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Gibt es einen inneren Zwang zur Literatur? Unterscheiden sich die großen Bücher von allen übrigen dadurch, dass sie geschrieben werden mussten? In seinen Essays über Franz Kafka, Samuel Beckett, Paul Celan, Knut Hamsun und andere große Autoren des 20. Jahrhunderts ergründete Paul Auster die existentiellen Bedingungen des Schreibens. In seinen Studien wird deutlich, warum er als der europäischste unter den wichtigen amerikanischen Schriftstellern gilt. In vier ausführlichen Interviews gibt er zudem Auskunft über sein eigenes Werk und erzählt von der Notwendigkeit, die Grenze zwischen Schreiben und Leben aufzuheben.
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Seitenzahl: 340
Paul Auster
Die Kunst des Hungers
Essays und Interviews
Deutsch von Werner Schmitz
Rowohlt Digitalbuch
Wichtig scheint mir nicht so sehr, eine Kultur zu verteidigen, deren Vorhandensein noch nie einen Menschen vor dem Hungern bewahrt hat, als vielmehr aus dem, was man Kultur zu nennen pflegt, jene Ideen zu extrahieren, deren zwingende Kraft mit der des Hungers identisch ist.
Antonin Artaud
Ein junger Mann kommt in eine Stadt. Er hat keinen Namen, kein Zuhause, keine Arbeit: Er ist in die Stadt gekommen, um zu schreiben. Oder genauer: Er schreibt nicht, sondern hungert fast zu Tode.
Die Stadt heißt Christiania (Oslo); man schreibt das Jahr 1890. Der junge Mann streift durch die Straßen: Die Stadt ist ein Labyrinth des Hungers, und seine Tage sind einer wie der andere. Er schreibt unverlangte Artikel für eine Lokalzeitung. Er sorgt sich um die Miete, um seine zerfallenden Kleider, um die nächste Mahlzeit, die stets nur unter Schwierigkeiten zu erlangen ist. Er leidet. Er wird beinahe verrückt. Er befindet sich ständig am Rand des Zusammenbruchs.
Dennoch schreibt er. Ab und zu gelingt es ihm, einen Artikel zu verkaufen, zeitweilig eine Verschnaufpause in seinem Elend zu finden. Aber er ist zu geschwächt, um regelmäßig zu schreiben, und kann die Stücke, die er begonnen hat, nur selten beenden. Zu seinen gescheiterten Werken zählen ein Essay mit dem Titel «Verbrechen der Zukunft», ein philosophisches Traktat über die Willensfreiheit, eine Allegorie über einen Brand in einer Buchhandlung (Bücher sind Gehirne) und ein im Mittelalter angesiedeltes Schauspiel, «Das Zeichen des Kreuzes». Er befindet sich in einem unentrinnbaren Dilemma: Um zu schreiben, muss er essen. Wenn er nicht schreibt, hat er nichts zu essen. Und wenn er nichts zu essen hat, kann er nicht schreiben. Er kann nicht schreiben.
Er schreibt. Er schreibt nicht. Er streift durch die Straßen der Stadt. Er führt Selbstgespräche in der Öffentlichkeit. Die Menschen meiden ihn. Als er zufällig zu ein wenig Geld kommt, verschenkt er es. Er wird aus seinem Zimmer geworfen. Er isst etwas und erbricht es wieder. Einmal hat er einen kurzen Flirt mit einem Mädchen, doch ergibt sich daraus nichts als Demütigung. Er hungert. Er verflucht die Welt. Er stirbt nicht. Am Ende heuert er ohne ersichtlichen Grund auf einem Schiff an und verlässt die Stadt.
So weit das grobe Gerüst von Knut Hamsuns erstem Roman, Hunger. Es ist ein Werk ohne Plan, ohne Handlung und – vom Erzähler abgesehen – ohne Figuren. Nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts ist es ein Buch, in dem nichts geschieht. Die radikale Subjektivität des Erzählers ignoriert sämtliche Grundanliegen des traditionellen Romans. Als der Held in einem seiner Essays auf das Problem von Zeit und Raum stößt, beschließt er, einen «unsichtbaren Umweg» zu machen, und ganz ähnlich verzichtet Hamsun selbst auf die Einhaltung der historischen Zeit, des Grundordnungsprinzips der Literatur des 19. Jahrhunderts. Er berichtet nur von den schlimmsten Kämpfen seines Helden mit dem Hunger. Weniger problematische Epochen, in denen er den Hunger hat stillen können – manchmal eine ganze Woche lang –, werden mit wenigen Sätzen abgetan. Die historische Zeit wird zugunsten innerer Dauer aufgehoben. Mit seinem willkürlichen Anfang und ebenso willkürlichen Ende liefert der Roman eine treue Schilderung der Launen und Grillen des Erzählers: Jeder Gedanke wird von seinem geheimnisvollen Ursprung an durch alle Kehrtwendungen und Abschweifungen verfolgt, bis er schließlich verschwindet und der nächste Gedanke kommt. Was geschieht, darf geschehen.
Der Roman kann nicht einmal für sich beanspruchen, einen versöhnlichen gesellschaftlichen Wert zu besitzen. In Hunger wird uns das Elend schonungslos vorgeführt, aber das Buch bietet keinerlei Analyse dieses Elends und enthält erst recht keinen Aufruf zu politischem Handeln. Hamsun, der im Alter, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, zum Faschisten wurde, hat sich niemals mit dem Problem der Klassenunterschiede beschäftigt, und sein Erzählerheld ist wie Dostojewskis Raskolnikow nicht so sehr ein Benachteiligter als vielmehr ein Ungeheuer an intellektueller Arroganz. Mitleid kommt in Hunger nicht vor. Der Held leidet, aber nur, weil er selbst sich für das Leiden entschieden hat. Hamsun beherrscht die Kunst, beim Leser keinerlei Mitgefühl für seine Figur aufkommen zu lassen. Von Anfang an wird klargestellt, dass der Held eigentlich keinen Hunger leiden müsste. Es gibt Lösungen – wenn auch nicht in der Stadt, so doch zumindest außerhalb. Doch befeuert von einem zwanghaften, selbstmörderischen Stolz, verrät die Handlungsweise des jungen Mannes eine nie schwankende Verachtung seiner eigenen Interessen.
