Die Kristallmumien von Lüneburg - Nicole Gabrys - E-Book

Die Kristallmumien von Lüneburg E-Book

Nicole Gabrys

0,0

Beschreibung

Lüneburg 1729: Thomas Kühn wird unschuldig verhaftet und zu einem heruntergekommenen Bauernhof gebracht. Durch eine Flüssigkeit wird er und später auch Jakob, der wahre Frauenmörder, in Kristallmumien verwandelt. Alexander erfährt von dem Fund der beiden Kristallmumien und erinnert sich an den jungen Altägypter Okpara. Er möchte ein Mumienteam gründen um Larissas Fähigkeiten zu erforschen. Die beiden Kristallmumien scheinen ihm geeignet und fährt mit Larissa und dem zukünftigen Team nach Lüneburg. Bei der Erweckung fällt Larissa ins Koma und wandert durch das Fegefeuer. Dort trifft sie nicht nur auf die beiden Männer, sondern auch auf Dämonen. Okpara beschließt seine Seele von Larissas zu lösen, damit sie wieder aus dem Koma erwachen kann, doch dieser Schritt bedeutet sein Ende. Ohne ihre innere Kraft kann er nicht weiterleben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 374

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Opfer und Täter

Alexander

Auf den Weg nach Lüneburg

Die Kristallmumien erwachen

Willkommen im Fegefeuer

Für dich würde ich noch einmal sterben

In Okparas Körper

Der Schnitt am Hals

Überraschungen!

Hathor, die Göttin mit dem Kuhkopf

Ein Engel gibt sich die Ehre

Böse Überraschungen im Krankenhaus

Befreiung und Verfolgung

Die St. Johanniskirche

Echnatons Befreiung

Entführung

Eine Ruine im Wald

Der Kampf gegen die Dämonen

Jakob will nicht aufgeben

Noch einmal ins Fegefeuer

Wie kann eine Jungfrau ein Kind bekommen?

Unter einem Dach

Das Who is Who der ägyptischen Götter

Charaktere

Danksagung

Autorin

Eine Ägyptologin meinte die Namen, die die Autorin ausgesucht hatte, sind nicht ägyptisch. Leider sind altägyptische Namen schwierig zu merken oder auszusprechen. Die Autorin fand die Namen auf der Online-Seite namen-namensbedeutung.de zwischen den Namen von Pharaonen und ägyptische Götter. Sie hofft, dass sie dem Leser trotzdem gefallen.

Opfer und Täter

Lüneburg im Jahre des Herrn 1729

Die Straßen waren noch aufgeweicht vom Regen der letzten Nacht. Das schmutzige Wasser glänzte dunkel in den Pfützen und spritzte zu allen Seiten weg, wenn die Räder der Kutschen ratternd hindurch fuhren. Der Gestank nach Kloake war allgegenwärtig.

Wie jeden Morgen betrat Thomas Kühn pünktlich das Lagerhaus seines Schwagers Leopold Josef Jensen. Er arbeitete als Buchhalter, Kontrolleur und als alles, wofür sein Schwager ihn sonst brauchte. Leopold demütigte ihn, wo er nur konnte. Deshalb kam Thomas nicht gerne hierher.

Sollte er versuchen, bei einem anderen Händler eine Anstellung zu finden, würde sein Schwager es mit Lügen zu verhindern wissen. Thomas war zu gut, um ihn an die Konkurrenz zu verlieren.

Die Arbeiter grüßten ihn abweisend. Thomas bemerkte ihre verstohlenen Blicke. Er eilte durch die große Lagerhalle.

Was haben die nur?, wunderte er sich. Ist es, weil Leopold wieder da ist? Hat er sie angeschnauzt? Das würde zu gut zu ihm passen, dieser Unmensch.

Schon der Gedanke an seinem Schwager ließ ihn aufstöhnen.

Die nächsten Wochen werden sehr anstrengend, dachte er mit düsterer Gewissheit, da muss ich wohl oder übel durch.

Wie immer betrat er seine kleine Schreibstube und seufzte. Auf seinem schmalen Pult lag schon ein Stapel Papiere, der auf seine Bearbeitung wartete.

Die wird Leopold noch in der Nacht in den Laden gebracht haben, bemerkte Thomas und seufzte wieder. Er hasst mich, weil Hildegard mich zu sehr mag. Ich bin immerhin ihr kleiner Bruder. Geschwisterliebe ist nicht verboten! Für Leopold scheint es aber eine Todsünde zu sein.

Um mehr Licht beim Durcharbeiten der Papiere zu haben, zündete er eine Petroleumlampe an, nahm das Schild 'Nicht stören!' und hing es draußen an seine Tür.

Die Mitarbeiter wussten nun, dass er wichtige Arbeiten zu erledigen hatte.

Er setzte sich auf den unbequemen, zerkratzten Stuhl. Das Holz knarrte.

Du willst auch nicht hier arbeiten, alter Freund, versuchte Thomas sich aufzumuntern, doch es half nicht. Ich tue es für meine Maria und unseren kleinen Theo. Ich werde dafür sorgen, dass er eine bessere Zukunft hat.

Er sah die Papiere durch und sortiere sie vor, um mit dem kontieren und archivieren, der Dokumente, beginnen zu können.

Die doppelte Buchhaltung war zwar kompliziert, aber Thomas liebte Zahlen und Rechnen.

Er fühlte sich dann immer in seinem Element. Wie gerne hätte er Mathematik studiert. Leider waren seine Eltern nicht wohlhabend gewesen, um es ihm zu ermöglichen.

Wenn ich doch nur eine bessere Stelle finden könnte, wünschte er sich sehnsüchtig und zerzauste sich sein leicht gelocktes Haar. In einer anderen Stadt hätte ich bestimmt bessere Aussichten auf eine gute Anstellung.

Er versank schnell in seiner Arbeit.

Die Tür wurde heftig aufgerissen. Thomas erschrak und starrte den Mann in der Uniform der Stadtgarde verwirrt an.

„Was soll das?“, rief er entrüstet. „Haben Sie das Schild nicht gesehen?“

Wenn ich buche, soll mich doch niemand stören, ärgerte er sich.

„Herr Jensen wird toben, weil Sie mich gestört haben“, erklärte er.

„Thomas Rudolf Kühn?“, fragte der Gardist mit versteinerter Miene.

Er hielt die typische Hellebarde der Stadtwache in der Hand. Auf der breiten Klinge schimmerte das Licht der Petroleumlampe.

„Ja, der bin ich“, erwiderte Thomas verwundert. „Ist etwas passiert?“

Schnell schoss das Bild seiner Frau Maria durch seine Gedanken. Zuhause war sie sicher.

Der Stadtgardist nickte jemanden auf dem Gang zu und ließ zwei zwielichtige Männer vorbei in die Schreibstube.

„Thomas Kühn, du bist verhaftet“, rief der Gardist laut.

„Was? Warum?“ Thomas war vor Schreck wie gelähmt. Seine Gedanken überschlugen sich.

Die beiden Männer packten ihn grob an den Armen und grinsten dreckig. Er versuchte sich, gegen die stinkenden Kerle zu wehren, doch es nutzte nichts.

„Das fragst du noch“, schrie Leopold, der hinter dem Stadtgardisten die Schreibstube betrat. „Du kleiner Parasit, weißt ganz genau, was du getan hast!“

Er stieß ihm den Finger gegen die Brust.

Thomas sah in das tiefrote, zornige Gesicht seines Schwagers, der fünfzehn Jahre älter, als er war.

