Die Kunst des Feldspiels - Chad Harbach - E-Book
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Die Kunst des Feldspiels E-Book

Chad Harbach

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Beschreibung

"Debütromane von solcher Vollkommenheit und Sogkraft sind sehr, sehr selten." Jonathan Franzen Ein katastrophaler Fehler auf dem Spielfeld bringt in dieser preisgekrönten Geschichte über Liebe, Leben und Baseball fünf Leben ins Wanken. Der Gott des Spiels hat Henry Skrimshander ein Geschenk in die Wiege gelegt: Der schmächtige, unscheinbare Junge aus der Provinz ist das größte Baseball-Talent seit Jahrzehnten. Als er in die Mannschaft des Westish College aufgenommen wird, scheint sein Aufstieg in den Olymp vorprogrammiert. Monatelang macht er nicht einen Fehler. Doch dann geht ein Routinewurf auf fatale Weise daneben … und die Schicksale von fünf Menschen werden untrennbar miteinander verknüpft. Henry hat einen neuen Gegner: den Selbstzweifel. Sein Mentor Mike Schwartz macht die bittere Erfahrung, dass er Henry zuliebe sich selbst vergessen hat. Henrys schwuler Mitbewohner Owen muss sich von einem herben Schlag erholen. Rektor Affenlight lernt spät im Leben die wahre Liebe kennen und schlittert in eine gefährliche Affäre. Und seine Tochter Pella flieht vor ihrem Mann nach Westish – um auf dem Campus mehr als nur Sex zu finden. Während das dramatische Endspiel unerbittlich näher rückt, sind sie alle gezwungen, sich mit ihren tiefsten Wünschen und Abgründen auseinanderzusetzen. Am Ende wird einer von ihnen gleich zweimal bestattet, und die Leben der anderen werden nie mehr dieselben sein. ''Die Kunst des Feldspiels' erzählt von den Dingen, die uns ausmachen – den Fehlern wie den Obsessionen. Wer wissen will, was es bedeutet, hier und heute ein Mensch zu sein, der muss dieses Buch lesen. Chad Harbach hat den Traum von der 'Great American Novel' wahr gemacht: 'Die Kunst des Feldspiels' ist ein literarisches Wunder, ein magisches Debüt, ein so kluger wie zu Herzen gehender Roman über den Abschied von der Jugend, über Leidenschaft und Liebe, Freundschaft und Familie. "Wunderbar zu lesen, das reinste Vergnügen." John Irving

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Seitenzahl: 729

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Chad Harbach

DIE KUNST DES FELDSPIELS

RomanAus dem Englischenvon Stephan Kleiner

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel The Art of Fielding bei Little, Brown and Company, New York © Chad Harbach 2011   eBook 2012 © 2012 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Übersetzung: Stephan Kleiner (Kap. 54–82), Johann Christoph Maass (Kap. 1–53) Umschlagabbildung: b’IJ Barbara, Amsterdam, www.bijbarbara.nl Satz: Angelika Kudella, Köln eBook-Konvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck  

Wohlauf denn, Jungs, und frisch voran,

Die Herzen unverzagt,

Derweil der kühne Harpunier

1

Während des Spiels fiel Schwartz der Junge nicht auf. Beziehungsweise fiel ihm nur auf, was allen anderen auch auffiel – dass er der kleinste Spieler auf dem Feld war, ein dürrer Sonderling von einem Shortstop, schnell, aber schwach am Schläger. Erst als das Spiel vorbei war und der Junge auf das sonnenverbrannte Spielfeld zurückkehrte, um noch ein paar Aufsetzer zu üben, bemerkte Schwartz die Anmut, die in jeder von Henrys Bewegungen lag.

Es war der zweite Sonntag im August, kurz vor Schwartz’ zweitem Jahr am Westish College, jener kleinen Universität in der Daumenfalte des Baseballhandschuhs namens Wisconsin. Den Sommer hatte er in seiner Heimatstadt Chicago verbracht, und sein American-Legion-Team hatte im Halbfinale eines völlig unbedeutenden Turniers gerade einen Haufen Bauernlümmel aus South Dakota geschlagen. Die paar Dutzend Zuschauer auf den Rängen beklatschten milde das letzte Out. Schwartz, der seit dem Morgen durch Hitzekrämpfe geschwächt wurde, warf die Fängermaske zur Seite und riskierte ein paar wackelige Schritte in Richtung der Spielerbank. Benommen gab er auf, sank in den Staub und lehnte sich an den Maschendrahtzaun, um seinen breiten, schmerzenden Rücken zu entspannen. Theoretisch war es bereits Abend, aber die Sonne knallte noch immer wie verrückt vom Himmel. Fünf Spiele hatte er seit Freitagabend gemacht und sich dabei in seiner schwarzen Fängermontur rösten lassen wie ein Käfer.

Seine Teamkollegen schleuderten ihre Handschuhe in Richtung Bank und machten sich auf zum Bierstand. In einer halben Stunde begann das Finale. Schwartz hasste es, der Schwächste zu sein, derjenige, der immer kurz vor der Ohnmacht stand, aber er konnte es nicht ändern. Er hatte sich den ganzen Sommer über völlig verausgabt – jeden Morgen Gewichte gestemmt, Zehn-Stunden-Schichten in der Gießerei, jeden Abend Baseball. Und dann dieses Höllenwetter. Er hätte das Turnier ausfallen lassen sollen – morgen in aller Herrgottsfrühe fand am Westish eine ungleich wichtigere Angelegenheit statt: das Football-Auswahltraining, selbstmörderische Sprints in kurzen Hosen und Schutzpolstern. Eigentlich hätte er jetzt schlafen sollen, seine Knie schonen, aber seine Teamkollegen hatten ihn angefleht zu bleiben. Und jetzt saß er auf diesem maroden Sportplatz fest, zwischen einem Autofriedhof und einem Erotikladen an der Interstate außerhalb von Peoria. Wenn er schlau wäre, würde er das Finale sausen lassen, die fünf Stunden nach Norden zurück zum Campus fahren, sich in der Krankenstation eine Infusion verpassen lassen und schlafen gehen. Der Gedanke an Westish beruhigte ihn. Er schloss die Augen und versuchte seine Kräfte zu sammeln.

Als er sie wieder öffnete, trabte der Shortstop aus South Dakota zurück aufs Feld. Als der Junge den Wurfhügel passierte, zog er sein Trikot über den Kopf und schmiss es zur Seite. Er trug ein ärmelloses weißes Unterhemd, hatte eine unfassbare Trichterbrust und einen verbrannten Teint wie ein Farmer. Seine Arme hatten den Umfang von Schwartz’ Daumen. Er tauschte seine grüne American-Legion-Kappe gegen eine verblichene der St. Louis Cardinals. Darunter schauten struppige, staubblonde Locken hervor. Er sah aus wie vierzehn, höchstens fünfzehn, auch wenn das Mindestalter des Turniers bei siebzehn lag.

Im Laufe des Spiels hatte Schwartz begriffen, dass der Junge zu schmächtig war, um den Ball auf eine vernünftige Flughöhe zu befördern, also hatte er einen Fastball nach dem anderen angezeigt, knapp über die Strike Zone und nah am Mann. Vor dem letzten hatte er dem Jungen gesagt, was kommen würde, und hinzugefügt: »Weil du ihn ja eh nicht erwischst.« Der Junge holte aus, verfehlte den Ball und machte sich zähneknirschend auf den langen Weg zurück zur Spielerbank. Just in dem Moment sagte Schwartz – aber derart sanft, dass es ebenso gut aus dem Gehirn des Jungen selbst hätte entwichen sein können –: »Muschi«. Der Junge hielt inne, seine knochigen Schultern spannten sich wie die einer Katze, aber er drehte sich nicht um. Das tat nie jemand.

Als der Junge jetzt die staubige Kuhle erreichte, die die Position des Shortstop markierte, blieb er stehen, wippte auf den Zehen vor und zurück und schlackerte mit den Gliedmaßen, als müsste er sich auflockern. Er schaukelte und schlenkerte, ließ die Arme kreisen, verpulverte Energie, die er eigentlich gar nicht haben sollte. Er hatte genauso viele Spiele in dieser Bruthitze absolviert wie Schwartz.

Wenig später spazierte der Coach aus South Dakota aufs Spielfeld, einen Schläger in der einen Hand, einen Zwanzig-Liter-Farbeimer in der anderen. Er stellte den Eimer bei der Home Plate ab und fuhr träge mit dem Schläger durch die Luft. Ein weiterer Spieler aus South Dakota, in der Hand einen identischen Eimer, stapfte gähnend hinaus zur First Base. Der Coach griff in den Eimer, pflückte einen Ball heraus und zeigte ihn dem Shortstop, der nickte und in die Hocke ging, die Hände unmittelbar über der Erde in Bereitschaft.

Der Junge glitt in den ersten Aufsetzer hinein, nahm den Ball mit nachlässiger Anmut in seinem Handschuh auf, drehte sich und warf zur First Base. Obwohl die Bewegung schleppend war, schien der Ball von seinen Fingerspitzen weg zu detonieren und immer schneller zu werden, während er das Spielfeld durchquerte. Mit dem Geräusch einer abgefeuerten Pistole knallte er in den Handschuh des First Baseman. Der Coach schlug einen weiteren Ball, etwas härter diesmal: dieselbe leichte Anmut, dasselbe schussartige Echo. Fasziniert setzte Schwartz sich ein wenig auf. Der First Baseman fing jeden Ball auf Brustbeinhöhe, musste nicht einmal seinen Handschuh bewegen und ließ die Bälle in den Plastikeimer zu seinen Füßen fallen.

Der Coach schlug weitere, jetzt noch härtere Bälle in Richtung Second Base oder in die Lücke zwischen den Fängerpositionen. Der Junge fing sie alle. Einige Male war Schwartz sich sicher, er würde hineinrutschen oder zum Hechtsprung ansetzen müssen oder einen Ball schlichtweg nicht erreichen, aber er erreichte jeden einzelnen mit Leichtigkeit. Dabei schien er sich nicht schneller zu bewegen als jeder andere anständige Shortstop, und doch war er sofort da, unfehlbar, so als wüsste er vorher, wohin der Ball fliegen würde. Oder als würde nur für ihn allein die Zeit langsamer vergehen.

