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Brielle ist ein rebellisches Mädchen, das ihr Leben auf einem Segelschiff verbringt und täglich auf der Suche nach Abenteuern ist. Seit Kindertagen träumt sie davon, so wie die Orkusianer, eine Fischflosse zu haben und durch die Meere von Oasis zu schwimmen. Eines Tages macht sie unter Deck eine grausige Entdeckung: ein Gefangener, von dem niemand sonst auf dem Schiff zu wissen scheint. Dieser behauptet, der vergessene Gott Isea und König der Orkusianer zu sein. Brielles Mutter, so behauptet er, die selbst eine Göttin sei, habe ihn gefangen genommen, um sich an ihm zu rächen. Brielle ist misstrauisch, aber könnte Isea ihre Chance sein, um endlich eine Orkusianerin zu werden – ihre Chance auf Freiheit? Doch sie hat keine Zeit, ihre Entscheidung zu überdenken, denn sie wird vom Strudel der Ereignisse mitgerissen. Die zornige Göttin Este rüstet zum Krieg, um die sechs Unterwasserreiche von Oasis zu zerstören. Und Brielle findet sich plötzlich inmitten eines schrecklichen Feldzugs wieder – angefacht von ihrer eigenen Mutter.
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Seitenzahl: 404
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DAS BUCH
DIE AUTORIN
PROLOG
BRIELLE
DIE VERBORGENE TÜR
BRIELLES ENTSCHEIDUNG
DIE TRÄNEN DER ORKUSIANER
DIE ERSTE BEGEGNUNG
DAS OFFENE MEER
LAUTLOSE ZYKLEN
TRIELLES ENTSCHEIDUNG
DIE GÖTTER-GESCHWISTER
DIE KORALLENSTADT
DER RAT DES KÖNIGS
ISEAS ENTBLÖßUNG
NOLIRAMIS
ANTINAS’ UNTERGANG
TRIELLES KREUZZUG – TEIL 1
DIE STADT DER SCHWARZEN RAUCHER
TRIELLES KREUZZEUG – TEIL 2
EARORA
DER EISKONTINENT
ORTIS
DER HERR DER OZEANE KEHRT ZURÜCK
ZWEI VERLORENE GÖTTER
EPILOG
DANKE
BUCHVORSCHAU
Brielle ist ein rebellisches Mädchen, das ihr Leben auf einem Segelschiff verbringt und täglich auf der Suche nach Abenteuern ist. Seit Kindertagen träumt sie davon, so wie die Orkusianer, eine Fischflosse zu haben und durch die Meere von Oasis zu schwimmen. Eines Tages macht sie unter Deck eine grausige Entdeckung: ein Gefangener, von dem niemand sonst auf dem Schiff zu wissen scheint. Dieser behauptet, der vergessene Gott Isea und König der Orkusianer zu sein. Brielles Mutter, so behauptet er, die selbst eine Göttin sei, habe ihn gefangen genommen, um sich an ihm zu rächen.
Brielle ist misstrauisch, aber könnte Isea ihre Chance sein, um endlich eine Orkusianerin zu werden – ihre Chance auf Freiheit?
Doch sie hat keine Zeit, ihre Entscheidung zu überdenken, denn sie wird vom Strudel der Ereignisse mitgerissen. Die zornige Göttin Este rüstet zum Krieg, um die sechs Unterwasserreiche von Oasis zu zerstören. Und Brielle findet sich plötzlich inmitten eines schrecklichen Feldzugs wieder – angefacht von ihrer eigenen Mutter.
Die Schweizerin Janine Tollot wanderte im Jahr 2009 nach Kanada aus, wo sie heute lebt, arbeitet und schreibt.
Besuchen Sie die Autorin unter www.janinetollot.com
© Autorenfoto: Sharilyn Clowes
Der Ruf der Wale wurde durchdringender.
Dem Schall folgend, stieß sich der Orkusianer mit der Fluke weiter aufwärts, hinaus aus der Dämmerung der Tiefe dem Licht entgegen. Von Not und Elend, von Verwirrung und Panik erzählte das Walenlied. Nie zuvor hatte der Orkusianer etwas so kummervolles vernommen. Es war, als wollte ihm das Herz in der Brust zerbrechen.
Schwarz zeichnete die Nacht das Meer. Nur hin und wieder durchdrang ein Silberschein des Mondes das Epipelagial, die oberste lichtdurchflutete Zone des Ozeans. Der Fischmensch schwamm auf dieses Licht zu, von wo das Wehklagen kam. Weitere Melodien vermischten sich mit der Lamentation. Jetzt zählte er fünf verschiedene Stimmen und es kamen weitere hinzu. Die Bassnoten und Trompetentöne der Wale schwollen zu noch größerer Dringlichkeit an, denn sie wussten, dass ihr König kam, um sie zu retten.
Seit Stunden wuchs der Meeresboden unter ihm zu einem Kontinentalhang heran, und der Schelf war mehr und mehr von Sand bedeckt. Ob er sich einer Küste näherte? Indem sich die Pupillen zusammenzogen, passten sich seine Augen dem heller werdenden Licht an. Mit dem Aufstieg baute sich der Druck ab und zwang seine Lungen, sich auszudehnen, um den Auftrieb zu beschleunigen. Das Blut in seinem Körper erwachte zum Leben und zirkulierte schneller durch die Arterien und Venen.
Die Art und Weise, wie rasch der Boden anstieg, bereitete ihm ein Unbehagen, das gallenbitter schmeckte. Er hatte während der Reise in diesen entlegenen Teil seiner Welt riesige Kanaldamm-Systeme, Kegelkanäle, Schuttstromausläufer und Schuttfächer gesichtet – Anzeichen von Festland.
Sie ist zurück, flüsterte ein Gedanke in ihm, den er sich sogleich verbot. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Martyrium der Wale, doch auch das bot ihm keine Erleichterung. Wie das Wasser den Schall ihres Gejammers mit sich trug, kam es ihm vor, als hätte es sich in eine einzige Masse aus Albträumen verwandelt. Die Oberfläche war jetzt ein fast greifbares Dach über ihm, aber die Felsen stiegen weiterhin in die Höhe, Sand hatte sich in unregelmäßigen Haufen auf dem Gestein abgelagert.
Er schnellte empor und durchstieß mit dem Kopf die Wasseroberfläche. Das Mondlicht traf seine Augen, die an die Dunkelheit der Meerestiefen gewöhnt waren, wie Blitze. Die Kiemen an seinen Wangen verwuchsen mit der Haut, und jetzt atmete der Orkusianer durch die Nase.
Seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich: Land, das weit über die Wasseroberfläche hinaus wuchs. Bergmassive türmten sich in die Dunkelheit des Himmels, eine zahnige Kette, die zu beiden Seiten in der Nacht verschwand. Ein Strand lag im Mondlicht unter den Sternen, schön und schrecklich zugleich, und wider seines Willens verspürte der Orkusianer Ehrfurcht und Staunen vor dieser Kreation.
Land! Der Ort, wo Leben so viel langsamer wuchs, alterte und verging als in den Ozeanen.
Land! Wo das süß schmeckende Wasser des Himmels in Becken aufgefangen wurde.
Land! Wo Menschen und Tiere sich auf Beinen fortbewegten und auf Bäume und Felsen kletterten.
Festland, das vor Tausenden von Jahren untergegangen war und sich jetzt erneut aus den Meeren von Oasis erhob.
Der Orkusianer musste sich endgültig eingestehen, dass sie zurück war. Das Land tat bereits Unheil in seiner Welt; die Wale, deren Rufen er den ganzen Tag bis in die Nacht hinein gefolgt war, strandeten an der Küste. Sie waren in einer nährstoffreichen, mit Beutetieren übersättigten Kaltwasserströmung geschwommen. Unwetter und Stürme hatten diese an die Küste getrieben. Die Wale waren ihr in seichtes Wasser gefolgt, und die Ebbe hatte dann das Übrige getan.