„Jetzt übertreibst du es wirklich, Leopold“, sagte Thomas ruhig. „Was soll ich denn, deiner Meinung nach, getan haben?“

Leopold packte ihn am Kragen seines Hemdes. Er stierte Thomas wütend an.

„Du, kleiner Wicht. Du widerst mich an“, schrie Leopold los. „Nur wegen deiner Schwester, meiner Frau, habe ich dir hier Arbeit gegeben und was machst du?“

Speicheltropfen landeten auf Thomas‘ Gesicht.

„Was soll ich denn getan haben?“, wiederholte Thomas seine Frage lauter. „Sag es mir endlich!“

„Du dreckiger, kleine Bastard“, schrie Leopold und schlug ihm ins Gesicht. „Du hast meine Frau … du hast meine Hildegard erst geschändet und dann, … weil es dir nicht genug war, musstest du Schwein, sie auch noch ermorden.“

Was? Hildegard ist …, schoss es Thomas bestürzt durch den Kopf, doch wollte er den Satz nicht beenden.

Ihm wurde es bis tief in seine Seele kalt. Vor Entsetzen! Vor Trauer! Ihm versagten die Beine. Wenn die Kerle ihn nicht festgehalten hätten, wäre er gestürzt.

„Nein“, hauchte er. „Hildegard ist … sie ist tot.“

Leopold brüllte ihn immer noch an, doch er bekam nichts mehr mit. Er blickte ins Leere und begann zu weinen. Seine Lippen zitterten.

In ihm wuchs das Gefühl, als würden sich Eiskristalle auf seiner Seele bilden.

„Ich … ich habe Hildegard letzte Nacht doch nach Hause gebracht“, erzählte Thomas langsam, „weil es im Moment auf den Straßen nicht sicher ist. Es wurde doch schon drei Frauen ermordet.“

„Du hast meine Frau umgebracht, du verdammter Mörder!“, rief Leopold aufgebracht. „Du wurdest mit ihr gesehen.“

„Natürlich wurde ich mit ihr gesehen, weil ich sie nach Hause gebracht habe“, wiederholte Thomas sich lauter. „Das habe ich doch gerade gesagt.“

Der Gardist legte ihm schwere Armfesseln an. Das Metall schien auf Thomas‘ Haut zu brennen, wie Eis.

„Hildegard ist doch meine Schwester“, rief er. „Ich würde ihr doch nie … niemals …“

„Schnauze!“, schrie Leopold und schlug ihm wieder ins Gesicht. „Bringt diesen Bastard aus meinen Augen! Sperrt ihn in das dunkelste Loch, das ihr habt. Er soll dort verrotten.“

„Das werden wir schon besorgen, Herr Jensen“, beteuerte der linke Kerl, der Thomas festhielt.

Er lachte überlaut und zeigte dabei seine schlechten Zähne.

„Los, raus hier!“ Die beiden Lumpen zerrten Thomas an Leopold vorbei.

„Leopold, ich würde doch niemals meiner Schwester so etwas antun“, versuchte Thomas es noch einmal. „Niemals hörst du! Niemals!“

Er sah, dass Leopold ihm nicht glauben wollte.

Wie tief müssen bei ihm der Hass und die Eifersucht auf mich sitzen?, fragte Thomas sich verzweifelt. Jetzt wo Hildegard tot ist, kann er mich ganz einfach loswerden. Auch wenn ein anderer der Mörder ist.

Die Arbeiter sahen weg, als man Thomas an ihnen vorbei nach draußen führte. Sie versuchten, weiter ihrer Tätigkeit nachzugehen, doch er spürte ihre verstohlenen Blicke in seinem Rücken.

„Bitte, ich war es nicht!“, flehte Thomas. „Ihr müsst mir glauben!“

„Ja, ja, das sagt jeder“, meinte der rechte Kerl. „Immer das Gleiche mit euch Gesindel!“

Vor dem Lagerhaus stand schon ein Käfigwagen bereit. Die dunkelbraunen Pferde schnaubten und scharrten mit ihren Hufen über den Boden. Ihre Beine waren mit Schlamm bespritzt.

Ein elegant gekleideter Mann mit brauner Lockenperücke verschwand schnell zwischen den neugierigen Passanten, als man Thomas aus dem Lager zerrte. Trotzdem entging Thomas der Fremde nicht – seine Erscheinung war zu vornehm unter all den Bürgerlichen.

Wer war das?, fragte sich Thomas. Warum hatte er mit dem Kutscher gesprochen?

Leute blieben stehen und blickten interessiert auf den Käfig. Sie tuschelten leise miteinander und zeigte auf ihn.

„Ich bin es nicht gewesen!“, beschwor Thomas sie hilflos. „Ich würde niemals meiner eigenen Schwester etwas antun! Glaubt mir doch, bitte!“

„Halt dein dreckiges Schandmaul!“, blaffte der Stadtgardist und öffnete die Käfigtür. „Rein da! Und zwar schnell!“

Thomas sah in die Gesichter der Passanten auf der Straße.

Du bist schuldig, las Thomas in ihren Augen. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Sie kannten ihn nicht und er hätte an ihrer Stelle vermutlich dieselbe Schlussfolgerung gezogen. Menschen neigten schnell dazu, andere zu verurteilen, um sich wieder in Sicherheit wiegen zu können. Ein Mörder war gefasst, das war für sie entscheidend.

Er hatte keine andere Wahl und musste in den Käfig klettern. Die Tür schloss sich quietschend hinter ihm.

Warum passiert das?, fragte Thomas sich. Nur weil ich Hildegard nach Hause gebracht habe?

Der Stadtgardist drehte den Schlüssel sachgemäß und wichtig im Schloss herum. Er genoss die Aufmerksamkeit der Leute und rüttelte gewissenhaft an dem Gitter, um zu überprüfen, ob der Käfig auch wirklich verschlossen war. Langsam ging er nach vorne zum Kutscher.

„Hier, Wilhelm“, sagte der Stadtgardist und überreichte ihm den Schlüssel.

Die beiden Kerle, die Thomas nach draußen geführt hatten, stiegen zu Wilhelm auf den Kutschbock.

Hier ist doch was faul, dachte Thomas ängstlich. Normalerweise bekommt der Kutscher den Käfigschlüssel nicht. Ich habe von Männern gehört, die verhaftet wurden und nie beim Gefängnis angekommen sind. Sie sind einfach verschwunden.

Ein Schauer der nackten Angst lief über seinen Körper.

„Abfahren!“, befahl der Stadtgardist. Er gab dem Pferd neben sich einen Klaps auf den Hintern.

Der Wagen fuhr an und rumpelte durch die Straße zum Platz am Sande, an dessen Ende die aus roten Backsteinen gebaute Kirche St. Johannes stand.

Thomas ließ sich resigniert am Gitter hinunterrutschen und starrte vor sich hin. Der Boden des Käfigs bestand aus wurmstichigem Holz, das an manchen Stellen morsch und von dreckigem Stroh bedeckt war. Ein fauliger Geruch lag in der Luft. Durch die Räder spitzte immer wieder schmutziges Wasser, aus den zahlreichen Pfützen, hoch. Durch die Trauer war Thomas zu keinem klaren Gedanken mehr fähig.

Hildegard ist tot, dachte er immer wieder und schluchzte laut. Das kann doch nicht wahr sein! Erst gestern haben wir gemeinsam mit Theo gespielt und waren glücklich. Ich erinnere mich noch an ihr Lachen.

