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Die Legende von Ng Mui, die ins Kloster geht und dort das Kämpfen und die Heilkunst erlernt. Dem Kaiser ist das Kloster ein Dorn im Auge, und so lässt er es niederbrennen und alle Mönche töten. Ng Mui entkommt knapp dem Tod und flieht. Mui lernt die junge Chun und ihren Vater Lee kennen. Chun wird von dem Schläger Wong so stark bedrängt, dass Mui beschließt, ihr zu helfen. Chun lernt ein völlig neues System der Kampfkunst. Bei der nächsten Begegnung mit Wong kommt es zu einer Bewährungsprobe für das neue System ...
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Seitenzahl: 271
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Für meine TA WingTsun Familie
Der folgende Text ist nicht als historischer Roman der chinesischen Kultur des 18. Jahrhunderts zu sehen. Fakten, Umstände und Gebräuche dieser Zeit wurden abgeändert oder gestrichen, wenn sie der Handlung nicht dienlich waren.
Die Sprache der Figuren wurde als Stilmittel bewusst modern und europäisch gestaltet. Schließlich soll man nicht jeden Satz drei Mal lesen müssen, um ihn zu verstehen.
Dies ist die Version des Autors von der Entstehung eines neuen Kampfkunstsystems. Es mag sich alles ganz anders zugetragen haben, aber das werden wir wohl nie erfahren…
Vielen Dank an Sabine Wirsching, die als Beta-Leserin viele wichtige Änderungen und Denkanstöße beigetragen hat. Das kriegst du wieder.
KAPITEL EINS: Reise der Heilerin
Falle
Ma Ning Yee.
KAPITEL ZWEI: Feuer des Südens
Geschäfte
KAPITEL DREI: Meisterin des Namenlosen
„Die Legende erzählt von einer jungen, schönen Frau, die schon als Kind mit ihrem späteren Ehemann verlobt wurde. Die junge Frau verlor früh ihre Mutter. Ihr Vater wurde mit einer falschen Klage bedroht und deswegen flohen Vater und Tochter an den Fuß des Tai-Leung-Berges, wo sie sich versteckten und ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Tofu verdienten“, sagte der alte Mann, als er seine Enkelkinder am Abend in ihr Bett legte und sie liebevoll zudeckte.
„Die Legende erzählt weiterhin von einem südlichen Shaolinkloster in der Provinz Henan, das wegen ihrer Kampfkunst so berühmt und im Volk hoch angesehen war, dass der Kaiser beschloss, die Mönche zu töten, das Kloster niederzubrennen und die ganze Religionsgemeinschaft auszulöschen. Aber die Soldaten, die der Kaiser schickte, konnten den starken Widerstand der Mönche nicht brechen. Selbst nach drei Angriffen, einer heftiger als der Andere, war das Kloster immer noch unversehrt.“
„Die haben bestimmt richtig einen auf die Mütze bekommen!“, sagte der Enkel des alten Mannes mit großen Augen. „Huaaa! Kopf ab! Hajaaa! Zack, das Herz mit bloßen Händen herausgerissen und unter die Nase gehalten, damit der Soldat noch sieht, wie es zu schlagen aufhört!
Der Junge hatte ein imaginäres Herz in der Hand und hielt es seiner Zwillingsschwester unter die Nase.
„Iiihh, bäh!“, beschwerte sich diese sofort und schob die Hand ihres Bruders weg. „Sag ihm, er soll aufhören, Opa!“
„Wollt ihr die Geschichte nun hören, oder nicht?“, fragte der alte Mann die beiden Geschwister.
„Ja, erzähl weiter!“, sagte der Junge. „Hoffentlich fließt noch viel Blut!“
„Ja, weiter!, bat auch das Mädchen. „Aber nicht so brutal, bitte.“
„Nun gut. Es gab einen jungen Regierungsbeamten namens Chan Man Wai, der die Prüfungen als Bester des Jahres bestanden hatte und sich einen Namen beim Kaiser machen wollte. Er entwickelte mit einem ausgestoßenen Mönch Namens Ma Ning Yee und einigen anderen Mönchen einen Plan, das Kloster zu vernichten. Er überredete sie, ihre eigenen Kameraden zu verraten, indem sie hinter ihrem Rücken das Kloster in Brand steckten.“
„Warum wurde er ausgestoßen? Und wann kommt die wunderschöne, junge Frau wieder?“, fragte das Mädchen.
„Das zu erzählen würde zu lange dauern. Ihr sollt doch schlafen“, antwortete der alte Mann.
„Na gut.“
„Gut, wo war ich?“, überlegte der Erzähler kurz. „Ach ja, der Brand. Jedenfalls schafften die Verschwörer es, das Kloster anzuzünden und es brannte bis auf die Grundmauern nieder. Nur ein paar Mönche überlebten und konnten fliehen. Dazu zählen die buddhistische Meisterin Ng Mui, der Abt und Meister Chi Shin, der taoistische Meister Pak Mei, Meister Fung To Tak und Meister Miu Hin. Diese konnten entkommen und hielten sich verborgen.“
„Was heißt das?“, fragte der Junge.
