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In nur einer Nacht hat Asmea alles verloren: Ihre Familie, ihr Zuhause, ihre Zukunft. Genommen von ihrem Onkel, der seitdem die Krone trägt. Doch sie möchte einfach nur vergessen. Als jedoch eine tödliche Seuche das Land befällt, muss Asmea sich entscheiden. Wohin wird ihr Weg sie führen und wem kann sie dabei trauen?
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Seitenzahl: 588
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Anna Engelking wurde am 10.09.1996 geboren und wuchs in einem kleinen Dorf in Nordrhein-Westfalen auf. Inzwischen lebt sie zusammen mit ihrem Mann und dessen Sohn in einer kleinen Stadt zwischen Hannover und Bielefeld.
Eine der schönsten Erinnerungen an ihre Kindheit ist die abendliche Lesezeit. Ihre Mutter und sie lagen nebeneinander auf dem Sofa und sie hat ihr vorgelesen. Harry Potter hat ihr die Magie gezeigt und Gregor hat sie daran glauben lassen, dass neben unserer Welt noch eine andere existiert, in der auch ein gewöhnlicher Junge eine ganze Bevölkerung retten kann.
Irgendwann wollte sie ihre eigenen Welten erschaffen, Träume wahr werden lassen, Abenteuer erleben. All das wollte sie auf Papier und in die Fantasie anderer Leser fließen lassen.
Für dich, Mama
Weil du mir gezeigt hast, dass man ferne Länder bereisen kann, ohne das Zimmer zu verlassen.
Und für all jene, die mit mir reisen wollen.
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
EPILOG
Asmea erinnerte sich noch ganz genau an den Tag, an dem sich alles änderte. Sie erinnerte sich an jede Minute, jeden Augenblick und sie wird sich wahrscheinlich auch noch daran erinnern, wenn sie eine alte Frau sein würde.
Damals war sie vier Jahre alt, hatte im weichen Bett gelegen und auf den Baldachin über sich geschaut. Er war aus feiner Seide gewebt worden und das Rosa schimmerte im schwachen Schein der Kerzen, die in ihrem Zimmer verteilt waren.
Es war ein wundervoller Tag gewesen – zumindest hatte er so angefangen. Begonnen hatte er damit, dass ihr Kindermädchen Mira sie geweckt und ihr bei den Waschungen geholfen hatte. Asmea liebte es zu baden, das Wasser konnte gar nicht warm genug sein und Mira hatte immer wieder laufen müssen, um frisches, aufgewärmtes Wasser zum Nachschütten zu holen.
Das kleine Mädchen hatte derweilen ihren Spaß in der Wanne gehabt, indem sie wie wild herumgeplanscht war und das Wasser durch den ganzen Raum hatte spritzen lassen. Vergnügt quietschend hatte Mira sie dann jedes Mal vorgefunden und sie ermahnt, sie sollte sich benehmen. Sich zu benehmen war für ein Kind ihres Alters aber langweilig, besonders für einen Wildfang wie Asmea.
Nachdem sie schließlich fertig gebadet war, hatte Mira ihr beim Ankleiden und Frisieren geholfen. Auch dabei hatte Asmea ihre Freude daran gehabt, Mira verschiedene Frisuren an ihr ausprobieren zu lassen, bis schließlich auch das dem Mädchen zu langweilig geworden war und ihr Kindermädchen sie mehrmals daran erinnert hatte, dass sie den Tag auch irgendwann einmal beginnen wollten. So hatte Mira sie mit einer Hochsteckfrisur zum Frühstück begleitet, wo sie liebevoll von ihren Eltern erwartet wurde, die bereits auf sie gewartet hatten.
Es hatte köstliche Küchlein, süße Brötchen mit Marmelade und frisches Obst gegeben. Sie hatte ihren Eltern erzählt, was sie heute alles vorgehabt hatte und sie hatten ihr ergiebig zugehört, bevor sie ihr eigenes Gespräch fortgeführt hatten.
Anschließend war das Mädchen, begleitet von Mira, in den Park gegangen. Diese hatte ihr all die Namen der bunten Blumen genannt, die um die Wege gepflanzt worden waren, doch sie konnte sich keinen einzigen davon merken. Was spielte es für eine Rolle, wie irgendwelche Blumen hießen?
Am Teich hatten sie Halt gemacht und sich auf eine Bank gesetzt, von der aus sie die im Wasser schwimmenden Goldfische und die am Ufer sitzenden Enten beobachteten. Mira hatte sie davor gewarnt, den Tieren zu nahe zu kommen, doch Asmea hatte nicht auf sie hören wollen, bis eine der schnatternden Enten schließlich mit ihrem Schnabel ihre blasse Haut gekratzt hatte. Schreiend war das Mädchen fortgelaufen und hatte sich hinter Miras langem Rock versteckt, die schützend die Arme um sie gelegt hatte. Obwohl sie sie mehrmals gewarnt hatte, hatte sie ihren Schützling getröstet und hatte die kleine Wunde auf ihrer Haut geküsst, bevor sie wieder rein gegangen waren, damit Asmea mögliche Verunreinigungen wegspülen konnte.
Am Nachmittag hatte das Mädchen sich hinunter in die Küche geschlichen. Dort waren die Köche bereits fleißig damit beschäftigt gewesen, das Abendessen vorzubereiten und die Luft war erfüllt von verschiedenen Düften, die in ihrer Nase kitzelten. Sie hatte etwas Süßliches aufgefangen und ganz vorsichtig, damit sie nicht gesehen wurde, war sie geduckt durch die wild umherirrenden Küchenhilfen geschlichen, um zu der Quelle des Duftes zu gelangen.
Auf einem der Tische hatte sie die gefüllten Plunderstücke gefunden und auf Zehenspitzen stehend hatte sie nach einem gegriffen, um dann am Ende mit ihrer Beute schnell zu verschwinden. Still und heimlich in einer Ecke hockend hatte sie das süße Gebäck verputzt.
„Na wen haben wir denn da?“
Erschrocken war Asmea herumgefahren und starrte mit geweiteten Augen in das Gesicht eines Mannes. Sein Gesicht wurde von dunklen Haaren und Bartstoppeln eingerahmt und wurde von buschigen Brauen ergänzt, unter denen Augen lagen, die sie an Haselnüsse erinnerte und aus denen er das verschreckte Mädchen belustigt ansah.
„Coan“, hatte Asmea erleichtert gesagt, als sie sich von dem Schreck erholt und den Mann als den Oberbefehlshaber der königlichen Armee erkannt hatte.
„Prinzessin“, hatte er sie seinerseits begrüßt und einen kleinen Knicks vollführt, der sie zum Kichern gebracht hatte. Lächelnd hatte er den weißen Puderzucker von ihrem Gesicht gewischt und sie hatte ihn schuldbewusst angeschaut.
„Es tut mir leid?“
„Ist das eine Frage?“ Er hatte gelacht und sie zum
Abendessen geschickt, das in Kürze aufgetragen werden würde. Dort hatte sie ihren Eltern, dem König und der Königin, von den Erlebnissen ihres Tages erzählt – wobei sie ihren kleinen Ausflug in die Küche gekonnt ausließ.
Es war ein schöner Tag gewesen, nach dem sie nun erschöpft in ihrem Bett lag. Sie hatte gegähnt, sich noch einmal umgedreht und die Augen geschlossen. Langsam war sie ins Reich der Träume geglitten, fast schon hatte sie das Funkeln der kleinen Feen sehen können, von denen Mira ihr vor dem Zubettgehen erzählt hatte. Kleine Wesen, die mit schillernden Flügeln umherflogen, und glitzernden Staub verteilten.
Doch etwas hatte sie dieser wunderbaren Zauberwelt wieder entrissen. Verärgert hatte sie sich das Kissen über den Kopf gezogen, um so die Geräusche außerhalb der steinernen Palastmauern abzuschalten.
Ein lautes Scheppern hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen und sie hatte sich aufgesetzt. Noch ein Schrei, dieses Mal erstickt. Asmea hatte die dicke Bettdecke zurückgeworfen und war aufgestanden. Im flackernden Schein der Fackeln hatte sie sich einen Stuhl genommen, ihn ans Fenster gezogen und war darauf geklettert, um hinausschauen zu können. Im Palast hatte es nur wenige gegeben, aus denen sie ohne Hilfe eines Möbelstücks oder ohne getragen zu werden hinaussehen konnte.
Mira hatte sie manchmal damit aufgezogen, dass sie zu klein gewesen sei, doch ihrer eigenen Meinung nach waren die Fenster einfach zu hoch gewesen. Und wessen Meinung war denn schon wichtiger - die eines Kindermädchens oder die einer Prinzessin?
Von dem Fenster aus hatte sie auf die gewaltige Stadt Tasgrid schauen können, die unter ihr lag. Wie ein Teppich hatte sie sich um den Palast herum ausgebreitet, welcher mittig in ihrem Zentrum aufgeragt hatte. Jetzt in der Nacht war sie von Fackeln erleuchtet gewesen, damit ihre Bewohner auch noch zu dieser Zeit ihr Werk verrichten konnten. Alles war ihr wie immer erschienen und doch hatte das kleine Mädchen das Gefühl beschlichen, dass etwas nicht gestimmt hatte.