Der Platz am Sande war bevölkert von Leuten, die für ihre Herrschaften Brot für das Frühstück besorgten, oder selbst gerade zur Arbeit eilten.

„Na, bereust du deine Tat?“, fragte Wilhelm über die Schulter hinweg.

„Ich habe meine Schwester nur nach Hause gebracht, mehr nicht“, erwiderte Thomas. „Was ist daran falsch?“

Er blickte nicht auf. Tränen liefen über seine Wangen und sickerten in seinen Bart und das Hemd. Die Trauer ließ seinen Körper erzittern.

Wie ist das nur möglich?, fragte er sich. Hoffentlich hast du nicht zu sehr gelitten, meine liebe Hildegard.

„Wer‘s glaubt“, erwiderte Wilhelm spöttisch. „Ihr Verbrecher lügt doch das sich die Balken biegen.“

„Ja genau.“ Einer der Kerle lachte gehässig. „Sagt es ihm, Wilhelm.“

Was soll ich nur tun?, grämte sich Thomas. Was wird nun aus Maria und unserer kleinen Theo? Man wird mich hängen, wenn der wahre Schuldige nicht gefunden wird.

Er blickte in den hellblauen Himmel, an dem ein paar kleine, weiße Wolken schwebten.

Bitte, gütiger Herr Gott, du weißt doch, dass ich es nicht getan habe, betete er. Ich gehe jeden Sonntag in die Kirche. Ich bitte dich um Schutz für meine kleine Familie. Halte deine Hand über sie, wenn ich es nicht mehr kann.

Thomas hatte nicht auf den Weg, den der Käfigwagen nahm, geachtet und schreckte aus seinen düsteren Gedanken auf, als der Kutscher in eine einsame Landstraße abbog.

Der Pfad wurde holpriger. Häuser oder Menschen sah er kaum noch. Die Bäume standen dichter. Ihre Stämme waren dicker.

„Wo sind wir hier?“, fragte Thomas alarmiert. „Das ist nicht der Weg zum Gefängnis. Wir fahren in den Wald.“

Wilhelm lachte.

„Ich bringe dich an einen bestimmten Ort“, sagte er, „genau der Richtige für miese Verbrecher, die wehrlose Frauen schänden und umbringen.“

„Ich war es nicht!“, stieß Thomas hervor. „Ich würde niemals einer Frau ein Haar krümmen!“

„Ja, ja, das sagen sie alle“, erwiderte Wilhelm genervt. „Weißt du, von wie vielen dreckigen Bastarden, ich das schon gehört habe? Es waren sehr viele! Zu viele! Sie endeten alle am Galgen.“

Er lachte wieder – ein kaltes, freudloses Geräusch.

Der Käfigwagen rumpelte auf einen Hof, dessen Boden sehr schlammig war. In der Luft lag der aufdringliche Geruch nach Tierdung. Irgendwo muhte eine einsame Kuh.

Das Gebäude hatte schon lange seine besten Tage hinter sich. Das Dach war in der Mitte eingesunken. Verdreckte Fenster starrten blind in die Gegend.

Wilhelm hielt vor einer Tür, von der die Farbe abblätterte. Die Angeln quietschen laut, als sie auf ging. Putz rieselte von der alten Fassade.

Ein Mann mit einem unförmigen Kopf humpelte aus dem Haus. Seine Kleidung war zerschlissen und wurde an vielen Stellen mit Flicken grob zusammengehalten.

Die beiden Männer, die mitgefahren waren, sprangen vom Kutschbock.

„Morgen, Buckel Jakob“, grüßte Wilhelm den Mann und warf ihm den Schlüssel des Käfigs zu. „Hier, fang!“

„Vielen Dank, der Herr“, rief Jakob mit einer fast schon weiblichen Stimme und humpelte um den Wagen herum. Er ging nach vorne gebeugt und öffnete ächzend die Käfigtür.

„Los, raus da!“, forderte Jakob Thomas auf. „Aber plötzlich!“

Thomas sah in das von Pockennarben entstellte Gesicht des Buckligen und erschauerte.

Ich habe ihn gestern Nacht auf der Straße, in der Hildegard wohnte, gesehen, dachte er erstaunt. Was hatte er dort getrieben?

Niedergeschlagen stand er auf, kletterte aus dem Käfig und blickte dem Mann in die kleinen, wasserblauen Augen.

Sein Blick ist lauernd, dachte Thomas. Von ihm habe ich nichts Gutes zu erwarten.

Jakob hatte buschige, schwarze Augenbrauen und ein schiefes Grinsen im Gesicht. Speichel lief über sein Kinn, den er hin und wieder mit einer fahrigen Bewegung wegwischte.

„So ist es gut!“ Der Bucklige schmunzelte irre. „Ich werde dir schon zeigen, was wir mit Verbrecher machen.“

„So ist recht, Buckel Jakob.“ Wilhelm lachte dreckig.

Die beiden Männer packten Thomas unter den Armen.

„Damit du uns nicht weglaufen kannst“, sagte der Rechte und grunzte schadenfroh. „Wilhelm, warte hier auf uns.“

„He Jakob, wo soll das Schwein hier hin?“, fragte der Linke.

„Na, in den Keller natürlich, wohin sonst?“ Jakob kicherte und humpelte voraus. „Ich zeige euch den Weg. Aber Achtung! Die Stufen sind noch etwa rutschig. Verdammter Regen!“ Leise vor sich hin lachen.

„Der ist verrückt“, flüsterte der rechte Kerl.

Thomas versuchte sich, aus dem Griff seiner beiden Wächter zu entwinden und seinen Häschern zu entkommen.

Sie zerrten Thomas in das Gebäude und eine steinerne, lange Treppe hinunter. An den Wänden wuchs eine graue Flechte. Wasser tropfte von der Decke.

Wo führen sie mich hin? Sehe ich das Tageslicht jemals wieder?, fragte sich Thomas ängstlich, als sie einen Gang passierten, der durch einen normalen Vorratskeller führte.

Jakob nahm eine Petroleumlampe und leuchtete den Kerlen den Weg aus.

Eine weitere Treppe tauchte aus der Dunkelheit auf. Stockflecken hatten sich auf dem bröckeligen Putz ausgebreitet. Sie näherten sich einer schweren Holztür mit rostigen Scharnieren.

„So, hier sind wir“, verkündete Jakob und öffnete jene ächzend. Die Angeln quietschten protestierend.

„Das wurde aber auch Zeit“, brummte der Linke. „Ich brauche keine Kellerführung, weißt du.“

„Ich auch nicht“, pflichtete der Rechte bei.

In dem Keller, der einem Gewölbe glich, war es kalt und feucht. Wie überall im Gebäude roch es muffig und faulig.

In einer Ecke glänzte es nass. Die Wände bestanden aus massiven, grob bearbeiteten Steinblöcken. Fenster waren keine vorhanden. Jakob entzündete Fackeln an dem Mauerwerk.

Durch das flackernde Licht bemerkte Thomas eine dicke Schicht, von irgendeinem hellen Pulver, auf dem Boden. An manchen Stellen schien es blutrot zu glitzern oder glich einem zähen Brei, wo der Staub sich mit dem Wasser vermischt hatte.

„Sag mal Jakob, was riecht hier unter eigentlich so komisch?“, fragte der Rechte.

Auch Thomas schnupperte.

Das sind Chemikalien, dachte er. Arbeitet hier ein verrückter Alchemist? Dieser Jakob ist zu dumm für so was.

