Die letzten Barkiden - Richard F. Conrad - E-Book

Die letzten Barkiden E-Book

Richard F. Conrad

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Beschreibung

WIE WURDEN WIR DAS, WAS WIR HEUTE SIND? IST DIE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT ABHÄNGIG VON BESONDEREN WEICHENSTELLUNGEN? UND WAS PASSIERT, WENN GANZE EPOCHEN MANIPULIERT WERDEN? BAND 2 DIE LETZTEN BARKIDEN Hamilkar Barkas, der große karthagische Feldherr liegt im Sterben. Eine überlegene, gut ausgebildete Söldnerarmee bedroht seinen zum Nachfolger ernannten Bruder Hasdrubal und das karthagische Heer. Hannibal Barkas, der älteste Sohn Hamilkars, versucht unterdessen seine Geliebte, die turdetanische Fürstin Nalbe, zu retten, während zwei fremde Wesen die Geschichte der Menschheit manipulieren. - Hannibal Barkas auf seiner schwierigsten Mission ... - Das karthagische Heer vor seiner blutigsten Schlacht ... - Römer, die mit sich und der Welt zufrieden sind ... - Und zwei Wesen, die um das Schicksal der Menschheit streiten ... Historische Fantasy - pures Lesevergnügen

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Richard F. Conrad

DIE LETZTENBARKIDEN

ZeitenwendenTurn of Eras

Band 2

© 2020 Richard F. Conrad

Lektorat: Julia Feldbaum, Augsburg

Layout, Cover: Dr. Matthias Feldbaum, Augsburg

Coverabbildung: Tomas – stock.adobe.com

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7497-9975-6

E-Book:

978-3-7497-9977-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist gut, wenn uns die verrinnende Zeit nicht alsetwas erscheint, das uns verbraucht oder zerstört,sondern als etwas, das uns vollendet.

Antoine de Saint-Exupéry

Prolog – Das Ende

Aachen, 5. Juli 2055, am frühen Morgen

Irgendetwas kitzelt sie im Nacken.

Sie wird wach, streckt sich, blinzelt, sieht sich suchend um, erkennt ihr Zimmer und atmet auf.

Keine Nacht in diesem provisorischen Krankenhaus. Keine abgezehrten, großflächig verbrannten und verwundeten Kinder. Keine, die apathisch leidend oder leise wimmernd auf ihre Hauttransplantation warten müssen.

Stattdessen erkennt sie um sich herum ihre neue kleine Wohnung. Mein freier Tag!

Ruhe genießen. So lange wie möglich. Und wie nie wieder in ihrem Leben.

Wenn sie die Augen wieder schließt, sieht sie hellrote Kreise. Hellrot, wie frisch verbrannte, entzündete Haut. Haut, die Blasen gebildet hat. Haut, die … Sie reißt die Augen wieder auf.

„Meine andalusische Olive im Schnee.“ Eine männliche, spöttische Stimme.

Noch jemand im Zimmer? Sie erschrickt zuerst und atmet dann erleichtert auf. Ach, Rafael. Kleiner Romantiker? Großer Romantiker! Schon bei seinen ersten Worten schmunzelt sie, wird munter und will wie gewohnt aufspringen, doch dann fällt es ihr sofort wieder ein. Mein freier Tag! Auch wenn er wieder nur in einer schwarz verkohlten Trümmerlandschaft anbricht. Mein erster freier Tag seit drei Wochen! Mit Rafael!

Wo ist er? Er ist nicht mehr bei ihr im Bett, das spürt sie. Mit Bedauern. Dann entdeckt sie ihn. Mit Vergnügen. Rafael steht nackt am Fenster, links neben ihrem Bett, trinkt einen von diesen scheußlich schmeckenden Pulverkaffees aus den Beständen der iberischen Infanterie und betrachtet sie mit seinem typischen besorgten, liebevollen Blick. Ach Rafael! Ihr Herzschlag beschleunigt sich.