Der Schrei hatte seltsam geklungen und war besonders jetzt, wo die meisten Leute fest schliefen, fehl am Platz gewesen.
Am Tag war es öfter vorgekommen, dass es lauter geworden war. Marktschreier, spielende Kinder, das laute Gebell von Hunden – all das hatte Asmea gekannt. Zwar war sie noch nie mittendrin gewesen, doch hatte sie sie häufig gehört.
Plötzlich war die Tür aufgerissen worden, vor Schreck war Asmea fast vom Stuhl gefallen. Gerade noch so hatte sie sich halten können. Im Türrahmen hatte ihr Kindermädchen gestanden, nur mit einem Nachthemd und dünnen Schuhen bekleidet und mit einer kleinen Laterne in der Hand. Ihre schwarzen Haare waren ungekämmt gewesen.
„Mira“, hatte Asmea angesetzt, um sie für ihr fehlendes Klopfen an der Tür zu tadeln, was besonders zu dieser späten Stunde angebracht gewesen wäre.
„Prinzessin“, hatte die Frau panisch herausgebracht, während sie auf das Mädchen zugestürmt war, „Geht es euch gut?“
„Ich kann nicht schlafen, es ist zu laut“, hatte Asmea erwidert und war vom Stuhl gehüpft, verwundert über Miras Aufzug. Sonst war Mira sehr darauf bedacht gewesen, dass ihre Kleidung passend war und ihre Frisur richtig gesteckt war.
„Wir müssen fort!“, hatte diese sie angewiesen und sie an der Hand genommen, um sie mit sich zu ziehen, hinaus aus dem Zimmer. Verwirrt und von der plötzlichen Kraft gezogen war sie ein paar Schritte hinterhergestolpert, bevor sie sich mit ihrem ganzen Körper dagegengestemmt hatte. Mira hatte sie angesehen, eine Mischung aus Wut und panischer Angst im Blick.
„Ich will nicht gehen, ich will schlafen!“, hatte Asmea entschieden gesagt, „Ich bin müde!“ Sie hatte nicht verstanden, was Mira in diesem Moment bewegte.
„Ich weiß, das geht aber leider nicht, Prinzessin.“ Mira hatte sich zu ihr heruntergebeugt, die Hände des kleinen Mädchens in ihren eigenen.
Ein menschliches Brüllen war zu hören gewesen, dieses Mal im Inneren des Palastes und erschrocken war das Kindermädchen herumgefahren. Wortlos hatte sie das Mädchen aufgehoben und war mit ihr den steinernen Flur entlanggerannt. Das ihr unbekannte Verhalten ihres sonst so warmherzigen, umsichtigen Kindermädchens hatte Asmea so durcheinandergebracht, dass sie es mit sich geschehen lassen hatte. Doch sie waren nicht weit gekommen.
„Da ist Venga“, hatte Asmea laut ausgerufen und hatte auf einen Mann gezeigt, in dem sie einen der Soldaten ihres Vaters wiedererkannt hatte. Schon oft hatte sie sich fortgeschlichen, um Coan heimlich dabei zusehen zu können, wie er die Männer trainierte und Venga war einer der Besten gewesen.
Er war schweißgebadet gewesen, die hellblonden Haare hatten an seiner Stirn geklebt. Bei ihrem Ruf war er mitten im Lauf stehen geblieben, sein Schwert in der rechten Hand und ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er die beiden erblickt hatte.
Alle Farbe war aus Miras Gesicht gewichen, als sie den Gesichtsausdruck des Mannes aufgenommen hatte, und sie hatte sich umgedreht und war so schnell sie konnte in die entgegensetzte Richtung gelaufen, Asmea auf ihrem Arm. Venga war ihnen gefolgt.
„Prinzessin!“, hatte er laut lachend gerufen und dabei fast euphorisch geklungen.
Asmea hatte nicht verstanden, warum sie vor ihm weggerannt waren. Soweit sie es gewusst hatte, war er schon in seiner Kindheit zu ihnen gekommen, um sich als Soldat ausbilden zu lassen. Er war ihrem Vater immer treu gewesen. Sie hatte nicht verstanden, weshalb Mira solch eine Angst vor ihm gehabt hatte. Das kleine Mädchen hatte mit ihren Fäusten gegen die Schulter der Frau gehämmert, was diese jedoch gar nicht wahrzunehmen schien. Diese war wild keuchend immer weiter gerannt, doch Venga war schneller gewesen.
Als er sie einzuholen gedroht hatte, war Mira stehen geblieben, hatte Asmea hinter sich abgesetzt und die Laterne in ihrer Hand auf dem Boden abgestellt. Nun hatte sie so gestanden, dass sie selbst zwischen dem Soldaten und dem Kind gestanden hatte, das sie um jeden Preis hatte beschützen wollen. Sie hatte ein Messer gezückt und damit in Richtung ihres Verfolgers gestochen.
Dieser, sein Schwert fest in der Hand, hatte auf die Frau einschlagen wollen, die zu ihrem Glück jedoch flinker gewesen war als der breit gebaute Mann. Sie war unter seinem schweren Schlag hindurchgetaucht und hatte ihr Messer tief in den Leib des Mannes gestoßen, der daraufhin schmerzerfüllt aufgeschrien und sich gekrümmt hatte, die Klinge tief in seinem Fleisch steckend. Mit verzerrtem Gesicht hatte er es herausgezogen und es klirrend fallengelassen. Mira war zurückgewichen und hatte das Mädchen dabei weitergeschoben. Ihr Blick war zu dem Messer geschossen, das hinter ihrem Gegner auf dem Boden gelegen hatte.
Noch immer nicht hatte Asmea verstanden, was hier vor sich gegangen war. Sie hatte leise gewimmert. Alles, was sie gewollt hatte, war, wieder zurück in ihr Bett gehen und schlafen zu können. Sie hatte die Hand nach Mira ausgestreckt, doch in diesem Moment hatte diese sie von sich gestoßen, sodass sie nach hinten gestolpert war, und war dann erneut unter Venga her getaucht, hin zu dem Messer. Das alles war so schnell gegangen, dass weder Asmea noch der Soldat es wirklich verfolgen konnten.
Er hatte nun zwischen dem Kind und der Frau gestanden, die mit gezücktem Messer vor ihm stand. Das Mädchen hatte laut aufgeschrien, als er, das Schwert auf sie gerichtet, auf sie zusprang. Im selben Moment war Mira auf ihn zugeschossen, war gesprungen und hatte die Klinge tief in den entblößten Hals des Mannes gestoßen.
Dieser hatte sein Schwert fallen lassen, das laut klirrend auf dem harten Steinboden aufgeschlagen war, und hatte beide Hände gegen seine aufgerissene Wunde gedrückt. Mira hatte sich nach dem kleinen Mädchen umgesehen, das mit großen, schreckgeweiteten Augen gegen die Mauer gepresst stand und den Mann anstarrte, der zu Boden gesackt war, einen stummen Schrei auf den Lippen. Noch nie hatte sie so viel Blut gesehen.
Ihr Kindermädchen war zu ihr gegangen, hatte sich zu ihr runter gebeugt und eindringlich geflüstert: „Ihr müsst mir jetzt ganz genau zuhören, Prinzessin. Es gab einen Aufstand, der Palast wird angegriffen. Ich habe den Befehl, euch zu retten. Ihr müsst jetzt also mit mir kommen, versteht ihr das?“
Doch Asmeas Blick war nur auf das Messer in Miras Hand gerichtet gewesen. Auf das Messer, von dem das Rot tropfte und sich zu dem See gesellt hatte, der sich langsam um Vengas Körper gebildet hatte. Mira hatte es weggesteckt und das Gesicht des Kindes in ihre Hände genommen und ihren Blick somit davon weggelenkt. „Prinzessin, versteht ihr das?“
Außerstande etwas zu sagen hatte Asmea genickt, ihre Hand in die von Mira gelegt und war mit ihr gelaufen, nachdem sie die Laterne wieder an sich genommen hatte. Immer weiter, den sterbenden Venga hinter sich lassend.
Sie waren an zwei Männern vorbeigekommen, beides Soldaten des Königs, die Schwerter gegeneinander erhoben. Abrupt waren sie stehen geblieben, als sie die beiden sahen, doch hatten diese sie dem Anschein nach noch nicht bemerkt. Mira, einen Finger auf die Lippen gelegt, hatte Asmea eindringlich angesehen und sie hatte genickt. Möglichst schnell und unauffällig war Mira an den Männern vorbeigeeilt, wobei sie Asmea so positioniert und vorangeschoben hatte, dass sie vor möglichen Blicken geschützt war. Sobald sie an ihnen vorbei waren, waren die beiden weiter gerannt. Die Fackeln an den Wänden waren Asmea wie helle Schemen erschienen.
Kampfgeräusche waren zu hören gewesen und Asmea war sich fast sicher gewesen, dass es aus unterschiedlichen Richtungen gekommen war und von mehreren Personen gestammt haben musste.