Ich begann zu laufen, um mich zu bestrafen, legte springend eine Straße nach der anderen zurück, trieb mich mit verbissenen Zurufen vorwärts und schrie mir innerlich stumm und wütend zu, wenn ich anhalten wollte. Auf diese Weise war ich weit hinauf in den Pielestraede gekommen. Als ich endlich stillstand, beinahe losheulend vor Zorn, weil ich nicht länger laufen konnte, bebte ich am ganzen Körper, und ich warf mich auf eine Treppe hin. Nein, halt!, sagte ich. Und um mich richtig zu quälen, stand ich wieder auf und zwang mich stehen zu bleiben, und lachte über mich selbst und ergötzte mich an meiner eigenen Verkommenheit. Endlich, nach Verlauf mehrerer Minuten, gab ich mir durch ein Nicken Erlaubnis, mich zu setzen; aber auch da wählte ich mir noch den unbequemsten Platz auf der Treppe.[1]
Er wendet sich dem zu, was in ihm selbst am problematischsten ist, sucht Schmerz und Not, wie andere Menschen Vergnügen suchen. Er hungert, nicht weil er muss, sondern aus einem inneren Drang heraus, so als träte er gegen sich selbst in Hungerstreik. Noch bevor das Buch beginnt und der Leser zum privilegierten Zeugen seines Schicksals wird, ist der Weg des Helden festgelegt. Es ist bereits ein Prozess in Gang, welcher der Kontrolle des Helden entzogen ist, was aber nicht bedeutet, dass er sich seines Handelns nicht bewusst wäre.
… ich bin mir vollkommen bewusst, dass ich Einflüssen unterliege, über die ich nicht Herr bin … Trotz meiner Entfremdung von mir selbst in diesem Augenblick, und obwohl ich nichts anderes war als ein Schlachtfeld für unsichtbare Mächte, war ich mir der Vorgänge um mich her in jeder Einzelheit bewusst.
Nachdem er sich in nahezu vollständige Einsamkeit zurückgezogen hat, ist er ebenso Subjekt wie Objekt seines eigenen Experiments. Hunger ist das Mittel, das diese Spaltung bewirkt, sozusagen der Katalysator eines veränderten Bewusstseins.
Ich hatte sehr deutlich bemerkt, dass wenn mein Hunger ein wenig zu lange dauerte, es jedes Mal so war, als ob mir das Gehirn aus dem Kopf laufe. Mein Kopf wurde ganz leicht. Ich konnte sein Gewicht nicht mehr auf meinen Schultern spüren.
Es ist ein Experiment, freilich keines nach der wissenschaftlichen Methode. Es gibt keine Kontrollen, keine festen Bezugspunkte – nur Variablen. Auch lässt sich diese Trennung von Geist und Körper nicht auf eine philosophische Abstraktion reduzieren. Wir befinden uns hier keineswegs im Reich der Ideen. Nein, dies ist ein körperlicher Zustand, hervorgerufen von einem Zustand äußerster Not. Geist und Körper sind geschwächt; der Held hat die Kontrolle über seine Gedanken und seine Handlungen verloren. Und doch versucht er hartnäckig weiter, sein Schicksal zu kontrollieren. Das ist das Paradoxe, das Spiel mit dem Zirkelschluss, das auf den Seiten dieses Buches durchgespielt wird. Der Held steckt in einer unmöglichen Situation. Er hat sich vorsätzlich in Gefahr begeben. Wenn er das Hungern aufgäbe, wäre das kein Sieg, sondern bloß das Ende des Spiels. Er will überleben, aber nur zu seinen Bedingungen: Er sucht ein Überleben, das ihn vor das Angesicht des Todes führen soll.
Er fastet. Freilich nicht so, wie ein Christ das tun würde. Er verzichtet nicht auf das irdische Leben, um das himmlische vorwegzunehmen; er weigert sich einfach, das Leben zu leben, das ihm gegeben wurde. Und je weiter er sein Fasten treibt, desto stärker drängt sich der Tod in sein Leben. Er nähert sich dem Tod, kriecht an den Rand des Abgrunds, und dort angekommen, klammert er sich daran fest; er kann weder vor noch zurück. Der Hunger, der die Leere aufreißt, hat nicht die Macht, sie zu verschließen. Ein kurzer Augenblick Pascal’schen Schreckens ist zu einem dauerhaften Zustand geworden.
Sein Fasten birgt demnach einen Widerspruch. Darin zu verharren, würde in den Tod führen, und der Tod würde das Ende des Fastens bedeuten. Folglich muss er, wenn auch nur einen Schritt vom Tod entfernt, am Leben bleiben. Um sich die ständige Möglichkeit des Endes zu bewahren, widersteht er der Versuchung, seinem Leben ein Ende zu machen. Weil sein Fasten weder ein Ziel postuliert noch irgendeine Erlösungsverheißung bietet, muss der inhärente Widerspruch ungelöst bleiben. Als solches ist es ein Bild der Verzweiflung, erzeugt von der gleichen selbst verzehrenden Leidenschaft wie die Krankheit zum Tode. Die Seele strebt in ihrer Verzweiflung danach, sich selbst zu verschlingen, und da sie das nicht kann – und zwar genau deshalb, weil sie verzweifelt ist –, versinkt sie noch tiefer in Verzweiflung.
Im Gegensatz zu religiöser Kunst, in der Selbsterniedrigung eine letztlich läuternde Rolle spielen kann (wie etwa in der meditativen Poesie des 17. Jahrhunderts), simuliert der Hunger lediglich die Dialektik der Erlösung. In seinem Gedicht «In den Tiefen meiner Sündigkeit» blickt Fulke Greville in einen «unheilvollen Spiegel des Übergangs», der «den Menschen als Frucht seiner Entartung zeigt», aber er weiß, dies ist nur der erste Schritt in einem zweifachen Prozess, denn in diesem Spiegel offenbart sich Christus, der «für dieselben Sünden gestorben / Und gekommen ist, mich aus der Hölle, die ich fürchte, zu befreien …» In Hamsuns Roman hingegen bleibt, nachdem die Tiefen ausgelotet wurden, der Spiegel der Meditation leer.