„Eine Olive?“, murmelt sie verschlafen. „Im Schnee? Du meinst mich? Was machst du denn da? Komm ins Bett. Ich werde deinen Pseudo-Kaffee schon nicht anrühren, ich verspreche es. Dich allerdings schon! Und jetzt komm!“ Männer können so begriffsstutzig sein.

Er schüttelt bedauernd den Kopf. „Es hat angefangen zu schneien. Weiße Schneeflocken auf dem kohlschwarzen Scheiterhaufen, der sich Aachen nennt. Im Juli! Mit dem Krieg hat sich alles verändert. Ich muss los. Wir haben gleich Lagebesprechung. Obwohl ich viel lieber in meine andalusische Olive beißen würde.“

Er seufzt leise. Kimmi weiß es. Er liebt sie. Rafael liebt ihre bronzene Haut, ihre tiefschwarzen Locken, ihre warmen braunen, goldgesprenkelten Augen, ihren sehr weiblich gerundeten Körper – im Moment liebt er einfach alles an ihr.

„Dann komm doch zurück“, lockt sie mit ihrer dunklen Stimme leise gurrend, „deine Leibspeise ist scharf und heiß, du wirst sehen.“ Sie öffnet die weiße Bettdecke für ihn, lässt ihn einen beträchtlichen Teil ihres Körpers sehen und rekelt sich aufreizend. Männer können so berechenbar sein.

Rafael lacht leise, schüttelt dann jedoch wieder seinen braunen kurz geschnittenen Lockenkopf. Obwohl sein Unterleib bereits erkennbar „Ja“ schreit, antwortet er: „Es hilft nichts, der Befehl auf dem Piepser heißt: Um 9.00 Uhr außerordentliche Einsatzbesprechung im Hauptquartier. Ich bin schon spät dran. Es sollte nicht sehr lange dauern. Am Nachmittag bin ich wieder da. Versprochen. Ich habe so einen Hunger auf heiße Oliven! Unstillbaren Hunger!“

Sie schaut ihm schmollend zu, wie er sich trotz eines sich versteifenden Handicaps schnell anzieht, um am Ende den Reißverschluss seines Armeeanoraks zu schließen. Er gibt ihr einen flüchtigen Kuss (der nicht flüchtig bleibt, weil Kimmi keine flüchtigen Küsse mag) und löst sich endlich, fast mit Gewalt von ihr.

„Es geht jetzt wirklich nicht. Bleib so! Sei vorsichtig. Öffne nur mir die Tür. Vor allem nicht dieser Frau. Bitte!“

Rafael war stets so besorgt. Seit sie ihn vor drei Wochen in der Cafeteria kennengelernt hatte. Als wenn sie eine unerfahrene Frau von gestern wäre. Sie liebte seine Fürsorglichkeit. Doch die ständigen Warnungen mochte sie nicht. Sein einziger Nachteil.

„Ich kann immer noch auf mich selbst aufpassen, Liebster. Je schneller du zurückkommst, desto eher kannst du dich von meinen Talenten überzeugen. Dieser Schnee hier tut uns nicht gut. Komm schnell!“

„Bei dir schmilzt jeder Schnee sofort dahin, ich beeile mich. Bleib genau so, meine kleine, heiße Olive! Bleib einfach genau so. Pass auf dich auf!“ Er läuft zur Zimmertür, winkt noch einmal, zwinkert ihr zu und schließt sie eilig von außen. Sie hört seine schnellen Schritte auf der Holztreppe verhallen. Männer können so dumm sein.

Kimmi de Sortiento legt sich zuerst enttäuscht im Bett zurück, dann findet sie sich mit ihrem Schicksal ab. Also gut. Dann bleibe ich so. Er wird schnell wiederkommen. Den Blick kenne ich inzwischen gut. Und heute habe ich tatsächlich frei. Gibt es etwas Schöneres, als einen ganzen Tag für sich zu haben? Diese hässliche Welt einfach vergessen. In seinen Armen.