Nur kurze Zeit später waren sie erneut stehen geblieben, vor einem großen, schweren Wandteppich, auf dem das Emblem ihres Vaters abgebildet war: Ein weißer Schwan auf blauem Grund. Asmea hatte Miras Hand loslassen müssen, damit diese ihn mühevoll zur Seite schieben konnte und somit den Blick auf eine Tür freigegeben hatte, die dahinter verborgen lag. Quietschend hatte sie sich öffnen lassen. Dahinter hatte eine schmale Wendeltreppe ins Dunkle geführt und kalte, abgestandene Luft war ihnen entgegengekommen.
Verängstigt hatte Asmea zu ihrem Kindermädchen hingesehen, das ermutigend genickt hatte. Sie hatte das kleine Mädchen hochgehoben, das sich ängstlich an sie geklammert hatte, als hätte jederzeit jemand kommen und sie von ihr reißen können. Sie hatte am ganzen Körper gezittert, während Mira sie die steilen Stufen heruntergetragen hatte.
Die Steine waren alt und rissig gewesen, von der Decke hatten staubbefangene Spinnenweben gehangen. Nur die flackernde Laterne in Miras Hand spendete ihnen Licht. Von irgendwoher waren Schreie und das Klirren von Metall auf Metall zu hören gewesen, welches beides von den dicken Mauern um sie herum gedämpft gewesen war. Asmea hatte die Augen fest zugekniffen, als hätte das die Geräusche vertreiben können. Sie hatte versucht zu verstehen, was zwischen Venga und Mira geschehen war, doch es war ihr nicht gelungen. Mira hatte etwas von einem Aufstand gesagt, doch sie wusste nicht, was genau das sein sollte. Es hatte nach einem Wort geklungen, das ihr Vater gesagt hätte, wenn er sich mit anderen Männern getroffen hatte, um etwas Wichtiges mit ihnen zu besprechen, von dem sie nichts mitbekommen durfte.
Sie hatte nicht verstanden, warum die Menschen plötzlich geschrien hatten, warum sie aufeinander losgegangen waren. Es war doch mitten in der Nacht gewesen, alle hatten friedlich in ihren Betten liegen und schlafen sollen. Womöglich war genau das der Fall, war es ihr durch den Kopf geschossen. Vielleicht lag sie in ihrem Bett und schlief, sie träumte. Wenn das hier ein Traum war, dann wollte sie aufwachen! Dann hätte sie die Augen aufgeschlagen und wäre in das Zimmer ihrer Mutter gelaufen, um sich unter den warmen Fellen auf ihrem Bett zu verkriechen. Dort wäre sie sicher gewesen und niemand hätte ihr etwas zuleide tun können. Doch wie hätte sie sich so etwas Schreckliches erträumen lassen? Sie hatte doch von magischen Feen träumen sollen, statt von Kampf und Blut.
Die Treppe war einem Tunnel gewichen, in dem Mira sie abgesetzt hatte, sodass sie selber laufen konnte. Nach ein paar Schritten war Asmea aufgefallen, wie kalt ihre Füße gewesen waren und sie hatte an sich heruntergeschaut. Sie hatte noch immer ihr weißes Nachtkleid getragen und ihre Füße waren nackt gewesen. Im Schein der kleinen Laterne hatte sie an ihrem einen Zeh das Rot eines Tropfens funkeln sehen und wie erstarrt war sie stehen geblieben, den Blick darauf gerichtet.
Mira hatte sich umgewandt. „Wir müssen weiter, Prinzessin.“
„Wohin gehen wir?“, hatte Asmea mit brechender Stimme gefragt, hatte jedoch keine Antwort bekommen.
„Wo sind Mama und Papa?“, hatte sie weiter nachgehakt, dieses Mal lauter und fordernder.
„Der König ist… er verteidigt seinen Thron“, hatte Mira stockend entgegnet, ohne sie dabei anzusehen.
„Wo ist Mama?“
Sie hatte keine Antwort bekommen.
„WO IST MEINE MAMA?“, hatte Asmea laut geschrien.
Ein Quieken war zu hören gewesen und Asmea hatte gespürt, wie etwas über ihre nackten Füße gehuscht war. Eine Maus oder vielleicht sogar eine Ratte. Erschrocken und auch ein wenig angewidert war sie kreischend hochgesprungen. Als sie wieder runter geschaut hatte, war der kleine rote Fleck an ihrem Zeh verschmiert gewesen.
Sie war von einem Fuß auf den anderen gesprungen und hatte dabei wild japsend mit den Armen gefuchtelt. Beruhigend hatte Mira ihr über ihren braunen Lockenkopf gestrichen. „Wir müssen weiter.“ Ihre sanfte Stimme hatte brüchig geklungen.
Immer noch verschreckt hatte Asmea die ihr dargebotene Hand ergriffen und war ihr nicht mehr von der Seite gewichen.
Während sie gingen hatten sie kein weiteres Wort mehr miteinander gesprochen, doch sie hatte sich wieder und wieder dieselbe Frage gestellt: Wo war ihre Mutter?
Ihre Schritte hatten von den steinernen Wänden widergehallt. Die kleine Prinzessin hatte inständig gehofft, das alles wäre doch nur ein Traum gewesen und sie wäre jede Sekunde aufgewacht. Dann wäre sie zu ihrer Mutter gerannt und hätte sich in ihr vergraben. Diese hätte ihr über den Kopf gestreichelt und ihr gesagt, dass alles gut geworden wäre, dass alles nur ein Traum gewesen war und kuschelnd wären sie in ihrem Bett wieder eingeschlafen. Und dann wäre ihr nächster Traum voller süßem Karamell, bezaubernden Feen oder kleinen Welpen gewesen, die lustig umhersprangen. Doch sie war nicht aufgewacht.
Sie hatte kein Zeitgefühl gehabt, aber es war ihr wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen, bis sie schließlich das Ende des dunklen Tunnels erreicht hatten. Dort hatten sie eine Art Sprossenleiter vorgefunden, die aus Stein in die Wand gebaut worden war und die in einer Falltür an der hohen Decke geendet hatte.
Aus einer Nische in der Wand hatte Mira zwei schwarze Kapuzenmäntel herausgeholt, von denen sie einen Asmea übergezogen hatte und den anderen sich selbst. Auch ein schwerer, lederner Beutel mit Münzen war dort zu finden gewesen, den sie an sich genommen hatte. Der Mantel war Asmea zu groß gewesen und der Stoff hatte an ihrer weichen Haut gekratzt, aber ein Blick auf ihr Kindermädchen hatte ihr verraten, dass dies nicht der Moment gewesen war, um sich zu beschweren.
Das kleine Mädchen hatte nicht gewusst, dass sich ihre Eltern von dem Zeitpunkt ihrer Geburt an auf ein Ereignis dieser Art vorbereitet hatten. Dass sie jede Münze, die sie erübrigen konnten, sicher in diesem Beutel gesammelt hatten. Dass sie je nach Größe des Kindes einen warmen Mantel hatten auslegen lassen und diesen austauschen ließen, sobald dieser bald zu klein werden würde. Dass sie ihrem Kindermädchen genaue Anweisungen gegeben hatten, was im Fall der Fälle getan werden musste. Sie hatten alles dafür vorbereitet, dass ihre Tochter überleben würde, wenn sie selbst es nicht tun würden.
Hintereinander waren Mira und Asmea die in die Wand gearbeiteten Stufen hinaufgeklettert, Mira hatte die Falltür aufgestoßen und sie waren an die frische Luft gestiegen, die Asmea nach der stickigen Enge genüsslich in sich aufgenommen hatte.
Sie hatten am Rande eines Waldes gestanden, dessen dunkle Bäume bedrohlich über ihr aufgeragt hatten. Suchend hatte Asmea sich umgesehen und weit hinter ihnen die Lichter der Hauptstadt entdeckt, in dessen Mitte der Palast emporgeragt hatte. Die Flammen, die daraus hervorgelodert hatten, hatten es in einen orangerötlichen Schein getaucht.
„Wo sind Mama und Papa?“, hatte Asmea ihre Frage wiederholt.
„Komm.“ Erneut hatte Mira ihr ihre Hand gereicht.
Lange hatte Asmea ihr Kindermädchen angeschaut und war schließlich gemeinsam mit ihr in den nächtlichen Wald eingetaucht.
An die Tage, in denen sie unterwegs gewesen waren, konnte Asmea sich kaum noch erinnern. Im Nachhinein hätte sie nicht einmal mehr sagen können, wie lange ihr Weg gedauert hatte.
An was sie sich noch erinnern konnte waren neugierige Blicke, die die beiden Reisenden gemustert hatten, sowie ein Händler, der sie ein kleines Stück mitgenommen hatte. Und sie erinnerte sich an dunkle Wälder, in denen sie die Nächte verbracht hatten.
Dagegen hatte sich jedes kleine Detail aus der Nacht, in der der Palast angegriffen wurde, in ihr Gedächtnis eingebrannt. Die Schreie, die sie von ihrem Zimmer aus gehört hatte. Vengas schreckgeweitete Augen voller zornigem Schmerz und das Blut. So viel Blut. Die steile Wendeltreppe, die sie herabgestiegen waren. Die kindliche Neugier, die von Verwirrung und Angst abgelöst wurde, die sie in dieser Nacht empfunden hatte.