Er schwamm zu den jammernden Ungetümen hin. Eine Sturmwolke aus Entsetzen betäubte seine Glieder, seinen Verstand. Dutzende von Pottwalen, Narwalen, Blauwalen und Buckelwalen lagen über die Gestade verstreut und siechten, auf den Tod wartend, in ihrem Elend dahin. Weil das eigene Körpergewicht sie erdrückte, waren sie unfähig, genügend Unterdruck zum Einatmen zu entwickeln. Mit letzter Sterbenskraft hoben manche den Kopf, um ihren König kommen zu sehen. Doch was konnte er tun?
Ja, alle Fische, Orkusianer und Pflanzen priesen ihn als Herrscher von Oasis, und einst war er ein Gott gewesen, aber an dem Tag, an dem er einen irdischen Körper angenommen hatte, waren Teile seiner überirdischen Kräfte entschwunden. Auch deshalb – das musste er sich eingestehen –, weil er diesen Hochverrat vor langer, langer Zeit begangen hatte.
»Bewegt euch!«, schrie er die Wale an. »Zurück ins Wasser!« All seine Macht und Magie wob er in seine Stimme, und tatsächlich regten sich die Wale in ihrer Lethargie. Die wenigen, die sich noch im Wasser befanden, robbten und rollten zurück in tiefere Gewässer, jene jedoch, die aufgelaufen waren, kämpften vergeblich.
Der König stimmte ein Walenlied an – ein weithin vernehmbares, durchdringendes Pfeifen und Jammern, von Klacklauten durchbrochen. Seine Stimme war so gewaltig und alles durchdringend, dass es den Ozeanriesen die Energie verlieh, sich Zentimeter für Zentimeter ins rettende Nass zu kämpfen. Nur zwei bullige Schatten rührten sich nicht. Ein Bartenwal und ein Pottwal waren tot. Der Schmerz über ihren Verlust und die Art ihres Todes trafen den König zutiefst, und die Trauer verleibte seiner Stimme noch mehr Macht ein.
Immer öfter strandeten Wale, denn Küsten und Berge bauten sich erneut auf, und das viel, viel schneller, als es natürlich war. Seit zwei Millennien war Oasis ein Wasserplanet. Nur hier und da hatte es Felsgruppen, Riffe und Atolle gegeben, die aus dem Meer ragten, gerade genug Lebensraum und Brutstätten für die Vögel. Doch seit ein paar Hundert Jahren vermehrten sich Strände, Küsten und Gebirge, ja ganze Kontinente legte das Wasser frei. Majestätisch schön und fern schienen sie, aber auch bedrohlich und unbezwingbar. Eine feindliche Welt, in der kein Orkusianer und kein Fisch zu überleben vermochte. Andere fremdartige Tiere nahmen dort Einzug. Tiere, die auf seine Meeresgeschöpfe Jagd machten.
Der Orkusianer verdrängte diese beklemmenden Gedanken und konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe.
»Isea!«, donnerte eine Stimme weit über ihm, und das Echo seines Namens hallte durch die Schluchten und Spalten der überirdischen Berge. Ihr Klang durchbohrte ihn mit den eisigen Klauen des Grauens, sein Walenlied verstummte abrupt. Nie zuvor in seinem langen Leben als Fischmensch hatte er solches Gräuel empfunden, und erst jetzt realisierte er, dass er tief in sich verborgen stets gewusst hatte, dass sie eines Tages zurückkehren würde.
Isea drehte sich um und schaute nach oben. Da stand sie, hoch über ihm auf einem Felsplateau. Ihre Gestalt war nur ein schwarzer Umriss in der Nacht, aber ihren Zorn, den konnte er selbst hier unten spüren. Der König der Ozeane fühlte sich klein und hilflos.
»Este!«, rief er mit kümmerlich leiser Stimme, doch er wusste, dass sie ihn trotzdem von dort oben hören konnte, denn auch sie war eine Göttin.
Seine Schwester war zurückgekommen, um sich an ihm zu rächen.
Wie ein perfektes Ebenbild der Galionsfigur hing Brielle übers Wasser hinaus. Die Arme zu einem V hinter ihrem Rücken gespreizt und die Beine wie ein Affe um den Klüverbaum geschlungen, so hielt sie sich fest. Würde sie die Kraft verlieren, würde sie fallen und von dem mächtigen Klipper zermalmt werden. Aber das kümmerte Brielle nicht. Das Wasser spritzte ihr ins Gesicht, sie schmeckte das Salz auf den Lippen, und es brannte in ihren Augen. Sie war wie berauscht. Das Schiff glitt über die Wellen hinweg, als wären seine Segel Flügel, als wollte der Wind es zum Himmel tragen. Gischt wirbelte wie Schnee um den Bug.
Und dann kamen sie – die Delfine. In einem Wettschwimmen jagten sie neben der Bugspitze her, ritten mit der stolzen Emerald die Wellen. Es waren Spinner-Delfine, die Meister unter allen Meeresakrobaten.
Brielle lachte, während sie ihnen bei ihren Sprüngen zuschaute. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die Drehungen zu zählen, und heute hoffte sie, dass einer den Rekord brechen würde.
»Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben!«, zählte sie schreiend. »Komm schon, Junge, in dir steckt mehr!« Der Rekord lag bei dreizehn. »Wer gibt mir heute vierzehn?« Brielle dachte nur einen Moment über ihren Leichtsinn nach, verwarf den Gedanken sofort wieder und ließ mit einer Hand los. Sie streckte den Arm aus und beugte sich noch ein bisschen tiefer. Ein Delfin sprang aus dem Wasser und berührte mit der Nasenspitze ihren Mittelfinger.
»Brielle!«, schrie eine schrille Stimme. »Komm sofort zurück aufs Schiff!«
Das Mädchen griff mit der freien Hand nach dem Klüverbaum und schwang sich mit einem Schub aufwärts. Wie eine Raupe bewegte sie sich den Bugspriet rückwärts hinunter und kam nach einem geschickten Sprung auf dem Deck zum Stehen. Hier sah sie sich einer groß gewachsenen, schlanken Gestalt gegenüber, die mit ihrem langen Hals an einen Schwan erinnerte. Sie trug eine eng an ihrem Körper liegende königsblaue Cotte. Das dunkelblonde, gewellte Haar wehte wie ein Banner im Wind.
Es war ihre Mutter Trielle, und in ihren sonst grünen Augen brannte ein Feuer der Wut. Die Männer auf dem Schiff ihres Vaters respektierten sie für ihre Gabe, das Wetter vorherzusagen und die Emerald durch sichere Gewässer zu lotsen, und natürlich liebten sie sie für ihre Schönheit und Güte. Die Frauen an Bord schätzten sie für ihre Geschicklichkeit im Nähen von Segeln und verehrten sie für ihre Weisheit und Großzügigkeit. Trielle war perfekt, so perfekt, dass es Brielle zuwider war. Sie liebte ihre Mutter, aber manchmal verspürte sie ihr gegenüber eine Abneigung, die sie sich nicht erklären konnte.
»Wirst du nie lernen zu gehorchen, Kind!« Ihre verzweifelte Stimme ließ die Frage wie eine Feststellung klingen, an der selbst in hundert Jahren nichts zu ändern sein würde. Ihre Mutter schaute sie kopfschüttelnd an, wie sie tropfend nass vor ihr stand. Erkannte sie denn nicht, dass sie sich genau so wohlfühlte?
»Wie oft haben dein Vater und ich dir gesagt, du sollst nicht vom Klüverbaum hängen?«
Brielle antwortete nicht. Sie hatte es längst aufgegeben, ihrer Mutter begreiflich zu machen, warum sie dieses Spiel so liebte. Es gab keine Worte, keine Erklärungen. Mutter würde es nie verstehen.