Nach jedem Ballkontakt ging er zurück in seine katzenartige Hocke, die Fingerspitzen seines kleinen Handschuhs scharrten in der sonnenverbrannten Erde. Einen langsamen Roller nahm er mit der bloßen Hand auf, feuerte ihn zur First Base und schaltete damit einen Läufer auf halber Strecke aus. Er sprang hoch, um sich einen pfeilgeraden, wenn auch nicht sonderlich scharf geschlagenen Ball zu schnappen. Der Schweiß lief ihm die Wangen hinab, während er die Luft zerteilte, die dick wie Suppe war. Selbst bei Höchstgeschwindigkeit sah er uninteressiert, beinahe gelangweilt aus, wie ein Virtuose, der Tonleitern übt. Er wog maximal sechzig Kilo. Wo der Junge mit den Gedanken war – ob er sich hinter dem leeren Gesichtsausdruck überhaupt irgendwelche Gedanken machte –, konnte Schwartz nicht sagen. Ihm fiel eine Zeile aus dem Lyrikkurs bei Professor Eglantine ein: ausdruckslos und dennoch Gott im Antlitz.

Dann war der Eimer des Coachs leer und der des First Baseman voll, und die drei Männer verließen wortlos das Spielfeld. Schwartz fühlte sich bestohlen. Er wollte, dass die Vorstellung weiterging. Er wollte zurückspulen und alles noch einmal in Zeitlupe ansehen. Er schaute sich um, wollte wissen, wer es noch gesehen hatte, wollte zumindest in den Genuss kommen, mit einem anderen hingerissenen Zeugen einen Blick zu wechseln, aber niemand hatte sich dafür interessiert. Die paar Fans, die nicht auf der Suche nach Bier oder Schatten waren, stierten untätig auf die Displays ihrer Handys. Die anderen Verlierer aus der Mannschaft des Jungen waren bereits auf dem Parkplatz und knallten ihre Kofferräume zu.

Noch eine Viertelstunde bis Spielbeginn. Schwartz, noch immer benommen, zog sich hoch. Er würde mehr als zwei Liter Gatorade brauchen, um durchs Finale zu kommen, dann einen Kaffee und eine Dose Kautabak für die lange Nachtfahrt. Aber zuerst ging er hinüber zu dem Unterstand auf der anderen Seite, wo der Junge gerade seine Sachen zusammenpackte. Auf dem Weg hatte er sich zurechtgelegt, was er sagen wollte. Sein ganzes Leben lang hatte Schwartz sich danach gesehnt, irgendein übernatürliches Talent zu besitzen, eine einmalige Form von Brillanz, die die ganze Welt genial nennen würde. Jetzt wo er ein solches Talent aus der Nähe gesehen hatte, würde er es sicher nicht so einfach ziehen lassen.

2

Henry Skrimshander stand unter einem sich bauschenden blau-weißen Zelt in der Schlange und wartete auf seine Zimmerzuteilung. Es war die letzte Augustwoche, keine drei Wochen nachdem er Mike Schwartz in Peoria begegnet war. Er hatte die ganze Nacht über im Bus von Lankton hierher gesessen, und auf seiner Brust hatten die Gurte seiner Reisetaschen ein X aus Schweiß gebildet. Eine lächelnde Frau in einem dunkelblauen T-Shirt mit dem Aufdruck eines bärtigen Männergesichts bat ihn, seinen Namen zu buchstabieren. Henry tat es mit klopfendem Herzen. Mike Schwartz hatte ihm versichert, dass man sich um alles kümmern würde, aber jede Sekunde, in der die lächelnde Frau ihre Ausdrucke durchsah, bestätigte nur, was Henry insgeheim bereits die ganze Zeit über gewusst hatte, was nur noch offensichtlicher wurde durch die gepflegte Rasenfläche und die umstehenden Gebäude aus grauem Stein, die Sonne, die gerade erst über dem dunstigen See aufgegangen war, die Spiegelglasfassade der Bibliothek und das schlanke Mädchen im Tanktop hinter ihm, das auf seinem iPhone herumtippte und derart mondän gelangweilt seufzte, dass Henry ein Gefühl unendlicher Fremdheit überkam: Er gehörte einfach nicht hierher.

Siebzehneinhalb Jahre zuvor war er in Lankton, South Dakota, zur Welt gekommen. Die Stadt hatte dreiundvierzigtausend Einwohner und war von Meeren aus Getreide umgeben. Sein Vater war Schlossermeister. Seine Mutter arbeitete in Teilzeit als Röntgenassistentin am All-Saints-Krankenhaus. Seine kleine Schwester, Sophie, war im zweiten Jahr an der Lankton Highschool.

An seinem neunten Geburtstag war sein Vater mit ihm zum Sportgeschäft gefahren und hatte ihm gesagt, er könne sich aussuchen, was immer er wolle. An der Wahl hatte niemals Zweifel bestanden – es gab nur einen einzigen Handschuh im Laden, der den Namenszug AparicioRodriguez in der Fangtasche trug –, aber Henry nahm sich Zeit, probierte jeden einzelnen Handschuh an, überwältigt von der Tatsache, die Wahl zu haben. Der Handschuh war ihm damals riesig vorgekommen. Jetzt passte er richtig, war nur etwas größer als seine linke Hand. Er mochte das, so spürte er den Ball besser.

Wenn er von Little-League-Spielen zurückkam, fragte seine Mutter ihn immer, wie viele Fehler er gemacht habe. »Zero!«, krähte er dann und ließ gleichzeitig seine Faust in den geliebten Handschuh sausen. Seine Mutter benutzte den Namen noch immer – »Henry, bitte leg Zero zur Seite!« –, und er zuckte beschämt zusammen, wenn sie es tat. Aber insgeheim nannte er ihn selbst nie anders. Und er ließ auch niemanden Zero anfassen. Wenn Henry am Ende eines Innings auf einer Base stand, hüteten sich seine Teamkollegen, ihm Kappe und Handschuh mit aufs Spielfeld zu bringen. »Der Handschuh ist nicht einfach irgendein Gegenstand«, sagt Aparicio in Die Kunst des Feldspiels. »Sich von ihm zu trennen, und sei es nur in Gedanken, bedeutet für den Infielder, Fehlern Tür und Tor zu öffnen.«

Henry spielte Shortstop, ausschließlich und immer Shortstop – die verantwortungsvollste Position auf dem Feld. Zu keinem anderen Spieler wurden mehr Aufsetzer geschlagen als zum Shortstop, und dieser musste dann am weitesten zur First Base werfen. Er musste außerdem Aktionen einleiten, mit denen sie gleich zwei Spieler ausschalten konnten, verhindern, dass die Second Base gestohlen wurde oder dass sich Läufer zu weit von ihr entfernten, und Bälle aus dem Outfield schnellstmöglich weiterleiten. Jeder Little-League-Trainer, den Henry je gehabt hatte, hatte ihn kurz angesehen und dann in Richtung rechtes Outfield oder Second Base gezeigt. Oder aber der Coach hatte nirgends hingezeigt und bloß die Achseln gezuckt angesichts des Schicksals, das ihm diesen erbärmlichen Wurm, diesen geborenen Bankdrücker geschickt hatte.

Und wenn er auch sonst im Leben nie frech war, hier war er es: Was auch immer der Trainer sagte oder was seine Augenbrauen zum Ausdruck brachten, er trabte zur Shortstop-Position, rammte die Faust in Zeros Fangtasche und wartete. Wenn der Coach ihn anbrüllte und zur Second Base oder ins rechte Außenfeld oder nach Hause zu seiner Mami schickte, blieb er einfach stehen, blinzelnd und taub, und ließ immer wieder seine Faust in den Handschuh sausen. Irgendwann schlug ihm dann jemand einen Aufsetzer zu, und er konnte zeigen, was er draufhatte.

Und was er draufhatte, war das Spiel im Feld. Solange er denken konnte, hatte er sich damit beschäftigt, wie der Ball vom Schläger abprallte, mit den Winkeln und dem Drall, sodass er schon vorher wusste, ob er nach rechts oder nach links ausbrechen sollte, ob der auf ihn zufliegende Ball aufsteigen oder flach im Staub landen würde. Er fing den Ball immer sauber und machte immer einen perfekten Wurf.

Manchmal beharrte der Coach darauf, ihn an der Second Base zu platzieren, oder ließ ihn gleich auf der Bank sitzen; so mickrig und mitleiderregend sah er aus. Aber nach einer Reihe von Trainingseinheiten oder Spielen – zwei oder zwölf oder zwanzig, je nach Sturheit des Trainers – landete er immer dort, wo er hingehörte, nämlich an der Shortstop-Position, und seine düstere Laune verzog sich.

Als er auf die Highschool kam, ging es im Prinzip genauso weiter. Coach Hinterberg erzählte ihm später, er habe bis zur letzten Viertelstunde des Probetrainings vorgehabt, ihn abzusägen. Dann sah er aus dem Augenwinkel, wie Henry nach einem Hechtsprung einen weiß glühenden Linedrive aus der Luft pflückte, während er flach auf dem Bauch lag, und dann den Ball hinter seinem Kopf entlang in die Hände des erschütterten Second Baseman schnipste: zwei Spieler raus. Die zweite Schulmannschaft bekam in diesem Jahr einen Extraspieler, und der Extraspieler trug ein nagelneues, extrakleines Trikot.

Zu Beginn des dritten Jahres war er bereits der Stamm-Shortstop der ersten Mannschaft. Nach jedem Spiel fragte ihn seine Mutter, wie viele Fehler er gemacht habe, und die Antwort war stets »Zero«. Im Sommer spielte er dann in einer Mannschaft, die von der örtlichen American Legion gesponsert wurde. Seine Arbeitszeiten beim Piggly-Wiggly-Supermarkt legte er so, dass er an den Wochenenden zu Turnieren fahren konnte. Endlich musste er sich nicht mehr beweisen. Seine Teamkollegen und Coach Hinterberg wussten, dass er ihnen, selbst wenn er keine Home Runs schlug – noch niemals einen geschlagen hatte –, dennoch helfen würde zu gewinnen.

Doch während der Saison seines letzten Highschool-Jahrs überkam ihn Traurigkeit. Er spielte besser denn je, aber mit jedem Inning, das vorüberging, rückte das Ende näher. Er machte sich keine Hoffnungen, im College weiterspielen zu können. College-Coaches waren wie Mädchen: Ihre Augen richteten sich sofort auf die großen, muskulösen Typen, ganz egal was sie tatsächlich taugten. So wie Andy Tsade etwa, der First Baseman in Henrys Sommermannschaft, der mit einem Stipendium an die St. Paul State ging. Andys Arm war Durchschnitt, seine Beinarbeit schlampig, und er schaute immer zu Henry, damit der ihm sagte, wo er hinspielen sollte. Er hatte nie Die Kunst des Feldspiels gelesen. Aber er war groß und Linkshänder und prügelte gelegentlich einen Ball über den Zaun. Einmal hatte er in Anwesenheit des Coachs von St. Paul einen über den Zaun geprügelt, deshalb konnte er nun weitere vier Jahre lang Baseball spielen.

