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Ostfriesland im Jahr 1545: Das Land ist zerstritten und es drängen immer mehr Glaubensflüchtlinge aus Holland ins Land. Zu dieser Zeit muss die Hebamme Hiske Aalken aus dem benachbarten Jever fliehen, da sie dort als als Hexe angeklagt ist. Sie flieht in die Herrlichkeit Gödens und wird gleich bei ihrer Ankunft mit der bestialischen Ermordung des Cornelius von Ascheburg konfrontiert. Und sie stößt auch auf eine Gruppe von Menschen, die in einer Wagenburg rund um das Schloss Gödens lebt. Die Menschen halten heimliche nächtliche Treffen ab und sind verschlossen und geheimnisvoll. Ein Junge schleicht völlig verwildert und keiner Artikulation mächtig um das Lager herum. Als Hiske sich seiner annimmt, macht sie sich damit nicht gerade neue Freunde. Plötzlich stößt Hiske in ihrem Kräutergarten auf eine Leiche und unversehens hängt wieder der Vorwurf der Hexerei in der Luft. Was das für Hiske bedeutet, weiß sie nur zu gut …
Der Auftakt der großen Lebenspflückerinnen- Reihe.
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Seitenzahl: 417
Ostfriesland im Jahr 1545: Das Land ist zerstritten und es drängen immer mehr Glaubensflüchtlinge aus Holland ins Land. Zu dieser Zeit muss die Hebamme Hiske Aalken aus dem benachbarten Jever fliehen, da sie dort als als Hexe angeklagt ist. Sie flieht in die Herrlichkeit Gödens und wird gleich bei ihrer Ankunft mit der bestialischen Ermordung des Cornelius von Ascheburg konfrontiert. Und sie stößt auch auf eine Gruppe von Menschen, die in einer Wagenburg rund um das Schloss Gödens lebt. Die Menschen halten heimliche nächtliche Treffen ab und sind verschlossen und geheimnisvoll. Ein Junge schleicht völlig verwildert und keiner Artikulation mächtig um das Lager herum. Als Hiske sich seiner annimmt, macht sie sich damit nicht gerade neue Freunde. Plötzlich stößt Hiske in ihrem Kräutergarten auf eine Leiche und unversehens hängt wieder der Vorwurf der Hexerei in der Luft. Was das für Hiske bedeutet, weiß sie nur zu gut …
Der Auftakt der großen Lebenspflückerinnen- Reihe.
Regine Kölpin ist 1964 in Oberhausen geboren und wuchs die ersten Jahre ihrer Kindheit auf einem alten Rittergut „Hof Hirschberg“ bei Großalmerode auf. Seit ihrem 5. Lebensjahr lebt sie an der Nordseeküste in Friesland. Die mehrfache Spiegel-Bestsellerautorin schreibt Romane und Geschichten unterschiedlicher Genres. Ihre Arbeiten sind mehrfach ausgezeichnet worden. Sie ist auch als Herausgeberin tätig und an verschiedenen Musik- und Bühnenproduktionen beteiligt. Außerdem hat sie über 200 Kurztexte publiziert. Regine Kölpin ist mit dem Musiker Frank Kölpin verheiratet. Sie haben fünf erwachsene Kinder, mehrere Enkel und leben in einem kleinen Dorf in Küstennähe. In ihrer Freizeit verreisen sie gern mit ihrem Wohnmobil, um sich für neue Projekte inspirieren zu lassen.
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Regine Kölpin
Die Lebenspflückerin
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Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Die Personen:
Historische Persönlichkeiten
Glossar
Geschichtliche Situation in Ostfriesland 1545
Danksagungen
Impressum
Mai 1545
Herrlichkeit Gödens – Ostfriesland
Das Donnern der Hufe kam näher. Der Klang trieb sich drohend in den beginnenden Morgen und ließ das Herz der Hebamme Hiske Aalken schneller schlagen.
Sie befand sich in der Gegend um Schortens, hatte am Nachmittag zuvor die Stadtmauern von Jever verlassen. Nun war es dunkel, und auch wenn die Nacht bereits auf dem Rückzug war und sich am Horizont der erste Lichtstreif zeigte, fühlte sie sich nicht besonders wohl in ihrer Haut. Überall um sie herum knackte es, hin und wieder schrie ein Kauz.
Und nun gesellte sich dieser bedrohliche Hufschlag dazu. Hiske blickte sich um, nur wenige niedrige Büsche boten hier Schutz. Über den Wiesen verharrten Nebelschwaden, die die Nacht wie mit Schleiern schmückten und die Szenerie gespenstisch erscheinen ließen.
Hiske vermutete, dass ihre Flucht bemerkt worden war und Fräulein Maria Reiter aus Jever losgeschickt hatte.
Es war besser, ein Versteck zu suchen. Hiske wandte sich um. Ein Stück voraus erkannte sie einen Busch mit ausladenden Zweigen. Es war die einzige Möglichkeit weit und breit, sich zu verbergen. Die Hebamme lief ein wenig schneller, auch wenn sie schon sehr müde und jeder Schritt eine Qual war. Es konnte nicht mehr weit bis Schortens sein, doch auch dort war sie noch lange nicht in Sicherheit. Ihr Ziel war die Herrlichkeit Gödens, denn sie gehörte zu Ostfriesland uns nicht mehr zu Jever. Hiske hoffte, dass es keine großflächigen Überschwemmungen mehr gab und die Wege nicht zu schlammig waren. Kaum hatte sie sich hinter dem Busch verschanzt, hörte sie das Schlagen der Schwertscheiden an den Stiefeln ihrer Verfolger. Es vermischte sich mit dem Klappern der Hufe zu einem unheilvollen Geräusch. Die Männer zügelten die Rösser und bohrten ihre Blicke in den Nebel. Hiske drückte sich ins Gras, dessen Nässe sich augenblicklich in ihre Kleider fraß und sie frösteln ließ. Sie wagte kaum zu atmen. Auf keinen Fall durften die Männer sie finden. Sie wollte nicht nach Jever zurück, das wäre ihr sicherer Tod. Sie wollte kein Feuer an ihrer Haut fühlen, nicht den Geruch einatmen müssen, der sich seit dem Tod ihrer Freundin in ihre Nase gepflanzt hatte.
»War da nicht eben wer? Ich dachte, ich hätte jemanden gehört.«
Der Reiter, ein Mann von dicklicher Gestalt, wandte den Kopf, stellte sich in den Bügeln auf und suchte den Horizont ab.
»Und mir schien, ich hätte jemanden gesehen, ein Weib«, bestätigte der andere, dessen Stimme einem Bellen glich. »Sie könnte uns gehört und sich irgendwo versteckt haben.«
Sein Kumpan ließ sich in den Sattel zurückfallen. »Wenn sie die ist, die wir suchen, und sie ist, was man ihr nachsagt, hat sie starke Verbündete. Alle dunklen Mächte sind auf ihrer Seite.«
Hiske duckte sich immer mehr auf den Boden, fürchtete, dass allein ihr lauter Herzschlag sie verraten könne.
»Mir ist nicht wohl«, schnaufte der Reiter mit der heiseren Stimme. »Sie ist eine Toversche, eine Hexe, und schon mal vom Teufel befreit worden. Gut, dass das Weib, das sich für sie verbürgt hat, längst in der Hölle schmort. Das wird den anderen eine Warnung sein.«
Der Dicke grunzte. »Was ist, wenn wir sie jetzt fassen, und dann kommt ihr dieser Abkömmling von Ottern, Würmern und Kröten zu Hilfe geeilt? Hier ist keiner, der uns helfen könnte.« Er griff nach den Zügeln.