„Was meinst du?“
„Na, verborgen halten. Haben die sich versteckt?“
„Ja, könnte man so sagen. Das heißt, dass sie falsche Namen annahmen und keinem sagten, dass sie Mönche aus dem Kloster waren.“
„Ach so. Sie haben gelogen.“
„Hm“, überlegte der Erzähler. „Wenn dein Leben davon abhängt, ist lügen in Ordnung, denke ich.“
„Wann kommt die wunderschöne junge Prinzessin endlich?“, drängelte das Mädchen.
„Sie war keine Prinzessin“, erwiderte ihr Opa. „Gleich komme ich wieder zu ihr.“
„Doch, ich will aber, dass sie eine ist!“, beharrte das Mädchen. „Sonst ist es eine doofe Geschichte!“
„Nein, sie ist nicht doof, sie ist wahr. Es ist eine Legende, keine Geschichte. Weißt du, was der Unterschied ist?“
„Nein, was denn?“
„Geschichten handeln von Zauberwesen, Märchenwelten und sind Phantasie. Legenden dagegen sind wahr.“
Der alte Mann sah in weit aufgerissene Augen und fuhr fort.
„Die buddhistische Meisterin Ng Mui nahm Zuflucht im Tempel des Weißen Kranichs am Hang des Tai-Leung-Berges. Dort lernte sie die schöne, junge Frau und ihren Vater kennen, weil Ng Mui dort immer Tofu kaufte.“
„Da ist sie ja!“, freute sich das Mädchen.
„Die Schönheit der jungen Frau erregte die Aufmerksamkeit eines ortsbekannten Schlägers und Trunkenbolds, der sie mit Gewalt dazu zwingen wollte, ihn zu heiraten. Die wiederholten Drohungen des Schlägers gaben der jungen Frau und ihrem Vater Grund zur Sorge. Sie konnten den Schläger aber nicht zurecht weisen, da dieser in einer Geheimgesellschaft war und auch eine Kampfkunst beherrschte. Als die buddhistische Meisterin Ng Mui davon hörte, bekam sie Mitleid mit der jungen Frau und nahm sie als Schülerin auf.“
Der alte Mann verstummte und sah durch die geöffnete Tür in den Raum, in dem seine Frau auf einem bequemen Stuhl saß. Sie hatte eine Decke um die Beine gelegt und sah in das Feuer, das im Kamin brannte. Sie bemerkte den Blick ihres Mannes, erwiderte ihn und lächelte. Der alte Mann lächelte ebenfalls und entschied sich nun für eine andere Version der Legende.
„Die Meisterin Ng Mui konnte das schlimme Ereignis im Kloster, den Verrat der Mönche und den Tod von so vielen ihrer Freunde nicht vergessen und hatte noch eine andere Sorge: Wie sollte sie sich in Zukunft gegen die Angriffe der ebenfalls in der Kampfkunst der Shaolin geschulten Verräter und Soldaten schützen? Noch war sie stärker, als alle zusammen, aber irgendwann war sie zu alt, um sich gegen die jungen Soldaten zu wehren.“
Der alte Mann sah nun zufrieden in weit aufgerissene Augen. Jeder Satz von ihm wurde aufgesogen und ließ die Bilder in den kleinen Köpfen lebendiger werden. Er machte eine kleine Pause, um die Spannung noch zu erhöhen.
„Voller Sorge um ihre Zukunft ging sie zu einem kleinen Bergsee und machte dort eine Beobachtung, die sie dazu inspirierte, eine völlig neue Kampfkunst zu entwickeln! Was sah sie dort wohl?“, fragte er die beiden Kinder.
„Einen Drachen!“, sagte der Junge.
„Ein Einhorn!“, hielt das Mädchen entgegen.
„Nein, sie sah einen Kampf!“, berichtete ihr Opa. „Sie sah einen Kampf zwischen einem Fuchs und einem Kranich. Der Fuchs lief im Kreis um den Kranich herum, in der Hoffnung, einen tödlichen Biss in die ungeschützte Flanke des Kranichs machen zu können.“
„In die was?“, fragte der Junge.
„In die Seite.“
„Ach so. Dann sag das doch.“
„Der Kranich aber blieb in der Mitte und drehte dem Fuchs immer die Brust entgegen. Immer, wenn der Fuchs nun den Kranich angriff, wehrte der Kranich den Angriff mit einem der mächtigen und starken Flügel ab und stach gleichzeitig mit dem Schnabel zu. Der Kampf dauerte sehr lange und Ng Mui sah dabei zu. Er inspirierte sie zu völlig neuen Techniken und zu einem Komplett anderen und ebenfalls neuen Kampfsystem, als man es bisher kannte.“
„Wer hat gewonnen?“, fragte der Junge
„Der Kranich!“, rief das Mädchen
„Nein, der Fuchs!“, rief der Junge.
„Ng Mui ging, bevor einer von beiden den Sieg davon trug.“, stellte der alte Mann fest und blickte wieder zu seiner Frau.
Sie lächelte und nickte kaum sichtbar. Sie war zufrieden mit dem, was sie hörte. Aber sie hätte etwas Anderes erzählt. Unbewusst strich sie mit der Hand über ihre Narbe am rechten Knöchel.