Henrys Vater wollte, dass er in der Schlosserei arbeitete; zwei Angestellte würden Ende des Jahres in Rente gehen. Henry sagte, er wolle vielleicht für ein paar Jahre ans Lankton Community College gehen, Kurse in Buchhaltung und Rechnungswesen belegen. Einige seiner Klassenkameraden gingen ans College, um ihre Berufsziele zu erreichen, andere hatten gar keine Ziele, suchten sich einfach einen Job und tranken Bier. Er konnte sich mit beidem nicht identifizieren. Er hatte immer nur Baseball spielen wollen.

Das Turnier in Peoria war das letzte des Sommers gewesen. Henry und seine Teamkameraden hatten im Halbfinale gegen eine unheimlich schlagkräftige Mannschaft aus Chicago verloren. Danach war er zurück zur Shortstop-Position getrabt, um sich zu Trainingszwecken fünfzig Aufsetzer zuspielen zu lassen, wie er es immer machte. Es gab nichts mehr, wofür er hätte trainieren müssen, keinen Grund, sich zu verbessern, aber das hieß nicht, dass er es nicht trotzdem wollte. Während Coach Hinterberg versuchte, den Ball an ihm vorbeizudreschen, entwarf Henry im Kopf dasselbe Szenario wie immer: Er war Shortstop der St. Louis Cardinals und spielte in Spiel 7 der World Series im Yankee-Stadion gegen die Yankees, die mit einem Punkt führten, zwei Outs hatten und Läufer auf allen Bases. Das letzte Spiel, es ging um alles.

Als er gerade Zero in die Tasche packte, fasste ihn eine Hand an der Schulter und drehte ihn. Er sah sich, von Angesicht zu Angesicht – vielmehr von Angesicht zu Hals, da der andere größer war und Spikes trug – dem Fänger des Teams aus Chicago gegenüber. Henry erkannte ihn sofort: Während des Spiels hatte er Henry den Wurf angesagt und ihn dann beleidigt. Außerdem hatte er einen Home Run geschlagen, der in knapp zehn Metern Höhe über die hintere Mauer des Sportplatzes geflogen war. Jetzt richteten sich seine großen bernsteinfarbenen Augen mit einem intensiven Glühen auf Henry.

»Gut, dass ich dich gefunden habe.« Der Fänger nahm seine große verschwitzte Hand von Henrys Schulter und hielt sie ihm hin. »Mike Schwartz.«

Mike Schwartz’ Haare waren verfilzt und standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Sein Gesicht war voller Schweiß und Dreck. Der Schweiß ließ die schwarze Farbe unter seinen Augen die Wangenknochen hinab und in seine dichten Bartstoppeln rinnen.

»Ich hab zugeschaut, wie du Aufsetzer trainiert hast«, sagte er. »Zwei Sachen haben mich beeindruckt. Einmal, dass du bei der Hitze da draußen so Gas gibst. Jesus, ich kann kaum laufen. Braucht man Hingabe für.«

Henry zuckte mit den Schultern. »Mach ich nach jedem Spiel.«

»Das Zweite: Du bist ein Hammer-Shortstop. Super Antritt, super Instinkt. Bei der Hälfte der Bälle hatte ich keine Ahnung, wie du sie erwischen konntest. Wo spielst du nächstes Jahr?«

»Spielen?«

»Welches College. Für welches College spielst du nächstes Jahr Baseball?«

»Oh.« Henry hielt inne, verlegen, weil er die Frage nicht verstanden hatte, und wegen der Antwort, die er würde geben müssen. »Ich spiele nicht.«

Mike Schwartz jedoch schien sie zu gefallen. Er nickte, kratzte sich die dunklen Stoppeln am Kinn und lächelte. »Denkst du vielleicht.«

Schwartz erzählte Henry, dass die Westish Harpooners schon seit unzähligen Jahren Mist waren, sie mit Henrys Hilfe aber das Ruder nun herumreißen würden. Er sprach von Opferbereitschaft, Leidenschaft, Verlangen, Detailversessenheit, von der Notwendigkeit, sich Tag für Tag ins Zeug zu legen wie ein Champion. In Henrys Ohren klangen die Worte wie Musik, es war, als lese man Aparicio, nur besser, weil Schwartz einem direkt gegenüberstand. Während der Rückfahrt nach Lankton, auf den Notsitz von Coach Hinterbergs Dodge Ram gequetscht, überkam ihn Trostlosigkeit, weil er sich sicher war, nie wieder von dem großen Mann zu hören, aber als er nach Hause kam, lag bereits eine Nachricht in Sophies Mädchenhandschrift auf dem Küchentisch: Mike Shorts anrufen!

Drei Tage später, nach drei langen Telefonaten, die er heimlich mit Schwartz geführt hatte, als seine Eltern bei der Arbeit waren, begann Henry so langsam an die Sache zu glauben. »Das Ganze läuft etwas schleppend«, sagte Schwartz. »Das komplette Immatrikulationsbüro ist im Urlaub. Aber es läuft. Heute Morgen hab ich eine Kopie deiner Highschool-Zeugnisse bekommen. Nicht schlecht, die Physiknote.«

»Mein Zeugnis?«, fragte Henry perplex. »Wie hast du das denn gemacht?«

»Hab bei der Highschool angerufen.«

Henry war verblüfft. Vielleicht war es logisch – wollte man ein Zeugnis, rief man die Highschool an. Aber ihm war noch nie jemand wie Schwartz begegnet – jemand, der sich, wenn er etwas wollte, direkt daranmachte, es zu bekommen. Abends beim Essen räusperte er sich und erzählte seinen Eltern vom Westish College.

Seine Mutter wirkte erfreut. »Und dieser Mr. Schwartz«, sagte sie, »ist der Baseball-Coach an diesem College?«

»Ähm … nicht so richtig. Er ist eher ein Spieler in der Mannschaft.«

»Oh. Ach so. Hm.« Seine Mutter versuchte weiterhin erfreut zu wirken. »Und letzten Sonntag bist du ihm zum ersten Mal begegnet? Und jetzt all das? Ein bisschen komisch klingt das schon, muss ich sagen.«

»Für mich nicht.« Sein Vater putzte sich mit seiner Serviette die Nase, hinterließ wie üblich einen dunklen Streifen Stahlstaubschnodder. »Ich bin mir sicher, dass die vom Westish College alles Geld, das sie zusammenkratzen können, dringend brauchen. Die würden hundert naive Trottel ins Baseballteam stecken, solange die nur ihre Studiengebühren zahlen.«

Das war der finstere Gedanke, den Henry mit aller Kraft hatte unterdrücken wollen: Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Er stärkte sich mit einem Schluck Milch. »Aber warum sollte sich Schwartz darum einen Kopf machen?«

Jim Skrimshander machte ein knurrendes Geräusch. »Warum macht sich irgendwer um irgendwas einen Kopf?«

»Liebe«, sagte Sophie. »Er liebt Henry. Sie telefonieren den ganzen Tag, wie Turteltäubchen.«

»Knapp vorbei, Soph.« Ihr Vater schob seinen Stuhl zurück und trug seinen Teller zur Spüle. »Geld. Ich bin mir sicher, Mike Schwartz wird seinen Anteil kriegen. Einen Tausender pro Trottel.«

Später am Abend berichtete Henry Schwartz das Wesentliche. »Pah«, sagte Schwartz. »Mach dir keine Sorgen. Er kriegt sich schon wieder ein.«

»Da kennst du aber meinen Vater schlecht.«

»Er kriegt sich schon wieder ein.«

Als Henry danach das ganze Wochenende nichts von Schwartz hörte, war er niedergeschlagen, und es kam ihm töricht vor, sich überhaupt Hoffnungen gemacht zu haben. Aber am Montagabend kam sein Vater nach Hause und packte sein ungegessenes Lunchpaket in den Kühlschrank.

»Geht’s dir gut, Liebling?«, erkundigte sich Henrys Mutter.

»Ich hab auswärts gegessen.«

»Wie schön«, sagte sie. Henry hatte seinen Vater im Laufe der Jahre oft in der Mittagspause besucht: Egal ob es regnete oder schneite, die Männer saßen draußen auf den Bänken mit Blick auf die Straße, die Rücken zur Werkstatt, und kauten ihre Sandwiches. »Mit den Jungs?«

»Mit Mike Schwartz.«

Henry sah Sophie an – manchmal, wenn er selbst keinen Ton herausbrachte, sprach Sophie für ihn. Sie machte ebenso große Augen wie er. »Ach was!«, sagte sie. »Erzähl doch mal!«

»Er kreuzte so gegen Mittag bei der Schlosserei auf. Hat mich zu Murdock’s eingeladen.«

Bauklötze staunen war als Ausdruck möglicherweise nicht stark oder außergewöhnlich genug für das, was in Henry vorging. Schwartz wohnte in Chicago, was achthundert Kilometer entfernt war, und er war bei der Schlosserei aufgekreuzt? Und hatte Henrys Vater zu Murdock’s eingeladen? Und war dann, ohne Henry auch nur davon zu erzählen, geschweige denn vorbeizukommen und Hallo zu sagen, zurückgefahren?

»Er ist ein sehr ernsthafter junger Mann«, sagte sein Vater gerade.

»Ernsthaft wie in ›Henry kann nach Westish gehen‹? Oder ernsthaft wie in ›Henry kann nicht nach Westish gehen‹?«

»Henry kann machen, was er will. Niemand hält ihn davon ab, nach Westish oder sonst wohin zu gehen. Ich hoffe nur –«

»Juhu!« Sophie beugte sich über den Tisch und klatschte ihren Bruder ab. »College!«

»– dass er sich darüber im Klaren ist, worauf er sich einlässt. Westish ist keine Nullachtfünfzehn-Uni. Das Studium ist hart, und das Baseballteam verlangt hundertprozentigen Einsatz. Wenn Henry es dort schafft …«

Und Henrys Vater, der selten mehr als vier Wörter aneinanderreihte, besonders an einem Montagabend, redete für den Rest des Abendessens weiter von Opferbereitschaft, Leidenschaft, Verlangen und Detailversessenheit, von der Notwendigkeit, sich Tag für Tag ins Zeug zu legen wie ein Champion. Er redete genau wie Mike Schwartz, aber er schien es gar nicht zu merken, und tatsächlich klang er auch zu einem großen Teil wie er selbst, nur dass er viel mehr Worte machte und, dachte Henry, ein klein wenig gnädiger war als sonst, was die Talente seines Sohnes betraf. Als sein Vater aufstand, um seinen Teller zur Spüle zu tragen, klopfte er Henry auf die Schulter und lächelte breit. »Ich bin stolz auf dich, Junge. Das ist eine große Chance. Schnapp sie dir.«

Ein Wunder, dachte Henry. Mike Schwartz kann Wunder vollbringen. Danach telefonierte er wieder jeden Abend mit Schwartz, schmiedete Pläne, klärte Details – aber jetzt tat er es offen, im Wohnzimmer; sein Vater drückte sich in der Nähe herum, hatte den Fernseher lautlos gestellt und sich eine Zigarette angezündet, hörte zu und warf Kommentare ein. Manchmal bat Schwartz darum, mit Jim zu sprechen. Henry reichte ihm dann den Hörer, und später setzte sich sein Vater an den Schreibtisch und sah sich noch einmal die Steuererklärung der Skrimshanders an.