»Wie recht du hast«, bekam er zur Antwort. »Lass uns verschwinden, es ist mir hier nicht geheuer. Und je länger ich darüber nachdenke, desto unheimlicher wird es.«
Sie nickten sich kurz zu und wendeten die Pferde. Der aufgeweichte Boden spritzte unter den Hufen auf, als die beiden Reiter ein rasches Tempo anschlugen.
Hiske verharrte noch eine Weile, bis das Hufgetrappel nicht mehr zu hören war. Sie tastete sich mit den Füßen auf den aufgeweichten Weg zurück, beschleunigte ihren Schritt und umrundete schon bald die Schortenser Kirche. Vor ihr lag das beschwerlichste Stück ihres Weges, das Silland. Der Winter war lang und hart gewesen, hatte bis vor Kurzem das gesamte Land in eine Eisfläche verwandelt. Nun war es vermutlich nass, vielleicht musste sie große Umwege gehen, um Dykhusen zu erreichen.
Kaum hatte Hiske Schortens hinter sich gelassen, wurden die Wege auch schon schlechter, sie sank bis zum Knöchel ein, das Gehen war eine Tortur. Doch wie gering war dies alles gegen das, was sie in Jever erwartet hätte.
Die Wolken schoben sich immer wieder vor den Mond und nahmen die Sicht. Hikse war dankbar, dass sich das Morgenlicht von Osten her immer mehr ausbreitete und die Nacht bald verdrängen würde. Schließlich gelang es ihr, sich zum alten Deich vorzuarbeiten und auf seiner Krone weiterzulaufen, was das Fortkommen merklich erleichterte.
Sie hatte gehört, dass die Herrlichkeit Gödens erst kurz vor Dykhusen begann. Die Angst verlieh Hiske ungeahnte Kräfte.
Sie sehnte sich nach einer warmen Suppe, nach einer Bettstatt, in die sie sich einfach fallen lassen konnte. Mit diesem Ziel vor Augen lief es sich besser. Bald war sie frei. Musste nicht mehr um ihr Leben zittern. In der Herrlichkeit Gödens unterstand sie Hebrich von Knyphausen, der Witwe des Häuptlings Haro von Oldersum und Gödens. Hiske hoffte nur, dass die Gerüchte stimmten, die sie in den letzten Jahren auf dem Markt von Jever aufgeschnappt hatte. In der abgelegenen und nur schwer zugänglichen Herrlichkeit gab es Zuflucht und Schutz, vor allem für Andersdenkende und Andersgläubige. Eine andere Wahl als hierherzuflüchten, hatte Hiske ohnehin nicht. Wo sollte sie auch sonst hin? Diesen Landstrich konnte man nur schwer erreichen, aber auch ebenso schwer wieder verlassen.
Hiske ruckelte ihren Beutel auf dem Rücken zurecht, wickelte den anderen, in dem sich die Utensilien befanden, die sie als Hebamme brauchte, fest um das Handgelenk und marschierte weiter. Noch durfte sie sich keine Pause erlauben, noch war sie zu weit von ihrem sicheren Ziel entfernt.
Trotz ihrer schweren Glieder lief sie etwas schneller. Die Reiter Fräulein Marias waren zwar umgekehrt, aber niemand wusste, ob sie sich nicht doch wieder anders besannen und doch in diese morastige Gegend wagen würden.
Der Zorn der Regentin würde auf sie niederprasseln, wenn sie unverrichteter Dinge zurückkamen. Hiske wusste nicht, was für die Männer schlimmer war: Die Furcht, ihr, der Hexe, der Zauberin, der Toverschen, zu begegnen oder die Reaktion des Fräuleins, das nicht gerade gnädig mit ihren Leuten umging, wenn sie nicht gehorchten .
Hiske sollte in Jever zum zweiten Mal in ihrem Leben als Zauberin angeklagt werden. Sie wollten sie holen, weil sie gemeinsam mit Gesche Glieders einen Baum gemolken haben sollte. Dieses Gerücht hatte sich das letzte halbe Jahr hartnäckig gehalten und war immer stärker ausgeschmückt worden, auch als man ihre Freundin längst verbrannt hatte.
Es hatte Wochen gedauert, bis die Wunden von den Stricken und Ketten von der letzten Verhaftung, als man ihr vorgeworfen hatte, Milch verzaubert und ein Kind totgehext zu haben, verheilt waren. Die Narben würden ihre Füße und Hände ein Leben lang entstellen. Wäre sie nicht freigekauft worden, hätte sie ihr Leben bei der Hexenprobe an der Toverschen Graft in Jever lassen müssen. Aber die Frau, die sich für sie eingesetzt hatte, war längst den Folterungen erlegen; ihr Mut hatte sie das Leben gekostet. Remmer von Seediek hatte mit ihrem Tod ein Exempel statuiert – keiner würde es mehr wagen, sich für eine angeklagte Toversche einzusetzen. Nein, sie durfte nicht rasten, sie musste weiterziehen. Hiske atmete tief ein, beschleunigte ihren Schritt. Glücklicherweise lichtete sich der Morgennebel zusehends, sodass sie den Weg besser erkennen konnte. Dafür wurde der Boden jetzt auch auf dem Deich immer schlammiger, teilweise sank sie wieder knöcheltief ein und musste ihre Füße mühsam aus dem Matsch ziehen. Doch sie ging weiter. Immer Richtung Süden. Sie hatte es bald geschafft.
An seinen Händen klebte Blut. Es war noch warm, und er wusste nicht, wie es dorthingekommen war. Die ganze Nacht war der Junge herumgeschlichen, hatte nicht schlafen können, weil die Kälte sich durch seinen Körper fraß. Er durfte keine Sekunde innehalten, dann hätte sich die bleierne Müdigkeit seiner bemächtigt und ihn mit sich in den Schlaf gezogen. Er kannte diese Nächte der Ruhelosigkeit, diese Nächte, in denen er die Wahl hatte, zu schlafen und zu sterben oder wach zu bleiben wie eine Eule und das Geschehen der Nacht mit höchster Wachsamkeit zu verfolgen. Die Menschen waren unterwegs gewesen, wie so oft. Das war gut, weil er seinen Hunger stillen konnte, wenn er sich zu ihren verlassenen Wagen schlich. Doch letzte Nacht waren sie rasch zurückgekommen, er hatte keine Zeit gehabt. Ein entlaufenes Huhn hatte ihm dann als Nahrung gedient. Roh, er hatte kein Feuer. Wenn man Hunger hatte, war es egal, man aß, was es gab, und wenn es das Gras am Wegesrand war.
Das Weib hatte letzte Nacht auch nichts für ihn gehabt, er hatte sie gar nicht gesehen. Manchmal war sie da, manchmal nicht. Als er vor der zugesperrten Scheune gestanden hatte, war er weitergelaufen. Schlaf würde er am Tag finden, wenn die Sonne das Land erwärmte oder er Schutz hinter einem Holzstapel fand, der ihn vor dem Wind schützte.
Er wandte sich zum Schwarzen Brack, der großen Meeresbucht, deren gegenüberliegendes Ufer man nur bei guter Sicht erkennen konnte.
Die Leute aus der Wagenstadt taten seltsame Dinge in der letzten Zeit. Morgen für Morgen verließen sie die Burg und bauten Wälle an den Ufern des Meeres. Dahinter wurde es immer trockener, und sie kamen Tag für Tag ein Stück voran. Der Junge hatte Furcht, dass sie das Meer verdrängen würden, dass es sich bald für immer zurückzog und nicht wiederkam. Vielleicht würde es böse sein, wenn sie es einsperrten. Deshalb stand er am Saum der See, schaute, ob sie da war. Sie kam und ging, blieb immer gleich lange weg. Das wusste er genau.
