Die Kunst, seine Kunden zu lieben - Stefan Merath - E-Book

Die Kunst, seine Kunden zu lieben E-Book

Stefan Merath

4,8

Beschreibung

Kommen deine Kunden von allein zu dir? Sind sie bereit, ohne Diskussion einen angemessenen Preis zu bezahlen? Und hast du noch nicht mal ernstzunehmende Wettbewerber? Dann hast du in deinem Unternehmen sehr wahrscheinlich eine super Strategie entwickelt. Glückwunsch! Bei den meisten Selbstständigen und Unternehmern ist das aber eher nicht so. Und wenn, dann hält diese Situation vielleicht nur einige Monate oder wenige Jahre. Die herausragenden kleinen und mittleren Unternehmen haben alle eine klare Spezialisierung und ganz besondere Beziehungen zu ihren Kunden aufgebaut. Strategielehren basieren auf folgender Idee: Es gibt eine Methode zur Entwicklung einer Strategie. Diese ist dann nur umzusetzen. Aus der Arbeit mit tausenden Unternehmern in den letzten 17 Jahren wurde Autor Stefan Merath jedoch klar, dass man manchen Unternehmern die beste Strategie hinlegen kann und sie scheitern, wohingegen andere auch mit einer mittelmäßigen Strategie sehr erfolgreich werden. Der Unterschied liegt nicht im Konzept, sondern im Unternehmer. Und genau dort liegt der blinde Fleck aller anderen Strategielehren. Das revolutionäre Konzept der Neurostrategie unterscheidet sich dadurch, dass der Unternehmer, der Stratege, selbst in den Mittelpunkt des Konzepts rückt. Hast du gelernt, nicht nur eine Strategie zu entwickeln, sondern kontinuierlich strategisch zu denken, zu fühlen und zu handeln? "Die Kunst, seine Kunden zu lieben" ist ein Praxisbuch – eine Geschichte – und keine trockene Theorie. In diesem Businessroman triffst du auf den Unternehmer Olli Steinbach, der aufgrund frustrierender Erlebnisse mit den eigenen Kunden in ein tiefes Motivationsloch fällt. Der Unternehmer und Coach Wolfgang Radies (bekannt aus "Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer") hinterfragt und unterstützt. Er zeigt Olli nicht nur, warum die meisten Strategien in der Praxis nicht funktionieren, sondern nimmt ihn auch mit auf eine emotionale Reise, bei der Olli sowohl für die Strategie seines Unternehmens als auch für sich und sein eigenes Leben völlig neue Perspektiven entwickelt. Mehrere Leser dieses Buchs gewannen den Strategiepreis des Strategieforums. Viele verfünf- oder verzehnfachten ihren Umsatz innerhalb eines Jahres. Handwerker erzielten einen Deckungsbeitrag von 230 Euro pro Handwerkerstunde usw. Die meisten reduzierten ihren Stress mit Kunden dramatisch und schufen viel erfüllendere Kundenbeziehungen. Und viele erzielten eine solche Alleinstellung, dass sie schlicht keine Wettbewerber mehr hatten. Wie du selbst zum Strategen wirst, steht in diesem Buch.

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Stefan Merath

Die Kunst seine Kunden zu lieben

Neurostrategie© für Unternehmer

Gewidmet Anja Frey

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

8. Auflage 2021

© 2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2011 erschienenen Buchtitel »Die Kunst seine Kunden zu lieben« von Stefan Merath © 2011 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-176-5

ISBN epub: 978-3-86200-925-1

Lektorat: Claudia Lange, Renningen | www.bookpartner.de

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Umschlagfoto: Valua Vitaly/shutterstock images

Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de

8. Auflage 2021

© 2011 GABAL Verlag, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

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Inhalt

1.Die alte Welt

1.1Der Ausbruchsversuch

1.2Der Absturz

2.Begegnung mit dem Mentor

2.1Der Unternehmercoach

2.2Die Herausarbeitung des Grundmotivs/Antreibers

3.Die neue Sicht auf Strategie

3.1Wer entwickelt die Strategie?

3.2Der einzige Zweck eines jeden Unternehmens

3.3Die vier Prinzipien der Strategie

3.4Unternehmertypen und die Motive des Unternehmers

3.5Das Handlungsmodell

3.6Die strategische Idee und die Verwirklichung

3.7Neurostrategie®

4.Zugehörigkeit und Lieblingszielgruppe

4.1Zugehörigkeit

4.2Hausaufgaben und Commitment

5.Entwicklung der strategischen Idee

5.1Suche und Zuspitzung

5.2Warum die Beschäftigung mit Stärken schadet

5.3Zielgruppe

5.4Der Zirkel

5.5Die Aufmerksamkeit der Zielgruppe

5.6Innovation

5.7Die Vision

5.8Positionierung

5.9Abschluss

6.Die Hölle

6.1Das wirkliche Leben

6.2Strategische Muster

6.3Die Illusion der Sicherheit durch Pläne

6.4Das Risiko vieler Zielgruppen

6.5Liebe

6.6Angst

6.7Die Mitarbeiter

7.Das Paradies

Warum?

Was nach dem Erscheinen des Buchs geschah oder wie ich Richard Branson nach Deutschland holte

Literaturhinweise

Sach- und Personenregister

1.Die alte Welt

1.1Der Ausbruchsversuch

»Du hast dich wirklich sehr verändert«, stellte Sofia fasziniert fest.

Wir saßen den zweiten Abend am Strand von Nusa Dua Beach. Nach knapp 20 Jahren waren wir uns ausgerechnet auf Bali wieder begegnet. Ganz zufällig. Die Welt wurde klein. Sofia war Italienerin, wir hatten uns vor 20 Jahren in Kalifornien kennengelernt und ein paar wunderschöne Wochen gemeinsam beim Surfen in San Diego verbracht. Nach einem nächtlichen Streit war Sofia am nächsten Morgen urplötzlich weg gewesen. Und nun saß ich mit ihr in Bali am Strand, wir tauschten Erinnerungen aus und erzählten uns, was in der Zwischenzeit in unseren Leben passiert war.

»Als ich dich damals kennengelernt habe, warst du völlig planlos«, fügte sie ihrer Feststellung lächelnd hinzu.

»Nein, das ist dir nur so vorgekommen, weil du so fokussiert warst«, konterte ich beinahe reflexartig.

»Versteh mich nicht falsch«, sagte sie und hob abwehrend die Hand, »das war nicht als Kritik gemeint. Du wirkst heute so klar und so, als ob du genau wüsstest, was du willst. Das war damals ganz anders.«

»Okay, das stimmt«, musste ich lachend zugeben. »Aber das ist noch nicht sehr lange so.«

»Dann erzähl mal.«

»Das kann aber länger dauern«, entgegnete ich zögernd.

»Wir haben doch Zeit, oder nicht?«

»Ich bin noch drei Tage hier«, schränkte ich ein.

»Also bitte! In drei Tagen lässt sich doch eine ganze Menge erzählen. Und wenn ich keine Lust mehr habe, dann sage ich schon Bescheid.«

»Also gut«, freute ich mich. Ich hatte diese Geschichte bislang noch niemandem erzählt und so war es auch für mich eine Gelegenheit, mir die Ereignisse der letzten Monate nochmals zu vergegenwärtigen. »Bis vor ungefähr einem viertel Jahr war ich ähnlich planlos wie damals, als wir uns kennengelernt haben. Ich glaube, ich habe Dinge gemacht und mitgemacht, für die ich mich heute lieber verstecken würde. Aber auf einmal sind ein paar Sachen passiert, deren Bedeutung ich erst dann verstanden habe, als alles ins Wanken geraten war …«

Meine Gedanken schweiften zurück: Angefangen hat alles im letzten Herbst, am 4. November, an das Datum erinnere ich mich genau. Ich saß mit Alexa, meiner Projektleiterin, im Büro meiner Eventagentur OS Event GmbH.

Ich hatte gerade eben den Hörer aufgelegt, fühlte mich aufgeregt und damit zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder richtig gut und lebendig. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt allerdings gewusst hätte, was alles durch dieses eine Telefonat in Gang gesetzt wurde, dann hätte ich es wohl nicht geführt. Oder vielleicht doch? Vielleicht gerade deshalb?

In diesem Telefonat hatte ich unserem bislang wichtigsten Kunden, Herrn Bäumler, dem für Inhouse-Messen zuständigen Manager eines DAX30-Konzerns, erklärt, dass wir nicht mehr für ihn arbeiten würden. Und dass er sich sein Event gerne sonstwohin klemmen könne. Das wollte ich ihm eigentlich schon lange mal sagen, aber ich hatte mich nie getraut: Die Hand, die einen füttert, beißt man nicht.

In derselben Sekunde, als ich grinsend auflegte, konnte sich Alexa, die das ganze Gespräch mit verfolgt hatte, nicht mehr halten: »Oliver, spinnst du? Das ist unser wichtigster Kunde! Ich hätte das Problem bestimmt lösen können! Du kannst doch nicht einfach die Geschäftsbeziehung zu unserem wichtigsten Kunden beenden! Wozu habe ich mir mit diesem Kunden in den letzten zwei Jahren die Nächte um die Ohren geschlagen?«

Schon während des Gesprächs war Alexa die Kinnlade immer weiter heruntergeklappt. Mehrfach hatte sie versucht, mit Handzeichen auf sich aufmerksam zu machen und mich zu beschwichtigen. Aber mit ihrer weißen, gestärkten Bluse, ihrer dunklen, strengen Brille und ihrem geraden Rücken war sie mir gar zu pedantisch und kleingeistig erschienen.

Sie war eben kein Chef und verstand nicht, dass man manchmal Entscheidungen treffen musste. Und ich hatte eben die Entscheidung getroffen, mich nicht mehr von meinen Kunden gängeln und niedermachen zu lassen. So einfach war das!