„Das geht dich nichts an!“, erwiderte Jakob barsch. „Das ist Sache von Herrn Dippel und mir, natürlich.“

„Vielleicht sind es Ratten“, überlegte der Linke.

„Unsinn, diese Viecher riechen anders“, meinte der Rechte.

„Schwatzt nicht, legt dem Bastard das Joch und die Beinfesseln an!“, forderte Jakob die beiden Kerle auf. „Der Rest braucht euch nicht zu kümmern.“

Thomas trat nach seinen Gegnern, die sich das nicht gefallen ließen.

Die Wächter zogen Thomas die Schuhe aus und legten ihm die Schellen um die Fußgelenke. Das Metall war kalt und an manchen Stellen rostig. Die Kanten schnitten Thomas in die Haut. Zufrieden beobachtete Jakob das Vorgehen der beiden Handlanger.

„Sag mal Jakob, können wir die Schuhe behalten?“, fragte einer der beiden. „Die sehen noch gut aus. Fast wie neu. Sie bringen noch ein paar Mützen.“

„Ja, nehmt sie mit.“ Jakob winkte ab, als würde es ihn nicht stören. „Werdet endlich fertig.“

„Was ist mit seinem Gehrock?“, erkundigte sich der Rechte.

„Den könnt ihr auch mitnehmen“, erwiderte Jakob ungeduldig. „Er braucht ihn nicht mehr.“

„Also runter damit!“, rief der Rechte und lachte.

Thomas‘ hilflose Versuche, sich zur Wehr zu setzen, schienen Jakob zu erheitern. Die beiden Kerle streckten die Arme ihres Gefangenen, um dessen Handgelenke in die vorgesehenen Löcher zu bekommen. Das Joch wurde geschlossen. Jakob sicherte es grinsend mit einem Schloss. Er steckte den Schlüssel in seine Jacke und klopfte zufrieden auf die Tasche.

„Macht ihn da noch fest!“ Jakob zeigte ungeduldig auf die beiden Ketten, die von der Decke baumelten. „Dann seid ihr fertig und könnt gehen.“

Jakob wartete, bis er mit Thomas alleine war. Er rieb sich die knotigen Hände und kicherte leise vor sich hin. Langsam humpelte er um den Gefangenen herum. Der Zwang Thomas berühren zu wollen, wurde übermächtig.

„Wie viele Frauen hast du geschändet?“, fragte er und strich mit seinen Fingern über dessen Rücken.

„Keine Einzige!“, schrie Thomas wütend. „Mach mich los!“

„Das geht leider nicht“, sagte Jakob ruhig. „Nun, ich werde die Wahrheit schon noch aus dir herausholen.“

„Ich bin verheiratet und habe einen kleinen Sohn“, flehte Thomas verzweifelt. „Warum sollte ich so etwas Abscheuliches tun?“

„Sag es mir!“, forderte Jakob ihn auf, als er wieder vor Thomas stand. „Warum hast du es getan?“

„Ich war es nicht!“, beteuerte Thomas. „Hildegard war meine Schwester.“

„Ja, und?“ Jakob griff nach der Peitsche. „Das heißt gar nichts. In der Öffentlichkeit zeigst du allen den aufmerksamen Ehemann und liebevollen Vater, aber im Dunkeln … bist du ein Frauenhasser und Mörder.“

Er stellte sich hinter Thomas. Seine Finger glitten wieder über Thomas‘ Rücken. Mit einem Messer schnitt er das Hemd auf und riss es dann in Fetzen. Nur Teile der Ärmel blieben zurück.

„Du schleichst nachts durch die dunklen Gassen auf der Suche nach deinen Opfern“, redete Jakob weiter. „Du willst ihnen weh tun, sie schreien hören. Dich an ihren Qualen ergötzen.“

„Nein, das ist nicht wahr!“, widersprach Thomas laut. „Wie kommst du auf so was? … Warte mal … Bist du es etwa gewesen?“

„Nein, … wie kommst denn darauf?“ Jakob lachte. „Die Frauen laufen schon bei meinem Anblick sofort schreiend weg.“

Thomas Atem beschleunigte sich.

„Ich hasse Männer wie dich!“, stieß Jakob plötzlich hervor. „Ihr bekommt alles. Eine gute Anstellung, ein nettes, hübsches Eheweib und süße Blagen. Und ich? Ich bin alleine!“

Er schüttelte seinen rechten Arm aus, um die Muskeln zu lockern. „Ihr macht einen auf glückliche Familie und besauft euch in den Wirthäusern“, kreischte er, „und beschwert euch auch noch über euer, ach so, beschissenes Leben.“

„Ich trinke ni…“, begann Thomas und schrie auf, als die Peitsche auf seinen Rücken knallte. „Du verdammter Mist … Ah … du Feigling … Ah …“ Er stöhnte vor Qual.

„Ich werde dich blutig schlagen.“ Jakob lachte irre. „Deine Frau wird dich nicht mehr sehen wollen, wenn ich mit dir fertig bin.“

Thomas schloss die Augen und hoffte, Jakob würde bald aufhören, doch die Schmerzen wurden schlimmer.

Das stimmt nicht, versuchte er sich zu trösten. Maria würde weinen, weil sie mich sehr liebt. Mich gesund pflegen.

Er spürte, wie Blut aus seinen offenen Wunden floss. Er wollte nicht schreien, aber die Schmerzen waren zu groß. Hinter ihm lachte Jakob. Er schlug immer schneller und härter zu.

Jakob senkte die Peitsche, als Thomas in die Knie sackte und den Kopf hängen ließ.

„Hoffentlich bist du nur bewusstlos geworden“, grummelte er besorgt. „Tot kann ich dich nicht gebrauchen. Herr Dippel würde mich fortjagen.“

Er humpelte um den Gefangenen herum und griff unter dessen Kinn. Thomas stöhnte leise.

„Gut, du lebst noch, schön.“ Er tätschelte Thomas auf die Wange. „Gut, gut.“

Kichernd legte er die Peitsche weg und betrachtete sein blutiges Werk. Wie sehr er es liebte, andere zu verletzen.

„Wie oft waren Männer, wie du grausam zu mir?“, fragte er „Jemand wie du hat mich über Jahre gehänselt und ausgelacht. Mir ein Bein gestellt. Mich verhöhnt.“

Er griff unter Thomas‘ Kinn und schüttelte dessen Kopf. „Ich wollte doch nur dazu gehören!“, brüllte er den Bewusstlosen an. „Freunde haben, wie jeder andere auch. Was ist daran falsch? Ihr seid es! Ihr perfekt gebauten Kerle!“

Er schlug Thomas ins Gesicht. Ein leises Stöhnen drang aus dessen Kehle.

„Ich hasse dich!“, schrie Jakob. „Wie gerne würde ich dich zum Krüppel machen, damit du weißt, wie das ist, so zu sein wie ich.“

Leider darf ich das nicht, dachte er und schielte zu dem Tisch. Unter einem Tuch zeichneten sich die Folterinstrumente ab.

Er seufzte. Wie gerne würde er Thomas Daumenschrauben oder den spanischen Stiefel anlegen, doch das hatte sein Dienstherr Doktor Johann Dippel verboten.

„Keine Folter hat er ausdrücklich gesagt“, murmelte Jakob. „Schade! Sehr schade!“

Ich muss mir etwas wegen der Peitschenstriemen einfallen lassen, dachte er. Dabei habe ich ihn doch nur ein bisschen gekitzelt. Leider ist auch Blut geflossen. Hoffentlich nicht zu viel.