„Aber sie kam doch bestimmt wieder“, beharrte das Mädchen. „Da müssen doch noch Spuren gewesen sein. Fuchsblut oder Kranichfedern. Daran kann man einiges kombinieren.“
„Sie kam wieder, doch das war viel später. Da waren leider keine Spuren mehr da“, stellte der Erzähler fest und besann sich wieder auf die Legende.
„Dieses neue System brachte Ng Mui nun der schönen, jungen Frau bei. Als die junge Frau nun alle Techniken gemeistert hatte, ging sie zurück in ihr Dorf und traf auch gleich auf den Schläger. Diesen schlug sie mit der neuen Kampfkunst so stark zu Boden, dass dieser liegen blieb. Von diesem Zeitpunkt an, ließ sie der Schläger in Ruhe.“
„Und sie heiratete ihren Verlobten und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, freute sich das Mädchen und lächelte.
„Ja, so ähnlich war das wirklich“, sagte ihr Opa. „Und ihr schlaft nun. Gute Nacht.“
Der alte Mann ging zu seiner Frau, legte ihr eine Hand auf die Schulter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Ich wusste, dass du ihre Version nimmst“, sagte sie mit einem Lächeln.
„Du musst zugeben, dass sie die Phantasie anregt“, sagte er sanft.
„Du weißt, dass es etwas anders war“, sagte sie und berührte unbewusst ihren Knöchel.
„Ja“, sagte er nur und lächelte.
Alles begann mit einem Schrei, der durch dieses Haus hallte.
Es regnete. Ein sonnengegerbter Mann trieb die Pferde seiner Kutsche durch das kleine Dorf. Er wurde von seinem Fahrgast zur Eile getrieben.
Es ist das Jahr 1702 der nachchristlichen Zeitrechnung in dem kleinen chinesischen Dörfchen Nanchon am Berg Leung zwischen den Provinzen Sichuan und Yunnan.
Der Schrei eines Neugeborenen hallte durch das Haus. Hastig stürzte der Vater in den Raum, in dem seine Frau gerade sein Kind zur Welt gebracht hatte, und bedankte sich oft und überschwänglich bei der wandernden buddhistischen Nonne aus einem Kloster der Henan-Provinz. Er gab ihr Essen, Trinken, und sagte, sie können sich aus dem Haushalt alles nehmen, was ihr gefiel. Die Nonne winkte ab, nahm sich ein paar Nahrungsmittel und ging still und heimlich aus dem Haus, während sich drinnen alle um den Neuankömmling im Leben sorgten.
Die Mutter lächelte erschöpft und überglücklich. Sie hielt das frische Leben im Arm und zeigte es dem stolzen Vater.
„Was ist es?“, fragte er mit Tränen in den Augen.
„Ein Mädchen“, antwortete die Mutter und übergab ihm das Bündel.
„Wie soll sie heißen?“ fragte der Vater und schaukelte seine Tochter sanft auf dem Arm.
„Mui finde ich schön“, bestimmte die Mutter schläfrig.
„Ja. Willkommen im Leben Mui“, hauchte der Vater und streichelte Muis kleine Wangen.
Die Kutsche bog an einem großen Kirschbaum in eine Seitengasse, und fuhr zu einem unscheinbaren Haus.
„Wir sind da“, rief der Fahrer und schlug zwei Mal gegen die Seite der Kutsche, um die Ankunft am Ziel zu unterstreichen.
Mui´s Vater hieß Ng Lee und war ein ehemaliger Mönch aus dem Shaolinkloster der Provinz Henan. Er war ein Meister der Faust der Shaolin1 und übte jeden Tag im Garten hinter seinem Haus. Bei einer Zeremonie, zu der auch Besucher des Klosters erlaubt waren, hatte er sich auf den ersten Blick in die Tochter eines Handelsreisenden verliebt. Das Mädchen hieß Kaiwen und wurde später seine Frau. Sie zogen in den kleinen Ort Nanchon und verdienten ihren Lebensunterhalt mit dem Fertigen von Holzmöbeln und dem Nähen von Kleidung. Ihr erstes Kind war ihr ganzer Stolz.
Noch zu klein zum Laufen, krabbelte Mui zur Tür zum Garten und sah ihrem Vater fasziniert dabei zu, wie er die erste Form der Kampfkunst der Shaolin, die Xiao Hung Kwan, vollführte. Er lächelte dabei seine Tochter an. Sie lächelte zurück. Die mystische Form, die Tong Zi Gong, folgte und verband spirituelles mit Kampfkunst. Gleichzeitig musste man beweglich und die Bänder weit gedehnt sein, um diese Form zu vollenden. Auf einem Bein stehend, das andere gerade über den Kopf in die Höhe gestreckt, fiel er in einen Spagat, schloss die Beine, drückte sich ohne Hilfe der Arme wieder hoch und stand wieder. Nach einem Sprung mit Tritt fiel er in den Lotussitz, in dem auch meditiert wurde. Zwischen den Zierblumen und dem angebauten Kohl praktizierte Lee jeden Tag seine Formen.
Die dritte und letzte Form, die Lee praktizierte, war die Arhat-Form. Tiefer Stand, weit ausholende Bewegungen, Schläge und Tritte. Es gab noch mehr Formen, aber Lee beließ es bei den drei für ihn wichtigsten.