Der junge Mann bleibt ganz unten, und kein Gott wird kommen, ihn zu befreien. Er kann sich nicht einmal auf die Stützen der gesellschaftlichen Konventionen verlassen. Er hat keine Wurzeln, keine Freunde, selbst Gegenstände fehlen ihm. Es gibt für ihn keine Ordnung mehr; alles ist nur noch dem Zufall preisgegeben. Sein Handeln ist ausschließlich von Launen und unbändigen Zwängen bestimmt, von der endlosen Frustration anarchischer Unzufriedenheit. Er versetzt seine Weste, um einem Bettler ein Almosen zu geben, mietet eine Kutsche, um einen fiktiven Bekannten aufzusuchen, klopft bei Fremden an die Türen und fragt mehrmals Polizisten nach der Uhrzeit, einfach weil es ihm gerade in den Sinn kommt. Er hat jedoch kein wahres Vergnügen an solchem Tun. All das bleibt für ihn zutiefst beunruhigend. Während er einerseits wütend versucht, sein Leben zu stabilisieren, seinem Umherstreifen ein Ende zu machen, ein Zimmer zu finden und endlich wieder zu schreiben, wird ihm dies gerade von seinem Fasten unmöglich gemacht. Hat der Hunger einmal angefangen, gibt er sein Opfer erst wieder frei, wenn er ihm eine unauslöschliche Lektion erteilt hat. Der Held wird gegen seinen Willen von einer selbst herbeigerufenen Macht gefangen gehalten und ist gezwungen, sich ihren Forderungen zu beugen.
Er verliert alles – sogar sich selbst. Am Grund einer gottlosen Hölle verschwindet die Identität. Es ist kein Zufall, dass Hamsuns Held keinen Namen hat: Er wird im Lauf der Zeit buchstäblich seiner selbst beraubt. Die Namen, mit denen er sich behängt, sind alle frei erfunden, wie sie ihm gerade einfallen. Er kann nicht sagen, wer er ist, weil er es nicht weiß. Sein Name ist eine Lüge, und mit dieser Lüge verschwindet die Wirklichkeit der Welt.
Er späht in die Dunkelheit, in die ihn der Hunger getaucht hat, und findet dort ein sprachliches Vakuum. Die Wirklichkeit ist für ihn zu einem Wirrwarr dingloser Namen und namenloser Dinge geworden. Der Zusammenhang zwischen Ich und Welt ist zerrissen.
Eine Zeitlang blieb ich liegen und sah in die Finsternis, in diese dicke Massenfinsternis, die keinen Boden hatte, die ich nicht begreifen konnte. Meine Gedanken konnten sie nicht erfassen. Sie schien mir über alle Maßen dunkel, und ich fühlte mich durch ihre Nähe bedrückt. Ich schloss die Augen, begann halblaut zu singen und warf mich auf die Pritsche, um mich zu zerstreuen; aber ohne Erfolg. Die Dunkelheit hatte mein Denken ergriffen und ließ mich keinen Augenblick in Frieden. Wie, wenn ich selbst in Dunkelheit aufgelöst und eins mit ihr würde?
Genau in dem Augenblick, da er die größte Angst empfindet, sich selbst zu verlieren, stellt er sich plötzlich vor, er habe ein neues Wort erfunden: Kuboaa – ein Wort, das es in keiner Sprache gibt, ein Wort ohne Bedeutung.
Ich war in den frohen Wahnwitz des Hungers verfallen, war leer und schmerzfrei, und meine Gedanken waren ohne Zügel.
Er versucht sich eine Bedeutung für sein Wort auszudenken, findet aber nur heraus, was es nicht bedeutet; «Gott», «Tivoli», «Tierschau», «Anhängeschloss», «Sonnenaufgang», «Auswanderung», «Tabakfabrik», «Strickgarn» – all das bedeutet es nicht.
Nein, eigentlich war das Wort geeignet, etwas Seelisches zu bedeuten, ein Gefühl, einen Zustand – ob ich das nicht begreifen könne? Und ich besinne mich auf etwas Seelisches.
Aber das gelingt ihm nicht. Stimmen, nicht seine eigene, mischen sich ein, verwirren ihn, und er sinkt nur noch tiefer ins Chaos. Nach einem schlimmen Anfall, in dem er zu sterben glaubt, wird alles still, und er hört nur noch seine eigene Stimme, die ihm von der Wand entgegenschallt.
Diese Episode ist wohl die schmerzlichste des ganzen Buches. Sie ist jedoch nur eines von vielen Beispielen für die Sprachkrankheit des Helden. Seine Streiche nehmen immer wieder die Form von Lügen an. Als er bei einem Pfandleiher seinen verlorenen Bleistift wiederfindet (er hatte ihn versehentlich in der Tasche der versetzten Weste gelassen), erzählt er dem Mann, mit just diesem Stift habe er seine dreibändige Abhandlung über die Philosophische Erkenntnis geschrieben. Ein unscheinbarer Bleistift, gibt er zu, aber er sei ihm nun einmal sehr ans Herz gewachsen. Einem alten Mann auf einer Parkbank erzählt er die phantastische Geschichte eines Herrn Happolati, der angeblich das elektrische Gebetbuch erfunden habe. Als er in einen Laden geht und bittet, man möge ihm seine letzte Habe einpacken, eine zerlumpte grüne Decke, für die er sich schämt und die er nicht in der Öffentlichkeit herumtragen will, behauptet er, dass er eigentlich nicht die Decke eingepackt haben möchte, sondern die zwei kostbaren Vasen, die er in die Decke gewickelt habe. Nicht einmal das Mädchen, dem er den Hof macht, ist vor solchen Erfindungen sicher. Er denkt sich einen Namen für sie aus, einen Namen, der ihm ob seiner Schönheit gefällt, und weigert sich fortan, sie mit irgendetwas anderem anzureden.
Diese Lügen haben eine Bedeutung über den augenblicklichen Scherz hinaus. Im Reich der Sprache verhält sich die Lüge zur Wahrheit, wie sich im Reich der Moral das Böse zum Guten verhält. So ist die allgemeine Übereinkunft, und wenn wir daran glauben, funktioniert sie auch. Doch Hamsuns Held glaubt an gar nichts mehr. Lügen und Wahrheiten sind für ihn ein und dasselbe. Der Hunger hat ihn ins Dunkel geführt, und einen Rückweg gibt es nicht.
