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Eine literarische Pokerpartie Jim Nashe, Feuerwehrmann aus Boston, ist vom Pech verfolgt: Seine Frau hat ihn verlassen, die Tochter musste er zu Verwandten geben. Dann stirbt sein Vater; Nashe erbt 200 000 Dollar. Kurz entschlossen verabschiedet er sich von seinem bisherigen Leben und kauft ein Auto. Eine ziellose Fahrt beginnt. Als das Geld zur Neige geht, liest Nashe einen Anhalter auf, Jack Pozzi, einen bankrotten Zocker. Beide haben nichts zu verlieren. Beide sind bereit, alles zu riskieren ... «Paul Auster, ein Nachfahre Herman Melvilles, versteht es meisterlich, seine Leser zu fesseln und zu irritieren. Unmerklich überschreitet der Autor immer wieder die Grenze zwischen dem Alltäglichen, (scheinbar) Normalen zum Unwahrscheinlichen.» Der Tagesspiegel
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Seitenzahl: 352
Paul Auster
Roman
Eine literarische Pokerpartie
Jim Nashe, Feuerwehrmann aus Boston, ist vom Pech verfolgt: Seine Frau hat ihn verlassen, die Tochter musste er zu Verwandten geben. Dann stirbt sein Vater; Nashe erbt 200000 Dollar. Kurz entschlossen verabschiedet er sich von seinem bisherigen Leben und kauft ein Auto.
Eine ziellose Fahrt beginnt. Als das Geld zur Neige geht, liest Nashe einen Anhalter auf, Jack Pozzi, einen bankrotten Zocker. Beide haben nichts zu verlieren. Beide sind bereit, alles zu riskieren …
«Paul Auster, ein Nachfahre Herman Melvilles, versteht es meisterlich, seine Leser zu fesseln und zu irritieren. Unmerklich überschreitet der Autor immer wieder die Grenze zwischen dem Alltäglichen, (scheinbar) Normalen zum Unwahrscheinlichen.» Der Tagesspiegel
Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik.
Werner Schmitz ist seit 1981 als Übersetzer tätig, u. a. von Malcolm Lowry, John le Carré, Ernest Hemingway, Philip Roth und Paul Auster. 2011 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis. Er lebt in der Lüneburger Heide.
Die Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel «The Music of Chance» bei Viking/Penguin, Inc., New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024
Copyright © 1992 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«The Music of Chance» Copyright © 1990 by Paul Auster
Redaktion Thomas Überhoff
Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung Shimon and Tammar/Gallery Stock
ISBN 978-3-644-02239-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Ein ganzes Jahr lang war er nur kreuz und quer durch Amerika gefahren, während er darauf wartete, dass ihm das Geld ausginge. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es so lange dauern würde, aber dann ging es Schlag auf Schlag, und als Nashe zu begreifen begann, was ihm geschah, wollte er schon nicht mehr, dass es aufhörte. Am dritten Tag des dreizehnten Monats begegnete er dem Jungen, der sich Jackpot nannte. Es war eine jener rein zufälligen Begegnungen, die sich aus heiterem Himmel zu ergeben scheinen – wie wenn einem plötzlich ein vom Wind gebrochener Zweig vor die Füße fällt. Wäre das in irgendeinem anderen Augenblick passiert, darf bezweifelt werden, dass Nashe auch nur den Mund aufgemacht hätte. Aber da er bereits aufgegeben hatte, da er sich einbildete, er habe nichts mehr zu verlieren, sah er in dem Fremden die Chance zu einer Atempause, die letzte Gelegenheit, etwas für sich zu tun, ehe es zu spät war. Und dann tat er es einfach. Ohne zu zucken, schloss Nashe die Augen und sprang.
Das Ganze war eine Frage des Ablaufs, der Abfolge der Ereignisse. Hätte der Anwalt nicht sechs Monate gebraucht, um ihn ausfindig zu machen, wäre er an dem Tag, an dem er Jack Pozzi traf, nie unterwegs gewesen, und damit wäre auch nichts von dem geschehen, was auf diese Begegnung folgte. Nashe fand es beunruhigend, so von seinem Leben zu denken, doch Tatsache war, dass sein Vater, einen Monat bevor Thérèse ihn verlassen hatte, gestorben war, und wenn er etwas von dem Geld geahnt hätte, das er erben sollte, hätte er sie wahrscheinlich zum Bleiben überreden können. Selbst wenn sie nicht geblieben wäre, hätte er Juliette nicht zu seiner Schwester nach Minnesota zu bringen brauchen, und das allein schon würde ihn davon abgehalten haben, das zu tun, was er dann getan hatte. Aber damals hatte er noch seinen Job bei der Feuerwehr gehabt, und wie hätte er sich um ein zweijähriges Kind kümmern sollen, wenn seine Arbeit ihn zu allen Tages- und Nachtstunden aus dem Haus rief? Wäre Geld da gewesen, hätte er sich eine Angestellte ins Haus geholt, um Juliette zu versorgen, doch wenn Geld da gewesen wäre, hätten sie gar nicht erst die untere Hälfte des trostlosen Zweifamilienhauses in Somerville gemietet gehabt, und Thérèse wäre vielleicht nie weggelaufen. Nicht dass seine Entlohnung so schlecht gewesen wäre, aber der Schlaganfall, den seine Mutter vier Jahre zuvor erlitten hatte, hatte ihn ruiniert, und noch immer überwies er monatliche Raten an das Pflegeheim in Florida, in dem sie gestorben war. In Anbetracht all dessen war das Haus seiner Schwester offenbar die einzige Lösung. Dort würde wenigstens Juliette die Chance haben, mit anderen Kindern in einer richtigen Familie zu leben und einmal frische Luft zu schöpfen, und das war beträchtlich viel besser als alles, was er selbst ihr anzubieten hatte. Dann hatte ihn plötzlich der Anwalt aufgespürt, und das Geld war ihm in den Schoß gefallen. Es war eine ungeheure Summe – knapp zweihunderttausend Dollar, ein für Nashe fast unvorstellbarer Betrag –, aber da war es bereits zu spät gewesen. Zu viel war in den vergangenen fünf Monaten in Gang gekommen, und nicht einmal das Geld konnte den Lauf der Dinge jetzt noch aufhalten.