»Hast du deine Studien des Tages erledigt?«, fragte sie in einem Ton, der verriet, dass sie die Antwort kannte.
»Nein.« Brielle rollte die Lippen zu einem Schmollmund. Der Befehl lag in Mutters Augen, sie brauchte ihn nicht auszusprechen. Mit zwischen den Schultern eingezogenem Kopf schlurfte sie an ihr vorbei. »So langweilig!«, murmelte sie. »Die Lehre von Garnen und Tauwerken. Als gäbe es nichts Wichtigeres in dieser Welt zu lernen.«
Trielle wandte sich nach ihr um. »Jedes Kind auf der Emerald hat seine Studien erledigt, nur die Tochter des Kapitäns nicht.«
»Tschuldige, dass ich eine solche Schande für dich bin.«
Ihre Mutter packte sie am Arm, drehte sie zu sich um und schlug ihr ins Gesicht. Für einen Moment starrten sich die beiden an – etwas wie Hass gedieh zwischen ihnen. »Geh und trockne dich, zieh dir was an und beende deine Studien!«
Brielle riss sich los und stampfte ohne ein weiteres Wort des Widerspruchs davon.
Brielle bahnte sich ihren Weg durch das Gewühl aus Männern und Frauen, die sich gegenseitig Anweisungen zuriefen, wie die Rahen zu brassen und die Segel zu trimmen waren. Die Windrichtung hatte sich gerade geändert, und nun mussten die Segel neu ausgerichtet werden, damit sie weiter ihren Weg nach Osten fortsetzen konnten.
Die Emerald war ein Vollschiff mit drei vollgetakelten Masten – der Stolz von Tjarus und Trielle, ihren Eltern. Die Mission des Schiffs war es, neue Länder und Inseln zu finden, sie zu benennen und zu kartieren, sowie die Meeresforschung, wofür sich Brielle am meisten interessierte. Die Mannschaft war immerzu geschäftig; wie Bienen im Stock kamen sie ihr vor. Segeln nähen und flicken. Segeln einziehen, hochfahren und reffen. Segeln bergen, setzen und festmachen. Taue herstellen und Wache halten. Reparaturen an Rumpf, Wanten und Masten. Fische fangen und Mahlzeiten zubereiten. Reinigungsarbeiten wie Deck fegen und die Pflege von Material waren tägliche Arbeiten auf der Emerald.
Brielle aber standen die knochentrockenen Studien bevor, welche Heldar, der Schullehrer der Emerald, der Klasse heute Morgen aufgebürdet hatte. Sie ging die Stufen hinab unter Deck zu ihrer Kajüte, um sich trockene Kleider anzuziehen. Noch immer spürte sie das Brennen von Mutters Hand auf der Wange. Dann begab sie sich ins Klassenzimmer. Hier standen dreizehn kleine Tische mit je einem Stuhl für die Kinder und Jugendlichen der Emerald. Morgens fand der Unterricht für die Älteren, nachmittags der für die Kleineren statt. Nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen lernten sie, sondern auch alles, was es über das Segeln zu wissen gab, über Geologie, Flora und Fauna der Festlande, die für die meisten Seefahrer von Oasis eine faszinierende und neuartige Welt war.
Mit einem vor Selbstmitleid schweren Seufzer ließ sich Brielle auf einen Stuhl sinken und schlug ein Buch über die Lehre von Tauwerken auf. Nachdem sie ihre Hausaufgaben erledigt hatte, kletterte sie auf den Fockmast, der vorderste der drei Masten, wo ihr Freund Pero im Krähennest saß und nach Land Ausschau hielt. Land! Das ach so kostbare Gut dieser Welt.
Die Luft war erfüllt von dem kreischenden Hah-hah – Hah-hah der Sturmvögel und Sturmtaucher, die das Schiff umkreisten.
»Hast du heute welche gesichtet?« Sie schaute zu dem alten Mann empor. Peros Haar war weiß und grau und reichte ihm bis in den Nacken. Vom Leben auf See seit Kindesbeinen, von der Hitze der tropischen Meere, der Kälte der Pole und den geißelnden Stürmen war seine Haut ledrig und schroff. Er hatte schon Maurius, ihrem Großvater, als Schiffsjunge auf der Emerald gedient, und heute war er der erste Steuermann von Kapitän Tjarus.
»Nein, seit drei Tagen nicht mehr. Die letzten, die ich sah, haben nur ganz schnell die Köpfe aus dem Wasser gereckt und sind abgetaucht, sobald sie unser Schiff bemerkt haben.«
»Warum?«
»Die Orkusianer sind sehr schüchterne Menschen. Wenn sie nicht gerade mit einer Schule Delfine um die Wette schwimmen oder sich an Phytoplankton satt essen, meiden sie das Epipelagial die meiste Zeit.«
»Was ist das Epipelagial?«
»Das ist die lichtdurchflutete Zone. Sie reicht nur etwa zweihundert Meter in die Tiefe. Dann kommt die schlecht durchleuchtete Welt, die wir die mesopelagische Zone nennen. In diesen Bereichen herrscht ewiges Zwielicht. Und in etwa neunhundert Meter Tiefe beginnt die aphotische – die lichtlose – Zone.«
»Hast du jemals einen Meermenschen aus der Nähe gesehen, Pero?«
Sein Blick verlor sich in der endlos blauen Weite von Himmel und Meer, und seine Augen wurden wässerig. »Nur ein einziges Mal, und das ist lange her. Eine Orkusianerin hat sich auf einem Felsen in einer Brandung gesonnt. Was für ein Anblick!« Er lächelte. »Schön sind sie, die Mädchen dieser Rasse, Brielle. Eine Schönheit, die sich nicht in Worte fassen lässt. Ihre Haut ist sehr bleich, weil sie meistens in den dunklen Zonen schwimmen.«
»Mutter sagt, die Orkusianer sind keine Menschen.«
Pero erwiderte nichts und blinzelte wieder in die glitzernde Wasserwüste.
»Sie sagt, sie seien gefährlich und bösartig. Einer hat ihren Bruder getötet.«
Pero schwieg auch dazu.
»Glaubst du auch, dass sie gemeine Wesen sind, Pero?« Jetzt sah Brielle ihn von der Seite an.