Unruhig lief er durch den gewölbeähnlichen Keller. Er schlürfte in den Nebenraum und setzte sich auf einen alten Stuhl. Er musste warten. Warten, dass Thomas wieder aufwachte und dass sein Dienstherr Johann Dippel endlich hereinkam.

Als Thomas wieder zu sich kam, fror er. Immer noch hing er an den Ketten, die leise klirrten, als er versuchte, sich zu bewegen. Seine Knie baumelten zwei Handbreit über dem Boden. Ihm fehlte die Kraft aufzustehen. Seine Arme und sein Rücken schmerzten. Das getrocknete Blut auf seiner Haut juckte höllisch. Seine Zunge fühlte sich wie ein pelziges Tier an, das man ihm in den Mund gestopft hatte. Er hatte entsetzlichen Durst.

„Jakob“, krächzte er. Seine Stimme hörte sich fremd an.

Er vernahm schlürfende Schritte und blickte auf.

„Hast du was gesagt, Frauenmörder?“, fragte Jakob.

„Ja, gib mir bitte etwas zu trinken“, bat Thomas leise. „Ich bin kein Mörder!“

Leider konnte er nicht lauter sprechen. Gerne hätte er Jakob angeschrien.

„Tut mir furchtbar leid, aber dazu habe ich keine Befugnis“, erklärte Jakob grinsend.

„Dann mach mich los!“, forderte Thomas.

„Das darf ich auf keinen Fall tun“, erwiderte Jakob. „Du bist zu gefährlich. Ich, armer Krüppel, wäre dir hilflos ausgeliefert. Nein, nein. Ich bin nicht dumm.“ Er schüttelte den Kopf.

Thomas lauschte. Das Echo von Schritten auf der Treppe war zuhören.

„Mein Herr Dippel kommt“, rief Jakob und lief zur schweren Eichentür, um diensteifrig zu öffnen. „Herr Dippel, was für eine Freude Sie hier zu sehen“, begrüßte Jakob seinen Dienstherrn unterwürfig. „War Euer Aufenthalt in der Stadt erfolgreich?“

Johann Konrad Dippel betrat den großen Kellerraum. Er war mal ein angesehener Arzt und Theologe gewesen. Vor Jahren war er noch ein willkommener Gast am deutschen Königshof gewesen, aber weil er auf einen Scharlatan hereingefallen war, durfte er dem König nicht mehr unter die Augen treten.

Stets trug er eine braune Lockenperücke, die zu dieser Zeit in Mode war und hatte 56 Lenze auf dem Buckel. Er war in Lüneburg recht bekannt. Viele Leute kamen, um seinen Vorträgen zu lauschen – ungeachtet seines beschädigten Rufs. Mittlerweile hatte er sich der anrüchigen Alchemie zugewandt, was seiner Beliebtheit aber keinen Abbruch tat. Seine Anhänger hingen trotzdem an seinen Lippen und sogen sein Wissen auf wie Schwämme.

Thomas hatte sich nicht für ihn interessiert. Daher kannte er Doktor Dippels Gesicht nicht.

Das ist der Mann, den ich bei dem Gefängniswagen gesehen habe, erkannte er.

Er drehte seinen Kopf, um den Mann ansehen zu können.

Das ist also der berüchtigte Johann Konrad Dippel, dachte er weiter. Die Leute reden viel über ihn, von seinen unheimlichen und schändlichen Experimenten.

Dippel stellte seelenruhig ein verschlossenes Becherglas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit auf ein kleines Tischchen, das Jakob schnell aus dem Nebenraum herbeigetragen hatte.

„Ich hoffe, es ist alles zu Eurer Zufriedenheit, Herr Dippel“, sagte Jakob kriecherisch und rieb sich nervös die Hände.

Thomas stierte das Glas an. Er hatte einen brennenden Durst, der ihn in dem Moment, wo er die Flüssigkeit sah, fast um den Verstand brachte.

„Jakob, hast du den Gefangenen gut behandelt?“, wollte Dippel wissen und blickte sich um.

„Nun, er war … unverschämt“, erklärte Jakob zögernd, „da, da habe ich ihm ein bisschen Manieren beigebracht, nicht dass er schlechte Dinge in Eurer Gegenwart äußert, die nicht gut für Eure Ohren wären, mein Herr.“

„Du verdammter Lügner!“, krächzte Thomas. Sein Blick glitt wieder zu dem Glas zurück.

„Seht Ihr!“ Jakob zeigte anklagend auf ihn. „Was habe ich Euch gesagt!“

Dippel umrundete Thomas und untersuchte seine Wunden. Er drückte auf die geschundene Haut.

Thomas zuckte unter der Berührung zusammen und stöhnte.

„Jakob, du hättest die Wunden wenigstens säubern können, die du ihm zugefügt hast“, tadelte Dippel seinen Diener beiläufig. „Du weißt doch, bei meinen Experimenten dürfen keine Unstimmigkeiten auftreten.“

„Ja, Herr Dippel, ich erledige das sofort“, murmelte Jakob eifrig und wollte sich entfernen.

„Nicht jetzt! Nach dem Experiment, wenn es gelungen ist“, rief Dippel Jakob zurück. „Hm, viel Blut hat er ja nicht verloren.“

Er zog ein kleines Notizbuch aus seiner Rocktasche und schrieb eilig etwas hinein.

„Du weißt, was jetzt kommt?“, fragte Dippel, ohne von seinen Notizen aufzusehen.

„Ja, Herr Dippel“, bestätigte Jakob eifrig und verbeugte sich. „Ja, ja, das weiß ich sehr genau.“

„Also bringe mir meinen Stuhl!“, forderte Dippel Jakob auf.

„Natürlich, Herr Dippel, sofort Herr Dippel.“ Jakob verschwand im Nebenraum, während Dippel um Thomas herumging.

„Ich weiß, Jakob ist ein wenig einfältig und dumm“, meinte er, „aber er ist sehr pflichtbewusst und treu. Das findet man selten.“

Jakob stellte den schweren Stuhl etwa einen Meter vor Thomas ab, sichtlich erfreut über das Lob seines Herrn.

„Euer Stuhl, Herr Dippel“, keuchte er und verbeugte sich linkisch.

„Danke“, sagte der Alchemist und setzte sich.

Er schlug die Beine übereinander und faltete die Hände auf dem Oberschenkel zusammen. „Wie geht es dir?“, fragte er Thomas.

„Ich habe höllischen Durst“, krächzte Thomas und stierte das Glas an.

„Mhm“, machte Dippel geistesabwesend und notierte etwas, ehe er wieder aufsah.

„Erzähl mir, warum du die Frauen umgebracht hast!“, forderte er. „Reichte dir das Schänden alleine nicht zur Triebbefriedung aus?“

„Ich habe niemanden umgebracht!“, protestierte Thomas hilflos, „und auch keine Frauen geschändet!“

„Weißt du, was das für ein Staub ist …“ Dippel rieb mit der Schuhspitze über den Boden.

Thomas schüttelte den Kopf.

„Das sind die Überreste deiner Vorgänger“, erklärte Dippel mit Bedauern. „Meine Experimente waren bis jetzt nicht so erfolgreich, wie gedacht. Vielleicht hast du mehr Glück. Es erspart dir wenigstens den Strick. Hängen ist ein qualvoller Tod, wenn das Genick nicht sofort bricht.“

Mit jedem Wort, das aus Dippels Mund kam, gefror Thomas‘ Seele ein kleines bisschen mehr.