Bevor ich noch antworten konnte, kam Dago zur Tür herein und blickte zwischen Alexa und mir hin und her. Dago Gerburg war mein Verkäufer. Er ist 1,93 m groß, 27 Jahre jung und dynamisch, hat straffe Schultern und stechende, willensstarke Augen. Vielleicht sind seine Designerklamotten und seine italienischen Schuhe etwas übertrieben, aber als Verkäufer ist er exzellent. Und so übersah ich diese Übertreibungen einfach.

Sofort bemerkte er, dass die Stimmung zwischen Alexa und mir nicht die beste war. Für eine halbe Sekunde erschien ein feines Lächeln auf seinem Gesicht, bevor er mich fragend anblickte: »Hier ist doch etwas passiert, oder?«

Langsam nickte ich: »Ja, Alexa war heute Morgen bei Herrn Bäumler, um dessen Kundenkonferenz Anfang Dezember vorzubereiten.«

»Ja, cool, dass ich dieses Projekt geholt habe, nicht?«, brüstete sich Dago. »Ist irgendwas nicht in Ordnung damit?«

»Der ganze Auftrag war zeitlich viel zu knapp kalkuliert, Dago«, erwiderte Alexa ziemlich kühl.

»Und?«, fragte Dago.

»Du hast dem Kunden in Aussicht gestellt, dass alles machbar sei, nur kamen heute Morgen noch weitere Anforderungen dazu, die vorher gar nicht besprochen worden waren«, ergänzte Alexa. »Auf einmal wollten sie diese neuen Leuchttische, weil Bäumler die irgendwo gesehen hatte. Die können wir aber in dem Hotel nicht einsetzen, weil das mit der Stromversorgung nicht funktioniert. Ich hab ihm zwei Alternativen vorgeschlagen, was mich dreieinhalb Extrastunden gekostet hat, aber er wollte nicht darauf eingehen.«

»Und dann ist Herr Bäumler unverschämt und ausfallend geworden«, erzählte ich weiter. »Er hat gerade bei mir angerufen, um sich über Alexa und unsere mangelnde Flexibilität zu beschweren.«

»Das glaube ich jetzt nicht«, schaltete sich Dago entrüstet ein. »Ich ziehe dieses geile Projekt an Land und dann soll es an ein paar Details scheitern, Alexa?«

»Gar nicht!«, verteidigte sich Alexa. »Aber so war es einfach nicht umzusetzen. Allerdings konnte ich nicht ahnen, dass Olli den Kunden deswegen gleich in die Wüste schickt.«

Dago blickte entgeistert zwischen uns hin und her.

So erklärte ich: »Ich habe keine Lust mehr, mit Kunden zu tun zu haben, die permanent meckern und glauben, sie seien die Götter, und uns das spüren lassen! Übel an dem Bäumler fand ich, dass er so tut, als wären wir ohne sein Unternehmen überhaupt nicht überlebensfähig. Wir wären nur eine von tausend anderen Firmen, hat er gesagt. Das möchte ich sehen, wie er das zeitlich noch hinkriegen will, dass jemand anders dieses Projekt übernimmt. Mit den Kunden ist es immer dasselbe, sie sind einfach lästig, wie mein Vater sagt. Ich musste einfach ein Exempel statuieren, und jetzt geht’s mir besser.«

Dago fand langsam seine Sprache wieder: »Kein Wunder, dass wir permanent Stress mit unseren Kunden haben, wenn Alexa dauernd alles versiebt. Voll krass!«

»Dago, wer hat denn bei der Projektakquise vergessen, die Details zu besprechen? Wer akquiriert denn Aufträge, die unter normalen Bedingungen gar nicht umzusetzen sind? Und was ist mit einem Puffer für Sonderwünsche der Kunden?«

»Du hast ja keine Ahnung vom Markt«, fauchte Dago sie wütend an. »Da draußen herrscht Krieg!«

»Dago hat recht, Alexa«, versuchte ich den Schlagabtausch zu beenden. »Und im Falle von Bäumler musst du dir den Schuh schon anziehen, dass das in die Hose gegangen ist! Außerdem hast du Bäumler so die Gelegenheit gegeben, mir richtig einen reinzuwürgen. Der behauptet jetzt, dass wir ohne seine Aufträge nicht mehr lange am Markt sein werden. Wie findest du das?«

Alexa biss sich auf die Lippen.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Dago.

»Ich kümmere mich erst einmal um meine laufenden Projekte«, sagte Alexa frostig, drehte sich auf dem Absatz um und verließ mein Büro.

Vermutlich würde ich sie durch eine bessere und engagiertere Mitarbeiterin ersetzen müssen. Dago war eben ein Adler und Alexa eine Ente.*

Als Alexa draußen war, blickte Dago zu mir: »Hast du schon mal daran gedacht, Alexa zu feuern? Ich habe schließlich keine Lust, hier meine ganze Energie reinzustecken, nur damit Alexa das gegen die Wand fährt, was ich angeschoben habe. Ich will Performance! Und eine Company, die Profit macht.«

Nachdenklich nickte ich: »Ja, daran habe ich schon gedacht. Aber Alexa ist schon so lange bei uns und war immer loyal. Ich möchte ihr gerne noch eine Chance geben.«

Dago schüttelte den Kopf: »Solche Sentimentalitäten können wir uns in der jetzigen Situation nicht leisten. Aber«, fuhr er dann, weil er merkte, dass ich mich nicht umstimmen lassen würde, versöhnlicher fort, »du bist der Boss. Und ich denke, wir müssen nach vorne schauen: Ich habe übrigens schon einen anderen Interessenten an der Angel.«

»Klasse, Dago«, erwiderte ich erfreut.

»Außerdem sollten wir mal grundsätzlich über die Strategie der Firma diskutieren. Jetzt, wo Bäumler weg ist, sollten wir uns schon ein paar längerfristige Gedanken machen, um den Umsatzausfall aufzufangen.«

»Gute Idee. Wir setzen uns gleich morgen früh zusammen«, stimmte ich zu.

»Du weißt ja, dass Strategie eines meiner Hauptthemen im BWL-Studium war. Da fällt mir schon etwas ein«, sagte Dago und verließ mit einem selbstbewussten Lächeln mein Büro.

Da ich das Gefühl hatte, für heute genug getan zu haben, zog ich meinen Mantel an und fuhr nach Hause. Als ich dort allein herumsaß – meine Freundin hatte sich schon vor einem halben Jahr von mir getrennt –, wurde mir nach und nach meine Situation bewusst.

Vier Jahre zuvor hatte ich genug davon gehabt, als Freelancer von einer Eventagentur zur nächsten zu tingeln. Ich wusste auch, dass ich besser war als die meisten meiner Arbeitgeber. Immer wenn es irgendwo brannte, fand ich die Lösung. Ich war der Troubleshooter.

Zudem hatte ich einige gute Kontakte zu den Kunden meiner ehemaligen Arbeitgeber. Diese hatten ja mitbekommen, dass ich in einigen wirklich kritischen Situationen die Kohlen aus dem Feuer geholt hatte. So beschloss ich, mich selbstständig zu machen – nach einem völlig missglückten Versuch Anfang der 1990er-Jahre zum zweiten Mal.

Eventmanagement fand ich klasse und ich wollte besser sein als all die anderen tausend Anbieter. Außerdem wollte ich Kohle machen. Möglichst schnell und möglichst viel, was mir auch gelang. Ich konnte einige Kunden meiner ehemaligen Arbeitgeber überzeugen zu wechseln. Bald waren wir – je nach Projektauslastung – vier bis zehn Mitarbeiter. Ich konnte mir ein Gehalt von 12 000 Euro im Monat auszahlen, endlich meine heiß ersehnte Bang & Olufsen-Anlage kaufen. Und ich konnte, auch wenn ich dazu manchmal zu Auktionen um die Welt jetten musste, meine Sammlung von Drumsticks berühmter Schlagzeuger aufbauen und erweitern.

Das ging die ersten zwei oder drei Jahre gut. Dann begann mich die Lust an meiner Firma zu verlassen. Meine alte Krankheit flackerte wieder auf: Alles in meinem Leben hatte ich voller Elan begonnen, ein bis drei Jahre gemacht und dann gelangweilt beendet. Aber dieses Mal hatte ich das Gefühl, nicht einfach gehen zu können. Zwar war der finanzielle Puffer da und die Firma schuldenfrei, aber ich fühlte mich gegenüber meinen Mitarbeitern verantwortlich. Und: Mir selbst wäre es wie ein weiteres Scheitern vorgekommen, wie eine Flucht. Das wollte ich mir nicht eingestehen. Und mein Vater und meine Schwester hätten wohl auch wieder nur Hohn und Spott über mir ausgeschüttet – wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen.

Während des letzten Jahres verlor ich zunehmend meine Motivation. Mal hatte ich eine neue Idee und verfolgte sie zwei oder drei Wochen lang voller Elan. Mal hatte ich nicht die geringste Lust und stierte zum Fenster hinaus, spielte während der Arbeit irgendwelche Netzwerk-Games, blätterte die Online-Kataloge von Auktionshäusern durch oder ging manchmal sogar einfach früher nach Hause. Manchmal ging ich erst gar nicht ins Büro.

Meine Mitarbeiter und vor allem meine Kunden gingen mir zunehmend auf die Nerven. Dauernd wollten sie was von mir. Die meisten Kunden behandelten uns wie Lakaien und wurden zunehmend meine Feinde.

Nur Dago brachte weitgehend selbstständig neue Aufträge herein. Er war wirklich ein Glücksgriff. Da mir aber nicht wirklich klar war, warum so ein erfolgshungriger Senkrechtstarter nun ausgerechnet in meiner Firma arbeitete, hatte ich auch permanent Angst, ihn zu verlieren. Um dem entgegenzuwirken, hatte ich ihm schon einen Audi TT als Dienstwagen gegeben. Und sein iPhone samt seiner aberwitzigen Telefonrechnung zahlte ich auch. Aber ob das auf Dauer reichen würde?