Der alte Mann zog die Stirn kraus und überlegte eine Weile. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann. »Ich habe noch nie einen kennengelernt. Und wir Schifffahrer wissen nicht viel über die Fischmenschen. Vielmehr interessiert sich die Mannschaft für die Ländereien. Wir haben keinerlei Kontakt zu ihnen, und sie spielen bei unserer Suche nach Land keine Rolle. Sie leben in einer Welt, in die wir nie gehen können, und wir leben ein Leben, das die Orkusianer niemals haben werden. Wir sind zwei völlig verschiedene Arten Mensch in zwei völlig verschiedenen Umgebungen. Wir wüssten nicht einmal mit ihnen zu kommunizieren. Zudem meiden sie uns, wie die Tiefseeangler die lichtreichen Zonen meiden.«
»Manchmal stelle ich mir vor, eine Orkusianerin zu sein«, gestand Brielle in leisem Ton. »Ich frage mich, wie schnell ich mit Fischflossen schwimmen könnte, wie ich atmen würde und was ich essen müsste.«
»Soviel ich weiß, sind die Meermenschen reine Phytoplanktonfresser.«
»Wo leben sie? Ich meine, haben sie Häuser oder so was? Wie die Menschen, die sich auf dem Land angesiedelt haben?«
Pero lachte vergnügt auf. »Wie ich hörte, hausen sie in Korallenriffen. Ganze Städte aus Riffen! Aber sie bauen sich ihre Häuser nicht so wie wir, weil sie weder Holz noch Leinen, weder Lehm, Metalle oder irgendwelche Werkzeuge kennen. Stattdessen lassen sie die Korallen ihre Städte bauen.« Jetzt glänzten seine Augen, wie schon viele Male zuvor, wenn er ihr von den Meermenschen erzählt hatte, und sie sah die Sehnsucht in seinen Augen. Pero war derjenige, der in ihr den Traum wachgerufen hatte, mit einer Fluke durch die Meere zu schwimmen. Ein Traum, von dem sie ihren Eltern niemals erzählen konnte. Seine Geschichten über Abenteuer und von der fremden Welt viele Tausend Meter unter ihnen waren der Grund, warum sie jeden Tag hier heraufkletterte und ihn während seiner Schicht im Mastkorb besuchte. Aber auch, weil sie hoffte, eine Schule Orkusianer oder nur einen von ihnen aus der Nähe zu sehen. Ja, sie fühlte die Macht des Meeres, staunte über sein tiefes Blau, atmete seinen salzigen Atem, aber in Wirklichkeit sah und wusste sie rein gar nichts über diese Tiefen unter ihr, die sie so faszinierten. Brielle verzehrte sich danach, mehr zu sehen als nur dieses Schiff mit seinen ewig im Wind flatternden Segeln und den öden Teppich aus Wasser, der sich rundherum in die Endlosigkeit erstreckte. Doch der Traum, in den Tiefen und Weiten der Ozeane zu schwimmen, war ein törichter, und wahrscheinlich würde er mit dem Alter verblassen.
Brielle betrachtete die Emerald in ihren Einzelheiten. Sie war ein Vollschiff, und ihre drei Masten waren alle rahgetakelt. Das machte sie zwar nicht zum schnellsten Schiff, aber sie war gewandt und robust. Im Widerspruch zu ihrem Namen waren ihr Holz aus weiß angestrichener Eiche und ihre Segel aus Hanf. Die Mannschaft bestand aus hundertachtzig Leuten. Davon waren neunzig Männer, fünfundsechzig Frauen und fünfundzwanzig Kinder.
»Da! Schau!«, riss Peros aufgeregter Ruf sie aus dem Grübeln. Er sprang auf und zeigte aufs Meer hinaus, wo eine riesige Schule Delfine sich tummelte. In hohen Sprüngen schossen sie aus dem Wasser, drehten sich in der Luft, vollführten akrobatische Drehungen und spielten miteinander. Und unter sie mischten sich Orkusianer. In Sachen Eleganz, Anmut und Schnelligkeit standen sie den Delfinen in nichts nach. Es war ein heiteres Schauspiel, und Brielle klatschte lachend in die Hände.
»Hart steuerbord! Hart steuerbord!«, hörte sie ihren Vater weit unter ihnen brüllen, und sofort wieselte die Mannschaft umher wie ein aufgescheuchtes Rudel Mäuse.
»Nicht gut«, murmelte Pero.
»Was ist los?«
»Wir geraten direkt in den Fischschwarm. Bei dieser Anzahl kann das gefährlich werden.«
»Aber unsere Emerald ist so groß und schwer!«
»Ja, aber das müssen beinahe tausend Delfine und Orkusianer sein. In diesem hohen Tempo üben sie die Kraft eines Orkans aufs Wasser aus.«
Die Emerald bockte auf den Wellen auf und ab, hin und her. Brielle schaute zu, wie sich die Rahen drehten, die Rundhölzer knackten, die Taue knirschten, und endlich wandte sich das massige Schiff steuerbord – nach rechts. Fast den ganzen Tag lang war die Emerald mit Höchstgeschwindigkeit vor dem Wind gefahren, jetzt traf er quer auf die Segel und sorgte für Abdrift. Die Matrosen hielten sich an dem fest, was gerade in greifbarer Nähe war, manche hingen mit ihrem Leben an den Leinen, strauchelten, um die Balance zu wahren, während sie die Segel auf den neuen Kurs ausrichteten.
»Ich muss sie aus der Nähe sehen!«, rief Brielle und hüpfte aus dem Mastkorb. Auf der Wante kletterte sie abwärts, und wäre sie nicht so aufgeregt gewesen, hätte sie unten angekommen festgestellt, dass sie ihren Rekord im Absteigen erneut gebrochen hatte. Peros Rufe nahm sie jedoch nicht wahr. Sie schwankte von der Wante zu den Schoten zum Bugspriet. Wie zuvor kraulte sie auf den Klüverbaum hinaus, der wie der Zahn eines Narwals weit über das Wasser ragte. Dieses Spiel hatte sie schon oft mit den Delfinen gespielt, wenn ihre Mutter außer Sichtweite war. Aber noch nie hatte sie die Gelegenheit gehabt, den Orkusianern so nahe zu sein.
Delfine und Meermenschen wühlten die See auf, Gischt spritzte ihr ins Gesicht. Brielle kniff die Augen zusammen, in denen das Salz brannte. Aber es war ihr egal, sie musste sie sehen oder sie würde sterben.
Da! Da war gerade einer in hohem Bogen aus dem Wasser gesprungen, nur wenige Meter zu ihrer Rechten. Er schien so groß gewachsen und seine im Sonnenlicht glitzernde Fluke so lang. Sie war tief bewegt von dieser Schönheit und Anmut, und ihre Sehnsucht wurde zum Fieber. Da war wieder einer, eine Orkusianerin, und Brielle stellte fest, dass die Meermenschen die verschiedenfarbigsten Fluken hatten. Keine glich der anderen, sie alle waren einzigartig. Wenn sie doch nur auch eine Fluke hätte! Sie würde loslassen, sich fallen lassen und selbst mit den Delfinen um die Wette schwimmen.
Die Emerald steuerte weiter von der Schule ab und vergrößerte die Distanz.
»Brielle!«
Oh nein, ihre Mutter hatte sie schon wieder erwischt! Zwei Mal an einem Tag. Sie hatte eine Strafe verdient.
Die Strafe war, das Holzdeck des Zwischendecks zu schrubben und einzuölen. Es war heiß hier unten, das Haar klebte ihr an den Wangen wie Spinnfäden. Brielle saß auf den Knien und schrubbte so hart, als wäre der Boden ihre Mutter und die Bürste das Ventil ihrer Wut. Warum musste sie ihr immer den Spaß verderben? Warum war sie immer zur falschen Zeit am falschen Ort? Ihr Vater war lange nicht so streng mit ihr. Er war der Abenteurer, der Spaßmacher, der Geschichtenerzähler, während ihre Mutter die Aufpasserin, die Verboteaufstellerin und die Strafenausteilerin war. Warum…
Brielle hielt in ihrem wütenden Schrubben inne. Dort im Dunkeln war ein Umriss, der Umriss einer Tür. Sie setzte sich gerade auf und runzelte die Stirn. Nicht einmal Kapitän Tjarus kannte die Emerald so gut wie sie. Jedes Versteck und jeden Winkel hatte sie gefunden, hatte sämtliche Kajüten und Stauräume durchforscht, die Küche, Speisekammern, Ruderräume, ja sie wusste sogar, wo die Balken splitteten, die Segel neu genäht werden mussten, wo der Rumpf leckte. Nicht umsonst hatte Tjarus ihr den liebevollen Titel Die erste Hüterin der Emerald verliehen. Aber diese Tür war vorher nie da gewesen – oder doch? Sie lag im Dunkel einer lichtlosen Ecke, Weinfässer verbargen sie fast ganz, und wenn man nicht genau hinsah, war sie nicht auszumachen.
Während sie aufstand, kam es ihr vor, als wäre die Tür gerade erst erschienen, als hätte sie… auf sie gewartet?