Aber die ungezählten Tage, die darauffolgten, waren verschwommen und kaum greifbar.
Irgendwann hatten sie das Meer erreicht. Asmea wusste noch, wie es sich angefühlt hatte, als sie es zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal gesehen hatte. Es war ein Gefühl von grenzenloser Freiheit gewesen und gleichzeitig war sie sich ganz klein und schwach vorgekommen, angesichts des endlosen Blaus, das vor ihr lag.
Und die Hoffnung, ihre geschundenen Füße endlich ausruhen zu können, war bald erfüllt worden. Sie waren an den Klippen entlanggelaufen, bis sie auf ein Fischerdorf trafen. Es war, als hätte Mira es die ganze Zeit angesteuert. Es bestand nur aus wenigen Häusern, doch eines davon hatte bald ihnen gehört. Aus den Münzen im Beutel hatte Mira es für sich und Asmea erworben und seitdem war es für sie eine Zuflucht und irgendwann ein Zuhause geworden.
Die Kunde, dass die gesamte Königsfamilie bei einem schrecklichen Brand umgekommen sei, hatte sich schnell verbreitet. Als letzter Blutsverwandter hatte Amron, der Bruder des verstorbenen Königs, die Bürde der Krone auf sich genommen. So wurde es zumindest unter dem Volk verbreitet.
Um Asmeas Leben zu retten hatte sie sich fernab der Hauptstadt und außer Reichweite von Amrons Blicken niedergelassen. Dort lebten sie nicht als Tochter des gestürzten Königs und deren Kindermädchen, stattdessen gaben sie sich als Mutter und Tochter aus und mit der Zeit waren die Erinnerungen an ihr voriges Leben verblasst.
Mira hatte sich eine neue Methode gesucht, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Aus Schilf und Reißig flocht sie Körbe für die Fischer und auch Asmea half oft mit. Es war eine harte und langwierige Arbeit und brachte nicht viel ein, aber sie überlebten. Zwischendurch übernahmen die beiden die Reinigung der Boote oder Mira half beim Ausnehmen der Fische. Zweiteres widerstrebte Asmea und sie war dankbar dafür, dass Mira nichts sagte, wenn sie sich dem verweigerte.
Worauf diese jedoch bestand, war ihr tägliches Training. Im Schutz der Dämmerung, wenn die meisten Fischer ihre Aufmerksamkeit einem kühlen Getränk widmeten und ihre Frauen mit der Zubereitung des neusten Fangs beschäftigt waren, gingen Mira und Asmea zu einem Strandabschnitt, der etwas abgelegen zwischen scharfkantigen Felsen lag, außer Sichtweite neugieriger Blicke.
Asmea hatte nicht lange gebraucht, um herauszufinden, dass ihr Kindermädchen mehr war, als nur die ihr bekannte Rolle. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass die Frau, die auf seine Tochter achtgab, mehr konnte als nur zu trösten, Geschichten zu erzählen und Zöpfe zu flechten. Und Mira hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihr Können an sie weiterzugeben.
„Achte auf deine Füße“, tadelte Mira das Mädchen und schlug mit ihrem Stab gegen Asmeas Beine, woraufhin diese ächzend zu Boden ging. Sie spuckte Sand und wischte sich mit dem Handrücken etwas davon aus den dichten Wimpern, bevor sie wieder aufsprang.
„Dein Gegner wird nicht so nett sein und dir Zeit zum Aufstehen geben. Ein sicherer Stand sorgt dafür, dass du erst gar nicht zu Boden gehst.“
„Ja, ich weiß, das sagst du mir jeden Tag.“ Asmea verdrehte die Augen. Sie verstand nicht, wofür das ganze Training gut sein sollte. Immer wieder sagte Mira, dass es ihr eines Tages zunutze sein würde, doch wenn Asmea ehrlich war, so bezweifelte sie es. Das gesamte Land hielt sie für tot und sie war sich sicher, dass das auch für ihren Onkel galt. Warum also sollte jemand nach ihr suchen? Und selbst wenn, seit der Nacht im Palast waren mehr als zehn Jahre vergangen und die Wahrscheinlichkeit, dass jemand sie erkannte, hielt sie für sehr gering. Zudem gab es hier, in dem kleinen Fischerdorf am Meer, keinen ihr vorstellbaren Grund für einen Kampf.
„Und jeden Tag ignorierst du es aufs Neue“, erwiderte Mira streng, dann wurde ihr Tonfall wieder weicher. „Ich will dir doch nichts Böses. Aber irgendwann wird der Tag kommen, an dem du das Gelernte anwenden musst und dann wirst du dankbar für die Lektionen sein.“
„Der Sand gibt so schnell nach“, verteidigte Asmea sich.
„Dein Gegner wird darauf keine Rücksicht nehmen. Glaubst du, er wird darauf achten, dass ihr zum Kämpfen einen festen Untergrund habt?“
„Der wird ihm bestimmt auch lieber sein“, murmelte sie leise und Miras Augen verengten sich leicht. „Wie bitte?“
„Ich habe gesagt, dass er darauf nicht achten wird“, gab Asmea nach.
Mira nickte akzeptierend. „Also von vorn.“
Asmea versuchte sich so zu positionieren, wie Mira es ihr gezeigt hatte. Ihre nackten Zehen grub sie mit genügend Abstand in den trockenen Sand, den Stab fest mit beiden Händen umschlossen. Mira tat dasselbe und sie beobachteten einander, um herauszufinden, was die andere tun würde. Jede noch so kleine Bewegung konnte ein Hinweis auf den nächsten Schritt sein.
Mira begann sie zu umkreisen, immer ihr zugewandt. Asmea versuchte sie nicht aus den Augen zu lassen. Mit einer blitzschnellen Bewegung schoss Mira nach vorn, doch Asmea konnte den Hieb parieren und stieß ihrerseits vor. Mira wich aus und vollführte dabei eine rasche Bewegung, sodass sie plötzlich hinter ihr stand und ihr Hieb sie am Rücken traf. Asmea keuchte auf, versuchte aber sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen.
Sie fuhr herum und stand vor Mira, die sie prüfend musterte. Blaue Flecken auf Armen, Beinen und Rumpf waren ein tägliches Werk, doch eine gebrochene Rippe wollte sie nicht zu verantworten haben.
Asmea verfestigte den Griff um ihren Stab und nahm eine Verteidigungshaltung ein. Mira und sie umkreisten einander erneut, beide ihren Gegner fest im Blick. Wieder war es Mira, die als erstes zum Angriff überging und schon waren sie in ein wildes Gefecht übergegangen, in dem jeder versuchte, die Oberhand zu gewinnen.
Ein Schlag traf Asmeas linkes Bein und sie sackte zusammen, die Zähne fest zusammengepresst. Dumpf landete ihr Stab neben ihr im Sand. Sie wollte ihn aufheben und aufstehen, da war Mira schon über ihr und hielt ihr ihren eigenen Stab entwaffnend entgegen. Asmea seufzte und zog sich daran hoch.
„Deine Füße“, erinnerte Mira sie erneut, gab dann aber nach.
„Du bist müde. Lass uns gehen.“
„Der Gegner fragt nicht, ob ich müde bin“, erwiderte Asmea und wiederholte dabei eine der Lektionen, die Mira ihr versucht hatte einzubläuen.
Mira lächelte und sagte in einem freundlicheren, fast mütterlichen Ton: „Lass uns nach Hause gehen.“
Auf dem Weg über die Felsen und hinüber zum Dorf, schwiegen beide. Asmea wusste, dass sie ihre Niederlage selbst zu verantworten hatte und Mira wusste, dass sie es wusste. Was also hätte es gebracht, sie erneut zu tadeln?
Das Dorf lag in nächtlicher Dunkelheit, als sie beiden es erreichten. Genau genommen waren es nicht mehr als eine Handvoll Häuser, die aus Holz und zusammengetragenen Steinen errichtet waren, die Dächer aus Stroh. Ihre Anordnung schien willkürlich, als hätte ihr Erbauer keinem Konzept gefolgt. Viele von ihnen standen auf Stelzen, da sie so nah am Wasser lagen, dass die Wellen bei einem Sturm andernfalls durch den kleinen Raum zwischen Boden und Tür laufen würden. Trotz der geringen Größe verfügte das Dorf über einen gepflasterten Platz, den man wohl als Mittelpunkt des Ortes bezeichnen konnte. Auf ihm war der Brunnen errichtet, aus dem man frisches Trinkwasser holen konnte. Somit war dies ein Ort, an dem man unweigerlich aufeinandertraf. Neben den Häusern der Fischer gab es einen Bäcker, der neben seinem Brot auch süßes Gebäck anbot, wenn er gerade die passenden Zutaten zur Hand hatte. Es gab einen kleinen, gut besuchten Tempel und eine noch besser besuchte Schenke. Überwiegend war das Dorf allerdings für den Fischfang ausgelegt. Der lange Steg, der auf das weite Meer hinausführte, war der Dreh- und Angelpunkt des Dorfes. An ihm lagen die Boote befestigt und bevor die Männer abends in die Schenke einkehrten, legten sie dort nach einem langen Tag an, zeigten einander ihre Fänge und wetteiferten wild darüber, wer von ihnen den größten Fisch gefangen hatte. Hatten sie sich auf jemanden geeinigt, so wurden die Netze über die dafür vorgesehenen Haken geworfen, an denen sie bis zum nächsten Morgen trocknen konnten. Alles, was die Bewohner des Ortes sonst noch zum Leben benötigten, erhielten sie von vorbeiziehenden Händlern. Es war ein einfaches Leben, doch es war ein friedliches.