Manchmal leckte das Meer mit seiner dunklen Zunge am Grund dieser Wälle, so als schaue es, ob es einen Ausweg gab und es sich weiter ins Landesinnere ergießen durfte. Die Menschen waren dumm, hatten Furcht, wenn das Meer sich zu weit ins Land wagte. Der Junge nicht. Er sah zum Himmel.
Am Firmament tummelten sich noch alle Sterne, blinkten und schienen ihm zuzuwinken. Die Nacht war noch lange nicht vorbei. Der Junge wusch sich das Blut von den Händen, reinigte sein Messer und wischte beides an der zerfetzten Hose ab. Als er einen letzten Blick auf das Schwarze Brack warf, sah er ein Segel. Es würde also wieder ein Schiff kommen, vielleicht Menschen und komische Dinge bringen, dann wieder wegfahren. Er wollte so gern einmal mit, aber die Menschen mit den müden Gesichtern machten ihm Angst. Wie er überhaupt große Angst vor allen Menschen hatte. Es war besser, wenn er unsichtbar blieb. Das eine Weib fütterte ihn, so wie ihre Katzen, die Kuh und das Schwein. Der Junge reckte die Nase in die Luft und schlich weiter durch die Nacht. Leise, unauffällig und so, als gäbe es ihn nicht.
Hinrich Krechting schlief nur selten eine ganze Nacht durch. Und auch dieses Mal war er aufgewacht. Ein Schrei hatte ihn aus seinen Träumen gerissen. Er war abgrundtief, laut und verzweifelt gewesen. Krechting war sich nicht sicher, ob er ihn wirklich vernommen oder es sich nur eingebildet hatte, denn solche Dinge quälten ihn immer und immer wieder.
Der Morgen nahte, schon bald musste er sich zum Vieh und den Bienenstöcken aufmachen. Seine Frau Elske lag ruhig neben ihm.
Hinrich wagte kaum zu atmen, wartete eine Zeit lang darauf, ob sich der Schrei wiederholte. Doch es blieb ruhig, sicher hatte ihm wieder einer seiner Träume einen Streich gespielt.
In den langen Nächten, in denen das angrenzende Moorland und das Schwarze Brack schliefen, quälte er sich. Er, der die Geschicke in der Herrlichkeit Gödens lenkte, der als Jurist die rechte Hand der Häuptlingsfrau Hebrich von Knyphausen war, lag grübelnd wach, ließ zu, dass diese Zweifel ihn anfielen. Zweifel, ob er das Richtige tat, Zweifel, ob seine Entscheidungen allen zu ihrem Besten gereichten. Doch er musste diese Geißel tragen, es gab keinen anderen Weg. Schon bald würde der Prediger Rothmann kommen, ganz sicher. Er konnte ihn hier nicht alleinlassen mit all den Problemen. Hinrich tat sein Bestes, hatte alles gemacht, um den Weg zu ebnen. Doch nun brauchte er Rothmann, seine Kraft und Unterstützung. Ein letztes Mal horchte er in den Morgen, dann ließ er seinen massigen Körper zurück in das Kissen fallen. Er lag schon lange nicht mehr auf Strohsäcken.
Hinrich drehte sich auf die Seite, schloss kurz die Augen, riss sie dann aber wieder auf, weil er die Bilder, die vor seinen Augen tanzten und ihm einen Schlag nach dem anderen verpassten, nur schwer ertragen konnte.
Nach einer Weile stand er auf, stellte sich ans Fenster und betrachtete den Mond, der immer wieder von Wolkenfetzen bedeckt wurde. Er wirkte jedoch nicht malerisch schön, sondern auf eigenartige Weise bedrohlich, auch wenn das Morgenlicht immer mehr Aufmerksamkeit einforderte.
Hinrich verließ die Kammer und ging in die Küche. Im Ofen glühte noch ein Rest Asche, dennoch war es kalt und klamm im Haus. Hinrich hatte bewusst in der Laterne keine Kerze angezündet. Er bewegte sich lieber im Dunkeln, wollte niemanden aufwecken. Die Magd schlief neben dem Feuer auf der Bank, sie war wohl zu müde gewesen, um sich noch in ihre kleine Kammer neben der Küche zu schleppen. Hinrich schenkte sich einen Becher Dünnbier ein und schaute, ob noch ein Stück Käse in der Vorratskammer lag. Seit die Holländer an der Burg waren, gab es wesentlich mehr Auswahl an Lebensmitteln und Dingen für den täglichen Bedarf. Es kamen mehr und mehr Flüchtlinge, und Hebrich von Knyphausen nahm die neuen Untertanen gern und großzügig auf.
Es wurde immer enger auf dem Burghof, die angegliederte Wagenstadt würde bald nicht mehr auf das Gelände passen. Er musste eine Lösung für das Problem finden.
Es hämmerte hinter seiner Stirn. Lösung … Lösung … Er musste immer für irgendetwas eine Lösung finden.
Hinrich schob sich das Käsestück in den Mund. Es schmeckte köstlich, der Käser verstand sein Handwerk. Noch während er kaute, ging er wieder zum Fenster und schaute hinaus. Die Äste der wenigen Bäume tanzten im leichten Wind auf und nieder, es wirkte beinahe, als winkten sie ihm zu, er möge hinauskommen. Raus in den frühen Morgen, dorthin, wo er den Schrei gehört hatte. Hinrich strich sich über die müden Augen. Er wurde wirklich langsam etwas wirr. Er sollte schlafen gehen, schließlich musste er einen klaren Kopf behalten. Bestimmt hatte nur der Wirt der benachbarten Krocht einen Gast lautstark vor die Tür gesetzt.
Hinrich leerte den Becher Bier in einem Zug, rülpste und wollte eben wieder zurück in die Kammer gehen, als er aus dem Augenwinkel einen Schatten wahrnahm. Er konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Nur dass die Gestalt in ein dunkles Tuch gehüllt war und gebückt in der Dunkelheit verschwand. Kurz darauf war ihm, als schaue ihm eine Fratze direkt ins Gesicht.
Hinrich legte seinen Kopf an die Scheibe, dabei kitzelte ihn sein Bart. Elske war hinter ihren Mann getreten, fasste ihn bei der Hand und zog ihn sacht ins Schlafgemach zurück. Er ließ sich von ihr führen, ließ zu, dass sie ihn zudeckte und mit dem Handrücken über sein Gesicht strich. »Schlaf«, sagte sie. »Rothmann wird schon kommen. Warte nur, er wird kommen.«
Dankbar drückte Hinrich die Hand seiner Frau. Wann hatte er das letzte Mal bei ihr gelegen? Es war lange her, die Pflicht fraß ihn auf.
»Rothmann wird kommen«, wiederholte Elske. »Und nun schlaf noch etwas. Die Bienen und das Vieh warten noch nicht.«
Sie rückte ihre Haube zurecht und legte sich auf die Seite. Es dauerte nicht lange, bis er an ihren gleichmäßigen Atemzügen hörte, dass sie wieder fest eingeschlafen war. Hinrich starrte noch eine lange Zeit gegen die Decke und fiel dann in einen unruhigen Schlaf.
Der Junge rieb sich die müden Füße, verharrte bei der Narbe an seiner rechten Fessel. Wenn das Wetter umschlug, schmerzte sie.