Brielle schüttelte leise lachend den Kopf. »Blödsinn.« Doch dieses Gefühl, magisch von der Tür angezogen zu werden, wurde mit jedem Schritt stärker. Und jetzt, da sie vor ihr stand, schien etwas nach ihr zu rufen, sie zu bitten… nein, sie anzuflehen, einzutreten. Neugierde und Aufregung beflügelten sie – ein Gemütszustand, den sie nur noch selten erlebte. Sie drückte die Türklinke nach unten – sie war abgeschlossen.
»Natürlich«, murrte sie und drehte sich enttäuscht ab. Eine weitere Entdeckungsreise, welche sie seit vielen Jahren in stiller Frustration Die Reise im Kreise nannte und die nur noch als Zeittotschläger diente, hatte bereits ein Ende genommen. Sie kehrte in ihre Kajüte zurück, Bürste und Boden vergessen, und legte sich aufs Bett. Mit gerunzelter Stirn starrte sie zur Decke empor. Was war hinter dieser Tür? Warum war sie abgeschlossen? Und warum hatte sie sie bis heute nicht bemerkt?
Sie entschied, noch nicht aufzugeben und der Sache auf den Grund zu gehen.
»Papa, ich habe gestern eine Tür gefunden.«
Tjarus wandte sein Blick vom Meer ab und schaute auf sie herab. Ihr Vater war ein stämmiger Mann mit grimmigem Gesicht, aber gütigen Augen. Sein Haar war gekraust und schwarz, hier und da von ergrauenden Strähnen durchzogen. »Wo denn?«
»Zwischendeck, wo die Weinfässer gelagert werden.«
Er zog die Stirn in Falten. »Ich wusste nicht, dass da eine Tür ist.«
»Ich bis gestern auch nicht.«
»Was ist dahinter?«
»Gute Frage.«
»Abgeschlossen?«
»Mmh.«
In seinem Gesicht erkannte sie, wie sehr es dem Kapitän missfiel, dass es anscheinend eine Kajüte, eine Kammer oder was auch immer die Türe verbarg, auf seinem Schiff gab, von der er nichts wusste. »Geh und frag deine Mutter!«
Und das tat sie.
»Mama, ich habe gestern eine Tür gefunden.«
Trielle schaute von der Landkarte auf, welche sie mit absoluter Hingabe und Sorgfalt selbst gezeichnet hatte. Seit Jahren arbeitete sie daran, den Planeten Oasis und die neu entdeckten Länder und Inseln zu kartieren. »Ach ja? Wo?« Ihr Ausdruck sprach von Neugier.
»Zwischendeck. Wo die Weinfässer lagern.«
»Ich wusste nicht, dass da eine Tür ist.«
Dieselbe Antwort, die sie von ihrem Vater erhalten hatte. Aus einem ihr unerfindlichen Grund glaubte Brielle Tjarus, nicht aber ihrer Mutter.
»Warum ist sie abgeschlossen?«
Trielle widmete sich wieder ihren Zeichnungen. »Ich weiß nicht, von welcher Tür du sprichst.«
»Hast du einen Schlüssel?«
»Nein, habe ich nicht«, zischte sie. »Hast du den Boden dort fertiggeschrubbt und eingeölt?«
»Ähm…«
»Geh und beende deine Arbeit, oder du schrubbst für die nächsten sieben Tage das ganze Schiff!«
Beleidigt drehte Brielle sich um. Immer nur Befehle von diesen Erwachsenen und kaum Antworten. Dann würde sie diese verflixte Türe eben aufbrechen.
Mit einer Axt in der Hand stand sie mitten in der Nacht vor der mysteriösen Tür. Sie war keine Handwerkerin und hatte keine Ahnung, wie man Türschlösser knackte. Sie würde sich ganz einfach durch das Holz hindurch hacken. Genial! Wenn niemand von dieser Tür zu wissen schien, dann würde es auch niemanden kümmern, wenn sie kaputt war. Doch um ganz sicher zu gehen, drückte sie noch einmal die Türklinke nach unten. Wer weiß, vielleicht hatte jemand sie in der Zwischenzeit geöffnet und vergessen, sie wieder abzuschließen.
Das Schloss gab tatsächlich nach.
»Oh«, hauchte sie, und ihr Herz begann, vor Aufregung zu rasen. Sie ließ die Axt fallen und gab der Tür einen sanften Stoß. Vorsichtig, als könnte sie etwas von innen anspringen, spähte sie in den Raum. Mondschein fiel durch eine Luke und tauchte ihn in ein silbrig-dunkles Licht. Fäulnisgeruch schlug ihr wie eine Faust entgegen.
Da hing eine Gestalt im Halbdunkel, hinter einem Gitter aus massivem Eisen, das von der einen Wand zur anderen reichte. Der Kerker war nur etwa zwei Meter lang und einen Meter breit. Die Handgelenke des Gefangenen waren in Schellen gequetscht, welche an zwei schweren Eisenketten von der Decke hingen.
Brielle trat zögernd ein. Mit erhobener Öllampe schritt sie auf den Gefangenen zu, dabei wurde ihr ganz mulmig. Der Lichtkegel fiel auf ein zombiegleiches Gesicht und sie schrak abrupt zurück. Ihr Atem ging stoßweise, dennoch gab sie sich einen Ruck, das Licht noch einmal das erhellen zu lassen, was sie gerade gesehen hatte. Nein, kein Zombie, sondern ein heruntergekommener Mann mit schiefen, faulenden Zähnen saß auf einer hölzernen Kiste. Ihr war, als würde sein irrer Blick mit kalten Fingern über ihre Wangen streicheln. Die Bart- und Kopfhaare waren zu einem wirren, verfilzten Busch verknotet. Der Körper war völlig ausgemergelt, dreckige Lumpen hingen ihm von Knochen, die so dünn wie Zweige waren. Wo die Schellen seine Handgelenke umfassten, war die Haut verbrannt und faulig. Die Ausdünstungen, die von dem Mann ausgingen, waren unerträglich. Er roch, als hätte er sich seit Jahrzehnten nicht mehr gewaschen. Der Gestank von in der Hitze verrottenden Fischinnereien war dagegen wie Parfum.
Noch nie hatte Brielle einen solch bemitleidenswerten Menschen zu Gesicht bekommen, und doch: wider des Ekels, den sie empfand, ging von dieser vergammelnden Kreatur etwas Anmutiges aus. Die unerklärlich anziehende Kraft, die sie draußen vor der Tür gespürt hatte, war hier drinnen um vieles stärker.
»Wer bist du?«, fragte sie leise.
»Hallo, Brielle. Bist du gekommen, um mich zu befreien?«
Sie schreckte erneut zurück. »Woher kennst du meinen Namen?«
»So lange habe ich auf dich gewartet. Sie hat mir von dir erzählt.«
»Wer?«
Er schwieg.
»Und wie lautet dein Name?«
Er sagte eine Weile nichts, als müsste er darüber nachdenken. Hatte er seinen Namen vergessen oder dachte er sich gerade einen falschen aus? »Isea«, antwortete er schließlich.
»Isea.« Sie kostete den Namen auf der Zunge. Ein sehr hübscher Name für eine so grässlich anzuschauende Gestalt, die in ihrem eigenen Dreck und Gestank dahinvegetierte.