Er hatte seinen Vater über dreißig Jahre lang nicht gesehen. Beim letzten Mal war er zwei gewesen, und seitdem hatte es keinen Kontakt mehr zwischen ihnen gegeben – nicht einen einzigen Brief, nicht einen einzigen Anruf, nichts. Dem Anwalt zufolge, der die Erbschaft abwickelte, hatte Nashes Vater die letzten sechsundzwanzig Jahre seines Lebens in einer kleinen kalifornischen Wüstenstadt unweit von Palm Springs verbracht. Er hatte einen Eisenwarenladen betrieben, in seiner Freizeit an der Börse spekuliert und nicht wieder geheiratet. Seine Vergangenheit habe er für sich behalten, sagte der Anwalt, und erst als Nashe senior eines Tages in sein Büro gekommen sei, um ein Testament aufzusetzen, habe er etwas von Nachkommen erwähnt. «Er war tödlich an Krebs erkrankt», fuhr die Stimme am Telefon fort, «und er wusste nicht, wem sonst er das Geld hinterlassen sollte. Er meinte, dann könne er es genauso gut zwischen seinen beiden Kindern aufteilen – die Hälfte für Sie und die andere Hälfte für Donna.»
«Eigenartige Wiedergutmachung», sagte Nashe.
«Tja, eigenartig war er schon, Ihr Alter Herr, gar keine Frage. Ich werde nie vergessen, was er sagte, als ich ihn nach Ihnen und Ihrer Schwester fragte. ‹Wahrscheinlich hassen sie mich wie die Pest›, sagte er, ‹aber jetzt ist es zu spät, dem nachzuheulen. Ich wär nur zu gern dabei, nachdem ich abgekratzt bin – bloß um ihre Gesichter zu sehen, wenn sie das Geld bekommen.›»
«Es überrascht mich, dass er wusste, wo wir zu finden sind.»
«Wusste er nicht», sagte der Anwalt. «Und glauben Sie mir, es war eine Heidenarbeit, Sie aufzuspüren. Hat mich sechs Monate gekostet.»
«Für mich wäre es viel besser gewesen, wenn Sie diesen Anruf am Tag der Beerdigung gemacht hätten.»
«Manchmal hat man Glück, manchmal nicht. Vor sechs Monaten wusste ich noch nicht einmal, ob Sie tot oder lebendig sind.»
Trauer zu empfinden war nicht möglich, aber Nashe nahm an, dass er auf irgendeine andere Weise berührt sein würde – von etwas mit Trauer Verwandtem, vielleicht von einem Anfall später Wut und Reue. Immerhin war dieser Mann sein Vater gewesen, und das allein hätte ein paar tiefschürfende Gedanken über die Geheimnisse des Lebens auslösen sollen. Aber es stellte sich heraus, dass Nashe kaum etwas anderes als Freude empfand. Das Geld war für ihn etwas so Außerordentliches, hinsichtlich seiner Konsequenzen so Umwälzendes, dass es alles andere unter sich begrub. Ohne allzu sorgfältig darüber nachzudenken, bezahlte er die zweiunddreißigtausend Dollar, die er dem Pleasant-Acres-Pflegeheim noch schuldete, kaufte sich einen neuen Wagen (einen roten zweitürigen Saab 900 – der erste Neuwagen, den er je besessen hatte) und nahm den in den letzten vier Jahren angesammelten Urlaub. Am Abend vor seiner Abreise aus Boston gab er sich selbst zu Ehren eine verschwenderische Party, machte mit seinen Freunden durch bis drei Uhr morgens, stieg dann, ohne noch mal ins Bett zu gehen, in den neuen Wagen und fuhr nach Minnesota.
Und da begann die Decke über ihm einzustürzen. Trotz all der Feiern und Erinnerungen, in denen er während dieser Tage schwelgte, wurde Nashe allmählich klar, dass seine Lage hoffnungslos verfahren war. Er war zu lange von Juliette getrennt gewesen, und als er jetzt hinfuhr, um sie zurückzuholen, schien es, als hätte sie ganz vergessen, wer er war. Er hatte geglaubt, seine Anrufe würden reichen, irgendwie werde er für sie lebendig bleiben, wenn er zweimal wöchentlich mit ihr telefonierte. Aber was wissen Zweijährige von Ferngesprächen? Sechs Monate lang war er für sie bloß eine Stimme gewesen, eine Ansammlung diffuser Geräusche, und nach und nach hatte er sich in einen Geist verwandelt. Noch nach zwei oder drei Tagen verhielt Juliette sich ihm gegenüber schüchtern und zaghaft und wich seinen Versuchen aus, sie in den Arm zu nehmen, als glaube sie nicht mehr richtig an seine Existenz. Sie war ein Teil ihrer neuen Familie geworden, und er war kaum mehr als ein Eindringling, ein fremdes Wesen, das von einem anderen Planeten herabgefallen war. Er verwünschte sich, sie dort abgegeben, alles so gut organisiert zu haben. Juliette war die vergötterte kleine Prinzessin der Familie geworden. Es gab dort drei ältere Vettern und Cousinen zum Spielen für sie, es gab den Labrador, es gab die Katze, es gab die Schaukel im Hinterhof, es gab alles, was sie sich nur wünschen konnte. Der Gedanke, von seinem Schwager verdrängt worden zu sein, ärgerte ihn maßlos, und nach einigen Tagen musste er sehr an sich halten, seinen Groll nicht zu zeigen. Ray Schweikert, ein ehemaliger Footballspieler, der es zum Highschool-Trainer und Mathelehrer gebracht hatte, war Nashe immer wie ein Blödmann vorgekommen, aber dass der Kerl mit Kindern umgehen konnte, stand ganz außer Frage. Er war Mr. Good, der großherzige amerikanische Papa, und mit Donna, die alles zusammenhielt, war die Familie solide wie ein Fels. Nashe hatte jetzt zwar Geld, aber war dadurch irgendetwas wirklich anders geworden? Er versuchte sich vorzustellen, wie Juliettes Leben sich verbessern ließe, wenn sie mit ihm nach Boston zurückginge, vermochte aber kein einziges Argument zu seinen Gunsten anzuführen. Er wollte egoistisch sein, auf sein Recht pochen, aber immer wieder verließ ihn der Mut, und endlich beugte er sich der augenfälligen Wahrheit. Juliette aus alldem herauszureißen würde ihr mehr schaden als nützen.