Die Firma machte zwar noch keine Verluste, aber um das positive Vorzeichen beim Ergebnis zu behalten, hatte ich vor drei Monaten mein Gehalt schon auf 9000 Euro reduzieren müssen. Und wenn ich ehrlich zu mir war, dann wusste ich, dass das noch nicht das untere Ende war. Vor allem jetzt, nachdem ich Herrn Bäumler abgeschossen hatte.

Weitermachen oder die Tür abschließen? Das war die entscheidende Frage!

»Und, wie hast du dich entschieden?«, fragte Sofia, während ich langsam wieder aus der Erinnerung auftauchte.

Ich blickte auf die Wellen und schwieg eine ganze Zeit lang. Dann sinnierte ich: »Ich glaube, das beherrschende Gefühl war die Angst vor der Leere, vor dem Versagen. Mir wurde klar, dass das Gespräch mit Herrn Bäumler Fakten geschaffen hatte, die eine Entscheidung von mir erzwangen. Das gab mir Energie und ich beschloss, meine Firma auf den Erfolgsweg zurückzubringen.«

»Das scheint dir geglückt zu sein«, forderte sie mich zum Weiterreden auf.

»Ja«, nickte ich. »Allerdings nicht so, wie ich es mir an diesem Spätnachmittag vorgestellt hatte.«

»Wie denn dann?«, fragte Sofia neugierig.

Ich nahm meine Erzählung wieder auf.

1.2Der Absturz

Zwei Wochen später fand ich mich in ziemlich desolater Stimmung in meiner Lieblingsbar wieder. Ich wartete auf Thomas, einen Unternehmer, den ich vor zweieinhalb Jahren auf einem Kongress kennengelernt hatte. Wir hatten uns danach ein paarmal getroffen und er schien zu der kleinen Gruppe zu gehören, die es geschafft hatte.

Ich war viel zu früh dran gewesen, und als Thomas schließlich pünktlich eintraf, hatte ich schon einen Vorsprung von drei Kölsch, den ich im Verlauf des Abends noch deutlich ausbaute. Thomas kapierte wohl sofort, wie es um mich stand, bestellte auch und forderte mich auf zu erzählen.

Zuerst erzählte ich ihm von meinem Telefonat mit Herrn Bäumler. Und wie dieser zwei Tage nach jenem Gespräch doch wieder angekrochen gekommen war und allen unseren Vorschlägen zugestimmt hatte. Vermutlich war seinem Chef aufgegangen, dass sie ihren Event ohne uns unmöglich in der kurzen Zeit organisiert bekämen und so hatte er Bäumler gehörig den Kopf gewaschen. Geschah ihm recht!

Ich erzählte ihm auch vom Strategie-Meeting mit Dago und meiner Hoffnung, dass danach alles anders werden würde. Aber so war es nicht gekommen: »Ich weiß nicht so recht. Vor zwei Wochen hatte ich noch geglaubt, ich hätte eine neue, durchschlagende Strategie für mein Unternehmen gefunden, aber heute hat sich alles wieder zerschlagen.«

»Was war das denn für eine Strategie?«, wollte Thomas wissen.

»Ich habe mit Dago eine SWOT- und eine Portfolio-Analyse gemacht. Wir wollten uns für die nächsten Wochen auf die Veranstalter von Weihnachtsfeiern und Neujahrsempfängen konzentrieren – vor allem, weil die unter Termindruck stehen und deshalb der Vertriebsprozess hoffentlich schneller vorangehen würde.

Dann schlug Dago vor, drei unserer Bestandskunden, die dieses Jahr aufgrund der Krise und interner Sparmaßnahmen ein jährliches Event ausfallen lassen wollten, mit einem kleinen Trick doch zu einem Event zu überreden.«

»Was für ein Trick?«

»Wir hatten ja immer alles für diese Kunden organisiert, also auch die Einladungen verschickt. Dago wollte nun einfach wieder Einladungen verschicken, obwohl gar kein Event geplant war. Unmittelbar darauf sollten wir unseren Kunden anrufen und uns für unseren Fehler entschuldigen; für das Mailing, das aus Versehen rausgegangen sei. Und unser Kunde, so Dago, müsste dann zwingend das Event doch machen, da ihm ja keiner glauben würde, dass es ein Fehler der Eventagentur gewesen sei.«

»Dein Dago scheint ein bisschen übermotiviert zu sein«, schüttelte Thomas den Kopf. »Ich würde mich von so jemandem sofort trennen.«

»Ich habe seinen Vorschlag ja auch nicht akzeptiert.«

»Gut, und was ist dann heute passiert? Warum meinst du, dass eure Strategie nicht funktioniert?«, wandte sich Thomas wieder dem Kern meines Berichts zu.

»Dago hat einen Kunden angeschleppt, einen großen, nicht börsennotierten Konzern. Der Verantwortliche, Herr Kronau, wollte nur noch kurz mit mir sprechen. Reine Formsache, wie es hieß.«

»Und dann?«

»Dann wollte der noch zusätzliche Leistungen und zehn Prozent Nachlass. Als ich mich wehrte, sagte er, dass wir nur eine von vielen anderen Firmen wären. Da warf ich ihn aus der Leitung und verzichtete auf den Auftrag. Wie bei Bäumler zwei Wochen zuvor. Dann forderte ich Dago auf, mir endlich vernünftige Kunden zu bringen.«

»Und Dago?«

»Verlangte trotzdem seine Provision und warf mir vor, viel zu klein zu denken. Zitierte irgendwas von diesem Opa mit der Tolle und den Mädels.«

»Von Donald Trump?«

»Ja. ›Groß denken ist genauso kompliziert wie klein denken. Also kann ich auch gleich groß denken‹, oder so ähnlich. Dago behauptet, große Kunden seien eben so.

Am liebsten würde ich meine Firma schließen«, beendete ich meine Ausführung und Thomas und ich überließen uns unseren Gedanken.

Weitere zwei Kölsch später fragte ich ihn: »Du machst den Eindruck, als ob dir alles gelingen würde. Wie schaffst du das?«

Nachdenklich erwiderte Thomas: »Ja, seit etwa drei Jahren gelingt mir ziemlich viel. Zumindest, wenn ich es an deinen Maßstäben messe. Oder an meinen Maßstäben vor fast vier Jahren.«

»Was ist damals passiert?«, wollte ich wissen.

»Ich hatte mich krankenhausreif gearbeitet, meine Partnerschaft ging in die Brüche und meine damalige Firma stand kurz vor dem Ende. Es funktionierte gar nichts mehr. Ich glaube, es war sogar noch schlimmer als bei dir jetzt. Du bist wenigstens gesund.«

»Und dann?«, fragte ich neugierig. Vermutlich erwartete ich in meinem schon ziemlich angetrunkenen Zustand ein Patentrezept, das ich einfach übernehmen könnte.

»Dann lernte ich einen Unternehmercoach kennen«, erwiderte Thomas.

»Na toll!«, sagte ich enttäuscht. »Einen Berater! Was soll ich denn damit? Dago hat auch BWL studiert und mir die letzten Wochen geholfen. Oder zumindest erschien es mir so. Da brauche ich nicht noch einen Berater!«

»Hat Dago ein eigenes Unternehmen?«, fragte Thomas.

»Nein«, erwiderte ich. »Ich sagte doch eben, er hat BWL studiert. Und er ist erst 27 Jahre alt. Wie soll er da ein eigenes Unternehmen gehabt haben?«

»Würdest du von jemandem schwimmen lernen wollen, der noch nie geschwommen ist, aber behauptet, er wüsste zumindest theoretisch, wie das gehen müsste?«

»Nein, sicher nicht!«

»Genau! Und dieser Unternehmercoach hat zwar nie BWL studiert, aber dafür mehr als 25 Jahre eigene Unternehmen geführt. Glaubst du nicht auch, dass der ein bisschen mehr wissen müsste als dein Jüngelchen Dago?«

»Du meinst so wie mein Vater? Der ist Bauunternehmer und führt auch seit 35 Jahren sein eigenes Unternehmen. Im Wesentlichen bekommt er seine öffentlichen Bauaufträge durch nichtöffentliches Bakschisch«, schüttelte ich meinen Kopf. »Darauf kann ich verzichten.«

»Olli, du machst es mir heute aber schwer!«, erwiderte Thomas ungeduldig. »Hat dir dein Vater etwa geholfen? Und selbst wenn er es versucht hätte, hättest du es angenommen?«

»Okay, schon gut«, lenkte ich ein und bestellte mein siebtes Kölsch. »Und was hat dieser Berater so Tolles gesagt?«

»Er hat meine Sicht auf mich und mein Unternehmen verändert«, erwiderte Thomas langsam.

»Na und?«, fragte ich. »Vor drei Jahren fand ich mein Unternehmen toll. Und jetzt kann ich damit nichts mehr anfangen. Jetzt habe ich eine andere Sicht. Was soll mir das bringen?«

Kopfschüttelnd grinste Thomas mich an: »Vielleicht hast du noch nicht die richtige Sichtweise. Aber trotzdem ist das ein gutes Beispiel. Mit einer anderen Sicht auf die Dinge handelst du automatisch anders: Vor drei Jahren, als du dein Unternehmen toll fandest, hast du um diese Uhrzeit mit Sicherheit gearbeitet und es hat dir vermutlich Spaß gemacht. Heute hast du eine andere Sicht auf dein Unternehmen. Deshalb handelst du automatisch anders: Du sitzt hier in einer Bar und betrinkst dich.