Zu dieser Stunde saßen nur noch wenige Männer in der Schenke, die meisten lagen bereits in ihren Betten und schliefen ihren Rausch aus. Niemand interessierte sich für die Frau und das Mädchen, die um diese Zeit mit Kampfstäben bewaffnet zwischen den kleinen Häusern umhergingen, hinüber zu ihrer Hütte, in der auf sie ein warmes, weiches Bett wartete.
Als Asmea am Morgen erwachte, fand sie Miras Bett bereits leer vor. Sie fand sie vor dem Haus, vertieft in ihre Arbeit.
Während Mira flocht, machte Asmea sich auf, in einem nahen Waldstück Reißig für den nächsten Korb zu sammeln. Die vielen Buchen boten perfektes Material für die Körbe und es fiel oft ihr zu, die dünnen Zweige zu sammeln und zu ihrer Hütte zu tragen. Da sie Wälder nicht besonders leiden konnte, beeilte sie sich mit ihrem Werk und häufte die Zweige aufeinander, bis sie genügend hatte, um sie mit einem Band zusammenzubinden. Früher hatte sie immer darauf bestanden, es auch ohne zu schaffen und nicht selten war die Hälfte ihrer Sammlung auf dem Weg verloren gegangen. Irgendwann hatte sie nachgegeben und auf Miras warnende Apelle gehört.
Als sie sich schließlich auf den Rückweg machte, hatte die Sonne ihren Zenit fast erreicht und ihr Magen fing an zu knurren. Sie freute sich auf den Rest der leckeren Suppe, die Mira am Vortag aus verschiedenem Gemüse gekocht hatte. Mira war eine ausgezeichnete Köchin. Sie hätte in der unbesetzten Küche der Schenke arbeiten können, doch sie sagte, sie würde die Freude daran verlieren, wenn sie wieder und wieder dasselbe und für andere tun würde. Aus selbigem Grund versuchte sie, bei ihren Körben verschiedene Muster mit einzuflechten. Den Fischern war es egal, wie ihre Körbe aussahen, solange sie ihren Zweck erfüllten, doch ihr selbst war es wichtig.
An ihrer Hütte angekommen warf Asmea das Bündel Reißig unter einem Vorstand des Daches ab und fing sich noch im selben Atemzug eine Mahnung von Mira ein, sie solle vorsichtiger mit den Zweigen sein. Sollten sie knicken, seien sie unbrauchbar. Gerade wollte Asmea etwas darauf erwidern, als sie bemerkte, dass Mira nicht alleine war. Einer der Fischer war bei ihr.
„Asmea“, begrüßte er sie nickend.
„Peet“, erwiderte sie, „Schon wieder zurück?“
„Gar nicht erst rausgefahren“, knurrte er düster und obwohl sie wusste, wie das Wetter war, sah sie kurz nach oben in den Himmel. Vielleicht war doch irgendwo eine Gewitterwolke zu sehen, die ihr entgangen war.
„Wieso das?“ Sie hatte keine entdecken können.
„Falgrit hat sich mit Bethalan zusammengetan, um Balta eins auszuwischen.“
Asmea legte leicht ihren Kopf schräg, so wie sie es immer tat, wenn sie über etwas nachdachte, und fragte sich, was die beiden Götter damit zu tun hatten. „Was meinst du?“
„Ein einziges Mal nur hat er darum gebeten, auch mal derjenige sein zu dürfen, der den größten Fisch fängt. Ein Mal nur! Und zack, bekommt er Fieber. Ist das zu fassen?“
„Und du glaubst, die Götter hätten ihre Hände im Spiel?“, fragte Asmea ungläubig. Zwar würde sie es niemals wagen, die Existenz der Sieben anzuzweifeln, doch hielt sie es für eher unwahrscheinlich, dass die Göttin des Wassers und der Gott des Todes sich zusammenschließen würden, um einem einfachen Fischer zu zeigen, was sie von seiner einfachen Bitte hielten. Insbesondere, da Balta ein sehr gläubiger Mann war, der Falgrit nicht um etwas bitten würde, ohne ihr als Gegenleistung eine Opfergabe darzubieten.
„Was sollte es sonst sein?“, fragte Peet zurück.
„Eine einfache Infektion.“ Mira unterbrach ihre Arbeit und sah ihn belustigt an.
Der Fischer hob warnend den Zeigefinger. „An einem Tag bittet er um etwas und am nächsten wird er krank. Und das soll ein Zufall sein?“
„Ja“, sagte Mira seufzend.
„Das glaube ich nicht.“ Peet schüttelte den Kopf, woraufhin sie die Augen verdrehte. „Dann geh in den Tempel und bete für seine Gesundheit.“
„Von da komme ich gerade“, erwiderte er und klang dabei fast stolz, „Darum bin ich heute nicht rausgefahren. Balta ist mein Freund, da kümmere ich mich.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren drehte er sich um und ging.
„Das hätte nicht sein müssen“, sagte Asmea und Mira sah sie ungläubig an. „Bitte? Wenn sie könnten würden diese Männer doch jeden Tag in den Tempel rennen und ihre Opfergaben dort ablegen.“
„Und was wäre so schlimm daran? Es geht ihnen doch gut damit.“
„Jetzt fang du nicht auch noch damit an.“ Mira bedachte sie mit einem Blick, von dem Asmea nicht ganz zu sagen wusste, ob er ernst oder belustigt sein sollte.
„Nein, keine Sorge.“ Lachend schüttelte sie den Kopf und schaute dann Richtung Hütte. „Ist eigentlich noch Suppe da?“
Mira nickte. „Etwas Brot ist auch noch da.“
Die Vorfreude auf eine dampfende Schale heißer Suppe ließ Asmea das Wasser im Mund zusammenlaufen.
„Wenn du noch etwas wartest, können wir zusammen essen“, fügte Mira hinzu.
„Du arbeitest so hart. Du solltest dir eine Pause gönnen, du hättest sie verdient!“
Mira ahnte, worauf sie hinauswollte, wollte ihr dieses sofortige Genugtun aber nicht gönnen. „Meinst du wirklich? Dieser Korb muss heute noch fertig werden.“
„Nur ein paar Minuten Ruhe. Erzähl mir, wie dein Tag war.“
„Und der Korb?“
Seufzend gab Asmea nach. „Ich helfe dir später damit.“
Lächelnd stellte Mira den Korb, aus dessen oberem Ende lange Zweige herausragten, an die Seite „Ein paar Minuten werde ich wohl übrighaben.“
Es war kein großes Haus, in dem sie lebten, doch es gehörte ihnen allein. Während Asmea ein eigenes kleines Zimmer für sich hatte, schlief Mira im größeren Wohnraum. Neben ihrem Bett gab es dort einen runden Tisch, an dem vier Stühle standen. Zwei für sie, zwei für möglichen Besuch. Es gab zwei Regale. Eines zur Aufbewahrung von Körben, eines für andere Habseligkeiten wie eine Haarbürste, eine Teekanne, vier Tassen, vier Schalen, ein Kästchen für Besteck, eine Schere sowie ein scharfes Messer, das hauptsächlich zum Schneiden von Gemüse genutzt wurde. Sämtliche Möbel waren aus Holz. An der Decke waren zwei Haken befestigt, an einem davon hing eine gusseiserne Bratpfanne. Mittig im Raum befand sich ihre Küche. Der Großteil des Bodens war mit Holzdielen abgedeckt, doch dort befand sich ein in die Erde gegrabenes Loch, welches mit großen Steinen umlegt und mit Feuerholz gefüllt worden war. Drumherum war ein eisernes Gestell gebaut, das einen großen Topf auf sich trug. An weiteren Haken an der Wand hingen verschiedene Küchenutensilien, daneben waren Kräuter zum Trocknen aufgehangen. Für ihre täglichen Waschungen stand in einem weiteren kleinen Raum ein Trog bereit, den sie mit Wasser aus dem Brunnen im Dorf füllen konnten. Nichts verriet, dass hier eine tot geglaubte Prinzessin und ihr Kindermädchen Zuhause waren.
Mira entfachte ein Feuer unter dem Topf und sie zogen sich zwei der Stühle heran, auf denen sie warten konnten, während die Suppe sich langsam erwärmte.
„Was hältst du davon?“, fragte Asmea.
Mira, die mit einer Kelle die Suppe verrührte, schaute auf. „Was halte ich wovon?“
„Von Baltas Fieber.“
„Was soll ich schon davon halten, er wird sich mit irgendwas infiziert haben.“ Sie zuckte mit den Schultern, dann veränderte sich ihr Blick. „Du glaubst doch nicht ernsthaft diesen Quatsch, den Peet erzählt hat oder? Menschen werden krank, sie sollen die Götter daraus halten.“
„Viele sollen zurzeit Fieber haben“, warf Asmea ein.