Doch als er Donna seine Gedanken mitteilte, versuchte sie ihn davon abzubringen, wobei sie ihm mit fast den gleichen Argumenten kam wie zwölf Jahre zuvor, als er das College-Studium hatte aufgeben wollen: Sei nicht voreilig, denk doch ein wenig darüber nach, brich nicht alle Brücken hinter dir ab. Sie sah ihn mit dieser Miene der besorgten großen Schwester an, die er seine ganze Kindheit hindurch an ihr gesehen hatte, und selbst jetzt noch, drei oder vier Leben später, wusste er, dass sie der einzige Mensch auf der Welt war, dem er vertrauen konnte. Sie redeten bis tief in die Nacht hinein, blieben in der Küche sitzen, noch lange nachdem Ray und die Kinder zu Bett gegangen waren, aber Donna konnte so leidenschaftlich und vernünftig sein, wie sie wollte, am Ende ging es genauso aus wie zwölf Jahre zuvor: Nashe zermürbte sie, bis sie zu weinen anfing, und bekam dann seinen Willen.
Sein einziges Zugeständnis an sie war, dass er für Juliette einen Treuhandfonds einrichten würde. Donna spürte, dass er im Begriff war, etwas Verrücktes anzustellen (was sie ihm in jener Nacht auch sagte), und bevor er das gesamte Erbe durchbrachte, sollte er etwas davon abzweigen und so anlegen, dass es nicht angerührt werden konnte. Am nächsten Morgen verbrachte Nashe zwei Stunden mit dem Geschäftsführer der Northfield Bank und traf die notwendigen Vereinbarungen. Den Rest dieses Tages und einen Teil des nächsten blieb er noch, dann packte er seine Sachen und lud sie in den Kofferraum seines Wagens. Es war ein heißer Nachmittag Ende Juli, und die ganze Familie versammelte sich zum Abschied im Vorgarten. Eins nach dem anderen umarmte und küsste er die Kinder, und als am Ende Juliette an die Reihe kam, verbarg er seine Augen vor ihr, indem er sie hochhob und sein Gesicht in ihrem Nacken vergrub. Sei ein braves Mädchen, sagte er. Vergiss nicht, dass dein Daddy dich lieb hat.
Er hatte ihnen gesagt, er wolle nach Massachusetts zurück, doch wie der Zufall es wollte, befand er sich bald auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung. Er hatte nämlich die Auffahrt zum Freeway verpasst – so etwas kommt ja vor –, doch anstatt die zwanzig Meilen Umweg zu fahren, um wieder in die richtige Richtung zu kommen, nahm er spontan und im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass er sich für die falsche Richtung entschieden hatte, die gegenüberliegende Auffahrt. Ein jäher, nicht geplanter Entschluss, doch in der kurzen Zeit zwischen den beiden Auffahrten wurde Nashe klar, dass es keinen Unterschied machte, dass die beiden Auffahrten letztendlich gleichwertig waren. Er hatte Boston gesagt, aber eigentlich nur, weil er ihnen irgendetwas sagen musste und Boston das erste Wort war, das ihm in den Kopf kam. Immerhin stand fest, dass niemand ihn in den nächsten zwei Wochen erwartete, und wieso sollte er zurückfahren, wenn ihm so viel Zeit zur Verfügung stand? Eine schwindelerregende Aussicht – all diese Freiheit, und wie wenig es ausmachte, wofür er sich entschied. Er konnte fahren, wohin er wollte, er konnte tun, wozu er Lust hatte, und es würde keinen Menschen auf der Welt interessieren. Solange er nicht umkehrte, könnte er ebenso gut unsichtbar sein.
Er fuhr sieben Stunden durch, legte eine kurze Tankpause ein und fuhr dann noch einmal sechs Stunden weiter, bis ihn die Erschöpfung übermannte. Inzwischen war er im Norden von Zentralwyoming, und die Morgendämmerung begann über den Horizont zu steigen. Er nahm sich ein Zimmer in einem Motel, schlief acht oder neun Stunden am Stück, ging dann in den Imbiss nebenan und verdrückte ein Steak mit Eiern von der 24-Stunden-Frühstückskarte. Am Spätnachmittag saß er wieder im Auto, und erneut fuhr er die ganze Nacht hindurch, bis er halb New Mexico durchquert hatte. Nach dieser zweiten Nacht wurde Nashe klar, dass er keine Kontrolle mehr über sich hatte, dass er in die Gewalt einer rätselhaften, überwältigenden Macht geraten war. Einem verschreckten Tier gleich, torkelte er blindlings von einem Nirgendwo ins nächste, aber sooft er auch beschloss aufzuhören, er konnte sich nicht dazu überwinden. Jeden Morgen beim Schlafengehen sagte er sich, jetzt sei es genug, jetzt sei Schluss damit, und jeden Nachmittag erwachte er mit demselben Verlangen, demselben unwiderstehlichen Drang, in den Wagen zurückzukriechen. Er wollte diese Einsamkeit wiederhaben, dieses nächtelange Rasen durch die Leere, diese Vibration der Straße an seiner Haut. Er machte die ganzen zwei Wochen nicht halt, und jeden Tag trieb er sich ein bisschen weiter, jeden Tag versuchte er ein wenig länger zu fahren als am Tag zuvor. Er durchfuhr den gesamten Westen des Landes, im Zickzack kreuz und quer von Oregon bis nach Texas, jagte über die ungeheuren leeren Highways von Arizona, Montana und Utah, aber er sah sich nichts an und kümmerte sich nicht darum, wo er war, und abgesehen von dem einen oder anderen Satz, den er aufsagen musste, wenn er tankte oder Essen bestellte, gab er kein einziges Wort von sich. Als Nashe schließlich nach Boston zurückkehrte, glaubte er sich am Rand eines Nervenzusammenbruchs, aber das kam nur daher, dass er sich keine andere Erklärung denken konnte für das, was er getan hatte. Wie er am Ende herausfand, war die Wahrheit weit weniger dramatisch. Er schämte sich einfach, es so sehr genossen zu haben.