Die Emotionen, die sich aus unseren Sichtweisen ergeben, bestimmen unsere Handlungen.«

Langsam verstand ich durch meinen Bier-Nebel hindurch, was er mir sagen wollte. »Ich muss mein Unternehmen also nur richtig sehen, dann wird alles gut? Meinst du das?«

»Zwar nicht unmittelbar und sofort«, nickte Thomas. »Aber mittelfristig wird es besser, ja!«

»Und wie muss ich mein Unternehmen dann sehen?«

»Zuerst musst du dich anders sehen«, erklärte Thomas.* »Herr Radies, so heißt der Unternehmercoach, erklärte mir damals den Unterschied zwischen den drei Rollen einer Fachkraft, eines Managers und eines Unternehmers. Die Fachkraft ist die Person im Unternehmen, die die Dinge macht – im Falle einer guten Fachkraft so schnell und so gut wie möglich. Der Manager ist derjenige im Unternehmen, der Strukturen schafft und dafür sorgt, dass das Unternehmen auch bei unterschiedlichen Fachkräften Leistungen gleichbleibender Qualität hervorbringt. Und der Unternehmer ist die Idee, die treibende Kraft hinter allem.«

»Verstehe ich nicht«, erwiderte ich. »Ich selbst mache alles. Ich arbeite, ich versuche meinen Hühnerhaufen zusammenzuhalten und ich bin die treibende Kraft. Wozu brauche ich die drei Rollen?«

»Ganz einfach: Die meisten Selbstständigen haben, wie Michael Gerber sich ausdrückt, zu Beginn einen unternehmerischen Anfall, also eine Idee. Aber dann beginnen sie als Fachkraft. Und wenn sie erfolgreich werden, bleiben sie Fachkraft. Die Aufgaben des Managers und Unternehmers übernehmen sie fast nie oder doch nur zu einem winzig kleinen Teil. Meist sehen sie diese Aufgaben noch nicht einmal.«

»Betrifft mich nicht«, schüttelte ich den Kopf. »Ich bin ja die treibende Kraft. Ich kümmere mich um meine Mitarbeiter, ich verkaufe, ich bin in der Umsetzung drin, mache die Abrechnung und noch ein paar Dinge mehr. Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst. Ich mache das doch alles.«

»Genau darin lag mein Problem damals auch«, erwiderte Thomas. »Ich habe alles gemacht. Leider kann man nicht alle drei Rollen gleichzeitig gut ausführen. Sie unterscheiden sich im Mindset, im Blick auf die Welt.«

»Wie meinst du das?«

»Herr Radies hat mir das damals an einem Bild erklärt. Stell dir vor, du bist in einem Dschungel. Da gibt es Leute, die hauen mit ihren Macheten den Weg frei. Das sind die Fachkräfte. Dann gibt es solche, die sorgen dafür, dass alle in dieselbe Richtung hacken und bei Müdigkeit ausgetauscht werden. Das sind die Manager. Und schließlich gibt es einen, der oben im Baum sitzt und – wie Herr Radies es so schön ausgedrückt hatte – herunterruft: ›Hey, Jungs und Mädels, wir sind im falschen Wald!‹. Das ist der Unternehmer.

Nun unterscheiden sich die Rollen nach Anlass, nach Wahrnehmung, nach dem, was eigentlich als Arbeit angesehen wird usw. Die Fachkräfte müssen den Busch direkt vor ihnen im Blick haben, damit sie die Machete richtig ansetzen und die Schlangen rechtzeitig sehen können. Der auf dem Baum hingegen muss einige Kilometer weit sehen können – wie will er sonst herausfinden, ob er im richtigen Wald ist? Die beiden Rollen erfordern also eine unterschiedliche Wahrnehmung.

Und diese Rollen widersprechen sich. Schauen die mit den Macheten nach oben, dann denken sie: Was für ein Faulenzer, der hockt da oben nur rum! Schaut der vom Baum nach unten, denkt er sich: Was für ein beschränkter Horizont! Die Konsequenz ist: Wenn du alles machst, dann musst du permanent dein Mindset wechseln. Das kannst du aber nicht.«

Langsam verstand ich, worauf Thomas hinauswollte. »Du meinst, wenn ich gleichzeitig verkaufe, manage und noch in den Projekten drin bin, dann kann ich kein guter Unternehmer sein?«

Thomas nickte: »Ja, so ungefähr kann man das sagen. Und es kommt noch etwas dazu. Die anderen Bereiche, also die Fachkraft- und die Manager-Rolle, fressen so viel Kraft, dass dir diese Kraft nicht mehr für die Unternehmerrolle zur Verfügung steht. Und wie willst du dann die Energie und die treibende Kraft hinter allem sein, wenn du nur noch müde und ausgelaugt bist?«

»Die ersten Jahre ging das ganz gut«, erwiderte ich.

»Die ersten Jahre geht das immer ganz gut. Und dann kommt der Punkt, an dem die Energie aufgebraucht ist.«

»Du meinst, dass ich seit einem guten Jahr nicht mehr die Energie von früher habe, liegt daran, dass ich alles mache?«, fragte ich nachdenklich.

»Zumindest daran, dass du alle Rollen wahrnimmst. Weil du eigentlich nicht das machst, was ein Unternehmer tun sollte. Du machst zu viel des Falschen und zu wenig des Richtigen.«

»Und was wäre das Richtige?«

»Weißt du, was dir wichtig im Leben ist? Wo du hinwillst? Warum du das machst, was du machst?«

Diese Fragen hätten auf mich bestimmt nicht so intensiv gewirkt, wenn ich nüchtern gewesen wäre. Aber so schlugen sie voll ein. Nach einer längeren Denkpause schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich habe keine Ahnung! Ich habe immer irgendwelche Dinge begonnen und dann nach einiger Zeit abgebrochen und etwas Neues gemacht. Und ich fürchte, jetzt ist es auch wieder so weit. Eigentlich habe ich keine Lust mehr auf meine Firma. Sie kommt mir seit einem Jahr meistens so vor wie die diese Bleikugeln, die man früher Gefangenen ans Bein gekettet hat. Und um das zu ändern, müsste ich einfach herausfinden, wo ich im Leben hin will?«

»Na ja, ganz so einfach ist es auch nicht«, grinste Thomas. »Sonst sind wir bei den Leuten, die sich einfach beim Universum etwas wünschen und hinterher sauer sind, dass sie es nicht bekommen.«

Nein, wenn du weißt, was für dich das Richtige im Leben ist, kannst du mit den ganzen anderen Aufgaben* des Unternehmers beginnen.

Diese bestehen darin, erstens Grundmotiv und Vision festzulegen, zweitens Strategie und Positionierung zu entwickeln, drittens die richtigen anderen Menschen anzuziehen und einzubinden, viertens alte Dinge loszuwerden, fünftens die Umsetzung zu garantieren, sechstens sich selbst weiterzuentwickeln und siebtens die Übergabe an den Nachfolger zu sichern.«

»Dazu hatte ich überhaupt keine Zeit. Ich musste ja Umsatz machen«, warf ich ein.

»Eben! Und dann nimmst du die Aufgaben des Unternehmers nicht wahr. Und wenn du das nicht tust, dann wirst du immer solche Probleme haben wie jetzt. Ich hatte sie ja früher auch.

Ich glaube, eine solche Phase, wie du sie jetzt durchmachst, ist völlig normal. Wie bei einer Partnerschaft kommen einem Unternehmer nach einiger Zeit Zweifel an seinem Unternehmen. Entweder bedeutet dies das Ende oder eine Weiterführung des Unternehmens auf einem neuen Niveau. Was jedoch in solch einer Situation nicht geht, ist einfach weiterzumachen wie bisher.«

Langsam nickte ich. »Ich glaube, du hast recht. Ich fühle mich ganz so, als ob ich mich permanent selbst sabotierte.«

»Vielleicht solltest du Herrn Radies einfach mal anrufen? Ich gebe dir die Nummer.«

»Ach nein«, schüttelte ich den Kopf. »Ich glaube, für mich ist das nichts.«

»Wenn du nüchtern wärst, würde ich jetzt für dich wählen«, grinste Thomas. »Ich habe damals auch nicht selbst gewählt. Ich gebe dir einfach die Nummer und du kannst dann immer noch entscheiden.«

* Das Bild von Ente und Adler geht auf einen angeblich indischen Schöpfungsmythos zurück, der durch die Erfolgsliteratur irrlichtert – sich aber sonst nirgendwo im Internet findet. Demnach schuf Gott zuerst die Muschel. Diese lag auf dem Meeresgrund, machte die Klappe auf – das Wasser mit den Nährstoffen strömte hindurch, dann machte sie die Klappe zu. Klappe auf, Klappe zu. Tagein, tagaus. Als Nächstes schuf Gott den Adler. Dieser konnte überall hinfliegen, wo er hin wollte – auch in die höchsten Höhen. Aber er musste jeden Tag um seine Nahrung kämpfen. Schließlich schuf Gott den Menschen. Zuerst führte er ihn zur Muschel, dann zum Adler, damit er wählen könne. Da geschah das Merkwürdige: Der Mensch entschied sich nicht für den Adler, sondern wollte eine Ente sein. Eine Ente sieht zwar oberflächlich aus wie ein Adler, fliegt aber nur ganz niedrig. Sie jagt ihr Essen nicht gern, sondern quakt, wenn sie Hunger hat. Und wenn ihr etwas nicht gefällt, quakt sie auch. Und wenn ein anderer mehr hat, quakt sie. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann quakt sie immer noch …

* Ausführlich dazu in meinem Buch Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer

* Ausführlich zu den sieben Aufgabenbereichen des Unternehmers entweder auf der Website www.unternehmercoach.com oder im Buch Der Weg zum erfolgreichen Unternehmer

2.Begegnung mit dem Mentor

2.1Der Unternehmercoach

Sofia betrachtete mich mit ihren leuchtenden Augen aufmerksam: »Das klingt ganz schön verfahren. Aber da ich jetzt keinen Alkoholiker vor mir habe, hast du offensichtlich etwas geändert? War das schon der entscheidende Wendepunkt?«

Langsam wiegte ich den Kopf: »Nein, der entscheidende Punkt noch nicht. Aber immerhin hatte ich einen Punkt erreicht, an dem ich wirklich etwas Grundlegendes ändern musste. Ich glaube manchmal, dass wirklich erfolgreiche Menschen sehr viel weniger ertragen können als erfolglose. Deshalb kommen sie immer viel früher in ihrem Leben an einen Punkt, an dem sie etwas ändern müssen. Bei mir war’s vor einem knappen Vierteljahr schon ziemlich spät.