Am Horizont zeigte sich das erste Licht des Tages, malte ein sanftes Rot an den Himmel. Er war weit gelaufen heute, hatte außer dem Huhn nichts weiter zu essen gefunden. Sein Bauch krampfte, es war nicht gut, Tiere ohne Feuer zu essen. Nun saß er versteckt im Gras, versuchte sich zu ducken. Das war schwierig, denn er war von großer Statur, aber mit schlaksigen Armen und Beinen – und viel zu dünn. Aber er war fast so groß wie der Mann mit der lauten Stimme und dem Bart, zu dem die Menschen hier aufblickten. Der Junge sah immer wieder zum Hof, hoffte, dass das Weib kam. Manchmal schöpfte sie etwas Rahm ab, sah sich aufmerksam um, ob es auch keiner bemerkte, und stellte ihm eine irdene Schale an die Stallecke.
Der Junge hörte etwas, sah die Katzen aus allen Ecken heranschießen. Die Frau verteilte die Milch, stellte eine Schale etwas erhöht auf das Sims und sah sich wie immer ängstlich um. Fast so, als fürchte sie, ihm tatsächlich zu begegnen. Der Junge wusste nicht, ob sie ihn erwartete, freute sich aber jedes Mal, wenn sie an ihn dachte und er sein Almosen abholte. Manchmal zog sie noch einen Kanten Brot aus dem Ärmel und legte ihn neben die Schale. Auch jetzt hatte er Glück.
Der Junge wartete einen Augenblick, glitt dann mit einer Geschmeidigkeit, die es mit der der Hofkatzen durchaus aufnehmen konnte, zum Sims und steckte das Stück Brot ein. Danach schlürfte er die Schale leer und fuhr noch einmal mit der Zunge über ihren Boden, genoss den sahnigen Geschmack, den er vielleicht morgen oder auch erst, wenn die Sonne ein paarmal aufgegangen war, wieder kosten konnte.
Kaum hatte er die Schale geleert, sie wieder abgestellt und sich verkrochen, erschien die Frau, wischte sie mit dem Zipfel ihrer Schürze sauber und nahm sie mit hinein. Das Weib sah immer ein bisschen traurig aus.
Und so, als habe sie große Furcht vor dem Leben. Furcht, die auch der Junge kannte. Er blieb in seiner Deckung, immer das Haus im Auge. Erst als er eine ruhige Ecke gefunden hatte, holte er das Stück Brot aus dem Ärmel, es war noch warm. Gierig biss er davon ab.
Gleich würde er sich einen Augenblick hinlegen, der Holzstapel am Feld lag bereits im hellen Schein der Morgensonne. Der Junge könnte ein paar Stunden in der Wärme einnicken. Die Männer bauten den Wall, die Weiber waren mit ihrer Arbeit beschäftigt. Es war ein guter Zeitpunkt.
Als sich der Junge jedoch mit dem Kopf an den Stapel lehnte, kamen ihm die seltsamen Bilder der Nacht wieder vor Augen. Jetzt, wo er satt war, begannen sie durch seinen Kopf zu tanzen, gaukelten ihm eine wilde Szenerie vor, die er nicht in die richtige Reihenfolge bekam und die er nicht verstand. Weil er so viele Dinge nicht verstand. Ihm war nicht immer klar, was die Leute miteinander redeten, weil es ihm keiner richtig beigebracht hatte. Er versuchte ständig, die Worte, die sie miteinander tauschten, zu verstehen, doch es war ihm bislang nur gelungen, die wichtigsten Bedeutungen zu begreifen. Es war aber auch unwichtig. Er hatte nur noch drei Dinge, die ihn berührten. Er musste auf das Meer aufpassen, und er musste essen und sicher schlafen. Der Junge fasste sich an den Kopf, legte ihn dann zwischen die Knie und versuchte, die Bilder zu ordnen.
Es war eine merkwürdige Nacht gewesen. Der Himmel war mit Sternen übersät, und doch hatte irgendjemand immer wieder weiße Schleier darübergelegt. Wie Fäden hatten sie sich gezogen.
Er war am Abend noch am Lager gewesen. Es waren Menschen dort, die von der Burg verschluckt und kurze Zeit später wieder ausgespuckt wurden. Der Junge hatte Angst vor dem großen Gemäuer. Es hatte dicke Steine und war gefährlich, weil alle Stimmen im Hof widerhallten. Er näherte sich ihm nur bis zu einem gewissen Radius, wagte sich nie in dessen Mauern. Zu mächtig war die Furcht, dass sie ihn umschlossen und zerquetschten. Er schlich sich meist von der anderen Seite heran, wo die Wagenstadt lag. Wenn die Leute für einen Augenblick in den Löchern der Burg verschwunden waren, konnte er dorthin und wieder ein Stück Brot oder Käse finden. Hin und wieder etwas Schinken. Wenn ihn aber jemand sah, wurde er mit Steinen beworfen, bis er wieder unsichtbar war.
Als alle weg waren, hatte jemand Liebe gemacht. Das klang gut, wie das leise Grummeln einer Kuh. Manchmal auch wie das Brüllen. Ganz oft kam es aus dem Wagen des Weibes, die so schön wie eine Blume war und deren rötliches Haar der Farbe des Sonnenaufgangs glich. Auch sie warf mit Steinen nach ihm. Wie alle anderen. Das war aber nicht immer so gewesen.
Der Junge hatte nicht gesehen, wer aus dem Wagen gehuscht war, als die Geräusche verstummt waren. Er hatte weitergewollt, nachsehen, ob das Meer noch immer nicht beleidigt war. In diesem Moment hatte er etwas gehört.
Der Junge hämmerte jetzt mit dem Kopf auf seine Knie. Was hatte er nur gehört, was gesehen? Er wusste es nicht, nur, dass es schlimm gewesen war. Und nicht in sein Bild passte.
Ein Mensch huschte immer wieder an seinem inneren Auge vorbei. Es war ein Mann. Der böse Mann. Der sehr böse Mann. Der, der immer schimpfte und der ganz viel Liebe machte. Das Weib weinte und schrie oft, wenn er nach Hause kam. Er schlug sie auch. Er war böse. Der Junge mochte ihn nicht, dachte oft, dass der Mann weggehen sollte. Er hatte auch begonnen, das Meer zu zähmen. Er und der, den es sich schon geholt hatte. Sie wehrte sich, die See, er hatte es immer gewusst. Es war noch nicht zu Ende.
Als er dem bösen Mann mal in der Wagenburg über den Weg gelaufen war, hatte der nach ihm getreten.
Der Junge schlug noch immer mit dem Kopf auf seine Knie. Der böse Mann hatte in der Nacht plötzlich dagelegen. Und es hatte etwas aus ihm herausgehangen. Es war warm gewesen. Und glitschig.
Der Junge hatte vergessen, was geschehen war. Es war mit dem Morgenwind aufs Schwarze Brack hinausgeweht. Aufs Meer, das diese dummen Menschen bändigen wollten, wie den Tanzbär, der einmal auf dem Schiff mitgereist war. Das Hämmern in seinem Kopf wurde weniger, verebbte schließlich. Der Junge wurde ruhiger. Alles war aufs Meer hinausgeschwommen, alles war gut.
Die Straßen Amsterdams lagen verlassen da, noch lärmte kein Pferdefuhrwerk durch die morgendlichen Gassen. Rothmann wartete. Gleich würde der junge Holländer zu ihm kommen und wissen wollen, ob er ihn begleitete. Die Zukunft lag nicht in dieser Stadt, die mehr Wasser als Wege hatte. Ein Land, in dem Männer wie er wie Wild abgeknallt wurden.