Nashe nahm an, nun werde es aufhören, nun habe er es geschafft, die komische kleine Marotte loszuwerden, und jetzt werde er in sein altes Leben zurückgleiten. Anfangs schien alles gut zu gehen. Am Morgen seiner Rückkehr neckten sie ihn auf der Feuerwache, weil er nicht braun gebrannt war («Was hast du getrieben, Nashe, Höhlenurlaub gemacht?»), und am Vormittag konnte er schon über die üblichen Witzeleien und Zoten lachen. Am selben Abend gab es einen Großbrand in Roxbury, und als zwei Wagen zur Unterstützung angefordert wurden, ging Nashe sogar so weit, jemandem zu sagen, er sei froh, wieder zu Hause zu sein, er habe diese Einsätze richtig vermisst. Aber diese Gefühle waren nicht von Dauer, und gegen Ende der Woche bemerkte er, dass er unruhig wurde, dass er abends nicht die Augen zumachen konnte, ohne an seinen Wagen zu denken. An seinem freien Tag fuhr er nach Maine und wieder zurück, aber das schien es nur noch schlimmer zu machen, denn es verschaffte ihm keine Befriedigung, und er lechzte nach mehr Zeit hinter dem Steuer. Er mühte sich, wieder zur Ruhe zu kommen, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zur Straße zurück, zu dem Hochgefühl, das er in diesen zwei Wochen empfunden hatte, und nach und nach begann er sich verloren zu geben. Nicht dass er seinen Job kündigen wollte, aber was sollte er tun, wenn der ihm nicht mehr Zeit übrig ließ? Nashe war seit sieben Jahren bei der Feuerwehr, und die Vorstellung, eine solche Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen, kam ihm abartig vor – das einfach aufgrund eines Impulses, einer namenlosen Unruhe wegzuwerfen. Es war der einzige Job, der ihm je etwas bedeutet hatte, und er hatte es immer als ein Glück betrachtet, da hineingestolpert zu sein. In den Jahren, nachdem er das College aufgegeben hatte, hatte er sich in einer Reihe von Jobs versucht – Buchverkäufer, Möbelpacker, Barkeeper, Taxifahrer –, und die Prüfung zum Feuerwehrmann hatte er nur aus einer Laune heraus abgelegt, weil jemand, den er eines Nachts in seinem Taxi kennengelernt hatte, kurz davor stand und Nashe dazu überredete, es doch auch zu versuchen. Der Mann wurde abgelehnt, während Nashe die Jahresbestnote erzielte und mit einem Mal einen Job angeboten bekam, an den er zum letzten Mal im Alter von vier Jahren gedacht hatte. Donna lachte, als er sie anrief und ihr die Neuigkeit mitteilte, aber er nahm trotzdem am Trainingslehrgang teil. Zweifellos eine seltsame Entscheidung, aber er ging in dieser Arbeit auf, sie machte ihn langfristig glücklich, und nie war ihm der Gedanke gekommen, damit aufzuhören. Noch wenige Monate zuvor hätte er sich unmöglich vorstellen können, die Feuerwehr zu verlassen, aber das war, bevor sein Leben sich in eine Seifenoper verwandelt hatte, bevor die Erde sich um ihn aufgetan und ihn verschluckt hatte. Vielleicht war die Zeit reif für eine Veränderung. Er hatte noch über sechzigtausend Dollar auf der Bank, und vielleicht sollte er das Geld zum Aussteigen benutzen, solange es noch möglich war.
Er erzählte dem Hauptmann, er werde nach Minnesota umziehen. Eine durchaus plausible Geschichte, und Nashe tat sein Bestes, sie überzeugend klingen zu lassen, und erklärte umständlich, ein Freund seines Schwagers habe ihm angeboten, bei ihm ins Geschäft einzusteigen (ausgerechnet eine Teilhaberschaft an einem Eisenwarenladen), und dass seine Tochter in einer anständigen Umgebung aufwachsen solle und warum er das dafür halte. Der Hauptmann fiel darauf herein, was ihn aber nicht davon abhielt, Nashe ein Arschloch zu nennen. «Das kommt nur von deiner Frau, dieser Tussi», sagte er. «Seitdem die ihre Möse aus der Stadt geschwenkt hat, tickst du nicht mehr richtig, Nashe. Es gibt nichts Erbärmlicheres als einen guten Mann, der an Mösenproblemen zugrunde geht. Reiß dich am Riemen, Mensch. Vergiss diese dämlichen Pläne, und tu deine Arbeit.»
«Tut mir leid, Captain», sagte Nashe. «Aber mein Entschluss steht fest. Ich habe gründlich darüber nachgedacht.»
«Nachgedacht? Wie bitte? Soviel ich sehe, kannst du längst nicht mehr denken.»
«Du bist doch bloß eifersüchtig. Du würdest deinen rechten Arm geben, um mit mir zu tauschen.»
«Und nach Minnesota umziehen? Vergiss es, Mann. Ich kann mir zehntausend andere Sachen vorstellen, die ich lieber täte, als neun Monate im Jahr unter einer Schneewehe zu leben.»
«Na, wenn du in die Gegend kommst, schau doch mal auf einen Sprung vorbei. Ich verkauf dir dann einen Schraubenzieher oder so was.»
«Sagen wir, einen Hammer, Nashe. Vielleicht kann ich dir damit ein bisschen Vernunft einbläuen.»
Nach diesem ersten Schritt fiel es ihm nicht mehr schwer, die Sache bis zum Ende durchzuziehen. In den nächsten fünf Tagen regelte er seine Angelegenheiten, rief den Vermieter an und sagte ihm, er könne sich einen neuen Mieter suchen, schenkte seine Möbel der Heilsarmee, meldete Gas, Strom und Telefon ab. All das geschah mit einer Unbekümmertheit und Brutalität, die ihm tiefe Befriedigung verschaffte, doch nichts davon reichte an das Vergnügen heran, einfach Dinge wegzuwerfen. Am ersten Abend legte er stundenlang Thérèses Sachen zusammen, stopfte sie in Müllsäcke und entledigte sich ihrer schließlich in einer systematischen Säuberungsaktion, einem Massenbegräbnis sämtlicher Dinge, die auch nur die leiseste Spur ihrer Gegenwart trugen. Er stürzte sich auf ihren Schrank und riss ihre Mäntel, Pullover und Kleider heraus; er zog Unterwäsche, Strümpfe und Schmuck aus ihren Schubladen; er entfernte alle ihre Bilder aus dem Fotoalbum; er warf ihr Schminkzeug und ihre Modemagazine weg; er beseitigte ihre Bücher, ihre Schallplatten, ihren Wecker, ihre Badeanzüge, ihre Briefe. Damit war gewissermaßen das Eis gebrochen, und als er sich am Nachmittag darauf mit seinen eigenen Habseligkeiten zu befassen begann, ging er mit der gleichen brutalen Gründlichkeit vor und behandelte seine Vergangenheit wie einen Haufen fortzuschaffenden Müll. Der komplette Inhalt der Küche ging an ein Obdachlosenheim in South Boston. Seine Bücher schenkte er der Studentin über ihm; seinen Baseballhandschuh gab er dem kleinen Jungen von gegenüber; seine Plattensammlung verkaufte er an einen Secondhandladen in Cambridge. Diese Transaktionen hatten gewiss etwas Schmerzliches, doch Nashe begann diesen Schmerz beinahe zu begrüßen, sich von ihm veredelt zu fühlen, als würde es ihm, je weiter er von seinem alten Ich abrückte, in der Zukunft desto besser gehen. Er kam sich vor wie einer, der endlich den Mut gefunden hat, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen – nur dass in diesem Fall die Kugel nicht den Tod bedeutete, sondern das Leben; die Explosion, die die Geburt neuer Welten einleitet.