»Warum hält man dich gefangen, Isea?«
Er legte den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Es waren gemeine, sarkastische Laute, und dabei wurden die ganzen Überreste seines Gebisses sichtbar – schwarze, kantige Zapfen, die nur noch an Fäden am Fleisch hingen. »Man hält mich nicht gefangen, Frau tut es. Deine hochehrwürdige, liebenswerte Mama.«
»Blödsinn. Mutter würde einem Menschen niemals so etwas antun.«
Isea versuchte nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, und das beunruhigte sie. Schön, sie und Mama waren nie einer Meinung, sie war frech zu ihr und manchmal ertrug sie ihre bloße Gegenwart nicht. Dennoch war sie ein guter Mensch. Trielle war hochmütig, vielleicht arrogant, sie war aufbrausend und herrisch, aber sie war auch gerecht, gütig und sie liebte jedes einzelne Mitglied ihrer treu ergebenen Mannschaft. War diese traurige Gestalt wirklich Trielles Werk? War sie tatsächlich fähig, einen Menschen so sehr leiden zu lassen? Aber wer sonst würde diesen Mann eingekerkert halten, wenn nicht ihre Mutter oder ihr Vater? Schließlich waren sie die Kapitäne der Emerald.
Isea schien zu merken, dass sie wankte und mit ihren Gedanken rang. »In den Augen deiner Mutter bin ich kein Mensch«, sagte er, »und damit hat sie recht.«
»Na gut«, gab sie sich dieser Antwort fürs Erste hin, »aber warum hält sie dich gefangen?«
Er grinste noch breiter und senkte seine Stimme zu einem Flüstern herab. »Weil ich etwas sehr, sehr Böses getan habe, Brielle.«
Sie runzelte die Stirn, dachte nach, dann dämmerte ihr etwas. Sie zog die Luft mit einem erschreckten Laut ein. »Du bist derjenige, der den Bruder meiner Mutter umgebracht hat!« Sie schaute nachdenklich zu Boden, schüttelte dann den Kopf. »Nein, das kann nicht sein«, sagte sie leise zu sich selbst. »Ein Orkusianer hat meinen Onkel getötet.«
Wieder das schallende, hämische Lachen. »Haha! Ja, aus der Sicht deiner Mutter könnte man das wohl so sagen.«
»Aber du bist kein Orkusianer.«
»Pst«, wisperte er, »komm näher, dann verrate ich dir ein Geheimnis!«
Brielle schüttelte heftig den Kopf.
»Komm schon! Ich beiße dich nicht. Siehst du denn nicht, dass ich wie ein Stück Schinken zum Räuchern aufgehängt bin?«
Brielle atmete tief ein und fasste Mut.
»Näher!«, zischte er.
Sie nahm zögernd drei Schritte und stand nun direkt am Gitter. Der Mann lehnte sich so weit nach vorne, wie die Ketten es zuließen. Sein Atem roch irgendwie nach Tod. »Ich habe nie laufen gelernt«, flüsterte er und grinste grimmig.
Verwirrt schaute sie auf seine Beine. Sie waren dünn wie Seile und sahen wie die eines Kindes aus – zu dürr und zu kurz im Vergleich zu seinem restlichen Körper. Sie passten so überhaupt nicht zu ihm.
»Wie lange bist du schon hier?«, wisperte sie und fragte sich, wer zum Henker sie hier unten hören konnte. Doch ihr war klar, dass Mutter es mit Sicherheit nicht mögen würde, wenn sie mit diesem Mann redete, dass sie gar von ihm wusste. Die von allen so geliebte und hoch geachtete Trielle hatte ein schmutziges Geheimnis, das sie sogar ihrem Mann verschwieg.
»Seit dreiundsiebzigtausendeinhundertsechs Tagen. Ich habe jeden einzelnen gezählt.«
Sie rechnete fieberhaft, um diese Zahl in eine verständlichere Zeitspanne umzuwandeln. »Aber das sind ja über zweihundert Jahre!«
Isea schaute zur Decke hinauf. »Du musst jetzt gehen, Brielle!«
»Aber…«
»Sie kommt!«
Ihr Herz tat einen Sprung. Sie wollte nicht erfahren, was Mutter mit ihr tun würde, wenn sie sie hier fand – jetzt, da sie gesehen hatte, zu welch Grausamkeiten Trielle fähig war. »Darf ich dich wieder besuchen?«
»Ja. Geh jetzt!«
Sie gehorchte.
Brielle lag hellwach in ihrem Bett und starrte die Decke an. Sieben Tage waren verstrichen, und sie hatte nicht ein einziges Mal die Gelegenheit gefunden, Isea zu besuchen. Trielle und Tjarus beluden sie mit so viel Schrubbarbeiten, Segelreparaturen, Küchendiensten und Seilknüpfen, dass ihr dabei vor Müdigkeit schwindelig war. Es schien, als wüsste Mutter, dass sie in dem Kerker gewesen war. Aber woher? Schließlich hatte sie nicht mal Zugang mit der Axt verschaffen müssen. Oder hatte Trielle die grässlichen Ausdünstungen von Isea etwa an ihren Kleidern gerochen? Oder hatte Isea ihr von ihrem heimlichen Besuch erzählt? Aber warum sollte er das tun? Er hatte sie ja vor Trielles Kommen gewarnt. Doch vieles, was Isea gesagt hatte, kam ihr seltsam vor. Warum hatte er nie laufen gelernt? Wie konnte er seit über zweihundert Jahren gefangen sein? Ein Mensch wurde gar nicht so alt. Aber hatte er nicht behauptet, kein Mensch zu sein? Und warum tat Mutter ihm diese schreckliche Gefangenschaft an? Und allem voran: Warum hatte er auf sie gewartet?
Heute gedachte sie, Antworten auf diese Fragen zu bekommen, und sie würde sich von keinen lästigen Arbeiten abhalten lassen. Sie warf die Bettdecke zur Seite und schlich sich in die Küche. Es war noch sehr früh am Morgen und alles schlief. Trotzdem musste sie leise sein; viele Holzdielen knarrten und knackten bei jedem Schritt. Sie stahl ein großes Stück Lachs, das vom gestrigen Abendessen übrig geblieben war, einen Apfel – eine Kostbarkeit vom Festland, dem kein Gaumen widerstehen konnte – und eine Schüssel kalte Seegrassuppe. Glücklicherweise war die See ruhig heute, und sie verschüttete kaum einen Tropfen von der Suppe.
»Hallo Brielle. Schön, dich wieder zu sehen.«
Sie trat ans Gitter heran und streckte mit der Linken den Teller, mit der Rechten einen Krug Wasser durch die Stäbe.
»Und du hast mir etwas Leckeres mitgebracht.« Er lächelte und entblößte seine schiefen Zähne. Brielle konnte nicht anders und lächelte mit ihm. Erst jetzt, in dem wenigen Licht des Morgens, das seinen Weg durch die Luke in den Kerker fand, erkannte sie, dass Iseas Augen blau waren, so dunkelblau, dass sie fast schwarz erschienen.
Was an diesem hässlichen Mann war es, das sie so faszinierte? Waren es diese Augen? Oder die Art, wie er den von faulenden Zahnstummeln besetzten Mund in ein irgendwie schönes Lachen verwandeln konnte? Oder war es die seltsam anziehende Macht, die sie fühlte, sobald sie in seiner Nähe war?
»Du musst mich füttern«, sagte er und rümpfte dann die Nase. »Bei dem Fisch passe ich lieber, davon wird mir schlecht.«
Sie hielt ihm den Apfel hin, und er reckte Brust und Kinn so weit nach vorne, wie es die Schellen zuließen. »Mmh, diese Festlandskost ist wirklich vorzüglich. Das muss ich ihr lassen«, schmatzte er mit vor Saft triefendem Mund.
»Was meinst du?«
Er ignorierte ihre Frage und biss ein Stück nach dem anderen ab, selbst das Kerngehäuse verlangte er in seinen Mund gesteckt. Dann hielt sie ihm die Suppenschüssel an die Lippen, und er schlürfte gierig, wobei ihm ein paar Tangstränge aus dem Mund hingen und sich um seine Zahnstummel verfingen. Auch den Krug Wasser leerte er bis auf den letzten Tropfen. Dann legte Brielle den Teller mit dem Fisch auf den Boden und sagte: »Ich werde dir jeden Tag etwas zu essen und zu trinken bringen, wenn du mir deine Geschichte erzählst.«
»Hahaha!«, lachte er auf. »Brielle versucht, einen Handel mit mir abzuschließen, dabei wollte ich einen Handel mit ihr abschließen.«
»Was für einen Handel?« Ihre Neugier war sofort geweckt.