»Danke«, sagte Henry an dem Tag, an dem er sich seine Busfahrkarte besorgt hatte, ganz gefühlsselig in den Hörer. »Vielen Dank.«

»Schon gut, Skrim«, sagte Schwartz. »Jetzt ist Football-Saison, ich werde also ziemlich beschäftigt sein. Komm du erst mal an. Ich melde mich, okay?«

»Phumber 405«, sagte die lächelnde Frau. Sie drückte ihm einen Schlüssel und einen Geländeplan in die Hand und zeigte nach links. »Über den Kleinen Hof.«

Henry schlüpfte durch einen schattigen Gang zwischen zwei Gebäuden und trat hinaus in eine wohlausgeleuchtete und geschäftige Szenerie. Das hier hatte mit dem Lankton Community College nichts zu tun: Das hier war College wie im Film. Die Gebäude waren alle von der gleichen Bauweise – jedes vier oder fünf Stockwerke hoch und aus gedrungenem, grauem, wettergegerbtem Stein, mit tief liegenden Fenstern und spitzgiebligen Dächern. Fahrradständer und Bänke waren frisch mit dunkelblauer Farbe gestrichen. Zwei große Typen in kurzen Hosen und Flipflops taumelten unter dem Gewicht eines gigantischen Flachbildschirms auf ein offenes Portal zu. Ein Eichhörnchen flitzte von einem Baum herunter und prallte an das Bein desjenigen, der rückwärts lief – er schrie auf und ging auf die Knie, und eine Ecke des Fernsehers versank in dem nagelneuen, plüschartigen Rasen. Der andere lachte. Das Eichhörnchen war längst weg. Aus einem der oberen Fenster wehte von irgendwoher der Klang einer Violine herüber.

Henry entdeckte die Phumber Hall und lief die Treppen hinauf bis in den obersten Stock. Die Tür mit der 405 stand leicht offen, und durch den Spalt kam Musik, die nur aus Pieptönen zu bestehen schien. Henry verharrte nervös im Treppenhaus. Er wusste nicht, wie viele Mitbewohner er haben würde oder was für Mitbewohner das sein würden oder was für eine Musik das war. Wäre er in der Lage gewesen, sich die Studenten des Westish College überhaupt irgendwie konkret vorzustellen, hätte er sich zwölfhundert Mike Schwartze vorgestellt, riesenhaft und mythisch und bedeutsam, und zwölfhundert Frauen von der Sorte, mit der Mike Schwartz ausging: langbeinig, atemraubend und beschlagen in Alter Geschichte. Das Ganze war im Grunde viel zu bedrohlich, um überhaupt darüber nachzudenken. Mit dem Fuß stupste er die Tür auf.

Im Zimmer standen zwei identische Betten mit Stahlrahmen und zwei identische Garnituren Schreibtische, Stühle, Kleiderschränke und Bücherregale aus hellem Holz. Eines der Betten war fein säuberlich gemacht, komplett mit mintgrüner Tagesdecke aus Plüsch und einem Haufen weicher Kissen. Die andere Matratze war kahl bis auf einen ockergelben Fleck, der in Form und Größe ungefähr einem Menschen entsprach. Auf beiden Regalen standen bereits Bücher ordentlich in Reih und Glied, nach Autorennamen sortiert von Achebe bis Tocqueville, während die restlichen Ts und alle anderen bis zum Z sich auf dem Kaminsims stapelten. Henry lud seine Taschen auf dem ockergelben Fleck ab und zog die zerlesene Ausgabe von Aparicio Rodriguez’ Die Kunst des Feldspiels aus der Tasche seiner Shorts. Die Kunst war das einzige Buch, das er mitgebracht hatte, das einzige Buch, das er wirklich kannte: Plötzlich kam ihm das Ganze hier wie ein möglicherweise riesengroßer Fehler vor. Er wollte es schon zwischen Rochefoucauld und Roethke klemmen, doch siehe da, dort stand bereits ein Exemplar, eine hübsche gebundene Ausgabe mit einmal geknicktem Rücken. Henry zog sie hervor und drehte sie in den Händen. Auf dem Vorsatzpapier stand, in wunderschöner kalligraphischer Schrift, Owen Dunne.

Henry hatte im Nachtbus Aparicio gelesen. Oder zumindest das offene Buch die ganze Zeit über auf dem Schoß gehabt, während die eintönigen Betonplatten der Interstate vorbeizogen. Inzwischen konnte man das Lesen von Aparicio im Grunde nicht länger als Lesen bezeichnen, weil er das Buch mehr oder weniger auswendig kannte. Zu welchem Kapitel er auch blätterte, schon die Form der kurzen, nummerierten Paragraphen reichte aus, um sein Gedächtnis zu aktivieren. Seine Lippen murmelten die Worte, während die Augen unkoordiniert über die Seite flogen.

26.  Der Shortstop ist ein Ruhepol im Zentrum der Verteidigung. Er strahlt diese Ruhe aus, und seine Mitspieler reagieren darauf.

59.  Einen Aufsetzer zu bewältigen muss als Akt der Selbstlosigkeit und der Erkenntnis begriffen werden. Man agiert nicht gegen den Ball, sondern mit ihm. Der schlechte Spieler sticht auf den Ball ein wie auf einen Feind. Hierin liegt ein Antagonismus. Der wahrhaftige Spieler lässt den Weg des Balls zu seinem eigenen werden, denkt sich in ihn hinein und lässt das eigene Ich, die Ursache allen Übels, auch einer schlechten Verteidigung, hinter sich.

147.  Wirf mit den Beinen.

Aparicio hatte achtzehn Spielzeiten lang als Shortstop für die St. Louis Cardinals gespielt. Er war in Rente gegangen, als Henry zehn wurde. Er gehörte zu denen, die gleich im ersten Durchgang in die Hall of Fame gewählt wurden, und war der beste defensive Shortstop aller Zeiten. Als Baseballspieler hatte Henry ihn sich bis ins letzte Detail zum Vorbild genommen, von der Art, wie er gleitend und beidhändig Aufsetzer bezwang, über die Art, wie er seine Kappe tief ins Gesicht gezogen trug, um seine Augen zu schützen, bis hin zu der Angewohnheit, sich drei Mal gegen das Herz zu tippen, bevor er in die Schlagzone trat. Und die Trikotnummer natürlich. Aparicio war der Meinung, die Nummer 3 habe eine tiefere Bedeutung.

3.  Es gibt drei Stadien. Gedankenloses Sein. Denken. Gedankenloses Sein.

33.  Verwechsle nicht das erste und das dritte Stadium. Das gedankenlose Sein kann jeder erreichen, die Rückkehr zum gedankenlosen Sein nur sehr wenige.

Es gab zugegebenermaßen zahlreiche Sätze und Äußerungen in Die Kunst, die Henry noch nicht verstand. Diese undurchsichtigen Stellen waren ihm jedoch schon immer die liebsten gewesen, viel lieber als selbst die detaillierten und ungemein hilfreichen Erläuterungen, wie man etwa dafür sorgte, dass ein Läufer in der Nähe der Second Base blieb (Flirten nannte Aparicio das), oder welche Stollen man am besten auf nassem Gras trug. Die undurchsichtigen Stellen, so frustrierend sie auch sein konnten, gaben Henry etwas, an dem er sich abarbeiten konnte. Eines Tages, so träumte er, wäre er als Spieler reif genug, um sie zu knacken und die verborgenen Weisheiten aus ihnen herauszuschlürfen.

213.  Der Tod legitimiert alles, was der Athlet tut.

Die Pieptonmusik verklang. Henry bemerkte ein Murmeln, das hinter einer Tür in der Zimmerecke hervorzudringen schien. Er hatte dort einen Schrank vermutet, jetzt aber drückte er sein Ohr dagegen und hörte Wasser rauschen. Er klopfte leise.

Keine Antwort. Er drehte am Knauf und hörte einen spitzen Schrei, als die Tür gegen etwas Hartes stieß. Henry knallte die Tür wieder zu. Aber das war dumm – weglaufen konnte er ja wohl schlecht. Er öffnete die Tür erneut, und wieder krachte sie gegen etwas Hartes.

»Au!«, kam ein Schrei von innen. »Hör bitte auf damit!«

Der Raum entpuppte sich als Badezimmer, und jemand, der ungefähr in Henrys Alter war, lag auf dem schwarz-weißen Schachbrettmuster des Fliesenbodens und hielt sich den Kopf. Sein aschgraues Haar war kurzgeschoren, und zwischen den Fingern seiner kanariengelben Gummihandschuhe konnte Henry einen blutgeränderten Schnitt erkennen. Wasser lief in die Wanne, und neben ihm lag eine Zahnbürste, auf der eine Mischung aus Scheuermilch und Wasser schäumte. »Alles in Ordnung?«, fragte Henry.

»Die Fuge hier ist eklig.« Der junge Mann setzte sich auf und rieb sich den Kopf. »Man sollte denken, dass die Fugen geputzt werden.« Seine Haut hatte die Farbe von schwachem Kaffee. Er setzte eine Brille mit Drahtgestell auf und betrachtete Henry von oben bis unten. »Und wer bist du?«

»Ich bin Henry«, sagte Henry.

»Wirklich?« Die halbmondförmigen Augenbrauen des jungen Mannes hoben sich. »Bist du sicher?«

Henry senkte den Blick und betrachtete die Innenfläche seiner rechten Hand, als könnte er dort ein unwiderlegbares Zeichen seines Henrytums finden. »Ziemlich sicher.«

Der junge Mann kam auf die Beine und drückte Henry, nachdem er sich aus einem seiner hellgelben Handschuhe geschält hatte, herzlich die Hand. »Ich hatte jemand Größeren erwartet«, erklärte er. »Aufgrund der Baseballgeschichte. Mein Name ist Owen Dunne. Ich bin dein schwuler Mulattenmitbewohner.«

Henry nickte auf eine Weise, von der er hoffte, dass sie angemessen war.