Er wusste, auch das Piano würde verschwinden müssen, aber das ließ er bis ganz zum Schluss warten, da er sich erst im allerletzten Augenblick davon trennen wollte. Es war ein Baldwin-Klavier, ein Geschenk seiner Mutter zu seinem dreizehnten Geburtstag, für das er ihr immer dankbar gewesen war, wusste er doch, unter welchen Mühen sie das Geld dafür zusammenbekommen hatte. Nashe gab sich über sein Spiel keinen Illusionen hin, doch gelang es ihm im Allgemeinen, jede Woche ein paar Stunden an dem Instrument zu verbringen und sich durch einige der alten Stücke zu stümpern, die er als Junge gelernt hatte. Das übte immer eine beruhigende Wirkung auf ihn aus, als hülfe die Musik ihm, die Welt deutlicher zu sehen und seinen Platz in der unsichtbaren Ordnung der Dinge zu erkennen. Als nun das Haus leer war und er aufbrechen konnte, blieb er noch einen weiteren Tag, um den kahlen Wänden ein langes Abschiedskonzert zu geben. Eins nach dem anderen spielte er mehrere Dutzend seiner Lieblingsstücke, von Couperins Die geheimnisvollen Barrikaden bis hin zu Fats Wallers Jitterbug Waltz. Er hämmerte so lange auf den Tasten herum, bis seine Finger gefühllos wurden und er aufgeben musste. Dann ließ er seinen Klavierstimmer der letzten sechs Jahre kommen (einen Blinden namens Antonelli) und verkaufte ihm das Baldwin für vierhundertfünfzig Dollar. Als am nächsten Morgen die Möbelpacker kamen, hatte Nashe das Geld bereits für Kassetten für den Recorder in seinem Wagen ausgegeben. Er hielt das für eine angemessene Geste – eine Form der Musik mit einer anderen zu vertauschen –, und die Wirtschaftlichkeit dieses Tauschs erfreute ihn. Danach hielt ihn nichts mehr zurück. Er blieb noch, um zuzusehen, wie Antonellis Leute das Klavier aus dem Haus wuchteten, und dann war er verschwunden, ohne noch von irgendwem Abschied zu nehmen. Er ging einfach aus dem Haus, stieg in seinen Wagen und war weg.
Nashe hatte keinen bestimmten Plan. Allenfalls schwebte ihm vor, sich eine Weile treiben zu lassen, von einem Ort zum anderen zu fahren und abzuwarten, was sich ergeben würde. Er nahm an, nach ein paar Monaten würde er genug davon haben, und dann würde er sich hinsetzen und sich Gedanken machen, was er als Nächstes tun sollte. Aber zwei Monate gingen dahin, und er war noch immer nicht bereit aufzugeben. Mit der Zeit war ihm sein neues, freies und unverantwortliches Leben ans Herz gewachsen, und von da an gab es keinen Grund mehr aufzuhören.
Geschwindigkeit war das Wesentliche; das Vergnügen, im Auto zu sitzen und immer vorwärts durch den Raum zu jagen. Das wurde ihm wichtiger als alles andere, wurde zu einem Hunger, der um jeden Preis gestillt werden musste. Nichts um ihn währte länger als einen Augenblick, und da ein Augenblick auf den anderen folgte, schien er selbst das einzige, was weiterexistierte. Er war ein Fixpunkt in einem Wirbel von Veränderungen, ein Körper, der vollkommen stillstand, während die Welt durch ihn hindurchstürzte und verschwand. Das Auto wurde zu einem Heiligtum der Unverletzlichkeit, zu einer Zuflucht, in der nichts mehr ihm etwas anhaben konnte. Solange er fuhr, war er unbelastet, wurde von keinem noch so kleinen Teil seines früheren Lebens behindert. Was nicht heißen soll, dass keine Erinnerungen in ihm hochstiegen, nur schienen sie nichts mehr von den alten Qualen mit sich zu bringen. Vielleicht hatte die Musik etwas damit zu tun, die endlosen Kassetten mit Bach und Mozart und Verdi, denen er hinterm Steuer lauschte, als kämen die Töne irgendwie aus ihm selbst heraus, überschwemmten die Landschaft und machten die sichtbare Welt zu einer Projektion seiner eigenen Gedanken. Nach drei oder vier Monaten brauchte er nur noch in den Wagen zu steigen, und gleich hatte er das Gefühl, sich aus seinem Körper zu lösen, und sobald er den Fuß aufs Gaspedal drückte und losfuhr, glaubte er sich von der Musik in ein Reich der Schwerelosigkeit getragen.