Und es war mir damals auch noch nicht klar, wie grundlegend die Änderung sein würde.«

»Ich bin echt gespannt, wie du dein Unternehmen neu ausgerichtet hast. Du hast dann zuerst diesen Herrn Radies angerufen, richtig?«, fragte Sofia.

Langsam schweifte ich mit meinen Gedanken wieder zurück. Das Wochenende hatte ich weitestgehend im Bett verbracht. Den Samstag, weil ich wegen meines alkoholischen Absturzes Kopfschmerzen hatte. Den Sonntag, weil mir jede Energie fehlte. Als ich am Montag, den 23. November aufwachte, war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich musste etwas ändern. Die Entscheidung war gefallen.

Um neun Uhr rief ich noch von zuhause aus die Nummer an, die mir Thomas gegeben hatte. Eine Assistentin meldete sich und sagte, dass Herr Radies zurückrufen würde. Ich saß auf Kohlen. Ich wollte unbedingt starten und etwas ändern. Wie immer, wenn ich eine neue Idee habe, konnte es nicht schnell genug gehen. Aber nun gut, ich musste warten. Und so fuhr ich ins Büro.

Nachmittags um halb zwei rief er schließlich an: »Radies. Sie hatten bei mir angerufen?«

»Ja, ich habe Ihre Nummer von Thomas Willmann. Sie haben ihn vor drei Jahren gecoacht.«

»Ich erinnere mich. Wie geht es ihm?«

»Gut«, erwiderte ich. »Sehr viel besser als mir. Deswegen rufe ich auch an.«

»Hab ich mir schon fast gedacht, dass Sie aus so einem ähnlichen Grund anrufen«, antwortete er und ich konnte sein Grinsen durchs Telefon hindurch förmlich spüren. »Erzählen Sie, wie schlimm ist es?«

»Eigentlich nicht so schlimm«, begann ich. »Meine Firma ist liquide. Zwar macht sie keine großen Gewinne mehr, aber in einer richtigen Krise bin ich noch nicht.«

An der anderen Seite war es einen Moment lang ruhig. Dann erwiderte Herr Radies: »Ein Unternehmen, das keine Gewinne macht, kann man kaum als gesund bezeichnen. Klingt mir danach, als wären Sie in einer Krise, wüssten das auch, wollten sich das aber nicht eingestehen.

Gut, immerhin ermöglicht die Liquidität, die Dinge in Ruhe anzugehen. Viele Unternehmer kommen, wenn es schon zu spät ist.

Aber jetzt beschreiben Sie mal, was Sie gerne an Ihrer Situation ändern würden.«

Die folgende Viertelstunde schilderte ich ihm meine Situation. Dass ich zweimal Kunden rausgeschmissen hatte, war mir richtig peinlich. Aber ich erzählte auch das. Und schließlich erzählte ich ihm auch, dass ich oft überhaupt keine Energie mehr aufbrachte, meine Firma voranzutreiben oder auch nur darin zu arbeiten.

Herr Radies hörte zu und stellte einzelne Fragen. Schließlich antwortete er: »Hören Sie, Herr Steinbach, ich coache nur noch in wenigen Ausnahmefällen selbst. Meist macht das ein Unternehmer aus meinem Team. Aber Sie machen mich neugierig. Soll ich Ihnen verraten, warum?«

»Ja, klar!«, erwiderte ich, nun meinerseits neugierig.

»Weil Sie zweimal den Mut hatten, unpassende Kunden einfach rauszuwerfen!«

»Aber das hat doch die jetzigen Probleme erst verursacht!«, wandte ich verblüfft ein.

»Nein, nein, nein«, erwiderte Herr Radies vehement. »Die Ursachen für die Probleme liegen woanders. Vielleicht darin, dass Sie mit den falschen Kunden überhaupt begonnen haben! Jedenfalls haben Sie gespürt, dass es mit diesen Kunden nicht funktionieren würde, und handelten dann nach Ihrem Gespür. Andere Leute, wie Ihr Herr Gerburg, entscheiden sich nach dem potenziellen Gewinn. Alexa scheint sich nach Perfektion zu entscheiden. Sie haben sich trotz Risiko – und ohne zu wissen, wie es endet – für Stimmigkeit entschieden. Es musste zu Ihnen passen!

Das macht mich neugierig und deshalb coache ich Sie.«

»Super!«, entfuhr es mir begeistert. »Wann geht’s los?«

»Wie wär’s mit Freitag?«

»So schnell? Ich habe da aber noch zwei andere Termine!«, wandte ich ein.

»Würde einer dieser beiden Termine Ihr Problem grundsätzlich lösen?«, fragte Herr Radies.

»Nein«, antwortete ich nachdenklich. Dann gab ich mir einen Ruck: »Gut, wo treffen wir uns?«

»Ich bin am Freitag bei Ihnen in Köln. Sie suchen einen Raum mit angenehmem Ambiente. Wir sollten ungestört sein.«

»Gut«, erwiderte ich. »Ich würde gerne noch meinen Vertriebsmitarbeiter Dago Gerburg mitbringen, der in Rekordzeit sein BWL-Studium abgeschlossen hat. Er kann uns bestimmt behilflich sein.«

»Im ersten Schritt ist das keine gute Idee!«, lehnte Herr Radies klar ab. »Erstens geht es um Sie und Ihre Motivation. Das geht einen Mitarbeiter – zumindest während Sie noch in der Selbstfindung sind – nichts an. Zweitens scheint die Beratung durch Ihren Herrn Gerburg bislang zu keinen guten Ergebnissen geführt zu haben. Das wird er spüren, wenn er mir gegenübersitzt. Und ich habe keine Lust, unseren Tag zu verschwenden, indem ich die Verteidigungshaltung irgendeines Mitarbeiters bearbeite. Das ist hinterher Ihr Job.«

Das war deutlich! Weil ich den Termin auf jeden Fall wahrnehmen wollte, stimmte ich halbherzig zu: »Gut, wir beginnen zu zweit und können, da wir uns in Köln treffen, Dago ja später dazuholen, wenn es erforderlich sein sollte.«

»In Ordnung«, erklärte Herr Radies. »Wir sehen uns am Freitag um neun Uhr.«

2.2Die Herausarbeitung des Grundmotivs/Antreibers

Als ich am Freitag in den Besprechungsraum des Hotels trat, war Herr Radies schon da. Er schien in sich selbst zu ruhen und blickte aus dem Fenster, ein vielleicht 1,70 m großer, drahtiger Endfünfziger mit grauen Haaren. Als er mich hörte, drehte er sich langsam um, lächelte mich mit blitzenden Augen an und begrüßte mich.

Zwei Minuten später stand ich bereits am Flipchart, um meine eigene Situation zu beschreiben. Nach weiteren fünf Minuten stand dort:

Symptome

•60 Stunden Arbeit pro Woche – zu viel, aber im Rahmen

•Ich bin unzufrieden mit den meisten Kunden

•Kunden sind unzufrieden mit uns und unseren Leistungen

•Bezahlung durch die Kunden nicht adäquat

•Kein Gewinn

•Stress und Chaos im Innern

•Enten-Mitarbeiter

•Eigene Motivationsprobleme (stark schwankend)

•Fühle mich abends oft allein, leer und ausgebrannt

•Unsicher, ob ich das Unternehmen überhaupt weiterführen will

•Keine Zeit für Unternehmeraufgaben

»Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Probleme sind«, sagte ich kopfschüttelnd, als ich die Auflistung betrachtete. »Womit beginnen wir?«

»Wer hat Ihr Unternehmen geschaffen?«, fragte Herr Radies.

»Was soll die Frage?«, erwiderte ich erstaunt. »Ich natürlich. Es ist ja mein Unternehmen.«

»Gut«, nickte Herr Radies. »Und warum haben Sie Ihr Unternehmen so geschaffen, wie es jetzt ist?«

Völlig verblüfft blickte ich ihn an. Da hatte er nur zwei Fragen gestellt und schon war ich mir meiner Verantwortung für meine jetzige Situation auf eine neue Art und Weise bewusst. »Sie meinen, ich habe Fehler beim Aufbau meines Unternehmens gemacht?«

»Sicherlich auch. Die machen wir alle. Aber Fehler korrigieren wir auch irgendwann. Was ich meine, ist etwas anderes. Sie haben Ihr Unternehmen genau so gebaut, wie Sie es haben wollten.«

»Das ist doch Schwachsinn!«, erwiderte ich vehement. »Natürlich will ich Gewinne erzielen! Und auf dieses Kunden- und Mitarbeiter-Chaos habe ich überhaupt keine Lust.«

»Kennen Sie Menschen, die unbedingt eine Partnerin haben wollen?«, fragte Herr Radies.

»Ja, einige«, nickte ich.

»Und kennen Sie darunter welche, die immer, wenn es ernst wird, aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen einen Rückzieher machen?«

»Natürlich«, nickte ich wieder. »Ich glaube, in Wirklichkeit ist denen die Freiheit oder eine Form des Selbstschutzes oder irgendetwas anderes wichtiger. Warum?«

»Weil es bei Unternehmern, die vordergründig Gewinn erzielen wollen und aus irgendwelchen Gründen keinen machen, genau dasselbe ist. Irgendetwas anderes ist wichtiger.