»Eigentlich sollte ich das Zimmer für mich haben.« Owen machte eine Handbewegung, als wiese er auf ein schönes Panorama hin. »Das war Teil meines Stipendien-Pakets als Gewinner des Maria-Westish-Preises. Ich habe immer davon geträumt, allein zu leben. Du nicht?«

Henry hatte ehrlich gesagt immer davon geträumt, mit jemandem zusammenzuwohnen, der ebenfalls ein Exemplar von Aparicios Buch besaß. »Spielst du Baseball?«, fragte er, während er Owens gebundene Ausgabe der Kunst in den Händen hin und her drehte.

»Ich habe mich darin versucht«, sagte Owen und fügte auf irgendwie geheimnisvolle Weise hinzu: »Aber nicht wie du.«

»Was meinst du?«

»Letzte Woche rief mich President Affenlight an. Kennst du sein The Sperm-Squeezers?«

Kannte Henry nicht. Owen nickte verständnisvoll. »Das ist wenig überraschend«, sagte er. »Es hat heutzutage nicht mehr viel akademische Zugkraft, obwohl es für seinen Bereich sehr – haha! – fruchtbar war. Eine große Quelle der Inspiration, als ich vierzehn, fünfzehn war. Na, jedenfalls rief mich President Affenlight zu Hause bei meiner Mutter in San José an und erzählte, dass noch ein Student von gewissem Talent zu den Studienanfängern stoßen werde und dass das für das College im Großen und Ganzen zwar toll, was die Unterbringung angehe aber ein Dilemma sei. Da ich der Einzige meines Jahrgangs mit Einzelzimmer bin, wollte er wissen, ob ich mich nicht darauf einlassen würde, auf dieses Privileg zu verzichten und das Zimmer zu teilen. Affenlight kann mit Engelszungen reden«, fuhr Owen fort. »Er hat derart von dir und vom Zusammenwohnen überhaupt geschwärmt, dass ich beinahe vergessen hätte, mit ihm zu verhandeln. Ehrlich gesagt ist die Professionalisierung des College-Sports in meinen Augen ein ziemlich verachtenswertes Phänomen. Aber wenn die Verwaltung bereit war, mir den hier zu kaufen« – er zeigte mit einem gelben Handschuhfinger auf den schimmernden Computer auf seinem Schreibtisch – »und einen ansehnlichen Zuschuss zum Büchergeld zu leisten, nur damit ich einwillige, mit dir zusammenzuwohnen, musst du ja ein ganz schönes Ass sein. Es wäre mir eine Ehre, bei Gelegenheit ein paar Bälle mit dir zu werfen.«

»Sie bezahlen dich dafür, mit mir zusammenzuwohnen?«, fragte Henry, der derart ungläubig und verwirrt war, dass er Owens Angebot kaum mitbekam. Was zum Kuckuck konnte Mike Schwartz gesagt oder getan haben, um eine Situation entstehen zu lassen, in der der Präsident des Westish College persönlich Leute anrief und von ihm schwärmte? »Wäre es unhöflich … Ich meine … Dürfte ich fragen …?«

Owen zuckte mit den Schultern. »Sicherlich nicht annähernd so viel, wie sie dir zahlen. Aber genug für den Teppich da draußen, ein teurer Teppich, also bitte stell deine Schuhe nicht darauf ab. Und genug, um mir das ganze Jahr lang Marihuana von höchster Qualität leisten zu können. Na ja, das Semester lang vielleicht. Mindestens bis Halloween.«

Nach dieser ersten Begegnung sah Henry Owen kaum noch. Nachmittags kam er meistens hereingerauscht, tauschte ein paar Ringbücher aus seiner Tasche gegen ein paar andere Ringbücher oder seinen hübschen grauen Pullover gegen seinen hübschen roten Pullover und rauschte dann mit einem einzigen Wort wieder hinaus: »Probe.« »Demo.« »Verabredung.« Henry nickte dann und widmete sich während der Sekunden, die Owen im Raum war, voll und ganz der Aufgabenstellung, die er gerade vor sich liegen hatte, um nicht gänzlich nutz- und hilflos zu erscheinen.

Verabredet war Owen stets mit Jason Gomes, einem Studenten im vierten Jahr, der in jedem Stück der Theatergruppe die Hauptrolle spielte. Es dauerte nicht lange, bis Owens Ringbücher und Pullover in Jasons Zimmer umgezogen waren. Morgens, wenn Henry zur Vorlesung ging, sah er die beiden im Campus-Café, dem Café Oo, wie sie lesend beieinandersaßen, Jasons Hand auf Owens gelegt, und es sich gemütlich machten mit ihren Espressos und ihren Büchern, von denen einige französische Titel hatten. Zur Abendessenszeit, während Henry allein in einer dunklen Ecke des Speisesaals saß und versuchte, einen zugleich unauffälligen und zufriedenen Anschein zu erwecken, kamen Owen und Jason hereinspaziert, schnappten sich Früchte und Kräcker, um die Probe zu überstehen, und marschierten wieder hinaus. Nach Mitternacht, wenn Henry vor dem Schlafengehen die Jalousien hinunterließ, sah er, wie sich die beiden auf der Treppe gegenüber einen Joint teilten. Owens Kopf ruhte auf der Schulter seines Liebsten. Um Schlaf oder Nahrung mussten sie sich nicht kümmern, so zumindest kam es Henry vor: Sie waren zu beschäftigt, zu glücklich für derlei Trivialitäten. Owen hatte ein Schauspiel in drei Akten geschrieben, »eine Art neomarxistischen Macbeth, der in einem Großraumbüro spielt«, wie er es einmal beschrieb, und Jason hatte die Titelrolle.

An ein paar Wochenenden in jenem Herbst fuhr Jason heim nach Chicago oder in eine dazugehörige Vorstadt. Für Henry waren diese Wochenenden ein Quell der Erleichterung und Freude. Er hatte einen Freund, zumindest bis Sonntagabend. Owen verbrachte den Morgen lesend und teetrinkend in seinem karierten Pyjama, manchmal rauchte er einen Joint oder starrte träge auf das Display seines stummen BlackBerrys, bis Henry ihn mit vorsichtiger Nonchalance fragte, ob er Lust habe, brunchen zu gehen. Owen sah ihn dann über seine runde Brille hinweg an und seufzte, als wäre Henry ein nerviges Kind. Aber sobald sie draußen an der Herbstluft waren, begann Owen – für gewöhnlich noch immer im Pyjama, über den er einen Pullover gezogen hatte – zu reden und Fragen zu beantworten, die Henry niemals auch nur in den Sinn gekommen wären.

»Er hat mein volles Einverständnis, wenn er geht«, sagte er, wobei er wieder auf sein Telefon sah, das keinen Piep von sich gegeben hatte. »Mein volles Einverständnis und Verständnis. Wir haben Parameter akzeptablen Verhaltens erarbeitet, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er ihnen folgt. Wir kommunizieren offen miteinander, wie erwachsene Menschen. Und ich bin mir im Klaren darüber, dass es die Erfahrung von Grund auf verändern würde, wenn ich mitführe.«

Henry, der begriff, wer er war, wenn auch sonst nicht viel, nickte nachdenklich.

»Nicht dass ich überhaupt mitfahren wollte, wohlgemerkt. Das will ich wirklich nicht. Was ich auch ganz offen gesagt habe. Und ich finde es gut, dass er so ehrlich ist in Bezug auf das, was er in dieser Lebensphase möchte. Wir sind beide jung, sagt er, und darüber lässt sich nicht streiten. Und dennoch stört es mich. Aus zwei Gründen. Beides leider Gottes Anzeichen meiner antiquierten Sentimentalität und grundsätzlichen Untauglichkeit für das moderne Leben. Der erste ist, dass seine Familie dort ist, seine Eltern, sein Bruder, seine Schwester. Er hat gestern mit ihnen zu Abend gegessen. Kannst du dir das vorstellen, vier andere Menschen, die so aussehen und sich verhalten? Ich würde sie gern kennenlernen, das gebe ich zu. Ich möchte sie sogar ziemlich dringend kennenlernen. Das hört sich vielleicht etwas peinlich an, wir kennen uns ja erst seit sieben … seit sechs Wochen. Mein Gott, sechs Wochen. Ich bin so erbärmlich. Aber ich weiß genau, wenn meine Mutter in der Nähe leben würde, hätte ich die beiden längst zusammen in einen Raum gepfercht, nur zu meinem eigenen billigen Vergnügen. Verstehst du?«

Henry nickte wieder und belud seinen Teller mit Pfannkuchen.

»Du solltest nicht so viel Mehl essen«, sagte Owen und nahm selbst einen einzigen Pfannkuchen. »Selbst wenn ich bekifft bin, esse ich nicht viel Mehl. Der andere Grund ist natürlich, dass ich überzeugter Monogamist bin. Wenn nicht in der Theorie, dann zumindest in der Praxis. Ich bin machtlos dagegen. Erkenne ich die repressive, regressive Natur sexueller Exklusivität an? Ja. Wünsche ich mir für mich selbst nichts so sehr wie diese Exklusivität? Ebenfalls Ja. Es gibt sicherlich eine Möglichkeit, das nicht als Paradox zu begreifen. Vielleicht glaube ich aber auch einfach an die Liebe. Vielleicht sehne ich mich auch einfach nur nach der Bestätigung meiner Mutter. Warte mal kurz.« Owen lief zurück zu dem Buffet mit den warmen Speisen und schaufelte vier weitere Pfannkuchen auf seinen Teller. »Entschuldige, dass ich dich so zutexte, Henry. Ich glaube, ich bin total bekifft.«

Nach dem Brunch gingen sie in den Studentenclub, um Tischtennis zu spielen. Owen entpuppte sich selbst in total bekifftem Zustand als überraschend guter Spieler. Seine Bewegungen waren vorsichtig, aber er verfehlte nicht ein einziges Mal die Platte, und Henry, der es hasste, beim Tischtennis zu verlieren, hetzte hin und her, ächzte und schwitzte, um die Führung zu halten. Währenddessen redete Owen in einem fort über Liebe und Jason und die Widersprüche der Monogamie, achtete dabei scheinbar nicht auf das Spiel und produzierte trotzdem geschickt angeschnittene Stoppbälle, nach denen sich Henry quer über die Platte strecken musste. Ab und zu warf Henry einen Kommentar ein, um zu zeigen, dass er zuhörte und interessiert war, doch für ihn war Monogamie weniger ein Widerspruch als vielmehr ein funkelndes, potentiell unerreichbares Ziel, der Gegenentwurf zur eigenen Jungfräulichkeit, weshalb er seine Kommentare vage hielt. Die Unerfahrenheit hatte ihn in der Highschool nicht besonders gestört – er war schließlich erst siebzehn –, aber hier in Westish, wo sich alle so mondän gaben, vom Alter einmal ganz abgesehen, hatte sie sich schon jetzt als ein seltenes Leiden entpuppt, mit dem es sich wohl leben ließ, das einzugestehen allerdings peinlich, das zu heilen schwierig gewesen wäre.