Diese Gleichung von Sprache und Moral wird zum Angelpunkt der letzten Episode des Buches.
Meine Gedanken wurden klar, ich verstand, dass ich im Begriff war, mich aufzulösen. Ich hielt die Hände vor und stieß mich von der Mauer ab; die Straße tanzte immer noch um mich. Vor Wut begann ich zu schluchzen, und ich stritt aus innerster Seele mit meiner Schwäche, hielt tapfer stand, um nicht umzufallen; ich wollte nicht zusammensinken, ich wollte stehend sterben. Ein Lastkarren rollt langsam vorbei, und ich sehe, dass Kartoffeln auf dem Karren liegen, aber aus Wut, aus Halsstarrigkeit, behaupte ich, dass es durchaus nicht Kartoffeln seien, sondern Kohlköpfe, und ich schwor grausam darauf, dass es Kohlköpfe wären. Ich hörte gut, was ich sagte, und bewusst beschwor ich immer wieder diese Lüge, nur um die angenehme Befriedigung zu haben, dass ich einen groben Meineid begehe. Ich berauschte mich an dieser beispiellosen Sünde, ich streckte meine drei Finger in die Luft und schwor mit zitternden Lippen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, dass es Kohlköpfe seien.
Und das ist das Ende. Dem Helden bleiben jetzt nur noch zwei Möglichkeiten: leben oder sterben. Und er entscheidet sich für das Leben. Er hat nein zur Gesellschaft gesagt, nein zu Gott, nein zu seinen eigenen Worten. Später an diesem Tag verlässt er die Stadt. Es gibt keinen Grund mehr, das Fasten fortzusetzen. Es hat sein Werk getan.
Hunger: oder ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Doch hat diese Lehrzeit wenig gemein mit den frühen Kämpfen anderer Schriftsteller. Hamsuns Held ist kein Stephen Dedalus, und von ästhetischer Theorie findet sich in Hunger kaum ein Wort. Die Welt der Kunst ist in die Welt des Körpers übertragen worden – ohne Rücksicht auf den ursprünglichen Text. Hunger ist keine Metapher, sondern buchstäblich der Kern des Problems selbst. Während andere, wie Rimbaud mit seinem Programm für die freiwillige Verstörung der Sinne, den Körper zum ästhetischen Prinzip erhoben haben, verwirft Hamsuns Held standhaft die Möglichkeit, seine Schwächen zum eigenen Vorteil zu nutzen. Er ist schwach, er hat die Kontrolle über seine Gedanken verloren, und dennoch strebt er in seinem Schreiben weiterhin nach Klarheit. Aber der Hunger beeinflusst seine Prosa ebenso, wie er sein Leben beeinflusst. Er ist bereit, alles für seine Kunst zu opfern, sich den schlimmsten Erniedrigungen und der größten Not zu unterwerfen, doch hat all das nur zur Folge, dass ihm das Schreiben vollkommen unmöglich wird. Es hilft alles nichts, mit leerem Magen kann man nicht schreiben. Es wäre freilich ein Fehler, den Helden von Hunger als einen Narren oder Verrückten abzutun. Der Augenschein trügt: Der Mann weiß genau, was er tut. Er sucht nicht den Erfolg. Er sucht das Scheitern.
Hier geschieht etwas Neues; in Hunger wird ein neuer Gedanke über das Wesen der Kunst vorgetragen. Zunächst einmal geht es um eine Kunst, die vom Leben des Künstlers nicht zu unterscheiden ist. Und es ist hier nicht die Rede von einer Kunst des autobiographischen Exzesses, sondern vielmehr von einer Kunst, die der unmittelbare Ausdruck der Bemühung ist, sich selbst auszudrücken. Mit anderen Worten, es geht um eine Kunst des Hungerns: eine Kunst der Not, des Mangels, des Verlangens. Gewissheit weicht Zweifeln, der Vorgang selbst wird wichtiger als die Form. Ordnung lässt sich hierbei nicht erzwingen, und doch besteht mehr denn je die Verpflichtung, Klarheit zu erreichen. Eine solche Kunst beginnt mit dem Wissen, dass es keine richtigen Antworten gibt. Und deshalb kommt man nicht daran vorbei, die richtigen Fragen zu stellen. Man findet sie, indem man sie lebt. Um Samuel Beckett zu zitieren:
Ich will damit nicht sagen, dass es künftig keine Form mehr in der Kunst geben wird. Es wird lediglich eine neue Form geben, und diese Form wird das Chaos zulassen und nicht die Behauptung aufstellen, dass das Chaos in Wirklichkeit etwas anderes sei … Eine Form zu finden, die sich dem Chaos anpasst, das ist die Aufgabe des modernen Künstlers.[2]
Hamsun gibt das Porträt dieses Künstlers in den ersten Stadien seiner Entwicklung. Doch erst in Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler wird die Ästhetik des Hungers bis ins Tiefste ausgelotet. Hier werden die Widersprüchlichkeiten des Fastens, wie Hamsuns Held es betreibt – und auch die künstlerische Sackgasse, in die es führt –, zu einer Parabel von einem Künstler gefügt, dessen Kunst das Fasten selbst ist. Der Hungerkünstler ist Künstler und Nichtkünstler zugleich. Er möchte zwar, dass seine Vorstellungen bewundert werden, besteht aber darauf, dass sie nicht bewundert werden sollen, weil sie nichts mit Kunst zu tun haben. Er hat sich allein deswegen zum Fasten entschlossen, weil er niemals etwas zu essen finden konnte, was ihm schmeckte. Seine Vorstellungen sind daher keine Spektakel zur Unterhaltung anderer, sondern sie stellen Versuche dar, eine intime Verzweiflung zu entwirren, und Zuschauer werden dabei lediglich geduldet.
Wie Hamsuns Held hat der Hungerkünstler die Kontrolle über sich verloren. Abgesehen davon, dass er in seinem Käfig wie auf einer Theaterbühne sitzt, unterscheidet sich seine Kunst in keiner Weise von seinem Leben, nicht einmal von dem Leben, das er geführt hätte, wenn er kein Darsteller geworden wäre. Es geht ihm nicht darum, irgendjemanden zufrieden zu stellen. Tatsächlich können seine Vorstellungen nicht einmal verstanden oder irgendwie beurteilt werden.