„Wer erzählt das?“, fragte Mira, die sich wieder dem Topf widmete.
„Der Händler, der vor einigen Tagen hier war. Weißt du noch? Der mit dem Zucker. Er hat auch erzählt, dass manche von denen mit Fieber auch Schüttelfrost hätten.“
„Manche Menschen erzählen viel, wenn der Tag lang ist.“ Mira holte zwei der Schalen herbei und reichte beide Asmea. Mit der Kelle füllte sie etwas von der heißen Suppe hinein und Asmea stellte sie auf dem Tisch ab, bevor sie zwei Löffel dazu holte.
Die Suppe hatte genau die richtige Temperatur, weder zu heiß noch zu kalt, und sie schmeckte noch besser als am Vortag. Trotzdem konnte Asmea sie nicht richtig genießen. Sie dachte an den Händler und an das, was er ihr erzählt hatte. Daran, dass das Fieber sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land ausbreitete. Erst käme das Fieber, das nicht selten von Schüttelfrost begleitet wurde. Und dann würden die Adern schwarz werden, woraufhin der Tod folgte. Aber vielleicht hatte Mira Recht. Vielleicht hatte er versucht ihr ein Ammenmärchen aufzubinden.
Mira und Asmea saßen vor ihrer Hütte. Die Frau hatte sich wieder ihrem halb fertigen Korb gewidmet und Asmea hütete sich davor, sie daran zu erinnern, dass sie hatte helfen wollen. Sie saß daneben auf einem Stein und pflückte ein Gänseblümchen, das in Griffnähe wuchs, und rieb den Stiel zwischen zwei Fingern.
„Erzähl mir von meiner Mutter“, bat sie irgendwann.
Mira schaute sich um, um sicherzugehen, dass niemand in Hörweite war. „Was möchtest du wissen?“
„Wie war sie so?“
„Sie war eine herzensgute Frau“, begann Mira und fing an zu lächeln, während sie an ihre verstorbene Königin dachte. „Ich habe sie kennengelernt, da war sie gerade frisch mit deinem Vater vermählt worden. Bevor ich dein Kindermädchen wurde, war ich ihre Zofe. Manchmal war ich neidisch auf ihre langen Haare, sie sahen so schön aus! Sie waren genauso braun und lockig wie deine. Ihre Augen waren strahlend blau und man hat an ihnen sofort erkannt, wenn sie etwas bedrückte – was eigentlich selten vorkam. Und ihr Lachen, es war wundervoll. Es hat andere angesteckt.“ Sie hatte in ihrer Arbeit innegehalten und schaute gedankenverloren auf das Gras zu ihren Füßen, während sie erzählte. „Sie hatte immer gute Laune und hat nie ein schlechtes Wort über jemanden verloren. Ich weiß noch, wie sie gestrahlt hatte, als sie vor dem Traualtar stand. Und neben ihr dein Vater, stattlich und gutaussehend wie immer. Als sie von der Schwangerschaft erfuhr, hat sie vor Freude geweint und sie bestand darauf, dich Asmea zu nennen. Wusstest du, dass dein Name in der Alten Sprache Tränen der Sonne bedeutet?“
„Sie hat mich so genannt, weil selbst die Sonne geweint haben soll, als ich geboren wurde“, nahm Asmea Miras Erklärung vorweg. Genau wie die Beschreibung ihrer beider Eltern hatte Mira es ihr bereits hunderte Male erzählt und dennoch sog sie es jedes Mal auf wie ein Schwamm und jedes Mal hatte sie das Gefühl, etwas Neues zu erfahren. Sie selbst hatte kaum Erinnerungen an ihre Eltern, nur verschwommene Bilder und wage Umrisse von Erlebnissen mit ihnen, doch durch die Erzählungen Miras hatte sie das Gefühl, die beiden genau vor sich sehen zu können.
Mira nickte und versuchte die Trauer zu verbergen, die in ihre Augen stieg. Asmea wäre gern aufgestanden, um sie in den Arm zu nehmen, doch aus Erfahrung wusste sie, dass es der verkehrte Weg gewesen wäre. Stattdessen tat sie so, als würde sie nichts von Miras Gefühlen bemerken. „Sie war eine wunderbare Frau und eine wunderbare Königin“, fügte Mira leise hinzu und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Korb vor sich. Aber nicht ohne sich vorher eine Träne wegzuwischen, die ihre Wange herabrollte. Asmea, die wusste, dass jedes weitere Wort über ihre Mutter noch mehr Tränen hervorgerufen hätte, ließ das Gänseblümchen ins Gras fallen. Sein Stiel war inzwischen so dünn geworden, dass die Blüte ohne Halt traurig herabhing.
„Glaub bloß nicht, dass ich dein Versprechen vergessen hätte“, sagte Mira plötzlich in die Stille hinein und mit gespielter Entrüstung erwiderte Asmea ihren Blick.
„Welches Versprechen?“ Sie tat ahnungslos, stand dann aber auf, um Mira hilfsbereit zur Hand zu gehen. Sie flocht die einzelnen Zweige ineinander, Reihe für Reihe, während Mira ihr Tun beobachtete, um sicherzugehen, dass sie es ordentlich machte. Die letzten Schritte vollführte diese jedoch selbst, da Asmea darin noch einige Übung brauchte und die Zeit eilte.
„Für wen ist er?“, fragte Asmea, als er schließlich fertiggestellt war.
„Für Balta. Wolltest du ihn abliefern?“
Asmea, die eigentlich vorgehabt hatte genau das zu tun, schüttelte den Kopf. „Ich hatte nur so gefragt.“
Mira stand auf, nahm den Korb und wollte gerade gehen, als Asmea dann doch noch ihre Gedanken laut aussprach. „Peet meinte doch, Balta sei krank.“
Mira drehte sich noch einmal zu ihr um. „Und? Er hat nur Fieber.“
„Was, wenn du dich ansteckst?“
„Ich muss ihn ja nicht umarmen.“ Kopfschüttelnd wandte Mira sich wieder um und Asmea schaute ihr besorgt hinterher.
Als Mira zurückkehrte, war Asmea Zuhause.
Sie setzte sich neben sie und teilte die Münzen, die sie für den Verkauf des Korbes erhalten hatte, auf.
„Wie geht es ihm?“
„Balta? Ganz gut soweit“, antwortete Mira geistesabwesend, während sie die Münzen zu drei gleichen Teilen auf den Tisch legte.
„Und das Fieber?“
Mira seufzte. „Ja, er hat Fieber und ja, er ist schlapp. Aber ansonsten geht es ihm gut.“ Sie schob zwei der drei Teile zusammen und steckte sie in eine kleine Kiste, die sie unter ihrem Bett versteckt hatte. Den dritten Teil füllte sie in einen ledernen Beutel. So handhabten sie es seit sie hier lebten. Immer, wenn sie etwas verdienten, wurden die Münzen aufgeteilt. Zwei Drittel kamen in das Kästchen und war für Lebensmittel und andere Dinge gedacht, die sie für ihren Alltag benötigten. Das übrige Drittel wurde in dem Lederbeutel verstaut, den Mira zu jeder Tages- und Nachtzeit am Körper trug. Als Asmea sie vor einigen Jahren danach gefragt hatte, hatte Mira sich zu ihr heruntergebeugt und gesagt: „Weißt du, meine Kleine, irgendwann wird eine Zeit kommen, in der wir das Geld brauchen werden.“ Wann diese Zeit kommen würde, wusste sie nicht, doch sie hatte auch nicht wieder nachgefragt.
Mira seufzte. „Hast du jetzt auf mich gewartet, um mich das zu fragen?“
Schuldbewusst nickte Asmea.
„Es kommt vor, dass Menschen Fieber haben und es kommt auch vor, dass sich Krankheiten verbreiten. Hör auf, dir immer irgendwelche Hirngespinste der Händler anzuhören. Die sind manchmal mehrere Tage lang alleine unterwegs, da wird denen langweilig und sie denken sich Geschichten aus, um Mädchen wie dir etwas zum Sorgenmachen zu geben.“
Nachdenklich wiegte Asmea den Kopf hin und her. „Du hast wahrscheinlich Recht.“
„Natürlich habe ich Recht.“ Mira lächelte. „Aber wenn du dich so sorgst, besuch ihn doch selbst.“
„Vielleicht tue ich das“, erwiderte Asmea, obwohl sie sich fast sicher war, dass sie das nicht tun würde. Trotz Miras Worte beschlich sie ein ungutes Gefühl und sollte an der Geschichte des Händlers doch etwas Wahres dran sein, wollte sie nichts riskieren. „Ich bin jetzt aber erstmal weg.“
Mira schaute nach oben, als könne sie durch das Dach den Himmel sehen. „Mach nicht zu lang.“
Asmea nickte und verschwand dann nach draußen.