Mui freute sich schon, denn nach der Arhat-Form folgte das Spiel der fünf Tiere, dass Lee von nun an nur noch für Mui übte. Das Spiel, dass von Bodhidharma, einem indischen Mönch, der den Buddhismus nach China gebracht hatte, erfunden worden war, um seinen damaligen Schülern Kraft, Ausdauer und Stärke zu lehren. Dabei ging es darum, die Bewegungsmuster bei Angriff und Abwehr von den fünf Tieren so gut es ging, zu imitieren.
Lee machte dabei auch die Geräusche der Tiere und das ließ Mui vor Lachen so manches Mal unter sich machen. Zuerst verwandelte sich Lee in einen großen Bären, zerfetzte imaginäre Baumstämme mit den riesigen Pranken und machte „Rrrrrroooooaaaarrr!“
„Oooooaaaaarrrr!“, antwortete Mui und schlug mit der Hand gegen den Türrahmen.
Als nächstes wurde Lee zu einem großen, anmutigen Vogel, der mit seine Flügeln schlug und er machte „Kakaaah! Kakaaah!“
„Kaka!“, rief die kleine Mui zurück und wedelte mit den Armen.
Selbst Kaiwen lachte manchmal, denn sie glaubte nicht, dass sich Kraniche so anhören.
Dann verwandelte sich Lee in einen Affen, rollte über den Boden und machte: „Iiiehhk! Ieeehhk!“
Mui fiel vor lachen um.
Plötzlich wurde Lee zu einem Raubtier, schlich auf allen vieren durch den Garten, sprang und landete geschmeidig, wie ein Tiger.
„Iiiaaaaaauuuuurrrrrr!“, fauchte er.
„Miau!“, machte Mui und formte die Hände zu Krallen.
Als letztes stolzierte Lee durch den Garten und röhrte wie ein Hirsch aus voller Brust.
Mui wusste, dass das Schauspiel nun zu Ende ging und krabbelte zu Kaiwen, denn danach war es Zeit für das Abendessen.
Abends, vor dem schlafen gehen beobachtete die kleine Mui ihre Mutter, wie sie ihre Choreographie übte. Kaiwen hatte ein Talent für den Tanz und schloss sich einer kleinen Amateurtanzgruppe an. Sie hatten einen klassischen chinesischen Ausdruckstanz eingeübt und hofften, ihn auf der großen Bühne beim jährlichen Dorffest aufführen zu können. Selbst Lee stand mit offenem Mund da, wenn er seine wunderschöne Frau beim tanzen sah. Sie bewegte sich so grazil und anmutig, dass es so aussah, als hätte Kaiwen nie etwas anderes gemacht.
Der Fahrgast zog die nassen Vorhänge zur Seite und schaute auf das Haus.
„Ja“, zögerte er. „Ja, danke. Ich brauche meine Sachen. Wie viel Schulde ich Ihnen?“
„Kennen Sie die Einwohner?“, fragte der Kutscher, als er sich das Haus ansah.
„Hier wohnt meine Tochter“, antwortete der Fahrgast.
Mit vier Jahren trainierte Mui jeden Tag mit ihrem Vater. Der Ma Bu, der Reiterstand, den jeder Shaolin beherrschen musste, verlangte ihr viel ab. Auch die Fingerspitzen immer wieder in getrocknete Bohnen stoßen, um sie abzuhärten, mochte sie gar nicht, aber Lee blieb hart. Man konnte sich nicht nur die schönen Sachen heraussuchen und das Unangenehme weg lassen. Dann brachte ihr Lee die erste Form, Xiao Hung Kwan bei. Für Mui begann der Tanz des Kampfes. Sie lernte schnell und konnte die Form nach einem halben Jahr bereits so gut, wie Lee.
Mit dem mystischen Tong Zi Gong hatte Mui noch weniger Probleme, denn als Kind waren ihre Sehnen noch sehr flexibel.
Nur das Kämpfen an sich, das mochte Mui nicht so. Für die vierjährige Mui war die Faust der Shaolin ein großer, anmutiger Tanz. Nach den ersten drei Kampfeinheiten hörte Lee auf, Mui zum kämpfen zu zwingen. Er freute sich, dass seine Tochter so gut in der Kampfkunst war, ihr Können aber nicht anwenden wollte. Das war die wahre Kunst für ihn. Mui tanzte mit ihrer Mutter in der Hobbytanzgruppe, die inzwischen sehr bekannt in der Gegend um den Berg Leung war. Mui brach aus der traditionellen Choreografie immer wieder aus und mischte Kampfkunstelemente aus den Formen dazu. Das tat sie jedoch unbewusst, wenn sie einmal den Ablauf vergaß. Trotzdem applaudierte das Publikum, denn eine Vierjährige, die gut tanzte und zwischendurch immer mal wieder Schläge und Tritte verteilte, war ganz nach dem Geschmack der hiesigen Bevölkerung.