Niemand war ja imstande, alle die Tage und Nächte beim Hungerkünstler ununterbrochen als Wächter zu verbringen, niemand also konnte aus eigener Anschauung wissen, ob wirklich ununterbrochen, fehlerlos gehungert worden war; nur der Hungerkünstler selbst konnte das wissen, nur er also gleichzeitig der von seinem Hungern vollkommen befriedigte Zuschauer sein.
Dies ist jedoch nicht die klassische Geschichte vom missverstandenen Künstler. Denn das Wesen des Fastens selbst widersetzt sich dem Verständnis. Es weiß von Anfang an um seine Unmöglichkeit und verurteilt sich zum sicheren Scheitern, und so ist es ein Vorgang, der sich asymptotisch dem Tode nähert und von vornherein weder Erfüllung noch Vernichtung erreichen kann. In Kafkas Erzählung stirbt der Hungerkünstler, allerdings nur, weil er seiner Kunst entsagt und nichts mehr von den Beschränkungen wissen will, die ihm sein Impresario auferlegt hatte. Der Hungerkünstler geht zu weit. Aber dies ist das Risiko, die Gefahr jedes künstlerischen Handelns: Man muss bereit sein, sein Leben hinzugeben.
Letztlich kann man die Kunst des Hungerns als existentielle Kunst bezeichnen. Es ist eine Möglichkeit, dem Tod ins Auge zu sehen, und unter Tod verstehe ich den Tod, wie wir ihn heutzutage leben: ohne Gott, ohne Hoffnung auf Erlösung. Der Tod als das abrupte und absurde Ende des Lebens.
Ich glaube nicht, dass wir heute sehr viel weiter sind. Es ist sogar möglich, dass wir viel länger hier verweilt haben, als wir bereit sind zuzugeben. Und doch haben in all dieser Zeit nur wenige Künstler dies erkennen können. Es braucht Mut dazu, und nicht viele von uns wären bereit, alles für nichts zu riskieren. Genau dies aber geschieht in Hunger, einem Roman aus dem Jahre 1890. Hamsuns Figur befreit sich systematisch von jedem Glauben an jedes System, und am Ende steht er mittels des Hungers, den er sich selbst auferlegt hat, vor dem Nichts. Es gibt nichts mehr, das ihm Anlass geben könnte, weiterzugehen – und doch geht er weiter. Er geht direkt ins 20. Jahrhundert hinein.
1970
am 50. Jahrestag seines Todes
Er wandert zum Gelobten Land. Soll heißen: Er bewegt sich von einem Ort zum andern und träumt dabei unablässig, einmal haltmachen zu können. Und gerade weil das Verlangen, einmal haltzumachen, ihn so verfolgt und ihm das Wichtigste ist, bleibt er niemals stehen. Er wandert. Soll heißen: ohne die geringste Hoffnung, jemals irgendwo anzukommen.
Er kommt niemals irgendwo an. Und doch geht er immer weiter. Für sich selbst unsichtbar, überlässt er sich dem Treiben seines Körpers, als ob er so der Spur dessen folgen könnte, was ihn zu führen sich weigert. Und in der Blindheit des Weges, den er unwillentlich, unwillkürlich eingeschlagen hat, dieses Weges mit all seinen Windungen, Abschweifungen und Sackgassen, hat sein Gehen selbst, stets einen Schritt vor dem Nirgendwo, die Straße erfunden, die er bewandert. Es ist seine Straße und seine allein. Dennoch ist er auf dieser Straße niemals frei. Denn alles, was er hinter sich gelassen hat, fesselt ihn noch immer an seinen Ausgangspunkt, erfüllt ihn mit Bedauern, dass er je den ersten Schritt getan hat, beraubt ihn allen Glaubens an die Berechtigung seines Aufbruchs. Und je weiter er sich von seinem Ausgangspunkt entfernt, desto größer werden seine Zweifel. Seine Zweifel begleiten ihn, wie der Atem ihn begleitet, der Atem zwischen den einzelnen Schritten – stoßweise, bedrückend –, sodass an echten Rhythmus, an einheitliches Tempo nicht zu denken ist. Und je weiter ihn seine Zweifel begleiten, desto näher fühlt er sich dem Ursprung dieser Zweifel, und es kommt so weit, dass er schließlich dank der schieren Entfernung zwischen sich selbst und dem, was er hinter sich gelassen hat, zu erkennen vermag, was da hinter ihm liegt: Was er nicht ist und was er hätte sein können. Aber dieser Gedanke bringt ihm weder Trost noch Hoffnung. Denn immer bleibt die Tatsache, dass er all dies hinter sich gelassen hat, dass er in all diesen Dingen, die nun der Abwesenheit, der von Abwesenheit gezeugten Sehnsucht ausgeliefert sind, einmal sich selbst hätte finden können, dass er sich selbst hätte verwirklichen können, wäre er nur dem einen Gesetz gefolgt, das ihm auferlegt war: zu bleiben, und das er mit seinem Fortgehen gebrochen hat.
All dies verschwört sich gegen ihn, sodass er in jedem Augenblick, bei jedem Schritt auf seinem Weg das Gefühl hat, er müsse den Blick abwenden von der Ferne, die wie ein Köder vor ihm liegt, und sich auf seine Füße konzentrieren, die unter ihm auftauchen und verschwinden, auf die Straße selbst, den Staub, die Steine, das Geräusch seiner Schritte, und er unterwirft sich diesem Gefühl wie einer Strafe, und so wird er, der sich mit der Ferne vor ihm hätte vermählen können, unwillentlich, unwillkürlich, zum intimen Kenner all dessen, was in seiner Nähe ist. Bei allem, was er anfassen kann, verweilt er, untersucht es, beschreibt es mit einer Geduld, die ihn in jedem Augenblick erschöpft und überwältigt, sodass er selbst noch im Weitergehen dieses sein Gehen und jeden einzelnen seiner Schritte in Zweifel zieht. Er, der für eine Begegnung mit dem Unsichtbaren lebt, wird zum Werkzeug des Sichtbaren: Er, der in den Tiefen der Erde wühlte, wird zum Sprecher ihrer Oberfläche, zum Vermesser ihrer Schatten.