»Heute ist dein Glückstag, du bekommst meine Geschichte gratis zu hören, zumindest einen Teil davon, bevor ich dir besagten Vorschlag machen kann.«
»Dann kommen ja beide Seiten zum Vorzug«, grinste sie und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Gebannt schaute sie zu ihm auf.
Isea drehte den Kopf nach rechts und spähte für eine Weile durch die Luke aufs Meer hinaus. Dann seufzte er schwer. »Seit über zweihundert Jahren sitze ich hier und schaue durch dieses Loch in der Wand nach draußen. Trielle hat es mit Absicht dort angebracht, um mich zu quälen. Dieses Schiff hat schon Hunderte Male den Planeten umsegelt, und ich weiß immer – fühle immer –, wo wir sind. Und jedes Mal, wenn wir eine weitere Umrundung beginnen, sehe ich mehr Land. Die Berge sind jedes Mal höher, ich kann ihnen förmlich beim Wachsen zusehen. Die Wälder werden üppiger, die Felder breiten sich aus, längere Strände, mehr submarine Vulkane, die an die Oberfläche gelangen, ihre Lava ausspeien, welche zu Gestein und somit zu mehr Land verkrustet. Land schießt aus den Ozeanen wie Kelpwälder aus dem Meeresgrund.« Jetzt richtete er den Blick wieder auf Brielle. »Hast du gewusst, dass dieser Planet einst vollständig mit Wasser bedeckt war und dass es nur Orkusianer gab und keine Terraner?«
»Mein Freund Pero hat mir davon erzählt, aber ich habe ihm nie recht geglaubt. Er selbst sagt, es wäre ein Mythos.«
»Es ist kein Mythos, liebe Brielle, das können du und dein Freund Pero mir glauben. Unten an den Ozeanischen Bergrücken wird mehr Boden geschaffen, als in den Tiefseegräben zerstört wird. Der Wasserspiegel fällt unaufhaltsam. Das Schiff deiner Eltern ist ein Expeditionsschiff. Die Mannschaft führt Tiefenmessungen durch, sammelt Proben vom Meeresboden, misst den Salzgehalt, die Temperatur und die Dichte des Wassers in verschiedenen Bereichen. Immer genauere Landkarten werden entworfen, Flora und Fauna der Festlande und der Meere werden studiert. Aber es gibt noch andere Schiffe, Brielle. Jägerschiffe.«
»Jägerschiffe? Worauf machen sie Jagd?«
»Orkusianer.«
»Warum?«
»Weil Trielle in ihnen eine Bedrohung sieht. Und glaube mir, schon sehr bald wird auch die Emerald Jagd auf die Meermenschen machen. Es wird ein Blutbad geben.«
»Aber was hat das alles mit dir zu tun?«
»Ich habe nie laufen gelernt, weil ich ein Orkusianer war, bevor mich Trielle an diese Decke gehängt hat. Um es genauer auszudrücken: Ich bin… ich war der König der Ozeane.«
»Aber wie konnten aus deiner Fluke Beine werden?«
»Trielle hat mich verwandelt.«
Brielle konnte es sich nicht länger verkneifen und prustete los. »Was denn? Ist sie etwa eine Zauberin?«
»Nein, sie ist meine Schwester – und die Gottheit Este.«
Brielle lachte noch lauter. Was für ein Schwachsinn! Nicht nur sein Körper, sondern auch sein Verstand war während der langen Gefangenschaft verrottet.
»Wenn meine Mutter die Göttin Este ist, dann musst du der Isea sein. Der berühmt-berüchtigte Gott?«
Er nickte. »Du begreifst schnell.«
»Ja, nur dass diese ganze Geschichte von den Götter-Geschwistern ein Mythos ist, oder besser gesagt, ein Märchen.«
»Es ist kein Märchen, sondern die Wahrheit.«
»Wenn ich dich so anschaue, fällt es mir schwer zu glauben, dass du einst ganze Kontinente im Meer versenkt und eine ganze Menschenrasse ausgerottet hast.«
»Der Schein trügt öfter, als du denkst, Brielle. Deine Mutter ist nicht das, was sie vorgibt zu sein. Und du bist auch nicht, was du zu sein glaubst. Du bist eine Halbgöttin.«
»Ja, klar.« Brielle riss sich zusammen und erstickte ihr Lachen. »Du behauptest also, mein tot geglaubter Onkel zu sein.«
»So ist es.«
Wieder lachte sie und kopfschüttelnd stand sie auf. »Ich habe genug Schwachsinn für einen Tag gehört, Onkel.« Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Kerker.
Brielle saß mit Pero im Krähennest. Sie hatten heute kaum miteinander gesprochen, sondern einfach nur da gesessen und verträumt aufs Meer hinausgeblickt. Zu ihrer Rechten zeichneten sich die dunklen Umrisse von einer Küste am Horizont ab. Es war Art Este, der Superkontinent. Von ihm waren die drei anderen kleineren Kontinente – Pendora, Kauruas und Maära – abgesplittet. Art Este war der erste Kontinent, den die Menschen besiedelt hatten. Brielle hatte schon viele Expeditionen mit ihren Eltern in diesem prächtigen Land unternommen. Trielles Begeisterung für Seen, Flüsse und Wasserfälle, für schneebedeckte Berge, dichte Wälder und weite Prärien war unermüdlich. Und jedes Mal, wenn sie sich wieder an Bord begaben, lag dieser seltsam traurige, beinahe sehnsüchtige Blick auf ihrem Gesicht. Brielle verstand, dass ihre Mutter lieber ein Leben auf dem Festland geführt hätte, doch sie hatte einen Kapitän geheiratet. Auch sie selbst mochte die Entdeckungsreisen auf den verschiedenen Kontinenten und Inseln, die Gespräche mit den Siedlern, die von Ackerbau und Viehzucht erzählten. Und erst die vielen lustig aussehenden Tiere, die es dort gab! Doch ihr Herz zog sie immer wieder zurück zum Meer.
Ebenso sehr, wie Pero es mochte, Gespräche mit Brielle zu führen, schätzte er die Schweigsamkeit, die sie hin und wieder miteinander teilten, und so machte er keinen einzigen Versuch, Brielle zum Reden aufzumuntern. Er wusste, dass etwas sie beschäftigte, war sich aber nicht sicher, ob sie darüber reden wollte. So gut kannte Pero sie. Seit sie ein kleines Kind war, hatte er sich um sie gekümmert. Wenn ihre Eltern zu beschäftigt waren, hatte er sie oft zurück auf sicheren Boden geholt, wenn sie in den Wanten und auf den Rundhölzern herumturnte wie ein Äffchen, und er war immer ein Komplize, wenn es darum ging, die Langeweile zu bezwingen. Zudem hatte er sie vieles über die Orkusianer und die Ozeanologie gelehrt – besser und ausführlicher, als ihr Lehrer es jemals gekonnt hätte. Manchmal kam es Brielle vor, als wäre Pero ihr Vater, nicht Tjarus.
Ständig hallten Iseas Worte in ihrem Kopf wider. Sie wusste nicht, ob sie dem Verrückten glauben sollte oder nicht. Sie wünschte, sie könnte Pero von dem geheimen Gefangenen erzählen, er würde vielleicht die Wahrheit und die Lügen aus dessen Geschichte herausfiltern können. Aber wie würde er reagieren? Was würde er von Trielle denken? Und was dachte sie von ihrer Mutter, jetzt, da sie von ihrem schmutzigen Geheimnis wusste? Welche Konsequenzen würden daraus folgen, wenn sie Pero davon erzählte? Oder sollte sie sich an Vater wenden?