Wissen Sie, Ihr Unternehmen ist der Spiegel Ihrer Persönlichkeit. Wenn Sie etwas ändern wollen, dann kommen Sie nicht umhin, bei Ihrer Persönlichkeit zu beginnen.«

Das konnte ja ein lustiger Tag werden! Andererseits wollte ich wirklich etwas ändern und lenkte deshalb ein: »Und wie beginnen wir da?«

»Wenn wir ein zu Ihnen passendes Unternehmen bauen wollen, dann müssen wir Ihr Grundmotiv kennen. Das Motiv, nach dem Sie alles in Ihrem Leben ausrichten. Das ist der Beginn! Offensichtlich gibt es für Sie etwas Wichtigeres als Gewinne und die Vermeidung von Chaos. Und das müssen wir kennen. Mit dem persönlichen Grundmotiv des Unternehmers beginnt jede Neuausrichtung eines Unternehmens.

Dieses Grundmotiv erfahren wir, indem Sie mir von sich erzählen. Was haben Sie warum in Ihrem Leben gemacht? Warum sind Sie Unternehmer geworden? Was ist Ihnen wichtig? Sie erzählen und ich stelle Ihnen Fragen. Ich will wissen, wie Sie ticken und wie Sie glauben zu ticken.«

»Und wo soll ich anfangen?«

»Erzählen Sie mir von den Wendepunkten in Ihrem Leben. Warum Sie mit etwas aufgehört haben. Warum Sie etwas Neues begonnen haben. Erzählen Sie mir von Träumen, die Sie verwirklicht haben, und solchen, die Sie aufgegeben haben. Erzählen Sie mir von emotionalen Situationen in Ihrem Leben!«

»Das kann aber lange dauern«, wandte ich ein.

»Oh, ich hab Zeit«, lachte Herr Radies.

Zuerst wusste ich nicht so recht, wo ich anfangen sollte. Dann sprang ich sozusagen mitten hinein und war selbst überrascht, mich 1990 in Berlin wiederzufinden. Und so erzählte ich ausführlich, wie ich unmittelbar nach dem Abitur im Jahr 1990 nach Berlin gezogen war. Wie ich die Aufbruchsstimmung genoss und auch etwas machen wollte. Und wie ich dann meinen Club gründete.

»Was war Ihr Motiv hinter dieser Gründung?«

»Ich wollte einfach mit dabei sein, selbst etwas gestalten. Ist doch klar, dass man unmittelbar nach der Schule erst mal seinen Freiraum genießt und ausprobieren will, oder?«

»Und wie lief das dann?«

»Das war alles völlig illegal. In diesem Jahr vor der Wiedervereinigung gab es ja praktisch keine Staatsmacht im Ostteil Berlins, die irgendwas hätte kontrollieren können. Aber das war auch egal. Es war cool, mein Club war angesagt und es kamen immer mehr Leute. Der Laden war rammelvoll. Es herrschte eine absolut irre Aufbruchsstimmung. Ich stand im Mittelpunkt und das gefiel mir. Meine drei Jahre jüngere Schwester Julia kam in den Ferien zu Besuch und ging völlig in der Szene auf. Ich kann mich noch heute daran erinnern, wie sie mich damals anhimmelte.

Später waren dann andere an der Front. Ich versuchte im Hintergrund zu managen. Aber mit dem Geld gab es dauernd Probleme. Es blieb einfach kein Geld hängen. Eigentlich ganz im Gegenteil. Ich glaube, alle Leute, die damals für mich arbeiteten, griffen dauernd in die Kasse. Und nur die Hälfte der Kunden bezahlte überhaupt etwas. Da das Ganze im praktisch rechtsfreien Raum der Wendezeit stattfand, gab es weder eine Buchhaltung noch wusste das Finanzamt etwas von uns.

Als ich dann kurz vor dem Ende meinen Vater nach Geld fragte, lehnte er einfach ab, weil ich ja offensichtlich ein Verlierer sei, wenn ich aus den vielen Leuten keinen Gewinn schlagen könne. Und dann sah er auch noch das Chaos im Hintergrund – keine Buchhaltung außer ein paar unvollständigen Notizzetteln, auf denen ich aufgeschrieben hatte, wer wann noch Geld bekommen würde und wer mir noch Geld schuldete.

Schließlich gab er mir den Rat, ganz schnell das Weite zu suchen. Was ich dann – nachdem täglich mindestens zwei- oder dreimal ziemlich unangenehme Geldeintreiber vorbeikamen und ich einmal verprügelt worden war – auch tat.«

»Interessante Erfahrung«, lächelte Herr Radies. »Was haben Sie daraus gelernt?«

»Ich muss Gewinn machen«, fasste ich es in einem Satz zusammen.

»Hat Ihr Vater ja auch schon gesagt«, nickte Herr Radies, obwohl er merkwürdigerweise nicht den Eindruck machte, als würde er zustimmen. »Nimmt er Sie heute ernst?«

»Nein«, schüttelte ich den Kopf und erzählte ihm, wie er mich erst vor zwei Wochen hatte auflaufen lassen.

»Darf ich Sie mal wörtlich nehmen?«, fragte Herr Radies.

Ich nickte verwundert.

»Sie wollen nicht Gewinn machen, sondern Sie müssen Gewinn machen. Das klingt wenig lustbetont. Wenn etwas so wenig lustbetont ist, dann liegt das immer daran, dass man es gar nicht will, sondern dass man beabsichtigt, damit etwas anderes zu erreichen. Könnte ich damit richtig liegen?«

Etwas in mir bejahte. Aber ich konnte – und wollte – es nicht in Worte fassen. Deswegen wiegte ich nur den Kopf hin und her und antwortete: »Vielleicht.«

Herr Radies machte sich eine kurze Notiz, nickte und erwiderte: »Gut, kommen wir später drauf zurück. Erzählen Sie mir von einer anderen Situation!«

Ich dachte kurz nach. »Einige Jahre später – das muss 1994 gewesen sein – gründete ich mit ein paar Leuten in Köln eine Band.«

»Warum haben Sie mit der Band begonnen?«, wollte Herr Radies wissen.

»Ich weiß nicht genau«, überlegte ich. »Ich glaube, ich hatte Talent zum Schlagzeugspielen. Und irgendwann fand ich mich mit vier anderen zusammen und wir beschlossen, eine Band zu gründen. Ich glaube, das hat sich einfach so ergeben.«

»Ergeben?«, fragte Herr Radies zweifelnd. »Sie haben nie eine Sekunde daran gedacht, auf der Bühne zu stehen, und plötzlich hat sich das ergeben?«

»Nein, so war es auch nicht«, erinnerte ich mich. »Ich habe mit meiner Schwester, als wir Kinder waren, schon immer Theater gespielt. Erst zuhause, dann später auch im Jugendclub. Auf der Bühne zu stehen, gehörte schon immer irgendwie dazu. Ich wollte mich anderen mitteilen.«

»Ah!«, machte Herr Radies. »Und wie war das dann mit der Band?«

»Wir sind ziemlich viel in unserer Region aufgetreten. Ich genoss es sehr, zwei, drei, manchmal sogar vier Abende in der Woche auf der Bühne zu stehen. Wir machten coolen Sound!«

»Waren Sie im Vordergrund?«

»Nein, das war Hopf, unser Leadsänger. Aber als Schlagzeuger gibt man den Beat vor. Und«, grinste ich, »die Mädels scharen sich auch immer eher um den Schlagzeuger als um die anderen.«

Herr Radies lächelte. »Wie lange ging das?«

»Etwa zwei bis drei Jahre. Wie alles, was ich anfange. Länger habe ich bislang noch fast nichts durchgehalten.«

»Klingt mir nach einem wenig förderlichen Erklärungsmodell«, schüttelte Herr Radies den Kopf. »Sie sagen damit ja selbst, dass Sie ein ewiger Verlierer sind.«

»Aber ich habe bislang noch nichts länger durchgehalten. Nur meine jetzige Firma schon vier Jahre – aber die letzten eineinhalb Jahre hatte ich eigentlich auch keine Lust mehr dazu.«

»Es gibt einen Unterschied zwischen den Fakten und der Interpretation der Fakten. Die Fakten sind, dass Sie einige Dinge nach zwei bis drei Jahren aufgehört haben. Ihre Interpretation ist, dass Sie ein Verlierer sind. Man könnte das aber auch anders interpretieren: Sie haben zum Beispiel noch nicht das Richtige gefunden. In diesem Fall war das Aufhören das einzig Richtige. Oder Sie haben in den zwei bis drei Jahren tatsächlich das bekommen, was Sie wollten, und wollten dann etwas anderes. Da sind viele Möglichkeiten denkbar.

Warum haben Sie mit der Band aufgehört?«

»Ich war einfach nicht so gut wie die anderen«, erklärte ich schulterzuckend. »Da bin ich dann raus. Die anderen haben es noch mit zwei anderen Schlagzeugern probiert, aber das klappte nicht und dann haben sie die Band aufgelöst.«

Herr Radies sah wenig überzeugt aus. »Wer waren damals die wichtigsten Menschen für Sie?«

Ich dachte einen Moment nach. »Von den anderen Jungs aus der Band am ehesten Hopf. Dann meine Schwester, die im ersten Jahr sehr häufig bei unseren Auftritten dabei war und uns half. Im zweiten Jahr ist sie nach Indien, deshalb war sie nicht mehr dabei. Dazu wechselnde Liebschaften, die in dem Moment alle wichtig waren, rückblickend aber keine sonderlich große Bedeutung hatten.