Er aber wollte frei sein, predigen, wann immer er wollte und was immer er wollte. Er wollte das Neue Jerusalem in seinem Leben noch aufsteigen sehen. Wollte die Kinder durch geschmückte Straßen tanzen lassen ohne Furcht, am nächsten Tag nichts mehr zu essen zu haben, und ohne ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Väter nicht wiederkommen würden. Er wollte Glück und Unbeschwertheit in den Augen seiner Glau-bensbrüder sehen. Nicht die Schwerter des Bischofs, die sich ohne Skrupel in die Leiber seiner Mitbrüder bohrten.
Diese Zeit würde kommen, ganz sicher. Er konnte nur nicht mehr sagen, wann und wo. Ihr Scheitern, ihre Niederlage waren zu groß gewesen. Und auch danach hatten sie es nicht verstanden, stärker als die Mächte des Kaisers und der Kirche mit all ihren Bischöfen und Predigern zu sein.
Vielleicht war es an der Zeit, sich zu seinen Glaubensbrüdern zu gesellen, vielleicht war jetzt genau der richtige Zeitpunkt. Er war müde, seine Knochen erlaubten ihm nicht mehr, so geschmeidig zu sein, wie er sein musste, wenn er nicht scheitern wollte.
Es war verlockend, jetzt nach Ostfriesland zu reisen und sesshaft zu werden, es genau dort noch einmal zu versuchen.
So lange, bis der Graf einlenkte und sie wieder zu sich ließ, sie unterstützte. Er würde nicht lange vor dem Bischof kuschen, das konnte gar nicht sein.
Auch wenn die Reise an das Schwarze Brack alles andere als ein Spaziergang sein würde, so gab es an ihrem Ende doch ein Ziel, das erstrebenswert war.
Rothmanns Gedanken schwankten hin und her, waren unstet wie das Flackern der Kerze auf seinem Tisch. Im Laufe des Morgens würde der Arzt hier sein, von ihm erwarten, dass er wusste, was er tun wollte. Rothmann hörte die Kirchturmglocke zur vollen Stunde schlagen. Er hatte noch fast eine Stunde Zeit, wollte bis dahin das Für und Wider abwägen.
Kurz bevor die Zeit um war, hatte er seinen Entschluss gefasst. Er würde nicht nach Ostfriesland gehen. Eine Stimme in ihm sagte, dass die Zeit noch nicht reif dafür war. Er musste noch mehr Menschen erreichen, egal, wie leistungsfähig er noch war – oder eben nicht. Es war feige, war zu früh, schon jetzt aufzugeben. Er wollte nichts unversucht lassen, noch vielen Menschen die Botschaft zu überbringen. Die Botschaft des alleinigen Glaubens, die Botschaft des ewigen Glücks.
Rothmann nahm ein Blatt Papier, tunkte den Federkiel in die Tinte und zog die Spitze mit kräftigen Strichen über das Blatt. Er wusste genau, was er schreiben musste, damit seine Brüder die Hoffnung nicht verloren, damit sie daran glauben konnten, dass es weiterging. Es bedurfte nur weniger Sätze, er hatte die ganze letzte Stunde darüber nachgesonnen.
»Ihr schlaft noch immer nicht, Herr Johannes?« Sein Diener steckte den Kopf zur Tür hinein. Hier hieß Rothmann Johannes, in der nächsten Stadt würde er sich David, dann Josef nennen. Er hatte schon viele Bibelnamen durch. Rothmann winkte ab, merkte, wie müde seine Bewegung war. Der Diener zog sich augenblicklich zurück, schloss die Tür so leise, dass es kaum zu hören war.
Rothmann sog die kühle Luft des Zimmers ein, warf einen Blick durch die Butzenscheiben nach draußen. Dort sah es aus, als spielten die Wolken miteinander Fangen. Einen Sommer würde er sicher noch haben. Im Herbst konnte er darüber nachdenken, sich niederzulassen. Schon während er den Brief versiegelte, wusste er, dass er seine Glaubensbrüder aus alten Tagen, die in der Herrlichkeit auf ihn warteten, als sei er der Messias persönlich, sehr enttäuschen würde, wenn er ihnen nur diese Epistel als Zeichen geben würde. Doch er hatte keine Wahl.
Jan Valkenstijn war schon früh auf den Beinen. Sein Mitreisender, der ehemalige, schon recht betagte Mönch Garbrand, schnarchte auf seinem Strohsack.
Der junge Arzt sah aus dem Fenster. Amsterdam schlief noch, die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber er musste jetzt gehen, wenn er ihn erwischen wollte. Ein Mann wie er wartete nicht gern, und er würde sicher ungehalten sein, wenn Jan zu spät kam. Er durfte keine Zeit verlieren. Jan sprang in seine Beinkleider, schlüpfte aus der Tür und glitt lautlos wie ein Schatten in die Dämmerung. Er wusste nicht, was ihn erwartete, wusste nur, dass er sich auf eine Reise begeben und den großen Prediger begleiten sollte. Jan Valkenstijn war der lebendige Schutzschild.
Der Morgen war kühl, beim Ausatmen zeigten sich kleine weiße Wolken vor seinem Mund. Jan schlich sich im Schutz der Häuser durch die Straßen. Er wollte nicht gesehen werden, seine Mission war geheim. Und gefährlich, es könnte ihn den Kopf kosten, wenn man von dem Zusammentreffen erfuhr. Menschen wie er und der Mann, den er treffen wollte, wurden überall in Europa verfolgt, durften ermordet werden, ohne dass es Konsequenzen hatte. Sie waren vogelfrey.
Hin und wieder erwachte Jan des Nachts, weil es sich in seinem Kopf so anfühlte, als ob dort mehrere Ochsengespanne hindurchpolterten. Er wusste in diesen Augenblicken nicht, ob es wirklich recht war, was er tat, ob der eingeschlagene Weg tatsächlich zum Ziel führte.
Das Gespräch gleich würde wichtig sein. Jan hatte den Erzählungen Garbrands gelauscht, gehört, was in England los war. Das war alles nicht das, was er sich unter der neuen Religion vorgestellt hatte.
Jans Gedanken drehten sich im Kreis.
Er beschleunigte seinen Schritt. Die Tritte hallten auf dem Pflaster, schienen sich zu vervielfachen. An jeder Ecke sah er sich um, ob ihn niemand verfolgte. Er schrak jedes Mal zusammen, wenn er glaubte, hinter sich eine Bewegung wahrzunehmen. Doch es war immer nur der Wind, der durch die Gassen fegte und ihn erschreckte.
Schließlich kam er am verabredeten Treffpunkt an. Er pfiff das Lied, das sie abgesprochen hatten. Es tat sich lange nichts, bis das Tor geöffnet wurde und er in die dunkle Lücke hineingleiten konnte. Es war bei dem schlechten Licht unmöglich, etwas zu erkennen. Jan hörte nur eine heisere Stimme, die ihm zuraunte: »Er kommt nicht, zu groß ist die Gefahr. Aber ich soll Euch etwas geben.«
»Wieso kommt er nicht? Wenn er sagt, er kommt, dann kommt er auch.« Jan drehte sich blitzschnell um, griff den Wächter am Kragen und drückte ihn mit dem Rücken gegen die Wand. »Was habt Ihr mit ihm gemacht?«
Der Wächter wand sich unter Jans Griff. »Er ist nicht hier, hat nur durch einen Boten einen Brief kommen lassen«, japste er. »Lasst mich los, und Ihr werdet schon sehen!«
Jan lockerte den Griff abrupt, war froh, dem schlechten Atem des Wächters entfliehen zu können. Der Mann schüttelte sich. »Seid froh, dass ich Euch was übergeben muss! Sonst würde es Euch jetzt schlecht ergehen.«
Dann hörte Jan etwas rascheln, als der Wächter zwei Papierrollen aus dem Ärmel hervorzog. »Hier, und jetzt geht!«, zischte er, während er Jan einen Brief in die Hand drückte. »Lasst keine unnütze Zeit verstreichen. Er sagt, das wäre Euer sicherer Tod.« Jan hörte, wie der Wächter seinen Atem ziehend einsog. »Und das soll ich Euch auch noch geben.«
Jan nahm die beiden Papierstücke an sich und wurde unversehens wieder zurück in die Gasse gestoßen. »Wieso kann er all das sagen, wenn er doch gar nicht hier ist?«, murmelte Jan, aber da quietschte das Tor bereits hinter ihm, und er hatte keine Möglichkeit mehr, von dem Mann dahinter noch etwas zu erfahren, wobei der vermutlich ohnehin nicht besonders mitteilsam gewesen wäre, egal, was er wusste.