Wenn sie nicht gerade bei der Arbeit mithalf war Asmea am Meer. Sie liebte das Meer. Sie genoss es barfuß über den Strand zu spazieren und den Sand zwischen den Zehen zu spüren, sie darin zu vergraben, ihn sich durch die Finger rinnen zu lassen. Manchmal saß sie einfach nur da und schaute auf die Wellen hinaus. Im grellen Sonnenlicht sah es so aus, als würden dort draußen tausend winzige Diamanten funkeln. Bei gutem Wetter konnte sie weit draußen die Umrisse einer Insel ausmachen. Zwischen den Wellen schaukelten die Boote der Fischer hin und her. In manchen Momenten stellte sie sich vor, sie selbst säße in einem solchem Boot, um sich herum nur Wasser. Oder vielleicht sogar in einem der großen Schiffe, die hin und wieder am Horizont zu sehen waren. Sie stellte sich vor, mit ihnen fortzufahren, hinaus in die Ferne, wo sie fremde Orte entdecken konnte. Wo niemand die Geschichte der Königsfamilie kannte, die in einem Feuer umgekommen sei. Sie mochte ihr Leben in dem kleinen Fischerdorf und es störte sie nicht, sich hier mit ihrem Kindermädchen zu verstecken. Sie hatten sich ein Leben aufgebaut. Aber manchmal erlaubte sie es sich zu träumen und in ihren Träumen flog sie über das Meer hinaus, erlebte Abenteuer. Manche ihrer Träume beförderten sie zurück in den Palast. Sie war wieder ein kleines Mädchen, das mit kleinen Figuren aus Porzellan spielte oder die Bediensteten ärgerte. Ein kleines Mädchen, dessen Eltern am Leben waren und sie liebten. Die sie in die Arme schlossen. Das war ihr liebster Traum. Doch niemals würde sie Mira davon erzählen können.
Sie schloss die Augen und atmete tief die salzige Luft ein. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Sie hatte die Zeit vergessen.
Sie eilte zurück zum Dorf, wo Mira gewiss schon auf sie wartete, damit sie mit ihrem abendlichen Training beginnen konnten.
„Warst du wieder am Meer?“, fragte diese, als sie die Hütte erreichte.
Asmea nickte. „Am Strand.“
Mira lächelte und sie konnte Verständnis in ihren Augen erkennen. Mira war es gewohnt, dass das Mädchen sich verspätete, wenn sie am Meer war, insbesondere am Strandabschnitt. Und doch mochte sie es nicht, wenn sie ihr Training vernachlässigten. Sie warf ihr einen der beiden Kampfstäbe zu, die sie in der Hand hielt und Asmea fing ihn gekonnt auf.
In manchen der anderen Hütten brannte noch Licht, doch die meisten Fischer waren bereits in der Schenke eingekehrt, um bei einem kühlen Getränk über die Götter oder den neusten Tratsch zu diskutieren, den sie von irgendwoher aufgeschnappt hatten.
Asmea und Mira gingen an den Häusern vorbei und auf direktem Weg zu ihrem angestammten Platz zwischen den Felsen, der sich am Ende des Strandabschnitts befand. Dort ging der Sand in karges Gewächs und schließlich in dichtes Unterholz über und rundum verbargen Felsen sie vor allzu neugierigen Blicken möglicher Fischersleute, die sich zu dieser Stunde noch hierher verirren mochten.
Dort angekommen begannen sie sogleich. Sie stellten sich gegenüber, die Stäbe fest im Griff. Es war ein warmer Tag und Asmeas Hände waren verschwitzt. Sie nahm die ihr übliche Verteidigungshaltung ein und versuchte sich daran zu erinnern, was Mira ihr über den festen Stand gesagt hatte. Die beiden taxierten einander und Asmea parierte den ersten Hieb. Sie nutzte ihren Schwung, um um Mira herumzuspringen und traf sie an der Schulter. Die Frau nickte anerkennend und sie nahmen wieder ihre Anfangshaltung ein. Sie begannen einander zu umkreisen und warteten darauf, dass einer von ihnen die Deckung fallen ließ. Asmea trat auf eine Muschel und rutschte leicht aus. Diesen Moment nutzte Mira, machte einen Schritt nach vorn und traf sie seitlich am Rumpf. Wieder von vorn. Sie trainierten, bis der Himmel schwarz war und sie die eigene Hand kaum noch sehen konnten. Asmeas Atem ging schwer, als sie sich auf ihren Stab stützte. „Ich kann nicht mehr.“
Auch Mira war erschöpft, sie strich sich eine schweißnasse Strähne ihres schwarzen Haares aus der Stirn. „Lass uns nach Hause gehen.“
Am nächsten Tag fasste Asmea sich ein Herz und machte sich auf zu Baltas Hütte, um ihn dort zu besuchen. Zwar waren ihre Sorgen über eine möglich schwere Krankheit, die sich in ganz Tana´an ausbreitete, noch immer nicht verschwunden, doch hatte sie sich mit dem alten Fischer immer gut verstanden und ihr Gewissen ließ es nicht zu, dass sie sein verschlechtertes Wohlbefinden ignorierte. Zumindest gute Besserung und den Segen von Nigria, der Göttin des Lebens, konnte sie ihm wünschen und ihm somit Anteilnahme zeigen.
Dort angekommen wurde sie von seiner Hündin begrüßt, die entspannt vor der Tür lag und sich von der Sonne wärmen ließ. Das Tier trottete auf Asmea zu, als diese sich näherte.
„Na, Hübsche, wie geht es dir?“ Asmea kniete sich vor sie und kraulte sie am Ohr, woraufhin die Hündin ihre Zunge seitlich aus dem Maul hingen ließ und das Mädchen mit runden, zutraulichen Augen anschaute, als wäre sie in diesem Moment der beste Mensch auf der Welt.
„Ist dein Herrchen denn auch Zuhause?“, fragte Asmea weiter und das Tier antwortete mit einem langen Gähnen. Sie streichelte ihm noch einmal über das kurze, hellbraune Fell, bevor sie sich wieder erhob und an die Tür von Baltas Hütte klopfte.
Aus dem Inneren kam ein lautes Husten, kurz danach schleifende, näherkommende Schritte und etwas später dann öffnete ein müde aussehender Balta die Tür. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet, sein graues Haar war merklich ungewaschen und seine Augen glasig. Das Sonnenlicht schien ihn zu blenden, denn er musste einige Male blinzeln und hielt sich eine Hand über die Augen, um es abzuschirmen.
„Asmea“, sagte er, als seine Augen sich schließlich an die Helligkeit gewöhnt und er sie erkannt hatte. Ein erschöpftes Lächeln ließ seine rissigen Lippen erneut aufspringen.
„Balta“, erwiderte sie die Begrüßung, „Wie fühlst du dich?“
Ein kratziges Husten kam aus seiner Kehle, wobei er sich von ihr wegdrehte. Automatisch wich sie einen Schritt zurück.
„Du siehst ja, es geht mir blendend.“ Sie wussten beide, dass es gelogen war.
„Wenn du Hilfe brauchst, kannst du jederzeit Bescheid sagen“, bot Asmea besorgt an.
„Danke“, erwiderte er, „Das weiß ich wirklich zu schätzen.“ Er schien nachzudenken und schnipste dann mit den Fingern, als sei ihm etwas eingefallen. „Hat Mira noch etwas Suppe da?“
„Ich glaube nicht.“ Asmea überlegte, war sich aber sicher, dass sie tatsächlich keine mehr hatten. „Ich kann sie fragen, ob sie noch welche macht.“
„Du bist wirklich zu gut.“ Wieder ein Husten. „Aber ihr braucht euch wegen mir wirklich keine Umstände zu machen.“
„Das sind doch keine Umstände“, wehrte Asmea ab, „Sie macht wirklich gute Suppen! Ich werde sie fragen.“
„Das ist wirklich zu gütig von dir“, bedankte er sich und versuchte erfolglos ein Gähnen zu unterdrücken.
„Ich habe noch einiges zu tun“, log Asmea, „Nigria sei dir gnädig.“
Er lächelte. „Dir auch, Asmea.“ Er schloss die Tür hinter sich und wieder waren schleifende Schritte zu hören, die sich entfernten. Asmea zeigte der Hündin noch etwas Zuwendung, bevor sie zurück zu ihrer eigenen Hütte ging.
Dort war Mira damit beschäftigt, die Oberflächen von Staub zu befreien – eine lästige, aber notwendige Arbeit.
„Ist zufällig noch etwas von der Suppe da?“, fragte Asmea nach, mehr zu sich selbst, als zu Mira. Gleichzeitig schaute sie in den Topf, der über der Feuerstelle hing, nur um festzustellen, dass er leer war.
„Ich denke, du hast dir deine Frage gerade selbst beantwortet“, meinte Mira, „Hast du Hunger oder weshalb fragst du?“
„Ich nicht, aber Balta.“
„Du warst bei ihm?“ Mira unterbrach ihre Arbeit und schaute sie verwundert an. Sie nickte. „Ich habe angeboten, ihm zu helfen, wenn er etwas braucht, und er hat nach deiner Suppe gefragt.“
„Wenn du ihm Hilfe angeboten hast, kannst du ihm gerne welche kochen.“ Mira grinste sie an und weil Asmea wusste, dass sie sie nur ärgern wollte, stieg sie darauf ein.