Sie schaute zu Pero auf. »Gibt es Schiffe, die auf Orkusianer Jagd machen?«
Sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich, als zöge ein schwarzer Nebel darüber. »Ich habe Gerüchte gehört«, antwortete er zögerlich.
»Und? Stimmen sie?«
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube den Gerüchten nicht. Wir Terraner sind Seefahrer, Forscher, Entdecker, Abenteurer, Siedler, Farmer, Pilger, aber keine Metzger. Dennoch musst du wissen, Brielle, dass die Terraner schon immer Furcht und gleichzeitig Faszination für diese Spezies empfunden haben, was daher kommt, dass wir so gut wie nichts über sie wissen. Die Orkusianer sind sehr scheu und lassen sich nicht fangen wie Fische. Noch nie hat man einen toten Meermenschen auf dem Wasser treibend oder an die Küste gespült gefunden, um ihre Eigenheiten studieren zu können.«
»Warum nicht?«
»Ich glaube, weil die Meermenschen – genau wie wir – ihre Toten begraben.«
»Gibt es solche, die ihre Fluke in Beine verwandeln können?«
Pero lachte auf. »Also das wäre mir neu.«
»Haben sie Könige und Königinnen? In was für einer Hierarchie leben sie?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie alt werden sie?«
»Kann ich nicht genau sagen, aber mit Sicherheit älter als wir.«
»Können sich Terraner in Orkusianer verwandeln?«
Pero runzelte die Stirn. »Was ist bloß in dich gefahren, Brielle? Was sollen all diese Fragen?«
Brielle wich seinem Blick aus und fixierte frustriert das Meer.
»Was ist heute mit dir los?« Seine Stimme war jetzt sanfter.
»Nichts«, murmelte sie.
Pero seufzte laut auf und streichelte ihr übers Haar. »Ich weiß doch, wie sehr du dir wünschst, selbst eine Fluke zu haben. Du fantasierst davon, seit du ein Kind warst, aber das Mädchen wächst langsam zur Frau heran. Es wird Zeit, diese Träume loszulassen und erwachsen zu werden, Verantwortung zu übernehmen. Und ich weiß, dass du der Zukunft mit Angst entgegenblickst, weil du dort dieselbe Langeweile siehst, die dich als Kind geplagt hat. Aber lass mich dir sagen: Eine neue Ära bricht an, die Welt verändert sich. Immer mehr Menschen verlassen die Schiffe und wandern in die Länder hinaus. Es gibt dort draußen so viel zu entdecken für dich, es gibt…«
»Ich will beim Meer bleiben!«
»Dann kannst du dich an einer Küste niederlassen.«
»Ja, vielleicht«, sagte sie nachdenklich. »Wahrscheinlich werde ich eines Tages Kapitän der Emerald sein, so wie meine Eltern es wollen.«
Jetzt lächelte Pero und zerzauste ihr das Haar. »Du wirst eine erstklassige Kapitänin sein.«
»Schau!«, rief Brielle und lehnte mit einem in den Osten weisenden Arm über den Mastkorb. Da war eine weitere Schule aus Delfinen im Anmarsch. Diese war nicht ganz so groß wie die letzte, aber dennoch konnte sie Gefahr mit sich bringen.
»Orkusianer und Delfine!«, schrie Pero nach unten. »Nordost zum Ost.« Sofort wurde aus der trägen Mannschaft ein wilder Ameisenhaufen. Es wurde geschrien und gebrasst, und Tjarus wandte die Emerald leicht steuerbord, um das Schiff parallel zur Schule laufen zu lassen. Trielle hatte eine Gruppe aus Frauen und Männern um sich versammelt, unter denen sie Pfeilbogen, Harpune und Wurfspeere austeilte.
»Was machen die da?«, rief Brielle entsetzt, aber sie ahnte die Antwort schon. Isea hatte sie genau davor gewarnt. Ihre Mutter schrie irgendwelche Befehle in dem Tumult aus flatternden Segeln und pfeifendem Wind. Ihre Leute spannten die Bögen, zielten mit den Speeren und Harpunen. Und dann fing das Gemetzel an.
Tjarus hielt das Steuerrad umklammert, seine Miene war entschlossen und darauf konzentriert, die Emerald mit der Schule auf Kurs zu halten. Hin und wieder rief er seiner Mannschaft Anweisungen zu, die Segel entsprechend auszurichten.
Hunderte von Pfeilen wurden in hohem Bogen aufs Meer hinausgeschossen, wo sie leicht auf ein Ziel trafen. Das Wasser verwandelte sich in eine blutige Suppe. Die Leiber von Delfinen und Orkusianern fanden ihren Weg zur Oberfläche, wo sie regungslos auf dem Wasser trieben, während die Flüchtenden über sie hinweg sprangen. Doch die Tiere und Fischmenschen begriffen schnell und tauchten in die schützende Tiefe hinab.
»Hört auf damit! Hört auf!«, kreischte Brielle nach unten, aber niemand hörte sie. Sie warf einen verzweifelten Blick auf Pero, der einen ebenso geschockten und fassungslosen Ausdruck im Gesicht trug. In seinen Augen standen Tränen.
»Jetzt ist unsere geliebte Emerald auch ein verfluchtes Jagdschiff!«, keuchte sie außer sich und kletterte nach unten. Sie rannte zu ihrer Mutter hin, die mit eiserner Mine hinter den Schützen stand.
»Mama, mach, dass sie aufhören!«
»Diese Biester werden nicht mein Schiff kentern!«, zischte sie. »Geh unter Deck, Brielle! Das hier ist nichts für Kinder.«
»Bitte tu ihnen nichts, Mama!«, flehte sie unter Tränen.
»Geh, Brielle!«
Sie rannte. Rannte übers Deck zum Bug, hastete die steile Treppe hinab, welche in den Bauch des Schiffes führte, rannte zu der versteckten Tür, riss sie auf und stürmte in den Kerker. Sie wollte schreien: »Du hattest recht!«, aber bei Iseas Anblick verschluckte sie sich an ihren Worten. Der Gefangene starrte aus der kleinen Luke aufs scharlachrote Wasser hinaus. Noch nie hatte sie eine solche Pein auf einem Gesicht gesehen. Er sah aus, als würde der Schmerz ihn von innen heraus auffressen.
»Du hattest recht.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
Langsam, ganz langsam, als würde auch das ihm Schmerzen bereiten, drehte er den Kopf zu ihr um. Er erwiderte nichts.
»Was jetzt?«
Er blieb weiterhin stumm.
»Du hast von einem Handel gesprochen.«
Jetzt blitzte ein Licht in seinen Augen auf. »Du musst dich nach Antinas begeben und meinen Untertanen erzählen, wo ich bin. Gehe zu dem Rat des Königs!«
»Wo ist Antinas?«
»Weit von hier. Ein Korallenriff östlich von Pendora, südlich von Kauruas.«
»Du meinst, Antinas ist eine Stadt der Orkusianer?«
»Nicht irgendeine Stadt. Sie ist die Hauptstadt des Ozeans, die Stadt des Königs.« Jetzt richtete er sich so gerade auf, wie sein verkrüppeltes Rückgrat es zuließ. »Meine Stadt! Die prächtigste aller Städte der Meere.«
»Wie viele gibt es denn?«, ließ Brielle sich von seinem Enthusiasmus mitreißen.
»Sechs Städte, sechs Mitglieder im Rate des Königs.«
Sie schüttelte den Kopf und besann sich eines Besseren. »Und wie, bitte, soll ich da hingelangen? Siehst du nicht? Ich gehe auf zwei Stelzen.«