Jan steckte den versiegelten Brief in den Ärmel, umklammerte das andere Papier und hastete zurück in die Herberge. Was tat er sich an? Doch die Bezahlung war gut, so konnte er sich eine neue Existenz aufbauen, die Vergangenheit hinter sich lassen und seinen Forschungen nachgehen. Dafür galt es, Opfer zu bringen.
Garbrand schnarchte immer noch, er schien sein Verschwinden gar nicht bemerkt zu haben. Jan stellte sich ans Fenster, um das Morgenlicht zu nutzen, und las die dahingekritzelten Zeilen.
Verlasst Holland sofort! Ihr seid hier nicht sicher, man hat Wind von uns bekommen. Haltet Euch nach Nordost, Richtung Emden. Dort stehen Knorren bereit, die Euch in die Jade und zum Schwarzen Brack bringen. In der Herrlichkeit Gödens findet Ihr Schutz und andere Gleichgesinnte. Verliert keine Zeit und richtet Krechting aus, dass ich bald kommen werde. Bald, wenn es die Zeit erlaubt.
Die Sonne war gerade aufgegangen und wärmte die taufeuchte Erde mit ihren Strahlen. Melchior Dudernixen musste den Mann nicht umdrehen. Er lag auf dem Rücken, die Augen aufgerissen. Auch ohne den Blick weiter nach unten schweifen zu lassen, war eindeutig, dass der Mann tot war.
Als der Bader es aber doch wagte, die Augen bis zum Bauch des Toten wandern zu lassen, war es selbst für einen abgebrühten Mann wie ihn schwer, die Fassung zu bewahren. Das, was er dort sah, übertraf an Grausamkeit alles, was ihm bislang unter die Augen gekommen war.
Ein paar der Umstehenden, die die Neugierde hergetrieben hatte, kämpften bereits mit dem Würgereiz, eine Frau konnte sich nicht mehr beherrschen und erleichterte sich hinter dem Wagen der Marketenderin.
»Wer tut so etwas?«, hörte Dudernixen eine Stimme, doch sie schien von weither zu kommen.
Der Bader trat einen Schritt zurück. Er hatte vorher nicht bemerkt, dass er in einer Lache von bereits getrocknetem Blut stand, das sich tief in den weichen Boden gefressen hatte und seine Zehen benetzte.
Er bückte sich und öffnete das mit Blut getränkte Wams. Auf den Mann musste mehrfach wie von Sinnen eingestochen worden sein. Dudernixen taxierte alle Umstehenden, die unter den Blicken des Baders den Kopf senkten.
»Lasst den Landrichter holen!«, befahl er.
Zwei der Leute boten sich an, nach Gödens zu Wolter Schemering zu gehen, um ihn von dem Mord in Kenntnis zu setzen. Es wurden Stimmen laut, dass man auch Krechting Bescheid geben müsse.
Dudernixen betrachtete den Toten noch eine Weile, während sich die Menge in Mutmaßungen über den Grund des Mordes verlor. Die Identität des Toten hingegen war eindeutig: Es gab keinen Zweifel, dass es sich um Cornelius von Ascheburg handelte.
Wann war er umgekommen? Nach der Zusammenkunft am gestrigen Abend waren alle rasch nach Hause gegangen, Krechting hatte Rothmanns baldige Ankunft angekündigt. Was nur hatte Cornelius nachts noch im Lager zu schaffen gehabt? Er lebte mit seiner jungen Frau Tyde auf einer ihm von Hebrich zugewiesenen großen Hofstelle in Hebrighausen, weit genug weg vom Gestank und der Enge auf dem Burghof.
Cornelius von Ascheburg war nicht überall beliebt, hatte aber Durchsetzungsvermögen und den Weitblick, der über den Becher des wässrigen Bieres und das Stück Brot oder den Teller Suppe am Morgen hinausging. Hin und wieder hatte Dudernixen ihn bei Anneke, der Marketenderin gesehen, doch es stand ihm nicht zu, die Sache zu verfolgen, auch wenn ein verheirateter Mann bei einer Duuvke so gar nichts zu suchen hatte. Es war besser, wenn er darüber schwieg, denn Anneke machte keinen Unterschied, ob sie einen Lokator wie von Ascheburg in ihr Lager ließ oder einen knollennasigen Bader wie ihn. Schließlich besuchte auch er sie hin und wieder, denn seine Frau Magda war im Bett kalt und nur selten willig. Von Ascheburg aber war für die Menschen zu wichtig, als dass Krechting ihn daran gehindert hätte, zu Anneke zu gehen. Überhaupt urteilte der nie über die fleischlichen Gelüste der Menschen, ihm schien nichts fremd zu sein.
Dudernixen sah sich um, konnte die Marketenderin aber nirgendwo entdecken. Annekes Anblick brachte einen Mann schnell dazu, dass sich zwischen seinen Lenden etwas regte. Ihre Brüste waren fest und glichen wohlgeformten Äpfeln. Sie hatte einen runden Hintern und einen kleinen Bauchansatz, der jedoch überhaupt nicht störte. Die ebenmäßigen Zähne, die Perlen glichen, und das lange rötliche Haar, das sich in leichten Wellen über den Rücken kringelte, machten diesen kleinen Makel mehr als wett. Annekes Haut war weich und feinporig, und wann immer er zu ihr ging, roch sie nach Rosen. Dudernixen atmete tief ein. Er stand vor einer grässlich zugerichteten Leiche, und seine Gedanken waren mit sinnlichen Freuden beschäftigt. Er musste sich zusammenreißen.
»Was ist hier geschehen?« Eine Frauenstimme riss den Bader aus seinen Gedanken. Vor ihm stand ein junges Weib, das ein Bündel auf dem Rücken trug und eines um die Hand gewickelt hatte. Sie hatte ein schmutziges Kleid an, schwarz mit dunklem Grün. Sowohl das Gewand als auch das Gesicht der Frau waren schlammverkrustet, ihre Schuhe als solche kaum noch zu erkennen. Das dunkle Haar hatte sie unter der Kapuze eines schwarzen Umhanges verborgen, doch kringelten sich ein paar widerspenstige Locken darunter hervor. Dudernixen blieb sofort an ihren Augen hängen, deren Farbe sich zu einem unnatürlichen Blau aus der Tiefe eines Sees und dem Grün der Marschwiesen mischte. Er hatte eine solche Farbe in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Der Blick wirkte keck und lebendig, obwohl die Frau große Strapazen hinter sich zu haben schien, so müde wie sie aussah. Er musterte sie ein zweites Mal. Sie war eine außergewöhnliche Frau. Nicht von klassischer Schönheit, dazu war sie zu klein. Sie erinnerte ihn an die Weiber, die er in Holland gesehen hatte und die aus dem Süden kamen. Sie hatten allesamt etwas Wildes an sich und viel zu dunkles Haar und zu braune Haut. Und dennoch – ihre Sprache hatte einen so deutlich friesischen Einschlag, dass eigentlich kein Zweifel daran bestand, wo ihre Heimat war.