Was immer er nun tut, geschieht allein zu dem Zweck, sich selbst zu zerrütten, seine Kraft zu untergraben. Wenn es darum geht, weiterzugehen, wird er alles daransetzen, nicht weiterzugehen. Und doch geht er weiter. Denn mag er sich auch aufhalten, ist er doch nicht imstande, Wurzeln zu schlagen. Kein Verweilen beschwört einen Ort. Aber auch dies ist ihm bewusst. Denn was er will, ist das, was er nicht will. Und falls seine Reise irgendein Ziel hat, dann nur dieses, dass er sich am Ende dort wiederfindet, wo er angefangen hat.
Er wandert. Auf einer Straße, die keine Straße ist, auf einer Erde, die nicht seine Erde ist, ein Verbannter in seinem eigenen Körper. Was ihm gereicht wird, schlägt er aus. Was vor ihm ausgebreitet wird, sieht er nicht an. Er verweigert alles, um desto heftiger nach dem zu hungern, was er sich selbst verweigert. Denn der Eintritt ins Gelobte Land ist die Hoffnungslosigkeit, ihm je auch nur nahe zu kommen. Und daher hält er alles von sich fern, auf Armeslänge, auf Lebenslänge, und kommt dem Eintritt am nächsten, wenn er seinem Ziel am fernsten ist. Dennoch geht er weiter. Und von einem Schritt zum anderen findet er immer nur sich selbst. Nicht einmal sich selbst, sondern bloß den Schatten dessen, was aus ihm werden wird. Denn im geringsten Stein, den er berührt, erkennt er ein Bruchstück des Gelobten Landes. Nicht einmal des Gelobten Landes, sondern bloß seines Schattens. Und zwischen Schatten und Schatten ist Licht. Und nicht irgendein Licht, sondern dieses Licht, das Licht, das unaufhörlich in ihm heller wird, während er seines Weges zieht.
1974
Im Vorwort zu seinem Roman Le Bleu du Ciel macht Georges Bataille eine wichtige Unterscheidung zwischen Büchern, die als Experiment geschrieben werden, und solchen, die aus Notwendigkeit entstehen. Literatur, erklärt Bataille, ist eine im Wesentlichen zerstörerische Kraft, ein Phänomen, dem mit «Furcht und Zittern» begegnet wird und das uns die Wahrheit des Lebens und seiner exzessiven Möglichkeiten enthüllen kann. Literatur ist kein Kontinuum, sondern eine Kette von Verwerfungen, und die Bücher, die uns am meisten bedeuten, sind in der Regel die, die sich im Widerspruch zu jenem Begriff von Literatur befinden, der zur Zeit ihrer Entstehung geherrscht hat. Bataille spricht von einem «Moment der Raserei» als dem Zündfunken aller großen Werke: Dieser Moment lässt sich nicht bewusst herbeiführen, und sein Ursprung ist immer außerliterarisch. «Wie können wir», fragt er, «bei einem Buch ausharren, von dem wir spüren, dass sein Autor nicht gezwungen war, es zu schreiben?» Bewusstes Experimentieren ist im Allgemeinen das Ergebnis einer echten Sehnsucht, die Grenzen der literarischen Konvention niederzureißen. Aber die meisten Werke der Avantgarde haben keine Überlebenschance; sie bleiben, ob sie wollen oder nicht, Gefangene eben der Konventionen, die sie zu zerstören trachten. Die Dichtung des Futurismus zum Beispiel, die ihrerzeit für solches Aufsehen gesorgt hat, wird heutzutage praktisch nicht mehr gelesen, allenfalls noch von Studenten und Professoren, die sich mit dieser Epoche beschäftigen. Andererseits sind gewisse Autoren, die im literarischen Leben ihrer Zeit keine oder nur eine kleine Rolle gespielt haben – Kafka zum Beispiel –, nach und nach als zentrale Gestalten anerkannt worden. Ein Buch, das unseren Sinn für Literatur wieder belebt, das unser Gefühl für die Möglichkeiten der Literatur erneuert, verändert unser Leben. Wir können kaum glauben, dass es so etwas gibt, es scheint wie aus dem Nichts gekommen, und da es so rücksichtslos außerhalb aller Normen steht, bleibt uns nur übrig, eine neue Kategorie dafür zu ersinnen.
Le Schizo et les Langues von Louis Wolfson (erschienen 1971) ist ein solches Buch. Es ist nicht nur überaus eigenartig, sondern auch vollkommen anders als alles früher Dagewesene. Es reicht nicht zu behaupten, es stünde in den Randbezirken der Literatur: Streng genommen steht es in den Randbezirken der Sprache selbst. Von einem Amerikaner auf Französisch geschrieben, lässt sich ihm nur ein Sinn abgewinnen, wenn man es als amerikanisches Buch betrachtet: Allerdings ist es aus Gründen, die noch darzulegen sind, ein Buch, bei dem an eine Übersetzung überhaupt nicht zu denken ist. Es befindet sich in der Schwebe zwischen den beiden Sprachen, und nichts wird es jemals aus diesem prekären Zustand befreien können. Denn wir haben es hier nicht einfach mit einem Schriftsteller zu tun, der aus freien Stücken in einer fremden Sprache schreibt. Der Autor dieses Buches hat auf Französisch geschrieben, weil er gar keine andere Wahl hatte. Die schiere Notwendigkeit hat ihn dazu getrieben, und das Buch selbst ist nichts Geringeres als das Ergebnis eines Kampfes ums Überleben.
Louis Wolfson ist schizophren. Er wurde 1931 geboren und lebt in New York. Mangels einer besseren Kategorie würde ich sein Buch als Autobiographie in der dritten Person bezeichnen, als Erinnerungen aus der Gegenwart, in denen er von den Umständen seiner Krankheit und der höchst bizarren Methode berichtet, die er entwickelt hat, um damit zurechtzukommen. Indem er sich als «schizophrenen Erforscher von Sprachen», als «geistig kranken Forscher», als «schwachsinnigen Erforscher von Idiomen» betitelt, verwendet Wolfson einen Erzählstil, in dem Elemente aus klinischem Report und phantasiereicher Dichtung gleichermaßen zur Geltung kommen. Nirgends in dem Text finden sich auch nur die kleinsten Spuren von Wahnsinn oder «Verrücktheit»: Ein Satz wie der andere ist präzise, freimütig und sachlich formuliert. Je tiefer wir bei der Lektüre ins Labyrinth der Obsessionen des Autors eindringen, desto intensiver fühlen wir mit ihm, und schließlich identifizieren wir uns mit ihm nicht anders als mit den Verschrobenheiten und Seelenqualen eines Kirilow oder Molloy.