Der Fahrgast bezahlte den Kutscher und nahm seine zwei Koffer von der Regennassen Straße. Er sah zum steingrauen Haus, stellte sich unter das Vordach der Tür und atmete einmal tief ein und aus. Dann ging er zur Tür, stellte seine Koffer ab und Klopfte…
Als Mui sieben Jahre alt war, wurde Kaiwen krank. Sie bekam Fieber, musste unentwegt husten und wurde blass. Sie wollte nicht mehr essen, schwitzte sehr und erkannte ihre Tochter nicht mehr wieder. Lee war verzweifelt und holte alle Hilfe, die er in dem kleinen Dorf finden konnte, doch niemand vermochte, Kaiwen zu helfen. Sie wurde immer schwächer, konnte nicht mehr reden und lag nur noch da und hustete. Und dann schlief sie ein. Für immer.
Lee und Mui waren nun allein. Lee trauerte sehr um die Liebe seines Lebens. Mui hörte ihn nachts immer weinen. Auch ihr fehlte sie sehr, sie fragte Lee wann ihre Mutter wieder kommen würde. Erst auf der Trauerfeier von Kaiwen begriff Mui langsam, dass ihre Mutter nie mehr wieder kommen würde.
„Warum hat ihr niemand geholfen?“, fragte sie Lee am Abend nach der Beerdigung.
„Es haben viele Leute versucht zu helfen“, antwortete Lee. „Aber niemand hatte die Fähigkeiten dazu. Du hast gesehen, wie viele Menschen sie besucht haben in den letzten Tagen. Alle wollten helfen, aber niemand hatte es geschafft.“
Das war nicht gerecht, fand Mui.
„Hat irgendjemand die Macht zu helfen?“, fragte sie.
Es klopfte an der Tür. Lee öffnete und sah in das traurige Gesicht von Kaiwens Vater. Er stand mit zwei Koffern vor der Tür und war vom Regen nass bis auf die Knochen.
Die Tür öffnete sich und der nasse Fahrgast sah in das traurige Gesicht seines Schwiegersohnes.
„Bin ich zu spät?“, fragte er mit zitternder Stimme.
Lee sah auf den Boden. Sie gingen ins Haus. Mui wurde ins Bett geschickt. Beide Männer saßen am Esstisch und redeten die ganze Nacht.
Am nächsten Morgen gingen alle drei zu Kaiwens Grab.
„Ich habe die Nachricht von deiner Krankheit auf dem Hochplateau im Himalaya bekommen“, sagte der Vater zum Grabstein. „Ich brach sofort auf, ließ alles liegen. Ich kam, so schnell ich konnte. Aber zu spät.“ So sehr er versuchte, das Gesicht zu wahren, rollten nun doch Tränen über sein Gesicht. Lee und Mui ließen ihn deshalb allein und gingen ein paar Schritte.
„Was macht ihr jetzt?“, fragte Mui´s Großvater, der sie in ein gutes Lokal zum Essen einlud.
„Das Haus ist ohne Kaiwen leer und grau“, antwortete Lee. „Ich kann uns mit dem Möbelverkauf kaum ernähren, uns wird das Geld vom Verkauf von Kaiwens Näharbeiten fehlen.“
„Ich kann euch eine Weile unterstützen“, sagte der reisende Händler. „Aber irgendwann muss ich wieder los. Mein Wagen mit den Gewürzen und Kräutern steht noch in Tibet. Mönche passen darauf auf, aber dort sind meine ganzen Waren. Ohne sie verdiene ich auch kein Geld.“
„Vielen Dank für das Angebot. Ich weiß noch nicht, wie es weiter gehen soll.“
Der Händler sah auf das kleine Mädchen, dass lustlos mit den Stäbchen in ihrem Essen herumstocherte.
„Mui, wie geht es dir?“
„Mir fehlt meine Mutter“, sagte Mui leise.
„Sie fehlt uns allen“, sagte ihr Großvater.
„Ich weiß nicht, warum ihr keiner helfen konnte“, platzte es aus Mui hinaus. „Es waren bestimmt hundert Leute da, aber keiner konnte ihr helfen! Warum?“
„Als ich oben in Tibet war, da lebten Mönche, die waren in der Heilkunst geschult. Sie hätten vielleicht helfen können“, sagte der Großvater. „Aber selbst wenn mich einer dieser Mönche begleitet hätte, wir wären zu spät gekommen.“
Mui sah traurig auf den Tisch.
„Ich möchte auch die Heilkunst lernen“, sagte sie leise, aber entschlossen. „Dann kann ich allen Menschen helfen und niemand muss mehr sterben.“
Der Großvater sah Lee an. „Mir scheint es, als wäre dir deine Entscheidung gerade abgenommen worden.“
Lee überlegte einen Moment lang. Dann nickte er.
„Mui, wenn du die Heilkunst studieren möchtest, gibt es nur eine Möglichkeit. Wir beide verkaufen unser Haus und gehen nach Henan. Dorthin, wo ich deine Mutter zum ersten Mal gesehen habe.“
„Und da kann ich Heilerin werden?“
„Ich hoffe es. Dort in der Nähe gibt es ein Kloster für Nonnen der Shaolin. Wenn sie dich aufnehmen, wirst du in der Faust der Shaolin und in der Heilkunst2 geschult.“
„Und du?“, fragte sie ihren Vater. „Dich nehmen sie auch?“
Lee lächelte.
„Nein, dort leben nur Frauen. Ich werde zurück zum Shaolintempel gehen. Nicht weit weg von dir. Wir werden uns oft sehen.“
Mui sah wieder auf den Tisch und wurde still.