„Ich würde sie niemals so gut hinbekommen wie du. Der Mann ist krank, wir sollten ihm keine unnötigen Sorgen bereiten, indem wir ihm irgendeinen Fraß vorsetzen.“
Sie lachten beide.
„Für heute habe ich schon etwas vorbereitet, aber das nächste Mal wird es wieder eine Suppe.“
Als es dann das nächste Mal tatsächlich eine Suppe wurde, füllte Mira etwas davon in eine kleine Schale, damit Asmea sie Balta bringen konnte. Sie schlenderte zwischen den Häusern umher und schaute dabei betrübt in den Himmel, an dem sich Wolken zusammenzogen. Vorhin war sie wieder unterwegs gewesen, um für Mira neuen Reißig zu sammeln und die restliche Zeit bis zum Abend hatte sie dazu nutzen wollen, am Strand spazieren zu gehen und hinaus in die Wellen zu schauen. Auf Regen konnte sie dabei allerdings verzichten.
„Guten Tag, Asmea.“
Beim Klang der Stimme drehte sie sich um und entdeckte Peet, der nur wenige Schritte von ihr entfernt stand.
„Hallo, Peet.“
Der Fischer schaute auf die Schale in ihrer Hand. „Gehst du zu Balta?“ Seine Stimme klang seltsam und er schluckte, als sie nickte. „Beeil dich.“
„Was meinst du?“ Anhand seiner Tonlage vermutete sie, dass seine Andeutung nicht auf das Wetter bezogen war.
Er schaute sich um. „Bethalan ruft nach ihm.“
„Vor zwei Tagen war er zwar erschöpft, aber ansonsten schien alles in Ordnung zu sein“, warf Asmea ein und er erwiderte traurig ihren besorgten Blick.
„Du wirst es gleich selber sehen.“ Mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen ging er weiter und auch sie setzte ihren Weg fort.
Sie hatte erwartet, die Hündin auch heute wieder vor Baltas Hütte anzutreffen, doch sie war nirgends zu sehen, und so klopfte Asmea ohne Umschweife an seine Tür. Dieses Mal war kein Husten zu hören, auch keine schlurfenden Schritte. Sie klopfte erneut, dieses Mal energischer. Als sie auch dieses Mal keine Reaktion bekam, prüfte sie, ob die Tür unverschlossen war und trat dann ein, als sie sich ohne Probleme öffnen ließ. Ein seltsam fauliger Geruch kam ihr entgegen und sie hielt sich die Hand vor Nase und Mund.
„Balta?“, fragte sie in das Halbdunkel des vollgestellten Raumes hinein. Die Wände waren bedeckt mit Regalen, in denen sich Einmachgläser und hölzerne Schatullen aneinanderreihten. Auf einem Tisch stand ein Teller mit Fischgräten darauf, daneben ein Krug mit Wasser. Die zwei Fenster der Hütte waren geschlossen und sie ging zu einem davon hinüber, um es zu öffnen und etwas frische Luft hereinzulassen. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung und als sie herumfuhr sah sie in der Ecke ein Bett stehen. Unter der darauf liegenden, dünnen Wolldecke regte sich etwas. Es erhob sich und Asmea erkannte einen aschfahlen Balta, der sie aus eingefallenen Augen heraus anschaute. Seine Haut war blass wie frisch gefallener Schnee, seine Haare wirkten, als wäre ihm eine Vielzahl davon ausgefallen. Unwillkürlich machte sie ein paar Schritte zurück, weg von ihm. Sie verstand, weshalb Peet gesagt hatte, der Todesgott würde den Mann bald zu sich holen wollen. Mit einem Mal war es ihr unangenehm, dass sie sich beim Eintreten die Atemwege zugehalten hatte und hoffte, er hatte es nicht mitbekommen.
„Balta“, hauchte Asmea, erschrocken über seinen Zustand, der sich in so kurzer Zeit so merklich verschlechtert zu haben schien.
„Asmea?“ Seine Stimme klang brüchig und schwach.
„Ich hatte geklopft und du hattest nicht geantwortet“, erklärte sie ihr plötzliches Erscheinen in seinem Haus, „Die Tür war offen.“ Sie wartete, ob er etwas sagen würde und fügte dann, als nichts von ihm kam, hinzu: „Ich habe dir Suppe gebracht.“ Zur Untermauerung ihrer Worte hob sie das Schälchen hoch und stellte es ihm auf den Tisch, neben den Teller mit den Fischgräten.
„Danke.“ Er hustete mehrmals ziemlich stark und beugte dabei den Oberkörper vornüber. Dabei verrutschte die Decke und legte seinen mageren Körper frei. Doch das war nicht das Erschreckende. Als er sich vorgebeugt hatte, fiel ein dünner Sonnenstrahl auf ihn und in seinem schwachen Schein erkannte sie seine Adern, die sich schwarz von seiner blassen Haut abhoben.
Als habe er ihren Blick bemerkt zog er sie wieder hoch und ließ sich zurück auf die dünne Matratze fallen.
„Vielleicht hilft sie ja“, sagte Asmea mechanisch und versuchte ihn nicht allzu sehr anzustarren. Die deutliche Veränderung, die mit dem sonst so kräftigen Mann durchgegangen war, erschütterte sie und sie brauchte nicht zu fragen, wie es ihm ging. Sie war nicht stolz darauf und hätte gern anders reagiert, doch sie konnte nicht anders. Es war zu viel für sie, sie musste hier weg. Sie drehte sich um und floh aus der Hütte.
Die Tür hinter sich schließend stürmte sie an den Steg. Leicht vornübergebeugt, die Arme auf den Knien abgestützt, blieb sie an dessen Ende stehen. Sie war erleichtert, die abgestorbene Luft, die sie eben unfreiwillig eingeatmet hatte, durch die frische, salzige Seeluft auswechseln zu können.
Die meisten der Boote waren draußen und schaukelten auf den Wellen auf und ab. Nur zwei waren angebunden, das von Balta und das von Peet. Sie wünschte sich, der Zuckerhändler wäre noch hier. Dann hätte sie ihn nach seiner Geschichte fragen können, nach dem Fieber und den schwarzen Adern. Eine Krankheit, die sich wie ein Lauffeuer im Land ausbreitete und die nun bei ihnen im Dorf angekommen war. Obwohl es warm war bekam sie eine Gänsehaut.
Noch immer schwer atmend richtete sie sich wieder auf und ging, begleitet von den ersten Regentropfen, zurück nach Hause. Sie hatte das Gefühl, die Krankheit würde an ihr kleben und sich in sie hineinfressen. Sie wusch ihren ganzen Körper, schrubbte ihre Haut, bis diese rot war und brannte.
Als sie zurück in den Wohnraum ging saß Mira dort am Tisch und schaute sie fragend an. „Alles in Ordnung?“
„Balta…“, begann sie, „Es geht ihm nicht gut.“
„Wieso? Was hat er?“
Asmea zog einen der Stühle zurück, setzte sich ihr gegenüber. „Der Händler, der mit dem Zucker.“ Sie holte tief Luft. „Er hatte erzählt, dass sich diese Krankheit verbreiten würde. Dass erst das Fieber kommen würde und dann die Adern schwarz werden. Weißt du das noch?“
Mira nickte.
„Seine Adern sind schwarz geworden.“
Mira sah sie lange an, ohne etwas zu sagen.
„Ich denke, ich werde den Göttern ein Opfer darbieten.“
Asmea war niemand, der regelmäßig zu den Göttern betete, doch deren Existenz wagte sie nicht anzuzweifeln. Sie hatte erlebt, wie die Fischer um ertragreichere Fänge gebeten hatten und dies nur wenige Tage später erfüllt worden war. Oder aber, dass ein kinderloses Paar die Götter um eine Empfängnis angefleht hatten und es nicht lange dauerte, bis die Frau schwanger wurde. Ebenso hielt sie es für möglich, dass die Götter sie erhören könnten, wenn sie für Balta beten würde.
Mira, die sich nicht ganz sicher war, wie sie zu den Göttern stand, seufzte. Seit der Nacht, in der die Königsfamilie ermordet wurde, hatte sie ihren Glauben an sie verloren. Sollten sie tatsächlich existieren, so würden sie sich ihrer Meinung nach nicht besonders für die Menschen interessieren. Weshalb sonst hätten sie zugelassen, dass das Leben eines friedliebenden Königs und seiner Königin grausam beendet wurde? Weshalb sonst hatten sie nichts getan, als ein Mann, der seinen eigenen Bruder umgebracht hatte, sich auf dessen Thron setzte und seinen Platz einnahm?
Auch Asmea konnte diese Frage nicht beantworten, doch hatte sie die Götter auch Gutes wirken sehen. Sie lebte. Zwar hatte Mira sie damals vor dem Tod bewahrt, doch wer wusste denn schon, dass die Götter ihr nicht den Weg dafür geebnet hatten?
Sie wusste, dass Mira ihr gerne gesagt hätte, was sie wirklich von ihrer Idee hielt, doch stattdessen nickte Mira zustimmend. „Vielleicht bringt es etwas.“
Überrascht blinzelte Asmea, lächelte dann aber. „Danke.“