Leere Straßen waren stark befahrenen stets vorzuziehen. Auf ihnen musste man nicht so oft bremsen und beschleunigen, und da er nicht auf andere Autos achtzugeben brauchte, konnte er sicher sein, nicht in seinen Gedanken gestört zu werden. Er mied daher die großen Bevölkerungszentren und beschränkte sich auf die freien, unbesiedelten Gebiete: die nördlichen Teile der Bundesstaaten New York und New England, die landwirtschaftlich genutzten Ebenen des Herzlandes, die Wüsten im Westen. Schlechtem Wetter war ebenfalls auszuweichen, denn es störte das Fahren genauso wie starker Verkehr, und als der Winter mit seinen Stürmen und Unbilden kam, fuhr er nach Süden und blieb dort mit wenigen Unterbrechungen bis zum Frühling. Allerdings war sich Nashe bewusst, dass auch unter den besten Bedingungen keine Straße frei von Gefahren war. Ständig waren alle möglichen Bedrohungen im Auge zu behalten, und jederzeit konnte irgendetwas passieren. Kurven und Schlaglöcher, plötzliche Reifenpannen, betrunkene Fahrer, ein winziges Nachlassen der Aufmerksamkeit – all das konnte einen im Handumdrehen töten. Nashe sah während seiner Monate unterwegs eine ganze Reihe tödlicher Unfälle, und ein paarmal kam er selbst nur um Haaresbreite an einem Zusammenstoß vorbei. Diese gerade noch einmal überstandenen Gefahrensituationen waren ihm jedoch willkommen. Sie gaben seinem Tun die Würze des Risikos, und mehr als alles andere war es dies, wonach er suchte: das Gefühl, sein Leben in die eigenen Hände genommen zu haben.
Er ging in irgendein Motel, aß etwas, begab sich auf sein Zimmer und las zwei oder drei Stunden. Vor dem Schlafengehen nahm er seinen Straßenatlas und plante die Route für den nächsten Tag, wählte ein Ziel und legte sorgfältig die Strecke fest. Er wusste, das war nichts als Beschönigung, denn die Orte selbst waren ohne Bedeutung, doch hielt er sich an dieses System bis zum Schluss – wenn auch nur, um seine Bewegungen zu akzentuieren, um einen Grund zum Anhalten zu haben, bevor es wieder weiterging. Im September besuchte er das Grab seines Vaters in Kalifornien; eines glühend heißen Nachmittags fuhr er in das Städtchen Riggs, um es mit eigenen Augen zu sehen. Er wollte seine Gefühle mit irgendeinem Bild auskleiden, selbst wenn dieses Bild bloß aus ein paar Wörtern und Zahlen auf einem Grabstein bestand. Der Anwalt, der ihn wegen des Geldes angerufen hatte, akzeptierte seine Einladung zum Essen, und hinterher zeigte er Nashe das Haus, in dem sein Vater gelebt, und den Eisenwarenladen, den er sechsundzwanzig Jahre lang betrieben hatte. Nashe kaufte dort ein paar Werkzeuge für seinen Wagen (einen Schraubenschlüssel, eine Taschenlampe, einen Luftdruckmesser), aber er brachte es nicht fertig, sie zu benutzen, und für den Rest des Jahres blieb das Paket ungeöffnet in einem Winkel des Kofferraums liegen. Ein andermal hatte er die Fahrerei plötzlich satt, und anstatt sinnlos weiterzufahren, nahm er in einem kleinen Hotel in Miami Beach ein Zimmer und saß dann neun Tage lang am Swimmingpool und las Bücher. Im November stürzte er sich in die Spielhöllen von Las Vegas und kam nach vier Tagen Blackjack und Roulette wie durch ein Wunder verlustfrei wieder heraus, und kurz darauf zuckelte er einen halben Monat lang im tiefen Süden herum, machte in etlichen Orten des Deltas von Louisiana halt, besuchte einen Freund, der nach Atlanta gezogen war, und unternahm eine Bootsfahrt durch die Everglades. Einige dieser Aufenthalte waren unvermeidlich, doch hatte Nashe sich erst einmal irgendwo eingefunden, versuchte er im Allgemeinen, Nutzen daraus zu ziehen und ein wenig herumzubummeln. Der Saab musste schließlich gewartet werden, und da der Kilometerstand täglich um mehrere hundert zunahm, gab es eine Menge zu tun: Öl wechseln, schmieren, Reifen auswuchten, all die Feinabstimmungen und Reparaturen, die einfach unerlässlich waren, wenn er weiterfahren wollte. Manchmal frustrierten ihn diese Zwangsaufenthalte, aber wenn der Wagen sich für vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden in den Händen eines Mechanikers befand, blieb ihm keine andere Wahl, als sich hinzusetzen und zu warten, bis er wieder fahrbereit war.
Frühzeitig hatte Nashe im Postamt von Northfield ein Postfach gemietet, und zu Beginn jedes Monats kam er in die Stadt, um seine Kreditkartenrechnungen abzuholen und ein paar Tage bei seiner Tochter zu verbringen. Das war der einzige Aspekt seines Lebens, der sich nicht änderte, die einzige Verpflichtung, der er noch nachkam. Mitte Oktober reiste er eigens zu Juliettes Geburtstag an (mit einem Armvoll Geschenke), und Weihnachten wuchs sich zu einer ausgelassenen Drei-Tage-Feier aus, in deren Verlauf Nashe als Weihnachtsmann auftrat und zur Unterhaltung aller Anwesenden auf dem Klavier spielte und Lieder sang. Kaum einen Monat später öffnete sich ihm unerwartet eine zweite Tür. Und zwar in Berkeley, Kalifornien, und wie fast alles, was er in diesem Jahr erlebte, ergab es sich durch reinen Zufall. Eines Nachmittags hatte er einen Buchladen betreten, um sich für die nächste Etappe seiner Reise mit Büchern zu versorgen, und dort zufällig eine Frau getroffen, die er noch aus Boston kannte. Ihr Name war Fiona Wells, und sie erblickte ihn vor dem Shakespeare-Regal, wo er sich nicht entscheiden konnte, welche einbändige Ausgabe er mitnehmen sollte. Sie hatten sich seit einigen Jahren nicht mehr gesehen, aber anstatt ihn auf irgendeine konventionelle Weise zu begrüßen, schlich sie sich an ihn heran, tippte mit dem Finger auf einen der Shakespeares und sagte: «Nimm diesen, Jim. Er hat die besten Anmerkungen und die lesbarste Schrift.»
Fiona war Journalistin und hatte einmal ein Feature über ihn für den Globe geschrieben: «Eine Woche im Leben eines Bostoner Feuerwehrmanns». Es war das übliche Sonntagsbeilagengeschwafel, ausgeschmückt mit Fotos und Bemerkungen seiner Freunde, aber Nashe hatte sich über Fiona amüsiert, ja ziemlichen Gefallen an ihr gefunden, und nachdem sie zwei oder drei Tage mit ihm herumgezogen war, hatte er gespürt, dass sie sich von ihm angezogen zu fühlen begann. Gewisse Blicke, gewisse zufällige Berührungen mit den Fingern wurden immer häufiger – aber damals war Nashe noch verheiratet, und es kam nicht zu dem, was durchaus hätte geschehen können. Ein paar Monate nach Erscheinen des Artikels bekam Fiona einen Job bei Associated Press in San Francisco, und danach hatte er sie aus den Augen verloren.