„Ja“, sagte sie schließlich. „Dann muss niemand mehr sterben, den ich lieb habe.“
„Nun, dann helfe ich euch noch bei dem Haus. Und dann setze ich meine Arbeit in Tibet fort. Wir werden uns wieder sehen, denn ob ich von meinen Reisen hier nach Nanchon oder nach Henan komme, ist einerlei.“
Das Haus wurde schnell und für gutes Geld verkauft. Mitsamt Einrichtung, denn je weniger Gepäck, desto schneller reiste es sich. Und das Geld war genug. Lee verbrauchte das gesamte Geld für die Reise, denn als Mönch brauchte er keines mehr. Sie packten die letzten persönliche Sachen auf einen Wagen und gingen zum Großvater, um sich zu verabschieden.
„Mui, warte hier!“, sagte dieser und verschwand kurz im inneren seiner Kutsche, die ihn zurück ins Gebirge bringen sollte. Er kam mit einem Tuch wieder, das er entfaltete.
„In Tibet verkaufte ich seltene Gewürze und Kräuter an das Bergvolk. Da kam ein Mönch auf mich zu und sagte, sein Meister wäre erkrankt und ob fragte, ob ich mit ein paar Kräutern oder Ölen aushelfen könnte. Da es sich um Mönche handelte, wusste ich, dass er mich nicht bezahlen konnte. Ich nahm etwas Chiliöl, Eukalyptus und Jasmin und was ich sonst noch entbehren konnte, schnürte ein Bündel und gab es dem Mönch. Ich glaubte nicht, dass ich ihn oder das Geld dafür je wieder sehen würde. Doch vier Tage später erschien der Mönch mit seinem Meister an meinem Wagen. Sie bedankten sich überschwänglich und der Meister schenkte mir zum Dank dies hier.“
Er holte eine lange, grüne Perlenkette hervor.
„Das ist eine Mala, eine buddhistische Gebetskette aus Jade. Einhundertacht grüne Jadeperlen und hier, am Schlussstein etwas ganz besonderes“, erklärte er Mui und zeigte ihr die Guru-Perle.
In der großen Perle waren ein Drache, eine Schlange, ein Tiger, ein Leopard und ein Kranich kunstvoll eingraviert. Die Gebetskette schimmerte wunderschön im Sonnenlicht, fand Mui.
„So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen“, sagte sie voller entzücken.
„Diese Kette ist sehr selten und etwas ganz Besonderes“, erklärte der Großvater weiter. „Solche Ketten werden eigentlich aus Holz oder Knochen gefertigt. Dies ist eine der sehr Seltenen und sehr Wertvollen aus Jade.“
Er gab die Kette Mui, die sie vorsichtig entgegennahm.
„Ich dachte, diese Kette würde mein Erbe für Kaiwen werden“, sagte er betrübt. „Ich habe nie gedacht, dass ich mein Kind überleben würde. Nun sollst du sie haben, Mui.“
Mui war sprachlos. So etwas Schönes sollte ganz allein ihr gehören?
„Danke! Vielen Dank!“ Mehr brachte sie nicht heraus.
Sie verabschiedeten sich und starteten ihre Reisen. Der Großvater wieder in die Berge und Lee und Mui in die religiöse Enthaltsamkeit.
Drei Jahre war Ng Mui nun schon im Nonnenkloster in Henan und aus dem kleinen Mädchen mit den schulterlangen, schwarzen Haaren wurde eine Bikkhuni, eine buddhistische Nonne im rot-gelben Gewand und geschorenem Kopf, den sie mit einer weißen Kopfbedeckung schützte. Sie war eine gute und fleißige Schülerin, die sich besonders für die Kräuterheilkunde, Tinkturen, Mixturen oder Akupunktur interessierte.
Sie war talentiert in der Kampfkunst, was ihr beim täglichen Training sehr gelegen kam. Mui verband die Techniken immer mit einer Bewegungsabfolge beim tanzen. Spielerisch lernte sie die Grundform Xiao Hung Kwan in Perfektion, war weit fortgeschritten im mystischen Tong Zi Gong und beherrschte die Arhat-Form. Mit der Lang-Form, die Mui seit einigen Monaten lernte, hatte sie etwas mehr Schwierigkeiten, da in diese Form von einfachen, geraden Schlägen und Tritten beherrscht wurde und man sich so wenig, wie möglich bewegen sollte. Die Kunst in dieser Form war es, die Angriffe des Gegners vorausahnen zu können. Mui dachte beim Üben der Kampfkunst aber nicht an Konfrontation, sondern an Gleichmut, Sinnlichkeit und Grazilität.
„Lerne die Form!“, riet ihr die Äbtissin und Großmeisterin des kleinen Klosters immer wieder. „Lerne die Form! Und dann suche das Formlose. Aber zuerst: Lerne die verdammte Form!“
Beim Wu Zin Chi dagegen, dem Spiel der fünf Tiere, hatte Mui keinerlei Schwierigkeiten. Sie kannte es noch von früher. Außerdem traf sie sich manchmal heimlich mit ihrem Vater auf einer abgelegenen Lichtung und sie übten Bewegungsmuster der Tiere, die ihr Vater perfekt konnte. Sie mussten beim Training große Vorsicht walten lassen, denn wenn die Äbtissin mitbekäme, dass Mui noch von ihm trainiert wurde, wäre das eine große Respektlosigkeit, was auch eventuell den Ausschluss aus dem Kloster zur Folge haben könnte.