Die Gerüchte …, schoss es Thomas durch den Kopf. … sie sind alle wahr. Dieses Pulver besteht aus den Überresten von Menschen. Bald werde ich mit ihnen auf dem Boden vereint sein.

Es sträubten sich ihm die Haare.

„Was sind das für Experimente?“, wollte Thomas heiser wissen.

Wieder irrte sein Blick zu dem Glas auf dem Tischchen. Er leckte sich über die trockenen Lippen.

Wenn ich wenigstens einen Schluck bekommen könnte, dachte er sehnsüchtig. Nur einen.

„Nun, ich weiß leider nicht wie weit dein Bildungsstand reicht“, erklärte Dippel und seufzte, „daher weiß ich auch nicht, ob du mir folgen könntest, wenn ich es dir erklären würde.“

„Ich bin Buchhalter bei Leopold Jensen“, entgegnete Thomas.

„Wie kommt ein gebildeter Mann dazu, Frauen zu schänden und sie dann zu erstechen?“, erkundigte sich Dippel sachlich.

„Ich war es nicht!“, wimmerte Thomas erschöpft. Er würde er nicht damit aufhören, seine Unschuld zu beteuern. „Warum will mir niemand glauben?“

„Du warst der Letzte, der Hildegard Jensen gesehen hat“, erwiderte Dippel ruhig. „Das bezeugen viele brave Bürger dieser Stadt oder bezichtigst du sie der Lüge?“

„Nein, das nicht“, gestand Thomas, „aber trotzdem macht mich das nicht zum Mörder!“

Wie oft muss ich das denn noch sagen?, fragte sich er verzweifelt.

„Sie ist … sie war meine Schwester“, fügte er hinzu. „Warum sollte ich ihr etwas antun?“

„Weil du deine Triebe nicht unter Kontrolle hattest“, behauptete Dippel schamlos. „Ich bin Arzt und kenne mich mit so etwas aus. Ist es nicht so?“

„Nein!“, stieß Thomas hervor. „Ich war es nicht!“

„Ich könnte ihn noch ein bisschen auspeitschen, Herr Dippel“, warf Jakob ein und rieb sich freudig die Hände. „Dann sagt er bestimmt die Wahrheit.“

„Nein, ich halte nichts von Folter, dass weiß du doch, Jakob“, lehnte Dippel ab. „Die auf diese Weise herausgepressten Geständnisse sind nicht immer richtig.“

„Könnte ich etwas Wasser bekommen?“ Thomas blickte erneut sehnsüchtig zum Glas hinüber.

„Ach ja“, sagte Dippel lächelnd und stand auf. „Jakob, bring den Stuhl nach nebenan!“

War da Freude in seiner Stimme?, fragte sich Thomas verwirrt. Nur weil er mir etwas zu trinken geben möchte?

„Ja, Herr Dippel.“ Jakob grinste Thomas an. Stöhnend hob er den schweren Stuhl hoch und brachte ihn zurück in den Nebenraum.

Langsam öffnete Dippel das Glasgefäß.

Warum macht er nicht schneller. Thomas leckte sich gierig über die rissigen Lippen. Das ist die reinste Folter.

„Es schmeckt … naja, ein bisschen bitter, habe ich mir sagen lassen“, erwähnte Dippel. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus.“ Er setzte ein nichtssagendes Ärztelächeln auf.

Das ist mir gleich, dachte Thomas. Wenn es nur diesen höllischen Durst löschen kann.

Vorsichtig setzte Dippel den Rand des Glases an Thomas‘ trockne Lippen.

Gierig trank Thomas die bittere Flüssigkeit. Er leerte das Becherglas bis zur Hälfte. Im ersten Moment erfrischte es ihn und der schreckliche Durst verschwand, doch dann …

Steckende Schmerzen breiteten sich von seinem Magen her in seinem ganzen Körper aus. Er schrie heiser auf. Seine Lippen rissen auf. Blut lief über sein Kinn.

Dippeleilte in den Nebenraum, um sich außer Reichweite zu bringen.

„Was … was haben Sie mit mir …“ Thomas schrie wieder. „Was war das …?“

Das ist also meinen Vorgängern widerfahren, dachte er. Ich werde zu einem Häufchen weißen Staub, auf dem Jakob dann herum trampeln kann.

Er konnte nicht aufhören, zu schreien, und starrte auf den Staub zu seinen Füßen. Ein seltsames Gefühl kroch in ihm hoch. Seine Muskeln verkrampften, als würden sie innerlich vereisen oder versteinern. Die Schmerzen wurden schlimmer.

Blitze explodierten vor seinen inneren Augen. In seinen Ohren knackte es, als würde Glas zerbrechen. Ein Röcheln drang aus seiner Kehle. Seine Lunge erstarrte.

Ich ersticke, dachte er panisch. Ich brauche Luft. Lieber Herr Gott hilf mir in meiner Not, bitte.

Kristalle breiteten sich auf seinem Gesicht aus und nahmen den ganzen Körper in Besitz. Sie stießen durch seine Haut, durch die Hose und krochen über die Fußfesseln, wie auch über das Joch. Er konnte seinen Mund nicht mehr schließen. Seine Zunge bekam eine stachelige Oberfläche.

„Jetzt gleich ist es soweit“, rief Dippel aufgeregt.

Seine Stimme kam Thomas, wie aus weiter Ferne vor.

Es war das Letzte, was erhörte, bevor sein Herz versagte, und kristallisierte wie sein Blut.

Dippel wartete noch einige Minuten, bevor er aus dem Nebenraum trat und sich den kristallisierten Körper näheransah. Seine Hände zitterten vor Aufregung.

„Erstaunlich, nicht wahr?“, fragte er, obwohl er keine Antwort von Jakob erwartete.

„Ja, Herr Dippel“, bestätigte dieser eifrig. „Es ist sehr erstaunlich!“

Langsam schritt Dippel um die, von ihm erschaffene Kristallmumie herum. Er stieß sie an, um ihre Festigkeit zu prüfen. Immer noch rechnete er damit, dass der Körper plötzlich in feinen Staub zerplatzen könnte.

„Es ist Ihnen gelungen, Herr Dippel.“ Jakob klatschte ungelenk in die Hände und lachte. „Ja, ja, Ihr seid der beste Arzt auf der ganzen weiten Welt.“

„Das Experiment ist nicht ganz gelungen, aber es ist ein guter Fortschritt“, entschied Dippel. „Es ist noch lange kein Erfolg.“

„Das tut mir schrecklich leid, Herr Dippel“, beteuerte Jakob pflichtbewusst. „Wirklich!“

„Leider ist der Gefangene, bei dem Experiment, verstorben.“ Dippel strich über Thomas‘ Wange und schnitt sich dabei in den Finger.

„Ja, das ist schade“, fand auch Jakob. Angesichts des Bluts weiteten sich seine Augen und er schnappte hörbar nach Luft. „Herr Dippel, Ihr habt Euch verletzt.“

„Ach, das ist nichts. Nur ein kleiner Schnitt“, beruhigte Dippel ihn. „Hol das Verbandszeug und meine Salbe!“

„Ja, Herr Dippel! Sofort, Herr Dippel!“ Jakob eilte davon. „Gut, dass der Arzt schon da ist, nicht wahr?“

Er kicherte über seinen eigenen Witz.

Dippel konnte nicht lachen und runzelte nur die Stirn.

Was ist schief gegangen?, fragte er sich und überprüfte seine Aufzeichnungen in seinem Notizbuch.