Sie wohnte in einem kleinen Haus in der Nähe der Buchhandlung, und als sie ihn dorthin einlud, um über die alten Zeiten in Boston zu reden, wurde Nashe klar, dass sie noch immer ungebunden war. Es war erst kurz vor vier, als sie dort ankamen, aber sie machten zur Unterhaltung im Wohnzimmer gleich eine Flasche Jack Daniel’s auf. Binnen einer Stunde war Nashe neben Fiona auf die Couch gerückt, und wenig später schob er ihr die Hand unter den Rock. Das Ganze hatte für ihn etwas seltsam Unausweichliches, als müsse auf ihre zufällige Begegnung unbedingt eine Ausschweifung, ein anarchisches Fest folgen. Sie waren nicht die Urheber eines Ereignisses, sondern versuchten eher mit einem Schritt zu halten, und als Nashe dann seine Arme um Fionas nackten Körper schlang, war sein Begehren so mächtig, dass es schon an ein Gefühl des Verlustes grenzte – denn er wusste, dass er sie am Ende enttäuschen musste, dass früher oder später der Augenblick käme, in dem er sich wieder nach dem Wagen sehnen würde.
Er blieb vier Nächte bei ihr, und allmählich fand er heraus, dass sie viel tapferer und klüger war, als er sich eingebildet hatte. «Glaub nicht, dass ich nicht darauf aus war», sagte sie am letzten Abend zu ihm. «Ich weiß, du liebst mich nicht, aber deswegen bin ich trotzdem nicht die Falsche für dich. Du bist ein Besessener, Nashe, und wenn du wieder wegmusst, na schön, dann musst du eben wieder weg. Aber vergiss nicht, dass ich hier bin. Wenn es dich irgendwann noch mal danach gelüsten sollte, mit einer ins Bett zu steigen, denk an meins zuerst.»
Er musste einfach Mitleid mit ihr haben, aber in dieses Gefühl mischte sich auch eine Spur Bewunderung – womöglich sogar mehr als das: der Verdacht, dass er sie am Ende lieben könnte. Als er sich plötzlich ein Leben voller Witzeleien und zärtlichem Sex mit Fiona vorstellte und dass Juliette dann mit Brüdern und Schwestern aufwachsen könnte, geriet er kurz in Versuchung, ihr einen Heiratsantrag zu machen, aber er brachte die Worte nicht über die Lippen. «Ich werde bloß für ein Weilchen weg sein», sagte er schließlich. «Es ist Zeit für meinen Besuch in Northfield. Wenn du willst, kannst du gern mitkommen, Fiona.»
«Sicher. Und was wird aus meinem Job? Drei Tage Krankfeiern geht ein bisschen zu weit, oder was meinst du?»
«Ich muss hin, wegen Juliette, das weißt du. Es ist wichtig.»
«Viele Dinge sind wichtig. Ich möchte nur nicht, dass du für immer verschwindest.»
«Keine Sorge, ich komme wieder. Ich bin jetzt ein freier Mann, und ich kann tun, was mir passt.»
«Wir sind hier in Amerika, Nashe. Heimat der gottverdammten freien Menschen, weißt du noch? Wir alle können tun, was uns passt.»
«Ich wusste gar nicht, dass du so patriotisch bist.»
«Darauf kannst du deinen letzten Dollar wetten, Freund. Mein Land, in guten wie in schlechten Zeiten. Und deshalb werde ich darauf warten, dass du wieder hier auftauchst. Weil ich die Freiheit habe, mich zum Narren zu machen.»
«Ich habe dir gesagt, ich komme wieder. Das war ein Versprechen.»
«Ich weiß. Aber das heißt noch lange nicht, dass du es halten wirst.»
Davor hatte es auch andere Frauen gegeben, eine ganze Reihe kurzer Affären und Abenteuer, aber keiner von ihnen hatte er irgendwelche Versprechungen gemacht. Zum Beispiel die geschiedene Frau in Florida oder die Lehrerin, mit der Donna ihn in Northfield verkuppeln wollte, und die junge Kellnerin in Reno – sie alle waren verschwunden. Fiona war die Einzige, die ihm etwas bedeutete, und von ihrer ersten zufälligen Begegnung im Januar bis Ende Juli vergingen selten mehr als drei Wochen, ohne dass er sie besuchte. Manchmal rief er sie von unterwegs an, und wenn sie nicht zu Hause war, hinterließ er lustige Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter – nur um sie daran zu erinnern, dass er an sie dachte. Im Lauf der Monate wurde ihm Fionas pummeliger, ziemlich unbeholfener Körper immer wichtiger: die großen, fast plumpen Brüste; die ein wenig schiefen Vorderzähne; das üppige, in einer Unzahl verrückter Kringel und Löckchen wallende blonde Haar. Präraffaelitisches Haar hatte sie es einmal genannt, und obwohl Nashe die Anspielung nicht verstanden hatte, schien ihm dieser Ausdruck etwas von ihr einzufangen, irgendeine innere Eigenschaft zu unterstreichen, die ihre Unansehnlichkeit zu einer Form von Schönheit machte. Sie war so anders als Thérèse – die dunkle, lässige Thérèse, die junge Thérèse mit ihrem flachen Bauch und den langen, vollkommenen Gliedmaßen –, aber Fionas Unvollkommenheiten erregten ihn immer wieder aufs neue, denn wenn er mit ihr ins Bett ging, schien das mehr als nur Sex zu bedeuten, mehr als bloß die willkürliche Paarung zweier Körper. Es fiel ihm immer schwerer, seine Besuche zu beenden, und die ersten Stunden auf der Straße waren immer von Zweifeln erfüllt. Wohin fuhr er denn eigentlich, und was wollte er damit beweisen? Es kam ihm absurd vor, sich von ihr zu entfernen – nur um die Nacht in irgendeinem klumpigen Motelbett am Rand des Nirgendwo zu verbringen.