Meine Freunde aus der Berliner Zeit natürlich nicht – die wussten ja gar nicht, wo ich war. Und mit meinem Vater herrschte auch Funkstille. Ich glaube, dass ich auf die Nase geflogen war, war für ihn gar nicht so schlimm. Was ihn endgültig aus der Fassung brachte, war, dass ich aus den Überresten nicht einen Pfennig herausgeholt hatte und völlig pleite in die USA gereist bin.«

Herr Radies schien einen Moment nachzudenken: »Ihr Vater hielt und hält Sie also für einen Verlierer, richtig?«

»Ja, aber das ist nicht mehr so wichtig. Ich halte normalerweise großen Abstand.«

»Mag sein«, meinte Herr Radies. »Dennoch gibt es da eine Übereinstimmung: Sie halten sich für einen Verlierer, weil Sie nie lange an etwas dranbleiben. Und Ihr Vater hält Sie auch für einen Verlierer. Hat er Ihnen mal vorgeworfen, dass Sie nichts konsequent zu Ende führen?«

Betroffen nickte ich: »Ja, dauernd!«

»Und zugleich empfahl er Ihnen damals, das Weite zu suchen und den Club nicht zum Ende zu bringen. Klingt danach, als würde er aktiv dafür sorgen, dass Sie keinen Erfolg haben, damit er Ihnen genau das vorwerfen kann.«

Nachdenklich erwiderte ich: »Ja, da ist was dran. Ich glaube, ihm ist am allerwichtigsten, dass er der große Zampano ist. In seinem Kaff kriechen ihm ja alle hinten rein. Hätte ich unabhängig von ihm Erfolg, dann würde ihn das in seiner Position schwächen.«

»Gut«, nickte Herr Radies. »Ich habe zwar schon eine Vermutung bezüglich Ihres Grundmotivs und Antreibers, aber erzählen Sie mir noch mehr.

Sie sagten, dass Bühne schon immer dazugehörte. Haben Sie noch was anderes in dieser Richtung gemacht?«

»Ja, Ende der 1990er-Jahre war ich etwa zwei Jahre lang bei einer Improvisationstheatergruppe. Das hat ziemlich Spaß gemacht. Aber irgendwann gingen die Ansprüche auseinander. Einige, darunter auch meine Schwester Julia, die wieder aus Indien zurück war, wollten die Gruppe professionalisieren. Sie machte übrigens später eine Schauspielausbildung. Ich und einige andere wollten einfach nur Spaß haben. Darüber zerbrach die Gruppe.«

»Was hat Sie an dieser Gruppe gereizt?«, wollte Herr Radies wissen.

»Auf der Bühne war ich immer jemand Besonderes. Man konnte sein, wer auch immer man sein mochte. Und man konnte die anderen auch zu ganz besonderen Menschen machen.

Dann habe ich noch etwa zwei Jahre Eishockey gespielt«, fuhr ich fort. »Da ist man in gewisser Weise auch auf der Bühne. Das war aber noch kurz vor dem Abitur.«

»Und warum haben Sie damit begonnen?«

»Ich konnte das ziemlich gut. Ich war im ersten Jahr so was wie ein lokaler Held.«

»Und dann?«

»Hatte ich mich verletzt. Und die zweite Saison lief völlig daneben. Am Ende hat sich auch noch mein Mitspieler und bester Freund Simon umgebracht.«

Überrascht sah Herr Radies auf: »Warum? Und was hat das für Sie bedeutet?«

Ich hatte schon viele Jahre nicht mehr an Simon gedacht, und als jetzt meine Gedanken zurückschweiften, erlebte ich alles fast noch einmal. »Simon war Physikstudent im zweiten Semester. Wir alle nannten ihn nur Professor. Er hatte dauernd neue verrückte Ideen, wie man durch die Nutzung irgendwelcher Materialien mit einer speziellen Oberflächenbeschichtung Energie sparen könnte. Ich glaube, keiner von uns hat richtig begriffen, was er machte. Aber wir alle hielten ihn für genial.

Ein paarmal trat er an Firmen heran und wollte über diese seine Ideen vermarkten. Die meisten warfen ihn gleich wieder hinaus. Ich glaube, sie sagten, dass sie keinen Bedarf hätten, man müsse keine Energie sparen. Das Öl – es war Ende der 1980er-Jahre – war ja spottbillig. Eine Firma klaute schließlich seine Idee und setzte sie um. Er zog vor Gericht, wurde aber zusehends von den Kosten aufgefressen.

Schließlich gab er auf, war drei Monate nicht mehr zu sehen und hatte dann plötzlich eine neue Erfindung. Dieses Mal wollte er eine eigene Firma gründen.«

»Oh Gott!«, entfuhr es Herrn Radies. »Das ging doch sicher daneben, oder?«

»Ja«, nickte ich betrübt. »Das war der Anfang vom Ende. Er nahm einen Kredit auf das Haus seiner Eltern auf und entwickelte seine Erfindung weiter.«

»Hat er jemals etwas verkauft?«

»Nein«, schüttelte ich den Kopf. »Ich habe damals sogar versucht, ihm zu helfen und etwas zu verkaufen. Aber er verbohrte sich immer weiter in Probleme, die keiner mehr verstand. Und kaufte permanent irgendwelche Geräte dafür. Natürlich war der Kredit bald aufgebraucht. Und dann fanden ihn seine Eltern eines Morgens: Er hatte eine Art elektrischen Stuhl gebaut und sich damit umgebracht.«

»Das hat Sie damals ziemlich mitgenommen?«, fragte Herr Radies teilnahmsvoll.

»Ja, natürlich. Ich habe mich gefragt, wie es kommt, dass diejenigen mit den besten Ideen immer scheitern. Ich glaube, er schaffte es einfach nicht, seine Ideen in die Köpfe der Menschen oder seiner Kunden zu transportieren. Und ich schaffte es damals auch nicht.«

»Sie haben sich am Tod von Simon mitschuldig gefühlt?«

»Einige Jahre lang schon. Ich dachte immer, wenn ich doch etwas verkauft hätte und erste Erfolge hätte erzielen können, dann würde er heute noch leben.«

»Und nach diesen paar Jahren?«

»Habe ich es verdrängt. Genau genommen«, überlegte ich, »ist es heute das erste Mal seit über zehn Jahren, dass ich mit jemandem darüber spreche.

Aber wir waren beim Eishockey«, versuchte ich abzulenken. Die Erinnerung war nämlich ziemlich schmerzhaft. »Damit habe ich nach dem Selbstmord von Simon auch aufgehört.«

Herr Radies dachte einen Moment lang nach. Als ob er abwägen würde, ob er diesen Themenwechsel mitmachen sollte. Dann fragte er: »Sie erzählten mir von Ihrem Club, Ihrer Band, vom Improvisationstheater, vom Eishockey. Was waren die Gemeinsamkeiten?«

Ich war froh, dass er sich auf den Themenwechsel einließ. Und so probierte ich es – meiner Meinung nach – positiver: »Ich bin eben sehr vielseitig interessiert.

Ich bin so einer«, fasste ich zusammen, »der aufgrund einer momentanen Begeisterung immer mit irgendwas anfängt, das ein bisschen macht und wenn’s nach einiger Zeit langweilig wird, eben wechselt und was Neues beginnt. Ich glaube nicht, dass da ein einheitliches Motiv dahintersteht. Vielleicht ist mein Motiv ja, immer das Neue zu suchen?«

Im selben Moment hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Das war doch nur blödes Gequatsche! Und dann hatte ich plötzlich die Querverbindung, die ich bislang nicht hatte sehen können. Ich glaube, man sah mir diese Erkenntnis sogar am Gesichtsausdruck an, denn Herr Radies wurde plötzlich aufmerksamer und schaute mich prüfend an.

Nach einer langen Pause sagte ich den Satz, der mir in den Sinn gekommen war: »Ich war in bestimmten Bereichen gut und talentiert. Ragte unter den anderen heraus. Das genoss ich. Tat aber nichts weiter dafür. Und am Ende wurden die anderen besser und wollten immer mehr. Ich hatte meine führende Rolle verloren.«

»Das heißt«, überlegte Herr Radies, »Ihr Motiv war eigentlich nicht, etwas Neues zu beginnen, sondern immer, etwas Besonderes sein zu wollen. Bedeutsamkeit als Motiv, wenn man so will. Können Sie damit etwas anfangen?«

»Ja, klar«, bestätigte ich verblüfft. »Bei all meinen Tätigkeiten war mein Antrieb immer, etwas Besonderes zu sein und darzustellen.«

»Und«, ergänzte Herr Radies, »Sie haben immer die Initiative ergriffen und etwas Neues initiiert. Irgendwo angeschlossen haben Sie sich, außer beim Eishockey, nie. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass Selbstständigkeit oder Unternehmertum der richtige Weg für Sie ist.«

»Schon, aber wenn ich mit dem, was ich machte, nichts Besonderes mehr sein konnte, dann hörte ich auf. Genau genommen bin ich mit meiner jetzigen Firma in der gleichen Situation: Ich wollte am Anfang etwas Besonderes sein und machen. Und die ersten Projekte waren auch richtig klasse. Jetzt mache ich das, was alle machen, und gehe in der Masse unter. Das waren ja genau die Punkte bei Kronau und Bäumler, bei denen ich so explodiert bin. Sie sagten, es gäbe tausend andere Firmen, die das auch könnten.«

»Und, stimmt das?«, wollte Herr Radies wissen.

Langsam nickte ich: »Ja. Am liebsten würde ich meine Firma schließen.«

»Glaube ich nicht«, schüttelte Herr Radies den Kopf. »Am liebsten würden Sie etwas Besonderes sein, aber Sie sehen keinen Weg, wie Sie das mit Ihrer Firma erreichen können. Und deshalb würden Sie gerne Ihre Firma schließen.

Außerdem ist mir das noch nicht konkret genug. In Ihren Geschichten tauchten immer wieder Ihre Schwester und Ihr Vater auf. Das macht auf mich den Eindruck, als ob Sie vor allem deren Anerkennung suchten.«

Zuerst wollte ich heftig verneinen. Aber irgendetwas in mir sagte, dass es richtiger wäre zu nicken. Und so bewegte ich in einem angedeuteten Nicken meinen Kopf vielleicht einen halben Zentimeter nach unten.

»Gut«, lächelte Herr Radies. »Ich möchte Ihnen erklären, was ich hier mache. Ich lasse mir von Ihnen Geschichten erzählen, um Ihre Motive zu ergründen. Deshalb frage ich vor allem nach den Wendepunkten. Dort kommen unsere Motive am deutlichsten zum Vorschein.