Der Bader wies mit der Hand auf den Toten. »Der da ist ermordet worden.«
Dies hatte die junge Frau inzwischen selbst erkannt und war bereits ein paar Schritte zurückgewichen.
»Wer seid Ihr?«, fragte Dudernixen und musterte sie erneut von oben bis unten.
»Ich bin Hiske Aalken, Hebamme aus Jever. Ich bin eben hier angekommen und suche nach einer Bleibe.«
Der Bader runzelte die Stirn. Es wunderte ihn nicht mehr, dass er das Weib misstrauisch betrachtet hatte. Hebammen haftete stets etwas Gefährliches an. Nicht selten waren sie in der Lage, Dinge zu tun, die normalen Sterblichen fremd waren. Er wollte mehr über sie wissen, trotz seines Argwohns faszinierte sie ihn, während sie ihn gleichzeitig abstieß.
Doch die Hebamme verabschiedete sich rasch mit einem Kopfnicken und verschwand in den Burghof. Dudernixen sah ihr nach. Augenscheinlich eine Spur zu lange, denn der Käsemeister war hinter ihn getreten und schlug ihm derb auf die Schulter. »Ein neues Weib, was?«
Dudernixen sog die Luft ein. Hoffentlich würde die Hebamme nicht bleiben, war nur auf der Durchreise. Für sie war hier kein Platz, Anneke konnte die Kinder auf die Welt holen. Die Marketenderin war vor einiger Zeit eingesprungen, als die alte Geburtshelferin verstorben war. Wozu war eine richtige Hebamme notwendig? Wenn es Gott gefiel und eine Geburt schwierig war, würde er die Kinder zu sich nehmen, daran konnte auch dieses Weib nichts ändern.
Weil die Leute aber auch gern Rat bei diesen Heilfrauen suchten, würde Hiske Aalken ihm wohl ein paar Kranke streitig machen, die er bislang immer gegen Bier, Brot oder guten Käse nach seinen Methoden betreut hatte. Hin und wieder fiel auch mal eine Münze, ein Schap, ab. Er wollte das nicht teilen, dafür gab es hier nicht genug zu tun, auch wenn das Lager Tag für Tag wuchs, da immer mehr Menschen aus Holland und Oldersum kamen.
»Hebamme«, wiederholte er leise für sich. »Mit solchen Augen.« Die waren ihm zu wissend, hatten eine Schläue, die einem Weib nicht zustand. Frauen waren nun mal dumm.
Dudernixen grinste. Wenn sie blieb und nicht spurte, würde er ihr schon beibringen, zu was eine Frau einzig gut war. Da wäre sie nicht die Erste. Und wenn sie es nicht verstand, hatte er andere Mittel und Wege. Dann gnade ihr Gott. Der Bader wurde abgelenkt, als sich Lärm erhob. Die neugierige Menge teilte sich und bildete eine Gasse, durch die Hinrich Krechting wie ein wütender Stier stob. Ihm folgte der Landrichter Wolter Schemering, der wegen seiner schmächtigen Figur, aber auch wegen seines noch jungen Alters an die Gewaltigkeit seines Onkels nicht herankam.
»Was ist hier los?«, dröhnte dessen Stimme auch schon laut über den Burghof. Hinrich blieb vor dem Toten stehen. Sein Gesicht verlor in Sekundenschnelle sämtliche Farbe. Er sagte nichts, machte auf dem Absatz kehrt und überließ das Mordopfer seinem Neffen.
»Soll ich Euch ein Bett besorgen?«, fragte eine dünne Stimme, die zu einer kräftigen Frau mit einer stark nach unten gebogenen Nase gehörte. Sie hatte ihr aschblondes Haar nachlässig unter die Haube verbannt und wirkte nicht, als achte sie sehr auf ihr Äußeres, obwohl sie beileibe nicht ungepflegt aussah.
»Ich bin Adele Stausand«, erklärte sie, als Hiske nicht gleich antwortete. »Ich besitze eine kleine Kate auf dem Weg nach Hebrighausen, an der alten Olden Krocht vorbei.«
Hiske sah die Frau an. Sie wies mit der Hand über den Burghof, der mit all den vielen Menschen überzuquellen schien. »Ihr bietet mir eine Bettstatt? Hier gibt es genug andere, die es nötig hätten.«
Das Weib nickte. »Ich will aber nicht jeden bei mir wohnen haben. Habe von Eurer Notlage gehört. Ihr seid Hebamme, das macht Euch vertrauenswürdig. Ich bin allein, kann Euch eine Bettstatt und eine Kammer bieten. Alles sauber, und ich will nicht viel dafür.«
Hiske überlegte nicht lange und schlug sofort in die dargebotene Hand ein, selbst wenn sie noch nicht sagen konnte, wo sie die Bezahlung für die Kammer hernehmen sollte. Eben spielte ein Mann ein Lied auf seiner Schalmei. Der Tag nahm einen besseren Verlauf, als Hiske angenommen hatte.
»Wer hat Euch den eigentlich in den Burghof gelassen?«, fragte Adele, deren Gesicht merklich weicher geworden war, nachdem Hiske ihr Angebot angenommen hatte.
»Das Tor stand offen, und die Wachen waren nirgendwo zu sehen.«
Adele lachte. »Manchmal geben sie nicht gut acht. Aber wer sollte hier auch schon diese unwirtliche Gegend überfallen, wo man erst Land gewinnen muss, damit man überhaupt leben kann. Wer kommt schon freiwillig in dieses … Sumpfloch?«
Hiske zuckte mit den Schultern. »Es gibt immer Gründe. Ich möchte auf jeden Fall vorerst bleiben.« Sie sah sich um.
»Bin ja wohl nicht die Einzige. All diese Menschen sehen nicht aus, als seien sie hier schon sesshaft.«
Wie zur Bestätigung schrie einer der Männer aus dem Wagen, zu was für einem Saustall der Burghof verkommen war und dass es an der Zeit war, endlich etwas zu unternehmen. Die Menschen im Lager waren zwar durch den Mord aufgeschreckt, doch gingen alle bereits wieder ihrem Tagwerk nach. Es ging einzig ums Überleben, um sonst nichts. Die Lebendigkeit glich einem Bienenstock. Überall wurden Feuer geschürt, überall hingen Kessel darüber, aus denen es dampfte. Hin und wieder waberte eine Schwade mit Essensgeruch zu Hiske. Sie bemerkte erst jetzt, wie hungrig sie war.
Adele aber rümpfte die Nase. »Die da oben müssen sich bald was einfallen lassen, es wird von Woche zu Woche enger. Und schmutziger. Der Kerl von eben hat recht.«
»Wer sind die vielen Menschen, die hier leben?«, fragte Hiske.
Rund um Jever hatte sie solch ein Lager, das einer Wagenstadt ähnelte, nie gesehen. Dazu kamen die vielen Menschen, die in den Stallungen hausten. Die Zustände erschienen der Hebamme mehr als schlecht, die Hygiene ließ überall im Lager zu wünschen übrig.
»Die meisten kommen aus Holland. Die anderen aus Oldersum und ein paar aus Westfalen.« Westfalen betonte Adele auf eine Weise, als sei es etwas ganz Besonderes, von dort in die Herrlichkeit zu kommen.