Mui, die vor ihrem Eintritt ins Klosterleben nicht viel mit Spiritualität oder Religion zu tun hatte, wurde von ihrer Meisterin nun in eine relativ neue Form des Buddhismus eingewiesen. Der Zen-Buddhismus bestand für Mui hauptsächlich aus meditieren. Eins mit der Natur werden, Buddha werden und den Menschen das Herz öffnen. Die Zeit im Kloster war anstrengend, entbehrungsreich und oft vermisste sie ihre Mutter, gleichzeitig fühlte sie sich noch nie so glücklich und erfüllt. Und sie konnte jeden Tag zwei Dinge tun, die sie liebte. Den Tanz des Kampfes und Menschen helfen.
So, wie dem kleinen Chau, der von einem reisenden Händler mit schlimmen Bauchschmerzen ins Kloster gebracht wurde. Der Händler bat die Nonnen, seinem Sohn zu helfen. Mui war gerade neunzehn Jahre alt geworden und war nun so weit fortgeschritten, dass sie dem Kleinen ganz allein helfen durfte.
„Was hast du gegessen?“, fragte sie Chau ernst, nachdem sie seinen Bauch abgetastet hatte.
„Nichts!“, sagte Chau und wurde rot.
„Na, das soll ich dir glauben? Dein Mund ist doch noch ganz verschmiert.“
Erschrocken wischte der kleine Chau seinen Mund mit der Hand ab.
„Ha, erwischt!“, freute sich Mui. „Also, was hast du gegessen?“
„Die roten Beeren, die am Straßenrand wachsen“, gab Chau dann doch zu.
„Haben sie geschmeckt?“, fragte Mui
„Nein, ganz bitter waren die“, sagte Chau und verzog sein Gesicht.
„Wie viele hast du gegessen?“
„Alle.“
„Alle? Ich denke, sie schmeckten bitter?“
„Ja, trotzdem. Ich hatte Hunger und die sahen so lecker aus.“
Mui seufzte. Alle Vogelbeeren vom Busch vernascht. Kein Wunder, dass es dem Kleinen so schlecht ging. Sie stellte einen trank aus Salzen und Ölen zusammen und gab noch etwas Minze dazu, damit es nicht ganz so übel roch.
„Das musst du jetzt austrinken. Dann geht es dir bald besser.“ Mui sah sich um. „Und du musst draußen langsam bis zur hinteren Mauer des Klosters gehen. Draußen, das ist wichtig.“
Chau trank den Becher in einem Zug aus und verzog sein Gesicht.
„Das schmeckt furchtbar!“, sagte er.
„Das soll nicht schmecken, es soll dich gesund machen“, konterte Mui. „Und jetzt raus, hopp hop!“
Mui schob ihn vor die Tür, als sich Chau das erste Mal krümmte und ein roter Schwall aus seinem Mund schoss.
„Das kriegst du wieder!“, schwor Chau.
„Hör mal, du Vielfraß, das waren Vogelbeeren. Die sind giftig und müssen raus aus deinem Körper. Und so geht das am schnellsten.“, sagte Mui, als der zweite Schwall aus Chau´s Mund schoss.
Chau erbrach sich noch drei Mal, bis sich sein Magen wieder beruhigte. Danach durfte er sich wieder hinlegen und bekam Tee und gedämpfte Brötchen.
„Was hast du da?“, fragte er mit vollem Mund und deutete auf Mui´s Kette.
„Das ist eine Gebetskette“ sagte Mui, nahm sie ab und gab sie Chau.
„Die ist ja schön!“ sagte er und bewunderte die Mala aus grüner Jade.
„Wenn du auch eine haben möchtest, hole ich dir eine“, sagte Mui.
„Ja, das wäre sehr nett“, sagte Chau.
„Dann pass bitte solang auf meine Mala auf, ich gehe schnell und schaue, ob wir noch eine für so tapfere kleine Männer, wie dich, haben.“
„Das mache ich“, sagte Chau stolz.
Mui lächelte und hoffte, dass Schwester Meiling noch eine Gebetskette irgendwo hatte. Sie ging zum Tempel. Meiling war um diese Zeit immer dort.
Die Tür des Krankenzimmers flog auf und ein gehetzter Mann schaute ins Zimmer.
„Chau, da bist du ja!“, freute sich sein Vater. „Und dir geht es gut! Ausgezeichnet!“
„Ja, Schwester Mui musst du danken.“
„Wo ist sie denn?“, fragte er und sah sich um. „Egal, mache ich später. Wir müssen weiter, komm, mein Junge.“
„Aber Schwester Mui holt …“
„Wir danken ihr später, wenn wir wieder herkommen!“
„Aber sie holt …!“
„Chau! Komm jetzt. Wir müssen noch vor Einbruch der Dunkelheit im Ort sein. Ich habe einen engen Zeitplan. Wir sind schon spät dran. Und den musst du auch in- und auswendig können, wenn du das Geschäft eines Tages übernimmst!“
Chau sah auf die Kette in seine Hand.