Trotzdem war es schön, sich zu bewegen, zu spielen, und bald trug Henry nur noch sein T-Shirt, und der Schweiß lief ihm nur so herunter. Nach jedem Spiel war er sich sicher, dass Owen den Schläger zur Seite legen würde – er sah leicht gelangweilt aus –, aber Owen, die hohe Stirn trocken, den Pullover noch immer über dem Schlafanzug, murmelte bloß »Nicht schlecht, Henry« und servierte eine weitere butterweiche Angabe.

Sie spielten, bis Essenszeit war, und kehrten danach in den Club zurück, um die World Series anzusehen, wobei sich Henry weit vorbeugte, um die Bewegungsabläufe des Shortstops zu verfolgen, während Owen sich mit einem aufgeschlagenen Buch auf die Couch fläzte. Ab und an zog Owen, von einem trüben Gedanken aufgescheucht, sein Telefon heraus, schaute aufs Display und steckte es dann wieder weg.

Henry schlief tief und fest in dieser Nacht, müde von vier Stunden Tischtennis und seltsam beruhigt von Owens leisem Schnaufen. Am Sonntagabend vibrierte dann schließlich Owens Telefon, und er verschwand wieder.

Auch in seiner Abwesenheit kündete Phumber 405 so deutlich von seiner Existenz, dass Henry, während er allein und verwirrt auf seinem Bett saß, oft der unheimliche Gedanke überkam, dass in Wirklichkeit Owen da war und er selbst nicht. Auf dem Regal standen Owens Bücher, seine Bonsais und Topfkräuter flankierten das Fensterbrett, und auf seiner drahtlosen Anlage lief rund um die Uhr seine karge, kantige Musik. Henry hätte andere Musik auflegen können, aber er besaß selbst keine, also ließ er sie laufen. Owens teurer Teppich bedeckte den Fußboden, seine abstrakten Gemälde die Wände und seine Kleider und Handtücher die Bretter im Schrank. Eines der Gemälde mochte Henry ganz besonders, und er war froh, dass Owen es zufällig über sein Bett gehängt hatte – ein großes Viereck, schlierig-grün mit feinen weißen Pfaden, die gut als die Spielfeldbegrenzungen eines Baseballfelds hätten durchgehen können. Sein Marihuanageruch hing in der Luft, gemischt mit den kräftigen Zitrus-und-Ingwer-Noten seiner Bio-Putzmittel, obwohl Henry nicht hätte sagen können, wann er überhaupt rauchte oder putzte, wo er doch so selten da war.

Die einzigen Spuren von Henrys Existenz hingegen waren die zerwühlten Laken auf seinem ungemachten Bett, ein paar Fachbücher, dreckige Jeans über seinem Stuhl und mit Tesafilm an die Wand geklebte Bilder von seiner Schwester und von Aparicio Rodriguez. Zero lag im Schrank. Komm erst mal an, dachte er, Mike wird sich schon melden. Als nette Geste hätte er gern einmal das Badezimmer geputzt, aber nie fand er auch nur ein Fitzelchen Dreck, das er hätte entfernen können. Manchmal erwog er, die Pflanzen zu gießen, aber sie schienen sehr gut ohne ihn auszukommen, und außerdem hatte er gehört, dass zu viel Wasser tödlich sein konnte.

Wenngleich seine Kommilitonen angeblich »aus allen fünfzig Staaten, Guam und zweiundzwanzig fernen Ländern« stammten, wie President Affenlight es in seiner Begrüßungsansprache formulierte, schienen sie sich doch alle von der Highschool zu kennen oder hatten zumindest einen entscheidenden Orientierungskurs besucht, den er aber verpasst hatte. Sie bewegten sich in großen Rudeln, die permanent per SMS mit anderen Rudeln Kontakt hielten, und begegneten sich zwei, bedeutete das jedes Mal großes In-die-Arme-Gefalle und Wangengeküsse. Niemand lud Henry zu Partys ein oder bot sich an, ihm ein paar Aufsetzer zu servieren, also blieb er zu Hause und spielte Tetris auf Owens Computer. Alles Übrige in seinem Leben schien sich seiner Kontrolle zu entziehen, aber die Tetris-Blöcke fügten sich fein säuberlich ineinander, und sein Punktestand stieg und stieg. Er notierte die täglichen Fortschritte in seinem Physik-Ringbuch. Wenn er spätabends die Augen schloss, sah er die scharfkantigen Gebilde sich drehen und hinabsegeln.

Vor seiner Ankunft war ihm Westish heroisch und großartig erschienen, bedeutsam und maßgeblich, wie Mike Schwartz. Nun erwies es sich als Farce, träge, gewöhnlich und voller Makel – eher wie Henry Skrimshander. Als er an seinen ersten Tagen auf dem Campus schweigend von Vorlesung zu Vorlesung trieb, sah er Schwartz nirgendwo. Oder besser gesagt, er sah ihn überall. Aus dem Augenwinkel erblickte er immer wieder eine Gestalt, die diesmal eindeutig Schwartz war, aber wenn er sich voller Eifer zu ihr umdrehte, erwies sie sich als irgendjemand anders, der nur ganz entfernte Ähnlichkeit mit ihm hatte, oder als Mülltonne oder als überhaupt gar nichts.

In der südöstlichen Ecke des Kleinen Hofs, zwischen Phumber Hall und dem Büro des Präsidenten, stand auf einem quadratischen Marmorsockel die steinerne Statue eines Mannes. Nachdenklich und mit buschigem Bart richtete er den Blick nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, in den Hof, sondern starrte stattdessen in Richtung See. In der linken Hand hielt er ein aufgeschlagenes Buch, während die rechte ein kleines Fernglas an die Augen hob, als hätte er soeben etwas am Horizont entdeckt. Weil er dem Campus den Rücken zuwandte und dem Vorbeigehenden den moosgefüllten Riss präsentierte, der über seinen Rücken lief wie ein Peitschenstriemen, war er Henry von Beginn an als zutiefst einsame Figur erschienen, die schwer an den eigenen Gedanken trug. In der Einsamkeit jenes Septembers empfand Henry eine eigenartige Verbundenheit mit diesem Melville, den er, wie alles andere auf dem Campus, das menschlich war oder so aussah, mehrfach irrtümlich für Mike Schwartz gehalten hatte.

3

Thanksgiving war der erste Feiertag, an dem Henry nicht zu Hause war. Er verbrachte ihn im Speisesaal, wo er neuerdings als Tellerwäscher arbeitete. Küchenchef Spirodocus war ein harter Brocken, der einem ständig auf die Finger schaute, aber Henry verdiente dort wesentlich mehr als im Piggly-Wiggly-Supermarkt in Lankton. Er übernahm die Mittags- und die Abendschicht, und danach steckte ihm Spirodocus eine fertig geschnittene Truthahnbrust zu, die er zu Hause in Owens Minikühlschrank packen konnte.

Henry wurde von einer Mischung aus Heimweh und Freude durchflutet, als er an diesem Abend die Stimmen seiner Eltern hörte; seine Mutter war in der Küche, sein Vater lag vor dem lautlos gestellten Fernseher im Wohnzimmer, den Aschenbecher neben sich, und absolvierte halbherzig die empfohlenen Dehnübungen für seinen Rücken. Henry stellte sich vor, wie sein Vater die aufgestellten Knie langsam von einer Seite auf die andere rollte. Die Hose rutschte ihm dabei bis zum Schienbein hoch. Seine Socken waren weiß. Als er sich das Weiß dieser Socken vorstellte – die furchtbare Klarheit, mit der er sich das vor Augen führen konnte –, löste sich eine Träne in seinem Augenwinkel.

»Henry.« In der Stimme seiner Mutter lag keinerlei Thanksgiving-Fröhlichkeit – sie klang verdrießlich, unheilvoll, ungewohnt. »Deine Schwester hat uns erzählt, dass Owen …«

Er wischte sich die Träne weg. Er hätte damit rechnen müssen, dass Sophie das ausplaudern würde. Sophie plauderte immer alles aus. Sie war ebenso scharf darauf, Leute zu provozieren, besonders ihre Eltern, wie Henry scharf darauf war, sie zu beschwichtigen.

»… schwul ist.«

Seine Mutter ließ das Satzende dort hängen. Sein Vater nieste. Henry wartete.

»Dein Vater und ich fragen uns, warum du uns das nicht erzählt hast.«

»Owen ist ein guter Mitbewohner«, sagte Henry. »Er ist nett.«

»Ich sage ja nicht, dass Schwule nicht nett sind. Ich frage mich bloß, ob das für dich die beste Umgebung ist, Liebling. Immerhin schlaft ihr im selben Raum! Ihr teilt euch ein Badezimmer! Ist dir das nicht unangenehm?«

»Das will ich wohl hoffen«, sagte sein Vater.

Henry rutschte das Herz in die Hose. Würden sie ihn zwingen, nach Hause zu kommen? Er wollte nicht nach Hause. Weil er bisher gänzlich versagt hatte – darin, Freundschaften zu schließen, gute Noten zu bekommen oder auch nur Mike Schwartz aufzuspüren –, war sein Unwillen viel größer, als wenn er – so wie dem Anschein nach alle anderen um ihn herum – die beste Zeit seines Leben gehabt hätte.

»Würden sie dich mit einem Mädchen zusammenlegen?«, fragte seine Mutter. »In deinem Alter? Niemals. In tausend Jahren nicht. Warum also tun sie das? Das verstehe ich nicht.«

Sollte in der Logik seiner Mutter ein Denkfehler liegen, konnte Henry ihn nicht finden. Würden seine Eltern verlangen, dass er das Zimmer wechselte? Es wäre furchtbar, mehr als peinlich, zur Zimmervergabe zu gehen und nach einer neuen Unterkunft zu fragen – die von der Zimmervergabe würden direkt wissen, warum er fragte, denn Owen war der denkbar beste Mitbewohner, gepflegt und freundlich und kaum zu Hause. Der einzige Mitbewohner, der versuchen würde, Owen loszuwerden, war einer, der Schwule hasste. Das hier war ein richtiges College, ein Hort der Aufklärung – man konnte hier in Schwierigkeiten geraten, wenn man Menschen hasste, so stellte Henry es sich zumindest vor. Und er wollte nicht in Schwierigkeiten geraten und auch keinen neuen Mitbewohner haben.