»Warum wollen sie hier leben?«
»Sie warten auf bessere Zeiten, wissen im Kaiserreich sonst nicht, wohin.«
Hiske sah sie fragend an, und Adele quetschte das Wort »Flüchtlinge« heraus.
Hiske betrachtete die Menschen. Ein Mann war gerade dabei, den Unrat zusammenzufegen und auf eine Schubkarre zu laden, andere fegten ihre Wagen aus, wieder andere boten Waren feil, die sie in die Auslagen der Wagen gelegt hatten. Viel war es nicht, aber Hiske war doch überrascht über das Angebot.
»Wir haben alles, was man braucht«, erklärte Adele. »Käse, frisches Brot, einen Stellmacher, einen Schmied, Leinenweber, Fischer … Zu darben brauchen wir nicht, aber seht selbst …« Trotz des frühen Morgens waberte ein penetranter Gestank aus Bier, Käse, gegerbtem Leder und verbranntem Holz über das Lager. Und ganz eindeutig mischte sich auch der Geruch nach Exkrementen darunter, vermutlich vom gemeinschaftlichen Abtritt. Wie mochte es wohl erst im Sommer werden, wenn die Sonne diese Dunstglocke noch aufheizte? Ganz eindeutig lebten hier viel zu viele Menschen auf zu engem Raum. Hiske hob das Gesicht und sog eine frische Brise ein, die vom Meer herüberwehte. Es roch nach Schlick, ein bisschen fischig. Die Luft schien mit Salz geschwängert und war auf jeden Fall angenehmer als dieser Gestank hier. Die hiesigen Zustände waren sogar schlimmer als in den dunkelsten Ecken Jevers, wie der Petersilienstraße, wo sich das fahrende Volk mit dem Scharfrichter und den Huren die Häuserzeilen teilte.
Hiske wunderte sich, dass die Regentin solche Zustände in ihrem Hof ertrug, und sie fragte sich, was die Menschen getrieben haben mochte, sich freiwillig in diese Einöde zu begeben. Sie selbst hatte einen Grund, für sie bestand in Jever Gefahr für Leib und Leben. Was aber trieb diese Menschen aus Holland und anderen Landesteilen, wo es ihnen bestimmt besser gegangen war, hierher? Flüchtlinge, hatte Adele gesagt. Es waren so viele! Warum hatten sie aus ihrer Heimat fortgemusst? Soweit Hiske wusste, war dieses Gebiet nur in trockenen Sommermonaten von der Landseite aus zu erreichen, wenn die umliegenden Moore trocken fielen. Ansonsten blieb nur der beschwerliche und lange Weg mit Knorren über das Meer. Irgendetwas war seltsam hier, sie konnte nur nicht sagen, was genau es war.
Hiske beobachtete, wie man den Toten, den man in einen Sack gewickelt hatte, auf einem Karren abtransportierte. Wolter Schemering folgte dem kleinen Zug. Er sah nachdenklich aus, betroffen. Entweder, weil er den Toten sehr gut kannte oder weil er Schwierigkeiten befürchtete; das war nicht eindeutig zu sagen.
»Nun ist er tot, der von Ascheburg«, riss Adele sie aus ihren Betrachtungen. »Ich habe ihm viel zu verdanken.«
»Was meint Ihr damit?«, fragte Hiske.
»Sag einfach du. Ich bin Adele.« Die Frau streckte ihr die Hand entgegen.
»Hiske.« Sie nahm Adeles Hand. Es war nur gut, wenn sie jemanden hier kannte, und vielleicht trafen sich genau in diesem Augenblick zwei verlorene Seelen. Denn je länger Hiske Adele betrachtete, desto sicherer war sie, dass diese Frau bislang kein leichtes Leben gehabt hatte. Ihr ganzes Wesen drückte Niedergeschlagenheit aus, ihr Blick war unstet und tieftraurig. Adeles so hart wirkendes Gesicht, was vor allem von den hohen Wangenknochen und der heruntergebogenen Nase sowie der übermäßig blassen Haut herrührte, täuschte darüber hinweg. Mit der Zeit würde sie sicher herausfinden, was genau Adele Stausand so betrübte.
»Du sagtest eben, du hast von Ascheburg viel zu verdanken?«, hakte sie nach.
»Ich durfte nach dem Tod meines Mannes auf der Hofstelle bleiben, das ist nicht üblich. Nur Elske Krechting hat dasselbe Recht. Von Ascheburg hat mir damals sehr geholfen.«
Hiske umfasste Adeles Unterarm und streichelte mit dem Zeigefinger leicht darüber. »Was ist mit deinem Mann passiert?«
»Das Meer hat ihn mitgenommen.« Adele machte eine Pause, und nun verstand Hiske den Schmerz, der in ihren Augen lag. Sie spürte, dass Adele nicht weiter darüber sprechen wollte, und wechselte das Thema. »Ich muss mich doch irgendwo melden. Weiß ja noch nicht, ob ich bleiben kann.« Adele nickte. »Kannst du bei dem da machen.« Sie deutete auf Hinrich Krechting, der gerade aus der Burg trat und sein Wams schwungvoll mit einem Mantel umschlang. Der Mann wirkte, im Gegensatz zu den meisten hier, gut betucht und strahlte eine Macht aus, der sich auch Hiske nicht entziehen konnte. Sie zögerte kurz, erinnerte der Mann sie doch an Remmer von Seediek, ihren Peiniger aus Jever. Krechting war von massiger Gestalt, und seine dunkle und kräftige Stimme hatte sie ja eben bei dem Toten schon vernommen. Er schien hier verantwortlich zu sein, denn wenn er in Erscheinung trat, duckten sich die Menschen unwillkürlich zur Seite, blickten ehrfurchtsvoll zu ihm auf.
Doch wenn sie bleiben wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm die Wahrheit zu sagen und sich gut mit ihm zu stellen. Also trat sie entschlossen auf den Mann zu, der sie gleichgültig ansah und sich an ihr vorbeischieben wollte. Hiske stellte sich ihm jedoch so in den Weg, dass er nicht umhin konnte, sie zu bemerken.
»Was willst du, Weib?« Krechtings Stimme dröhnte, als spreche er in ein leeres Fass, und gleichzeitig füllte sie den Burghof, sodass für den Augenblick alles zu verstummen schien.
»Ich bin Hiske Aalken, Hebamme aus Jever.«
Krechting musterte sie und blieb an ihren Augen hängen. Sofort wurde sein Gesicht weicher, so als habe er darin etwas entdeckt, was ihm gefiel. Er sah sie fragend an. »Aus Jever? Warum bist du da fortgegangen?«
Hiske war wütend, wie Krechting sie behandelte. Seine Art, mit ihr zu sprechen, zollte von keinem großen Respekt. Doch sie hielt sich zurück, es war besser, diesen Mann an ihrer Seite zu wissen. Menschen wie er demonstrierten ihre Macht eben gern durch solche Kleinigkeiten. Hiske sammelte sich, nahm ihren ganzen Mut zusammen und sah Krechting fest in die Augen. »Ich war als Toversche angeklagt, bin freigesprochen worden, und nun hat man mich erneut der Zauberei bezichtigt. Ich suche eine Zuflucht.«
Hinrich Krechting zog Hiske augenblicklich vom Hof in den Eingang der Burg und von dort hinter eine Tür, die er nachdrücklich schloss. Sie sah sich ängstlich um, doch außer einem großen Sekretär, der sich an die weiße Wand schmiegte, war der Raum fast leer. Einzig ein Gemälde der Burg war an der linken Seite aufgehängt.