Wolfsons Problem ist die englische Sprache, die für ihn unerträglich qualvoll geworden ist und die er weder sprechen noch hören möchte. Zehn Jahre lang ist er in Nervenheilanstalten ein und aus gegangen, hat standhaft jede Zusammenarbeit mit den Ärzten verweigert, und jetzt, als er dieses Buch schreibt (Ende der sechziger Jahre), lebt er bei Mutter und Stiefvater in deren beengter ärmlicher Wohnung. Tag für Tag sitzt er am Schreibtisch, beschäftigt sich mit Fremdsprachen – in der Hauptsache Französisch, Deutsch, Russisch und Hebräisch – und schützt sich vor etwaigen Attacken des Englischen, indem er sich die Finger in die Ohren steckt oder über Kopfhörer in seinem Transistorradio fremdsprachigen Sendern lauscht; oder er verwendet eine Kombination dieser beiden Methoden, den Finger in einem Ohr, eine Kopfhörerhälfte am anderen. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen kann er die Invasion des Englischen jedoch nicht immer abwehren – wenn zum Beispiel seine Mutter ins Zimmer platzt und ihm mit ihrer schrillen lauten Stimme etwas zuschreit. Dem Forscher wird klar, dass er das Englische nicht einfach vertreiben kann, indem er es in eine andere Sprache übersetzt. Es ändert nichts an einem englischen Wort, wenn er es in dessen fremdsprachiges Äquivalent umwandelt; damit ist das Wort nicht zerstört, sondern nur beiseitegeschoben. Es ist immer noch da und bedroht ihn.
Das System, das er als Reaktion auf dieses Problem entwickelt, ist komplex, doch kann man ihm, wenn man sich einmal damit vertraut gemacht hat, ohne Mühe folgen; denn es gründet ja auf einer Reihe in sich konsistenter Regeln. Die Sprachen, die Wolfson gelernt hat, versetzen ihn in die Lage, englische Wörter und Sätze in phonetische Kombinationen von fremden Buchstaben, Silben und Wörtern zu verwandeln, die neue linguistische Gebilde formen, und die ähneln dem Englischen nicht nur von der Bedeutung, sondern auch vom Klang her. Seine Schilderungen dieser Wortakrobatik sind sehr detailliert – oft bis zu zehn Seiten lang –, aber vielleicht kann das Endresultat eines der einfacheren Beispiele eine Vorstellung von der Methode vermitteln. Der Satz «Don’t trip over the wire!» wird auf folgende Weise verändert: «Don’t» wird zum deutschen «Tu’ nicht», «trip» wird zu den ersten vier Buchstaben des französischen «trébucher», «over» wird das deutsche «über», «the» wird das hebräische «èth hé», und «wire» wird zum deutschen «Zwirn», dessen mittlere drei Buchstaben mit den ersten drei Buchstaben des englischen Wortes übereinstimmen: «Tu’ nicht tréb über èth hé zwirn.» Am Ende dieses Passus schreibt Wolfson, erschöpft, aber zufrieden mit seinen Bemühungen: «Wenn auch der Schizophrene kein Gefühl der Freude empfand, an diesem Tag diese fremden Wörter zum Auslöschen einiger weiterer Wörter seiner Muttersprache gefunden zu haben (denn vielleicht war er ja einer solchen Gefühlsregung gar nicht fähig), so hat er sich doch gewiss viel weniger elend gefühlt als sonst immer, zumindest für eine Weile.»
Das Buch ist freilich weit mehr als bloß ein Katalog solcher Umwandlungen. Zwar stehen sie im Zentrum des Werkes und bezeichnen in gewissem Sinn seinen Zweck, aber der wahre Gehalt liegt anderswo: in den menschlichen Situationen und Alltagsszenen, innerhalb derer sich Wolfsons intensive Beschäftigung mit Sprache abspielt. Es gibt wohl wenige Bücher, die ein so unmittelbares Gefühl von dem vermitteln, was es heißt, in New York zu leben und durch die Straßen dieser Stadt zu gehen. Wolfsons Blick fürs Detail ist peinigend genau, und jede Nuance seiner Beobachtungen – sei es die gefängnishafte Atmosphäre des Lesesaals der Bücherei in der 42. Straße, der Albtraum einer Highschool-Tanzveranstaltung, die Prostitution am Times Square oder ein Gespräch mit seinem Vater auf einer Parkbank – wird mit Aufmerksamkeit und Autorität dargestellt. Unablässig ist eine seltsame Tendenz zur Objektivierung am Werk, und ein Großteil der Faszination dieser Prosa ist das Ergebnis dieses Distanznehmens, das den Leser wie ein Köder immer stärker hinzieht zu dem, was da geschrieben steht. Indem er von sich selbst in der dritten Person spricht, kann Wolfson zwischen sich und sich einen freien Raum erschaffen und so sich selbst von seiner Existenz überzeugen. Der französischen Sprache kommt im Wesentlichen die gleiche Funktion zu. Er betrachtet seine Welt durch eine andere Linse, er verschiebt seine – ins Englische eingemauerte – Welt durch Wortspiele in eine andere Sprache, und so kann er sie mit neuen Augen und auf eine Weise, die für ihn weniger bedrückend ist, sehen, als ob er wenigstens ein kleines bisschen Einfluss darauf nehmen könnte.
Seine evokativen Fähigkeiten sind phantastisch, und mit seinem tonlosen, trockenen Stil gelingt ihm eine Schilderung des Lebens unter den armen Juden, die so schauderhaft komisch und lebendig ist, dass sie jedem Vergleich mit den Anfangsszenen von Celines Tod auf Kredit standhält. Es scheint außer Frage zu stehen, dass Wolfson weiß, was er tut. Seine Ziele sind nicht ästhetischer Natur, doch hat er mit seiner beharrlichen Entschlossenheit, alles aufzuzeichnen und die Tatsachen so genau wie möglich festzuhalten, die wahre Absurdität seiner Situation entlarvt, einer Situation, auf die er häufig genug mit ironischem Sinn für Distanz und Launigkeit zu reagieren weiß.