Seine Mutter räusperte sich, machte sich bereit für eine weitere Offenbarung.

»Wir haben gehört, er kauft dir Kleidung.«

Zwei Wochen zuvor, an einem Samstagmorgen, hatte Henry Tetris gespielt, als Owen und Jason hereinkamen, Owen ruhig und beschwingt wie immer, Jason übernächtigt und mit einem großen Pappbecher Kaffee in der Hand. Henry klickte das Tetris-Fenster weg und öffnete die Seite für den Physik-Kurs. »Hi, Leute«, sagte er. »Was liegt an?«

»Wir gehen shoppen«, sagte Owen.

»Ah, cool. Viel Spaß.«

»Das war ein einschließendes Wir. Zieh dir bitte Schuhe an.«

»Oh, haha, schon gut«, sagte Henry. »Ich bin kein großer Shopper.«

»Jedenfalls bist du kein Nicht-Meister der Litotes«, sagte Jason. Li-toh-tess. Henry wiederholte es für sich, um es später nachschlagen zu können. »Wenn wir zurückkommen, werde ich diese Jeans verbrennen.«

»Was stimmt denn nicht mit diesen Jeans?« Er sah hinunter auf seine Beine. Die Frage war nicht rhetorisch gemeint: Es stimmte ganz offensichtlich etwas nicht mit seinen Jeans. So viel hatte er seit seiner Ankunft am Westish mitbekommen, genauso wie er mitbekommen hatte, dass mit seinen Schuhen etwas nicht stimmte, mit seinen Haaren, seinem Rucksack und allem anderen. Aber er wusste nicht so recht, was. So wie die Eskimos hundert Wörter für Schnee hatten, hatte er bloß ein einziges für Jeans.

Mit Jasons Auto fuhren sie zu einer Mall in Door County. Henry verschwand in zahllosen Umkleidekabinen und tauchte wieder und wieder zur Begutachtung auf.

»Na bitte«, sagte Owen, »geht doch.«

»Die?« Henry zupfte an den Taschen, zupfte am Schritt. »Ich find die ganz schön eng.«

»Die weiten sich noch«, sagte Jason. »Und wenn nicht, umso besser.«

Als sie fertig waren, hatte Owen bei zwei Paar Jeans, zwei Hemden und zwei Pullovern Na bitte, geht doch gesagt. Ein bescheidener Stapel, aber als Henry im Kopf die Preise zusammenrechnete, kam mehr heraus, als er auf dem Konto hatte. »Brauche ich wirklich zwei Paar?«, sagte er. »Eins ist doch ein guter Anfang.«

»Zwei«, sagte Jason.

»Ähm.« Henry schaute stirnrunzelnd auf die Sachen. »Hmm …«

»Oh!« Owen schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Hatte ich das gar nicht erwähnt? Ich bin im Besitz einer Gutscheinkarte für dieses Geschäft. Und ich muss sie schnellstens benutzen, damit sie nicht abläuft.« Er griff nach den Sachen in Henrys Händen. »Her damit.«

»Aber es ist deine«, widersprach Henry. »Du solltest dir davon selbst etwas kaufen.«

»Sicherlich nicht«, sagte Owen. »Ich würde niemals hier einkaufen.« Er entwand Henrys Händen den Stapel und warf Jason einen Blick zu. »Ihr wartet draußen.«

Henry besaß nun also zwei Paar Jeans, die sich etwas geweitet hatten, sich aber immer noch zu eng anfühlten. Als er allein im Speisesaal saß und seine vorbeilaufenden Kommilitonen betrachtete, bemerkte er, dass sie den Jeans der anderen ziemlich ähnlich sahen. Fortschritte, dachte er. Ich mache Fortschritte.

»Stimmt das?«, sagte sein Vater jetzt. »Du hast dir von dem Typen Klamotten kaufen lassen?«

»Ähm …« Henry suchte nach einer nicht unwahren Antwort. »Wir waren in der Mall.«

»Warum kauft er dir Kleidung?«, erhob sich die Stimme seiner Mutter wieder.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Mike Schwartz Kleidung kauft«, sagte Henrys Vater. »Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.«

»Ich glaube, er will, dass ich mich einfüge.«

»Dass du dich wo einfügst?, müsste man sich fragen. Liebling, nur weil Leute mehr Geld haben als du, bedeutet das nicht, dass du dich ihren Vorstellungen in Bezug auf einfügen unterordnen musst. Du musst du selbst sein. Haben wir uns da verstanden?«

»Denke schon.«

»Gut. Sag Owen bitte, dass du dich vielmals bedankst, seine Geschenke aber unter keinen Umständen annehmen kannst. Du bist nicht arm, und du bist nicht auf Almosen von Fremden angewiesen.«

»Er ist kein Fremder. Und ich hatte sie schon an. Er kann sie nicht zurückbringen.«

»Dann kann er sie jemandem spenden, der bedürftig ist. Ich will darüber nicht mehr sprechen, Henry. Haben wir uns da verstanden?«

Er wollte ebenfalls nicht mehr darüber sprechen. Ihm ging auf – zum ersten Mal eigentlich, derart schwer von Begriff, derart langsam war er –, dass seine Eltern achthundert Kilometer weit weg waren. Sie konnten ihn zwingen, nach Hause zu kommen, sie konnten es ablehnen, den vereinbarten Teil der Studiengebühren zu bezahlen, aber seine Jeans sehen, das konnten sie nicht. »Verstanden«, sagte er.

4

Es war beinahe Mitternacht. Henry presste das Ohr an die Tür. Die verschwitzten, heiseren Geräusche, die von innen kamen, waren selbst über den Rhythmus der Musik hinweg zu vernehmen. Er hatte eine Ahnung, was dort vor sich ging, wenn auch ziemlich vage. Es hörte sich schmerzvoll an, zumindest für einen der Beteiligten.

»Uuuh. Uuuh. Uuuh.«

»Komm schon, Baby. Komm schon –«

»Oooooh-«

»So ist es gut, Baby. Hör nicht auf.«

»-uuuhgrrrraaah-«

»Warte, langsam. Langsam, langsam, langsam. Ja, Baby. Genau so.«

»-ooohgrrrrnnn-«

»Du bist riesig! Scheiße noch mal, du bist riesig!«

»-grrrraargrraaaah-«

»Gib’s mir! Komm schon! Los!«

»-aah … aah … AAH-«

»Jajajajajajajajaja!«

»-RRRNNAAAAAAAAAAAH!«

Die Tür schwang nach innen auf. Henry, der sich dagegen gelehnt hatte, taumelte in den Raum und knallte gegen die schweißüberströmte Brust von Mike Schwartz. »Skrimmer, du bist zu spät.« Schwartz drehte Henrys rote Cardinals-Kappe, sodass der Schirm nach hinten zeigte. »Willkommen im Kraftraum.«

Nach dem Telefonat mit seinen Eltern hatte Henry seine Jacke angezogen und war hinaus ins Dunkel des Campus gewandert. Die Stille war fast unwirklich. Er setzte sich auf den Sockel der Melville-Statue und sah hinaus aufs Wasser. Als er nach Hause kam, blinkte der Anrufbeantworter. Wahrscheinlich seine Eltern – sie hatten es sich noch mal überlegt und entschieden, dass er nach Hause kommen sollte.

»Skrimmer! Football ist vorbei. Jetzt geht Baseball los. Treffen uns in einer halben Stunde im VAC. Die Seitentür beim Müllcontainer ist offen. Sei pünktlich.«

Henry zog sich Shorts an, schnappte sich Zero aus dem Schrank und rannte durch die milde Nacht zum VAC. Drei Monate lang hatte er jetzt auf einen Anruf von Schwartz gewartet. Nach der Hälfte der Strecke und schon aus der Puste, wurde er langsamer und ging normal weiter. Während dieser drei Monate hatte er nichts Anstrengenderes getan, als im Speisesaal Geschirr zu spülen. Er wünschte, das College würde auch den Körper mehr fordern, würde einen öfter daran erinnern, dass das Leben vier Dimensionen besaß. Vielleicht konnten sie einem beibringen, wie man seine eigenen Wohnheimmöbel baute oder sein eigenes Gemüse anpflanze. Stattdessen redeten immer alle nur von geistigen Dingen – etwas, das ihm, wie so vieles andere, dem er in letzter Zeit begegnet war, sowohl verlockend schien als auch schlicht und einfach zu hoch war.

»Skrimmer, das ist Adam Starblind«, sagte Schwartz. »Starblind, Skrimmer.«

»Du bist also der Typ, von dem Schwartz die ganze Zeit redet.« Starblind wischte sich die Hand ab, damit sie sich begrüßen konnten. »Der Baseball-Messias.« Er war wesentlich kleiner als Schwartz, aber wesentlich größer als Henry, was offenkundig wurde, als er seine silbrig schimmernde Trainingsjacke auszog. Zwei asiatische Schriftzeichen schmückten seinen rechten Deltamuskel. Henry, der keine Deltamuskeln hatte, sah sich nervös im Raum um. Bedrohliche Maschinen hockten im Halbdunkel. Zero mitzubringen war ein schwerer Fehler gewesen. Er versuchte ihn hinter dem Rücken zu verstecken.

Starblind warf seine Jacke in die Ecke. »Adam«, bemerkte Schwartz, »du hast den glattesten Rücken, den ich bei einem Mann je gesehen habe.«

»Das will ich auch hoffen«, sagte Starblind. »Ich hab ihn gerade erst machen lassen.«

»Machen lassen?«

»Du weißt schon. Wachs.«

»Du verarschst mich.«

Starblind zuckte mit den Schultern.

Schwartz wandte sich an Henry. »Kannst du das glauben, Skrimmer?« Mit seiner Riesenhand rieb er sich den kurz geschorenen Schädel, auf dem sich bereits deutlich Geheimratsecken abzeichneten. »Ich kämpfe, um mein Haar zu behalten, und Kollege Starblind hier zapft sein Studiendarlehen an, um es entfernen zu lassen.«

Starblind wandte sich spöttelnd an Henry. »Sein Haar behalten, sagt er. Dies ist der haarigste Mann, den ich kenne. Schwartzy, Madison würde einen Blick auf deinen Rücken werfen und den Laden für immer schließen.«

»Du lässt dir den Rücken von jemand namens Madison wachsen?«

»Er leistet gute Arbeit.«

»Ich weiß ja nicht, Skrim.« Schwartz schüttelte traurig seinen großen Kopf. »Erinnerst du dich daran, als es noch einfach war, ein Mann zu sein? Jetzt sollen wir alle aussehen wie Captain Abercrombie hier. Bauchmuskelpakete, drei Prozent Körperfett. Dieser ganze Scheiß. Ich komm aus einer einfacheren Zeit.« Schwartz tätschelte seinen strammen Bauch. »Aus einer Zeit, in der ein behaarter Rücken noch etwas bedeutete.«

»Tiefste Einsamkeit?«, schlug Starblind vor.