Dennoch kreuzte er weiter unablässig auf dem Kontinent herum, und je länger er dann wieder auf der Straße war, desto mehr fühlte er sich im Frieden mit sich selbst. Falls die Sache irgendeinen Nachteil hatte, dann nur den, dass sie einmal enden würde, dass er dieses Leben nicht ewig so weiterführen konnte. Anfangs war ihm das Geld unerschöpflich vorgekommen, aber nach fünf oder sechs Monaten hatte er schon über die Hälfte davon ausgegeben. Langsam, aber sicher wurde das Abenteuer zu einem Paradox. Dem Geld hatte er seine Freiheit zu verdanken, aber jedes Mal, wenn er sich damit einen Teil dieser Freiheit erkaufte, gab er auch einen gleich großen Teil davon auf. Das Geld hielt ihn in Bewegung, aber es war auch ein Motor des Verlustes, der ihn unerbittlich wieder dorthin zurückführte, wo er angefangen hatte. In der Mitte des Frühjahrs wurde Nashe endlich klar, dass er das Problem nicht länger ignorieren durfte. Seine Zukunft war in Gefahr, und wenn er nicht irgendeinen Entschluss fasste, wann er aufhören sollte, würde er praktisch überhaupt keine Zukunft mehr haben.
Am Anfang hatte er das Geld sehr unbesonnen ausgegeben, sich jede Menge Besuche in erstklassigen Restaurants und Hotels gegönnt, guten Wein getrunken und Juliette und ihren Vettern und Cousinen kunstvolles Spielzeug gekauft, aber in Wahrheit hatte Nashe gar kein so ausgeprägtes Bedürfnis nach Luxus. Er hatte immer zu anspruchslos gelebt, um sich Gedanken darüber zu machen, und als die Erbschaft den Reiz des Neuen verloren hatte, kehrte er zu seinen alten bescheidenen Gewohnheiten zurück: einfaches Essen, billige Motels, so gut wie keine Ausgaben für Kleidung. Gelegentlich leistete er sich einen Stapel Musikkassetten oder Bücher, aber das war auch schon das Äußerste. Der eigentliche Vorteil des Geldes bestand nicht darin, dass er sich etwas davon hatte kaufen können, sondern in der Tatsache, dass es ihm erlaubt hatte, nicht mehr über Geld nachdenken zu müssen. Jetzt, da er gezwungen war, wieder daran zu denken, traf er mit sich eine Vereinbarung. Er würde weiterfahren, bis noch zwanzigtausend Dollar übrig wären, und dann würde er nach Berkeley zurückkehren und Fiona einen Heiratsantrag machen. Ohne Zaudern: Diesmal würde er es wirklich tun.
Es gelang ihm, die Sache bis Ende Juli hinauszuzögern. Gerade jedoch, als alles geregelt schien, begann sein Glück ihn zu verlassen. Fionas Exfreund, der, wenige Monate bevor Nashe in ihrem Leben auftauchte, daraus verschwunden war, war offenbar nach einem Sinneswandel wieder zurückgekehrt, und anstatt auf Nashes Antrag einzugehen, erklärte Fiona ihm eine Stunde lang unter Tränen, warum er sie nicht mehr besuchen dürfe. Ich kann mich nicht auf dich verlassen, Jim, sagte sie immer. Ich kann mich einfach nicht auf dich verlassen.
Im Grunde wusste er, dass sie recht hatte, aber das machte es ihm auch nicht leichter, den Schlag wegzustecken. Nachdem er Berkeley hinter sich gelassen hatte, war er wie gelähmt von der Verbitterung und der Wut, die ihn gepackt hielten. Diese Feuer loderten viele Tage lang, und selbst als sie zu erlöschen begannen, bekam er allenfalls schwankenden Boden unter die Füße und verfiel in eine zweite, noch länger anhaltende Leidensphase. Trübsinn verdrängte Wut, und er empfand nicht mehr viel anderes als eine dumpfe, unbestimmte Trauer, als würde alles, was er sah, langsam seiner Farbe beraubt. Ganz kurz spielte er mit der Idee, nach Minnesota zu ziehen und sich dort Arbeit zu suchen. Er überlegte sogar, ob er nach Boston gehen und sich um seinen alten Job bewerben sollte, aber da war sein Herz nicht dabei, und er ließ den Gedanken bald fallen. Bis Ende Juli fuhr er weiter herum, verbrachte so viel Zeit im Wagen wie ehedem und trieb sich an manchen Tagen sogar bis weit über den Punkt der Erschöpfung hinaus: fuhr sechzehn oder siebzehn Stunden ohne Pause, als wollte er durch diese Strapazen neue Ausdauer-Rekorde aufstellen. Allmählich gelangte er zu der Erkenntnis, dass er sich verrannt hatte, dass er, wenn nicht bald etwas passierte, so lange weiterfahren würde, bis ihm das Geld ausgegangen wäre. Als er Anfang August nach Northfield kam, ging er zur Bank und hob alles ab, was von der Erbschaft noch übrig war, machte das ganze Restguthaben zu Bargeld – ein hübscher kleiner Stapel von Hundert-Dollar-Scheinen, den er im Handschuhfach seines Wagens verstaute. Auf diese Weise glaubte er die Krise unter Kontrolle zu haben, als wäre der abnehmende Geldstapel ein genaues Abbild seines inneren Zustands. Die nächsten zwei Wochen schlief er im Auto und erlegte sich strengste Sparsamkeit auf, aber die Einsparungen waren letztlich unbedeutend, und am Ende fühlte er sich nur verlottert und deprimiert. Es führte zu nichts, sich so gehen zu lassen, befand er, das war der falsche Weg. Entschlossen, seine Laune aufzubessern, fuhr Nashe nach Saratoga und bezog ein Zimmer im Adelphi Hotel. Es war gerade Rennsaison, und eine ganze Woche lang verbrachte er jeden Nachmittag auf der Rennbahn und setzte auf Pferde, um sein Geldbündel wieder etwas dicker zu machen. Er war sicher, dass er Glück haben würde, aber von blendenden Erfolgen bei einigen gewagten Wetten abgesehen, verlor er häufiger, als er gewann, und als es ihm endlich gelang, sich dort loszueisen, war sein Vermögen wieder um ein großes Stück kleiner. Er war jetzt genau ein Jahr und zwei Tage unterwegs, und ihm blieben noch knapp über vierzehntausend Dollar.