Jakob humpelte durch die nächtlichen Straßen. Er hatte keinen Blick für die reich verzierten Fassaden der Häuser, die dicht an dicht neben einander standen. Das Licht der Gaslaternen zuckte über die Wände und Fenster.

Mietdroschken fuhren zu dieser späten Stunde die letzten Gäste nach Hause. Katzen huschten durch die Dunkelheit und miauten. Manchmal sah Jakob ihre Augen in der Finsternis leuchten.

Ihr seid Gespenster der Nacht, sinnierte er. Genauso wie ich.

Er kicherte. Ja, auch ich bin ein Gespenst.

Schließlich erreichte er die Straße, in der Thomas gewohnt hatte. Nun war es nicht mehr weit.

Frau Kühn ist allein, dachte er aufgeregt und rieb sich die Hände.

Er stieg die wenigen Stufen zur Eingangstür des Wohnhauses hoch. Mit schneller schlagendem Herzen klopfte er an und hörte eilige Schritte näher kommen.

Die Tür wurde aufgerissen und eine junge Frau erschien. „Tom? Oh.“ Maria wich erschrocken zurück. „Was möchten Sie? Mein Mann ist nicht Zuhause.“

Sie hört sich schüchtern und ängstlich an, schoss es Jakob amüsiert durch den Kopf.

„Ich muss Ihnen etwas mitteilen.“ Er lachte leise und senkte den Blick. „Darf ich herein kommen?“, bat er höflich. „Ich möchte es Ihnen nicht hier draußen auf der Straße sagen. Es geht um Ihren Mann, Frau Kühn.“

„Ja, natürlich.“ Maria öffnete die Tür weiter und gab den Weg frei. „Was ist mit Tom? Glauben Sie mir, er hat Hildegard nichts angetan. Mein Tom ist ein guter Mann.“

Jakob betrat das stille Haus. Im Flur roch es nach Blumen und frisch gebackenem Brot. Er grinste und gab der Tür einen Stoß. „Oh, das weiß ich doch.“

„Das ist gut.“ Maria lehnte sich erleichtert gegen die Wand und legte eine Hand auf ihre Brust. „Wann darf er nach Hause?“

Du bist so schön, dachte Jakob und stierte sie an.

Maria wollte etwas sagen und öffnete schon den Mund.

Jakob kam ihr zuvor und machte einen Satz auf sie zu. „Ich war es! Und jetzt bist du dran, du kleine Schlampe.“

Maria wollte schreien, doch Jakob hielt ihr schnell den Mund zu. „Nein, kein Laut!“ Er sah in ihre vor Angst geweiteten Augen. Wie ich diesen Ausdruck liebe. Jetzt bereust du es, mich nicht einmal angesehen zu haben.

„Sch, wir wollen doch nicht deinen Jungen wecken, oder?“, flüsterte er und lachte irre. „Er wird leider ohne Eltern aufwachsen müssen. Das ist zwar schade, aber da ist nichts dran zu machen.“

Er kicherte wieder und zerrte mit der freien Hand an Marias Kleid. Warum lassen sich diese verdammten Mieder nur immer so schwer öffnen?, fragte er sich.

Maria wandte sich unter seinen Händen und versuchte, sich zu befreien. Sie schlug nach ihm, doch sie war nicht stark genug, um ihn ernsthaft verletzen zu können.

„Es wird ihm nicht schaden, weißt du“, flüsterte Jakob und grinste. „Ich bin schließlich auch in einem Waisenhaus groß geworden. Ich gönne es jeden kleinen verzogenen Balg.“

Der Stoff von Marias Kleid riss. Tränen liefen über ihre Wangen.

„Du bist ein Unmensch“, brüllte sie, als er die Hand wegnahm.

„Unmensch?“, kreischte Jakob und schlug ihr ins Gesicht. „Was bildest du dir ein, widerwärtige Mäze? Nur weil mein Körper verkrüppelt ist, nennst du mich gleich einen Unmenschen?“

Er riss an ihren Haaren.

„Jakob!“, rief eine strenge, ihm aber wohlvertraute Stimme. „Ich hatte eine Vermutung, als ich dich vorhin auf der Straße gesehen habe“, erklärte Dippel, der sich drohend vor ihm aufbaute. Die Tür war nicht ins Schloss gefallen, als Jakob in das Haus eingedrungen war. So hatte Dippel ihm folgen können. „Jetzt weiß ich mit Sicherheit, dass du es gewesen bist, der die Frauen geschändet und erstochen hat.“ Eine Mischung aus Verachtung und Erleichterung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

Vor Schreck ließ Jakob Maria los, die schnell von ihm weglief. Sie hielt mit einer Hand den Riss an ihrem Kleid zu.

„Er ist der wahre Mörder.“ Anklagend zeigte sie mit der zitternden Hand auf Jakob. „Er hat Hildegard umgebracht. Mein Tom ist unschuldig.“

Tränen liefen immer noch über ihre Wangen. „Jetzt kann die Stadtgarde meinen Tom doch freilassen. Bitte, bringt mir meinen Ehemann zurück.“

Ein irres Kichern entwich Jakobs Kehle. „Zu spät“, summte er in einem Singsang.

„Es tut mir sehr leid, Frau Kühn, aber …“ Dippel versagte die Stimme. Er konnte ihr nicht in die Augen schauen.

„Er ist tot“, krähte Jakob an seiner Stelle. „Tot! Tot! Tot!“ Es bereitete ihm Freude, die Frau leiden zu sehen.

„Nein.“ Maria begann laut zu heulen und schüttelte den Kopf. „Nicht mein Tom! Bitte, bringt ihn mir zurück. Er ist unschuldig. Mein armer Tom.“

„Mama?“ Oben an der Treppe erschien ein etwa dreijähriger Junge. „Warum ist es hier so laut? Ist Papa wieder da?“

Das Kind rieb sich verschlafen, mit seinen Händchen, über die Augen. Das helle Haar war verstrubbelt.

Jakob bemerkte die Schuldgefühle in der Miene von Dippel, die er selbst nicht nachvollziehen konnte. Offenbar bereute sein Herr die Tat, jetzt, wo er dem Jungen gegenüber stand, dem er den Vater, den Ernährer genommen hatte.

Maria schluchzte laut.

„Theo, geh wieder ins Bett!“, sagte sie mit bebenden Lippen. „Bitte! Ich komme gleich, ja?“

Dippel schaute traurig zu dem Jungen empor, der dort barfüßig stand und hoffte seinen Vater wiedersehen zu können.

Ich werde nun den wahren Schuldigen bestrafen, beschloss er. Seine Faust schnellte vor und traf Jakob am Kinn, der bewusstlos zusammensackte. Da er kein Kämpfer war, jagte ihm der Schmerz des Treffers bis in die Schulter hoch und betäubte kurzzeitig seinen Arm.

„Frau Kühn, entschuldigt bitte die nächtliche Störung“, bat der Alchemist mit belegter Stimme und räusperte sich. „Ich weiß, dass Geld ein Leben oder einen Ernährer nicht ersetzen kann, aber ich werde Ihnen morgen früh einen netten Betrag überbringen lassen, damit Ihr und Euer Sohn, es eine Weile guthaben werden.“

Er griff Jakob unter die Achseln und schleifte ihn mit Mühe nach draußen.