Nun habe ich einige Modelle im Kopf, mit denen man Motive ergründen und verstehen kann. Keines dieser Modelle ist immer und überall geeignet. Sie beschreiben bestimmte Aspekte der menschlichen Psyche und haben an anderen Stellen Lücken. Meine persönlichen Favoriten sind die Limbic Map* von Hans-Georg Häusel und das Bedürfnismodell von Tony Robbins.«

»Um was geht’s dabei?«

»Die Wissenschaft ging bis vor einiger Zeit davon aus, dass der Mensch ein im Wesentlichen rational handelndes Wesen ist, das manchmal aufgrund des Störfaktors ›Emotionen‹ von dieser Rationalität abweicht. Durch die Entdeckungen der Neurowissenschaften in den letzten 20 Jahren wurde dieses Bild gekippt. Es gibt keine Entscheidung ohne Emotion. Menschen, bei denen das limbische System, das Emotionszentrum, beschädigt ist, können überhaupt keine Entscheidungen mehr treffen.

Nachdem die Bedeutung der Emotionen klar war, mussten die Wissenschaftler diese natürlich erfassen und strukturieren. Das mit Abstand beste, klarste und verständlichste Modell, das dabei herauskam, ist diese Limbic Map. Es basiert auf dem Konzept von drei Grundmotiven: Balance, Stimulanz und Dominanz. Diese werden in einer Grafik angeordnet und mit Zwischenmotiven ergänzt: Zwischen Balance und Dominanz ist Disziplin, zwischen Balance und Stimulanz befindet sich Genuss und zwischen Stimulanz und Dominanz Abenteuer. Nun kann man in dem entstehenden Raum praktisch alle menschlichen Motive eintragen: Familie eher bei Balance, Sparsamkeit eher bei Disziplin, Wellness bei Genuss, Status bei Dominanz, Kreativität bei Stimulanz usw.

Die großen Stärken des Modells sind die moderne wissenschaftliche Untermauerung und die intuitive Art, wie man menschliche Emotionen bzw. Motive dort abbilden kann.«

»Und das Modell von Tony Robbins?«

»Ist zwar nicht so gut wissenschaftlich abgesichert, aber an zwei wichtigen Punkten erklärt es mehr. Er geht von sechs menschlichen Needs, also Bedürfnissen, aus. Erstens vom Bedürfnis nach Sicherheit, zweitens vom gegenteiligen Bedürfnis nach Unsicherheit – das könnte man in der Limbic Map im Spannungsfeld zwischen Disziplin und Stimulanz eintragen.

Drittens vom Bedürfnis nach Significance, also Bedeutung, Anerkennung, und viertens vom gegenteiligen Bedürfnis nach Liebe, Zugehörigkeit. Das könnte man im Spannungsfeld Balance und Dominanz in der Limbic Map eintragen.

Fünftens geht Tony Robbins vom Bedürfnis nach eher spirituellem Wachstum aus. Und sein sechstes Bedürfnis ist Contribution, also das Bedürfnis, einen Beitrag zu leisten, das Bedürfnis nach Sinn.«

»Und wo passt das in die Limbic Map?«

»Das passt überhaupt nicht rein, weil diese Dimension dort nicht existiert. Das ist der eine Punkt, an dem mir das Modell von Robbins besser gefällt. Und der andere Punkt ist der, dass er zwischen den Bedürfnissen die Dynamik deutlich macht.

Dass Unsicherheit das Gegenteil von Sicherheit ist, ist leicht einzusehen. Weniger offensichtlich ist, dass ich mir ein elendes Leben in Unsicherheit einhandle, wenn Sicherheit mein oberstes Bedürfnis ist.«

»Wie kommt das?«, wollte ich wissen.

»Ganz einfach: Wenn ich mich immer für die sichere Variante entscheide, dann werde ich auch kaum gefordert. Und wenn ich kaum gefordert werde, dann lerne ich wenig bis nichts Neues. Oder noch schlimmer: Ich verlerne sogar bestimmte Fähigkeiten. Die Konsequenz daraus ist die, dass immer kleinere Probleme eine immer größere Bedeutung bekommen, weil die eigenen Fähigkeiten so klein sind. Mit anderen Worten: Wenn ich direkt Sicherheit anstrebe, werde ich immer größere Unsicherheit erhalten. Und umgekehrt: Je mehr Unsicherheit ich aushalten kann, desto häufiger komme ich in Situationen, die mich herausfordern, und desto mehr lerne ich. Mit diesen größeren Fähigkeiten ernte ich dann letzten Endes mehr Sicherheit.

Ein gelungenes Leben hängt also, wie Tony Robbins sagt, vom Maß der Unsicherheit, die man bequem aushalten kann, ab.«*

»Gut, habe ich verstanden. Aber was ich noch nicht verstehe, ist, wie dies bei Significance und Liebe/Zugehörigkeit zu Gegensätzen führt.«

»Auch das ist ähnlich einfach. Je wichtiger mir die Bedeutsamkeit ist, desto mehr muss ich mich von anderen Menschen unterscheiden. Nur so kann ich mich ja herausheben. Und indem ich mich unterscheide, verschwindet die Basis für die Zugehörigkeit, die auf Gemeinsamkeiten beruht. Zumal Bedeutsamkeit ja zumeist eine Unterscheidung der Form umfasst, dass man nach irgendwelchen Kriterien besser ist als andere. Und besser sein ist auch nicht gerade förderlich für tiefe Verbindungen.

Das Verrückte daran ist jedoch oft, dass viele Menschen bedeutsam sein wollen, um geliebt zu werden. Mit dieser Strategie erreichen sie aber das Gegenteil! Bedeutsamkeit als oberstes Bedürfnis ist eine Garantie für Unglück. Während für ein gelungenes Leben bei den ersten beiden Bedürfnissen die Unsicherheit angestrebt werden sollte, ist es bei der zweiten Bedürfnisgruppe die Liebe und die Verbindung. Je stärker dies gelingt, desto größer wird auch die Bedeutsamkeit.«

Ich dachte einige Sekunden nach. Dann erwiderte ich: »Sie haben mir das doch aus einem bestimmten Grund erzählt. Ich weiß noch nicht genau, aus welchem, aber ich habe den Verdacht, dass es mit dem letzten Punkt, der Bedeutsamkeit und der Verbindung, zusammenhängt. Richtig?«

Herr Radies nickte: »Ja, in Ihrem Fall sagt mir das Modell von Robbins mehr als die Limbic Map. Sie sagten vorhin, dass Ihre Motivation immer war, etwas Besonderes sein zu wollen. Solange Sie das waren, waren Sie voller Begeisterung dabei. Waren Sie nichts Besonderes mehr, dann ließen Ihre Energie und Ihre Motivation nach.

Wenn man jedoch Ihre Schilderungen ein bisschen genauer betrachtet, dann strebten Sie eigentlich eher Verbindung oder Liebe an. Und zwar vor allem zu Ihrer Schwester und Ihrem Vater. Von Letzterem bekamen Sie diese Verbindung nie, egal, was Sie machten. Von Ihrer Schwester teilweise, vor allem am Anfang Ihrer jeweiligen Aktivitäten. Am Schluss eher nicht. Da war sie dann entweder in Indien oder im Falle der Schauspielgruppe sogar auf der gegnerischen Seite. Können Sie damit etwas anfangen?«

»Mit dem Bedürfnis, etwas Besonderes sein zu wollen, auf jeden Fall. Aber mit der Verbindung oder Liebe?«, fragte ich mich. »Ich weiß nicht. Vielleicht spielt es ein bisschen eine Rolle. Aber die entscheidende Rolle? Ich glaube nicht.

Aber«, fuhr ich fort, »Sie haben vorher etwas gesagt, was mich die letzten Minuten nicht mehr losgelassen hat. Nämlich, dass Sie nicht glauben, dass ich meine Firma loswerden wolle. Sie glauben vielmehr, dass ich etwas Besonderes sein will und keinen Weg sehe, das mit meiner Firma zu erreichen. Genau genommen ist meine Firma aber nichts Besonderes, sondern völlig gewöhnlich und durchschnittlich.

Ich glaube«, fing ich langsam Feuer, »wenn wir einen Weg finden würden, aus meiner Firma etwas ganz Besonderes, etwas Bedeutendes zu machen und ich damit auch das Gefühl der Bedeutsamkeit bekäme, dann würde ich wieder die Energie bekommen, die ich beim Start meiner Projekte immer habe.

Ja, ich glaube, das ist es! Die Bedeutsamkeit! Es geht mir gar nicht so sehr um Gewinne. Können Sie mir helfen, ein solches Unternehmen aufzubauen? Eines, das Bedeutung hat?«

Herr Radies nickte: »Ja, kann ich. Nur führt der Weg zur Bedeutsamkeit nicht auf dem direkten Weg dorthin. Wenn Sie bereit sind, einen Umweg zu gehen, dann helfe ich Ihnen.«

»Das klingt nachvollziehbar für mich«, bestätigte Sofia. »Du wolltest schon damals immer was Besonderes sein. Und damit hast du mehr Trennung als Gemeinsamkeit geschaffen«.

Nachdenklich nickte ich: »Vor drei Monaten hätte ich mich gegen diese Aussage sicher gewehrt.«

Sofia lächelte mich an: »Du hast dann dem Umweg zugestimmt?«

Ich antwortete langsam: »Ja, ich habe zugestimmt. Allerdings ohne zu wissen, was Herr Radies damit eigentlich meinte. Rückblickend ist mir klar, dass Herr Radies erkannte, dass ich noch nicht alles verstanden hatte. So wie er von mir erwartete, einen Umweg zu gehen, war auch er bereit, für mich einen Umweg zu machen. Und dieser Umweg führte über die Strategie meines Unternehmens.« Wieder tauchte ich mit meinem Bericht in die Vergangenheit ein.

* Siehe http://www.nymphenburg.de/limbic4.html

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