„Wir kommen wieder, ja?“, fragte er seinen Vater.
„Ganz sicher.“
„Dann passe ich solange auf diese auf, bis ich meine Eigene bekomme“, sagte Chau und verließ mit seinem Vater das Kloster. „Das habe ich versprochen.“
„Ja, mach das. Hauptsache, du kommst jetzt mit.“, sagte der Vater und zog seinen Sohn am Arm aus dem Zimmer.
Als Mui mit einer anderen Gebetskette zurück kam, waren Chau und ihre Mala aus Jade aus dem Kloster verschwunden. Sie eilte zum Klostertor, doch der Wagen des Gewürzhändlers war schon fort.
Ein Jahr später, als Mui zwanzig Jahre als war, kam der Abt des Shaolinklosters den Weg hinauf und bat um ein Treffen mit der Äbtissin. Nach einer Weile schickte die Äbtissin nach Ng Mui.
„Mui, wie heilt man Fieber?“, fragte die Nonne.
„Bettruhe, wärme und schmerzstillende Kräuter. Außerdem kann man …“
„Danke“, unterbrach sie die Äbtissin. „Wie dämmt man eine Krankheit ein?“
„Isolation der Kranken, Sauberkeit, Reinlichkeit, …“
„Danke!“
Die beiden Oberhäupter wechselten einen Blick.
„In unserem Kloster unten in Fujian herrscht zur Zeit eine Gelbfieberepidemie. Wir werden der Lage dort unten einfach nicht Herr“, begann der Abt. „Ich bin gekommen, um heilkundige Hilfe für unsere Brüder im Süden zu erbitten.“
„Gelbfieber“, überlegte Mui. „Moskitos. Ihr braucht Räucherstäbchen und feine Netze, durch die keine Moskitos kommen. Ich stelle einige Kräuter und Öle zusammen die ihr mitnehmen könnt. Und ich frage …“
„Mui!“, rief die Äbtissin ihr nach, als diese hinauseilte.
„… Schwester Meiling …“
„Mui!“
„… nach Netzen …“
„Mui!!!“
„Ja?“
„Stelle alles, was du brauchst in Ruhe zusammen.“
„Was ich brauche?“
„Du wirst nach Fujian ins Kloster reisen. Deine Hilfe wird dort dringend gebraucht.“
„Aber es ist ein … Mönchskloster! Ich meine, da leben Männer! Ich bin eine Frau!“
„Dir wird ein Haus zum behandeln der Erkrankten und als Schlafplatz für dich auf dem Klostergelände zur Verfügung gestellt. Ich habe mit dem Abt Lobsang gesprochen. Er erwartet dich bereits und wird das Haus nach deinen Wünschen ausrüsten“ sagte der Abt.
„Gut“, überlegte Mui und sprach dann konzentriert und wohlüberlegt. „Er soll alle Fenster und Türen mit einem engmaschigen Netz bespannen. Das Netz muss so eng sein, dass kein Insekt ins Haus kann. Dann soll er vier Tage lang Räucherstäbchen abbrennen. In jedem Raum soll eine Chrysantheme stehen. Er soll genügend Betten und frisch gewaschene Laken bereitstellen. Kräuter und Öle bringe ich mit.“
„Ausgezeichnet!“, freute sich der Abt. „Ich werde einen Botschafter voraus schicken, der deine Wünsche entsprechend übermittelt.“
„Ich möchte mich noch vom meinem Vater verabschieden. Ich denke, ich werde in zwei Tagen aufbrechen.“
Und so brach Mui nach Fujian auf, zum südlichen Kloster der Shaolin.
Im Jahre 1729 lag Chow in der Seitengasse hinter der Markthalle. Er atmete nicht mehr. Chows Gesicht war von Blutergüssen übersät, seine Nase und sein Jochbein waren gebrochen. Aus tiefen Löchern in dem Drachentattoo auf seiner Brust rann immer noch etwas Blut in Rinnsalen auf die regennasse Straße. Seine Augen waren geschwollen und blutunterlaufen. In seinem Hinterkopf steckte noch die Klinge eines Fleischermessers.
Völlig außer Atem stand Yim Lee vor Chows Leiche und starrte auf das Fleischermesser. Es war seins. Das erkannte er am kunstvoll gefertigten Griffstück aus dunklem Mahagoni.
Und Lee kannte Chow.
Chow war einer dieser kleinen Opiumschmuggler, die den rechtschaffenen Bürgern von Longmen das Leben schwer machten. Opiumfelder wurden im Landesinneren im großen Stil angebaut, von den Triaden finanziert und organisiert. Kleine Schmuggler brachten sie dann über die Schleichwege durch die Guangdong-Provinz, in der Longmen lag, in Richtung Hongkong. Und von Hongkong aus in die ganze Welt.
Chow schmuggelte es nicht nur für die Triaden, er nahm es auch selbst. Und immer, wenn er es nahm, gab es Ärger. Und immer, wenn es Ärger in Longmen gab, schickte man nach Yim Lee. Polizei gab es hier nicht, sie brauchte viel zu lang, um nach Longmen zu kommen. Lee wohnte hier. Ihn holte man, um Ärger zu schlichten.
Lee hatte einige Kampftechniken gelernt, war aber noch