„Ihr hätte nicht zufällig einen Schubkarren für mich?“, fragte er, als er Jakob im Vorgarten hatte. „Dieser Bastard ist ein wenig schwerer, als ich angenommen hatte.“

„Im Verschlag hinter dem Haus ist eine“, erwiderte Maria ängstlich und schluchzte wieder laut. „Aber … aber ich gehe heute nicht mehr hinaus.“

Sie hielt immer noch den Riss in ihrem Kleid zu.

„Das brauchen Sie auch nicht“, erwiderte Dippel mitfühlend. „Vielen Dank und gute … Nacht.“

Der letzte Satz klang falsch in seinen Ohren nach.

Wie soll diese Nacht für diese arme Frau noch gut werden?, fragte er sich betroffen und holte eine Holzschubkarre und eine graue, stinkende Decke aus dem Schuppen im Garten. Er musste sich sehr anstrengen den Bewusstlosen hoch zu wuchten und in die Karre zu heben. Schnell warf er den Stoff über Jakob, damit ihn niemand sehen konnte, während Dippel ihn transportierte.

Die Dunkelheit wird auch einiges vertuschen, redete er sich gut zu und fuhr seine Last durch die leeren Straßen.

Dippel war körperliche Arbeit nicht gewohnt. Die Anstrengung, den Bewusstlosen durch die schlafende Stadt zuschieben, schien endlos. Zwischen durch wurde Jakob auch wieder wach.

Dippel musste noch einmal zuschlagen.

Die Perücke saß schief auf seinem Kopf und das Hemd war durchgeschwitzt, als er Jakob die Treppe herunter in das Gewölbe schleifte. Seine Hand war geschwollen und schmerzte von den Schlägen, die er Jakob hatte geben müssen. Blasen hatten sich auf den Innenflächen seiner Hände gebildet.

Ich stinke, wie ein armer Mann, der sich kein Bad leisten kann, dachte er angewidert. Ich muss mich schnellstens waschen.

Jakob kam in dem Moment zu sich, als Dippel ihn erschöpft gegen die Wand lehnte.

Dippel stöhnte. Sein Rücken schmerzte, als er sich aufrichtete. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht.

Ich brauche dringend einen Krug Rotwein für meine angeschlagenen Nerven, dachte er.

„Herr Dippel, bitte! Ich tue es nie, nie wieder“, bettelte Jakob. „Ich verspreche es Euch hoch und heilig. Bei allem was Ihnen heilig ist!“

Dippel konnte nicht länger in diese treuen, wasserblauen Augen blicken.

„Verzeiht mir, bitte!“, flehte Jakob weinerlich. „Ich lege eine Hand auf Eure heilige Bibel und schwöre feierlich, dass ich nie wieder eine Frau anrühren werde.“

„Wegen dir ist ein Unschuldiger gestorben.“ Dippel zeigte auf Thomas.

„Es tut mir sehr leid, wirklich“, jammerte Jakob.

Dippels Blick schweifte durch den Raum und blieb an dem Gefäß mit der Flüssigkeit hängen.

Das ist die Lösung, dachte er und nahm das Becherglas.

Der Behälter war nur etwa zur Hälfte gefüllt. Eine Haut hatte sich auf der Oberfläche gebildet.

Vielleicht reicht es noch, überlegte er und hielt es Jakob hin.

„Trink!“

„Nein, bitte ich will nicht so enden wie er“, bettelte Jakob weiter und zeigte Thomas.

„Dann wirst du hängen“, entgegnete Dippel hart. „Es ist ein weitaus unangenehmerer Tod, das sage ich dir!“

Mit zitternden Fingern griff Jakob nach dem Gefäß und setzte es an die Lippen. Er trank, weinte und jammerte, bis er entsetzlich schrie.

Dippel beobachtete nicht, wie Jakobs Körper kristallisierte. Er ignorierte die Schreie und setzte sich im Nebenraum an den Tisch. Schnell schrieb er eine Erklärung und unterzeichnete sie. Das Pergament ließ er liegen und verließ für immer das Gewölbe.

Es gibt genügend andere Orte, wo ich weiter forschen kann, versuchte er sich zu trösten. Ich hätte es beinahe geschafft, einen Übermenschen zu erschaffen. Einen Übermenschen aus Kristall, der ewig leben würde.

Einige Tage später öffnete Stefan Ziegler, der Sekretär von Sebastian Heinrich Wolff, der Superintendent von Lüneburg, die Tür zum Gewölbe. Erschrocken blickte er auf die beiden Kristallmumien.

„Möge uns der Herr Gott gnädig sein“, rief er entsetzt und schaute zur Decke. „Herr Wolff kommt und seht Euch diese abscheuliche Teufelei an.“

Langsam schritt Sebastian Wolff die steinerne Treppe hinunter und betrat den Keller.

Stefan sah, wie blass sein Dienstherr wurde. „Ich hole Euch gerne einen Stuhl“, sagte er und wollte nach oben gehen, um einen zu suchen.

„Nein, lass mich hier unten bloß nicht alleine“, bat Sebastian Wolff. „Diese Abscheulichkeit hat das Maß überschritten.“

„Stimmt, Herr Wolff“, pflichtete Stefan bei.

„Was im Namen der Dreiheiligkeit ist hier passiert?“, fragte Sebastian Wolff mehr sich selbst als Stefan. „Was für ein grausiges Werk hat dieser Dippel nur verrichtet?“

Stefan ging in den Nebenraum, um sich dort umzusehen.

„Hier liegt ein Schreiben!“, rief er, eilte zurück und überreichte seinem Dienstherrn den Brief, der diesen sofort zu lesen begann.

Lange schwieg Sebastian Wolff. Stefan hatte das Gefühl, die Geister der Toten würden in seinen Körper kriechen und seine Seele zerfetzten. Er blickte sich unruhig im Gewölbe um.

„Stefan, wir haben einiges zu tun“, begann Sebastian Wolff schließlich.

Stefan fiel ein Stein vom Herzen.

„Wir müssen sämtliche Beweismittel wegen der Morde an den Frauen und die Baupläne von diesem Loch heimlich vernichten. Die Tür oben muss zugemauert werden“, erklärte Sebastian Wolff. „Wir werden diese Sache tot schweigen.“

„Ja, Herr Wolff“, pflichtete Stefan ihm bei.

„Wir werden das Gerücht verbreiten, dass Johann Konrad Dippel mit Leichenteilen herum experimentiert hat“, fuhr der Superintendent fort.

„Solche Gerüchte gibt es doch schon“, meinte Stefan. „Da brauchen wir keine weiteren mehr erfinden.“

„Ja, aber doch nicht hier in unserer schönen Stadt!“, rief Sebastian Wolff empört. „Wo kam dieser Dippel noch mal her?“

„Herr Dippel wurde auf der Burg Frankenstein im Odenwald geboren“, antwortete Stefan.

„Gut, eine Burg ist ein viel geeigneter Schauplatz für solch entsetzliche Verbrechen, als unser schönes Lüneburg“, meinte Sebastian Wolff, „also hör zu, Johann Konrad Dippel hat auf Burg Frankenstein seine teuflischen Experimente mit diversen Leichenteilen durchgeführt.“

„Ja, Herr Wolff“, sagte Stefan eifrig.

„Ich werde dafür sorgen, dass man Johann Konrad Dippel des Landes verweist“, schwor Sebastian Wolff, als sie sich auf den Weg nach oben machten. „Das Maß ist voll.“

„Ja, Herr Wolff, Ihr habt vollkommen recht“, beteuerte Stefan ergeben.

Alexander

In der Nähe von Duisburg: Anfang September, heutzutage