Seine Eltern ließen sich scheiden, als er vier oder fünf Jahre alt war. Sein Vater hat den größten Teil seines Lebens am Rand der Welt verbracht: ein Arbeitsloser, der in billigen Hotels wohnte und seine Tage Zigarren rauchend in Selbstbedienungsrestaurants verbrachte. Er behauptet, bei der Eheschließung habe er «die Katze im Sack gekauft», denn erst hinterher habe er erfahren, dass seine Frau ein Glasauge hatte. Als sie schließlich erneut heiratete, verschwand ihr zweiter Mann bald nach der Hochzeit und ließ ihren Diamantring mitgehen – sie spürte ihn jedoch auf, und als er tausend Meilen entfernt aus einem Flugzeug stieg, wurde er verhaftet und durfte das Gefängnis nur unter der Bedingung verlassen, dass er zu ihr zurückkehrte.
Die Mutter herrscht in dem Buch wie ein tyrannisches Gespenst, und wenn Wolfson von seiner «langue maternelle» schreibt, ist klar, dass sein Abscheu vor dem Englischen in direktem Zusammenhang zu seinem Abscheu vor der Mutter steht. Sie ist eine groteske Gestalt, ein Monster an Vulgarität, eine Frau, die sich über die Sprachstudien ihres Sohnes lustig macht, immerzu nur Englisch mit ihm redet und stets genau das Gegenteil von dem tut, was sein Leben erträglich machen könnte. In ihrer Freizeit spielt sie mit voll aufgedrehter Lautstärke Schlager auf einer elektrischen Orgel. Während er mit den Fingern in den Ohren über seinen Büchern sitzt, sieht er den Lampenschirm auf seinem Schreibtisch zittern und spürt die Vibrationen der Musik im ganzen Zimmer, und wenn er dann von dem betäubenden Lärm durchdrungen ist, muss er zwangsläufig an die englischen Texte dieser Songs denken und gerät in heftigste Verzweiflung. (Ein halbes Kapitel lang beschäftigt er sich mit der linguistischen Transformation des Textes von Good Night Ladies.) Aber Wolfson fällt niemals ein Urteil über sie. Er beschreibt nur. Und wenn er sich gelegentlich ein selbstverleugnerisches Grinsen gestattet, ist das offenbar sein gutes Recht.
«Natürlich beeinträchtigte ihre Sehschwäche in keiner Weise die Leistungsfähigkeit ihrer Sprechwerkzeuge (vielleicht sogar im Gegenteil), und sie sprach immer, oder doch meistens, mit sehr hoher und sehr schriller Stimme; dabei war sie durchaus fähig, am Telefon zu flüstern, wenn sie heimlich, das heißt ohne sein Wissen, die Einweisung ihres Sohnes in die psychiatrische Klinik betrieb.»
Abgesehen von der ständigen Bedrohung mit dem Englischen seitens der Mutter (die für ihn geradezu die Verkörperung dieser Sprache darstellt), leidet der Sprachforscher auch an ihrer Rolle als Ernährerin. Das ganze Buch durchzieht ein Widerstreit zwischen seinen linguistischen Beschäftigungen und seiner Besessenheit von Nahrungsmitteln, vom Essen, von der möglichen Verunreinigung seines Essens. Er schwankt zwischen heftigem Ekel beim bloßen Gedanken ans Essen, als sei dies vollkommen unvereinbar mit seiner Spracharbeit, und fürchterlichen Fressorgien, von denen ihm dann noch stundenlang schlecht ist. Jedes Mal wenn er in die Küche geht, wappnet er sich mit einem ausländischen Buch, rezitiert lauthals gewisse fremdsprachige Sätze, die er auswendig gelernt hat, und zwingt sich, die englischen Etiketten auf den Verpackungen und Konservendosen nicht zu lesen. Während er diese Sätze wie Beschwörungsformeln zum Bannen böser Geister immer wieder vor sich hin spricht, reißt er die erstbeste Verpackung, die ihm in die Hände fällt, auf – irgendein Nahrungsmittel, das besonders bequem zu essen ist und in der Regel die wenigsten Nährstoffe hat – und stopft sich das Zeug in den Mund, wobei er immer darauf achtet, dass es nicht seine Lippen berührt, denn die sind seiner Überzeugung nach mit den Eiern und Larven von Parasiten verseucht. Nach solchen Gelagen kommen jedes Mal Selbstvorwürfe und Schuldgefühle in ihm hoch. Wie Gilles Deleuze in seinem Vorwort zu dem Buch bemerkt: «Seine Schuldgefühle nach dem Essen sind nicht weniger groß, als wenn er seine Mutter hat sprechen hören. Es sind dieselben Schuldgefühle.»
Dies ist, glaube ich, der Punkt, an dem Wolfsons privater Albtraum und gewisse allgemeine Sprachprobleme einander berühren. Zwischen Sprechen und Essen besteht ein fundamentaler Zusammenhang, und gerade die Intensität von Wolfsons Erfahrung ermöglicht es uns zu erkennen, wie tiefgreifend diese Beziehung ist. Sprechen ist etwas Abnormes, eine Anomalie, eine biologisch bloß untergeordnete Funktion des Mundes, und viele Mythen über Sprachentstehung sind mit dem Begriff der Nahrungsaufnahme verbunden. Adam erhält die Macht, den Geschöpfen des Paradieses Namen zu geben, und wird später verbannt, weil er vom Baum der Erkenntnis gegessen hat. Mystiker fasten, um sich auf den Empfang der Worte Gottes vorzubereiten. Bei der heiligen Kommunion verzehrt man den Leib Christi, das Fleisch gewordene Wort. Offenbar hat sich die lebensnotwendige Funktion des Mundes als Organ der Nahrungsaufnahme in Sprechen verwandelt, denn wenn uns irgendetwas zu Menschen macht und als Menschen definiert, so ist es die Sprache. Mit seiner Angst vor dem Essen, mit den Schuldgefühlen, die er ob seiner Maßlosigkeit empfindet, gesteht Wolfson seinen Verrat an der Aufgabe, die er sich gestellt hat: eine Sprache zu entdecken, mit der er leben kann. Essen ist ein Kompromiss, denn es erhält ihn im Kontext eines längst schon diskreditierten und unannehmbaren Weltgeschehens.