pfingsten waren im unteren Hof der Kreßburg die Leute schon sehr früh bei der Arbeit. Die Knappen striegelten die Pferde, bis kein Staubkorn mehr zu sehen war. Das beste Zaum- und Sattelzeug wurde hervorgeholt, um es ebenfalls auf Hochglanz zu polieren. Zwei Pferde zogen auf Anweisung des Hofmeisters einen großen Reisewagen vor den Zwinger.
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