»Wärme. Überleben. Evolutionären Vorsprung. Damals krochen Frau und Kinder eines Mannes in sein Rückenhaar und überwinterten darin. Nymphen flochten es und besangen es in Lobliedern. Gottes Zorn kam über die haarlosen Stämme. Das ist heute alles vergessen. Aber eins sag ich dir: Wenn die nächste Eiszeit kommt, werden die Schwartze gut dastehen. Sehr gut sogar.«

»Das ist unser Schwartzy.« Starblind gähnte und inspizierte seine linke Bizepsvene in einem der vielen Spiegel im Raum. »Lebt immer von einer Eiszeit zur nächsten.«

Schwartz streckte eine seiner großen Hände aus. Henry begriff, dass er ihm seinen Handschuh reichen sollte. Seit sieben oder acht Jahren, vielleicht mehr, hatte niemand außer Henry Zero angefasst. Er konnte sich an das letzte Mal gar nicht erinnern. Er sprach ein stilles Gebet und legte den Handschuh in die Pranke des Hünen.

Schwartz pfefferte ihn über seine Schulter in eine Ecke. »Leg dich auf die Bank da«, befahl er. Henry legte sich hin. Schwartz und Starblind zogen flink wie eine Boxencrew die schweren, autoreifengroßen Scheiben von der Stange, die Starblind gestemmt hatte, und ersetzten sie durch untertassengroße. »Du hast noch nie Gewichte gestemmt?«, fragte Schwartz.

Henry schüttelte den Kopf.

»Gut. Dann hast du auch keine von Starblinds schlechten Angewohnheiten. Daumen drunter, Ellbogen nach innen, Wirbelsäule entspannt. Fertig? Und los.«

Eine halbe Stunde später übergab sich Henry das erste Mal seit seiner Kindheit, ein schlapper abrupter Huster, der einen Schwall pürierten Truthahn auf den gummierten Boden beförderte.

»Guter Junge.« Schwartz zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. »Ihr beiden macht weiter.« Er kehrte mit einem gelben Putzeimer auf Rädern, der mit Seifenlauge gefüllt war, und einem Wischmop mit langen Fäden zurück, mit dem er die Schweinerei beseitigte, wobei er die ganze Zeit über vor sich hinpfiff.

Schwartz machte jede neue Übung zunächst ein paar Mal vor, zeigte, wie es richtig ging, schaute dann Henry und Starblind zu und brüllte Beleidigungen und Anweisungen, während sie ihre Durchgänge absolvierten. »Coach Cox will nicht, dass ich pumpe, bevor die Baseballsaison losgeht«, erklärte er. »Macht mich kirre. Aber wenn ich hier oben zu breit werde« – er klopfte sich auf die Schulter – »kann ich nicht werfen.«

Die Einheit endete mit einer Übung, die Schädelspalter hieß.

»Komm schon, Skrim«, knurrte Schwartz, als Henrys Arme zu zittern begannen. »Mach ein bisschen Lärm, zum Teufel.«

»Uh«, machte Henry. »Gr.«

»Das nennst du Lärm?«

»Du hast die Power«, feuerte Starblind ihn an. »Beiß dich durch.«

Henrys Ellbogen entfernten sich voneinander, und die gebogene Stange sauste auf einen Punkt zwischen seinen Augen zu. Schwartz hielt sie nicht auf. Der stumpfe Bumms gegen Henrys Stirn fühlte sich beinahe angenehm an. Er hatte den frischen Geschmack von Eisenspänen auf der Zunge und spürte das Pulsieren einer zukünftigen Narbe.

»Schädelspalter«, sagte Starblind zustimmend.

Schwartz warf Henry seinen Handschuh zu. »Gute Arbeit heute Abend«, sagte er. »Adam, sag dem Skrimmer, was er gewonnen hat.«

Starblind förderte aus einer dunklen Ecke einen gigantischen Plastikcontainer zutage. »SuperBoost Neuntausend«, sagte er im Bariton eines Showmasters. »Die bewährte Art, das Potential Ihres Körpers zum Leben zu erwecken.«

»Dreimal täglich«, instruierte Schwartz. »Mit Milch. Es ist ein Ergänzungsmittel, es ergänzt also den normalen Speiseplan nur. Lass keine Mahlzeiten aus.«

Am nächsten Tag spürte Henry, wie der Muskelkater während seiner Tellerwäscherschicht immer stärker wurde. Als er in sein Zimmer zurückkam, in den Händen zwei Gläser Milch, die sich schwer anfühlten, saß Owen hinter seinem Schreibtisch, ganz in Weiß gekleidet und damit beschäftigt, abgebrochene kleine Zweige aus einem Plastiktütchen zu fischen.

»Was ist das?« Owen machte eine Handbewegung in Richtung des Kanisters, den Henry auf dem Kühlschrank hatte stehen lassen.

»SuperBoost Neuntausend.«

»Sieht aus wie etwas aus einer Tuning-Werkstatt. Sei so gut und stell es in den Schrank. Hinter die Gästehandtücher.«

»Klar.« Owen hatte recht: Der schwarze Plastikkübel passte nicht so ganz zur Einrichtung. Die scharf gezackten Buchstaben auf dem Etikett neigten sich nach vorn, einen Feuerschweif hinter sich herziehend, während sie das stilisierte Foto des übertriebensten Muskelarms umschwirrten, den Henry je gesehen hatte. »Aber erst mal muss ich davon probieren.«

Owen leckte den Rand eines kleinen Stücks Papier an. »Inwiefern probieren?«

»Indem ich einen gehäuften Löffel SuperBoost mit einem Viertelliter Wasser oder Milch mische.«

»Du willst das essen?«

Henry drehte den Deckel auf und zog die dünne Aluminiumfolie ab. Innendrin lag, halb vergraben in farblosem Pulver wie ein vergessenes Strandspielzeug, ein durchsichtiger Löffel. Er leerte beide Milchgläser in seinen beinahe einen Liter fassenden Aparicio-Rodriguez-Gedenkbecher, den Sophie ihm zu Weihnachten bei eBay besorgt hatte, und gab zwei gehäufte Löffel SuperBoost hinzu.

Statt zu sinken oder sich aufzulösen, schwamm das Pulver als hartnäckiges Häufchen auf der Milchoberfläche. Henry holte eine Gabel aus seiner Schreibtischschublade und begann zu rühren, aber das Pulver bildete nur kleine Kokons um die Spitzen herum. Er rührte schneller und schneller. Die Gabel stieß klirrend gegen den Becher. »Vielleicht könntest du das woanders machen«, schlug Owen vor. »Oder überhaupt nicht.«

Henry hörte auf zu rühren und hob den Becher an die Lippen. Er hatte vor, alles in einem Zug hinunterzukippen, aber die schlammige Mixtur schien in seinem Magen zu quellen. Als er den Becher absetzte, war dieser noch immer beinahe voll. »Sieht man schon, wie es das Potential meines Körpers zum Leben erweckt?«

Owen setzte seine Brille auf. »Du wirst etwas grün im Gesicht«, sagte er. »Aber das ist vielleicht nur ein Zwischenstadium.«

Zwei Monate später, als das Auswahltraining begann, sah Henry im Spiegel noch immer nicht wesentlich kräftiger aus, aber zumindest musste er sich nicht mehr übergeben, und die Gewichte, die er stemmte, waren nicht mehr ganz so klein. Er kam eine Stunde zu früh in den Umkleideraum. Zwei seiner potentiellen zukünftigen Teamkameraden waren auch schon da. Schwartz saß mit freiem Oberkörper über ein dickes Fachbuch gebeugt vor seinem Spind. In der Ecke stand, damit beschäftigt, Hosen auf einem Kleiderbügel glattzustreichen –

»Owen!« Henry war schockiert. »Was machst du denn hier?«

Owen sah ihn an, als wäre er komplett bescheuert. »Das Baseball-Auswahltraining fängt heute an.«

»Das weiß ich, aber –«

Coach Cox erschien im Türrahmen. Er war so groß wie Henry, hatte aber einen gewaltigen Brustkorb; mit seinem kräftigen eckigen Kiefer malmte er Kaugummi. Er trug eine Jogginghose und ein Westish-Baseball-Sweatshirt. »Schwartz«, sagte er barsch und strich sich über den gestutzten schwarzen Schnäuzer, »wie geht’s den Knien?«

»Nicht schlecht, Coach.« Schwartz stand auf und begrüßte Coach Cox mit einer Kombination aus Handschlag und Umarmung. »Ich würde Ihnen gern Henry Skrimshander vorstellen.«

»Skrimshander.« Coach Cox nickte, während er Henrys Hand schmerzhaft zusammenpresste. »Schwartz hat mir erzählt, du willst es tatsächlich mit Tennant aufnehmen.«

Lev Tennant, ein Student im vierten Jahr, war Stamm-Shortstop und zweiter Kapitän. Schwartz hatte Henry immer wieder gesagt, er könne Tennant fertigmachen – es war zu einer Art Mantra ihrer abendlichen Trainingseinheiten geworden. »Tennant!«, hatte Schwartz immer wieder gebrüllt, so über Henry gebeugt, dass sein Schweiß diesem in den offenen Mund tropfte, während er sich mit der Schädelspalterstange abquälte. »Mach Tennant fertig!«

Henry wusste nicht, wie Schwartz derart schwitzen konnte, wo er doch gar keine Gewichte stemmte, und ganz bestimmt wusste er auch nicht, wie er Tennant fertigmachen sollte. Er hatte gesehen, wie geschmeidig und haifischartig Tennant sich über den Campus bewegte und das Lächeln der Mädchen verschlang. »Ich werde mein Bestes tun, Sir«, sagte Henry.

»Das will ich dir auch geraten haben.« Coach Cox wandte sich an Owen und streckte die Hand aus. »Ron Cox.«

»Owen Dunne«, sagte Owen. »Right Fielder. Sie haben doch sicher nichts gegen einen Schwulen in Ihrem Team?«

»Das Einzige, wogegen ich etwas habe«, antwortete Coach Cox, »ist, dass Schwartz Football spielt. Das ist schlecht für seine Knie.«

Das Training würde im VAC stattfinden, zunächst aber schickte Coach Cox die versammelte Mannschaft hinaus in die Kälte. »Kleine Laufeinheit«, wies er sie an. »Einmal um den Leuchtturm und zurück.«