Erste zufriedene Gedanken nach zwanzig Tagen ununterbrochener Arbeit im provisorischen Hospital der zweiten iberischen Pionierdivision. Zwanzig Tage furchtbare Brandwunden operieren. Wie am Fließband. Abgestumpft. Desillusioniert.

Die peinigenden Schmerzen und Schreie der Kinder bei der Untersuchung nicht mehr wahrnehmend. Das Weinen und Schluchzen im Aufwachraum nicht beachtend. Das wirre Reden der Kleinen, das Stöhnen, das Wimmern, das eklige Kotzen. Menschliches Leben am Rande des Todes – in einer Vorhölle. Kollektives Leiden ohne eigenes Verschulden. Bei kleinen Kindern. Unbegreiflich und unverständlich. Das kann kein Gott wollen. Wer will so etwas rechtfertigen?

Konzentrierte Operationsarbeit – solange es physisch auszuhalten ist. Napalm-Opfer mit entsetzlichen Verstümmelungen. Lauter Kinder. Verbrannte Arme. Hände so rot wie im Wasser gekocht. Offene Rücken, die von der Haut nicht mehr umschlossen werden konnten.

Hauttransplantationen. Am Fließband. Unerträglich.

Sie versucht, die Gedanken zu verdrängen. Ohne alles auch einmal loszulassen, wäre diese Arbeit nicht zu leisten. Die Bilder vergessen. Sonst würde sie verrückt. Kimmi ist nicht die Frau, der vor Operationen das kalte Grauen befällt. Keine Frau, die sich schnell beklagt. Keine Frau, die rasch verzweifelt ist und ihren Glauben verliert. Hier in Aachen jedoch trifft nun alles auf sie zu.

Kimmi gähnt, versucht, die Erinnerungen beiseitezuschieben, und blinzelt schläfrig zu ihrem Dachfenster. Der trübe Aachener Julihimmel, auch noch von einer leichten Schneeschicht auf dem Fenster vernebelt, hat gerade noch genug Kraft, um ihr ganzes Zimmer in einem Zwielicht erkennbar zu machen. Wie spät mag es wohl sein? Hier in der alten Kaiserstadt ist es immer gleich grau! Und kalt. Die Klimaveränderung. Seit fünfzehn Jahren, seit dem Dritten Weltkrieg, der auch mit atomaren Waffen geführt wurde, wird es immer kälter. Jetzt noch dieser Rauch des Höllenfeuers. Kein Sonnenstrahl dringt hier noch durch die Atmosphäre. Napalm-Rauch. Der Ruß des Teufels, so haben sie ihn getauft!

Der Wecker auf ihrem Nachttisch. 8: 36 Uhr. Und schon wach? Heute doch viel zu früh! Sie spürt wieder ein leichtes Kitzeln im Nacken. Halten mich womöglich die kleinen Kekskrümel wach, die letzten Spuren meines zweiten nächtlichen Vergnügens? Als Rafael schon schlief? Das ist wohl die gerechte Strafe für ausgiebiges Naschen!

Spät war es wieder geworden gestern Nacht, wie immer. Erstaunlich, wie viele überlebende Kinder noch von den Patrouillen der Infanterie gefunden wurden. In den mit Lebensmitteln ausgestatteten Bunkern der längst untergegangenen fränkischen Armee. Damit hatten wir alle nicht gerechnet. Wahrscheinlich die letzten Überlebenden außerhalb der iberischen Halbinsel.

Der Albtraum ist Realität geworden. Seit über einem Jahr. Der Vierte Weltkrieg zwischen dem fränkischen Kaiserreich und dem panarabischen Kalifat, den letzten beiden verbliebenen großen Hegemonialmächten der Welt, war nun vorbei. Eine fünfte Auseinandersetzung kann es nicht mehr geben. Weil niemand mehr da ist.

Erst wurden die Flächenbombardements mit Napalm-Bomben von beiden Seiten konsequent vollstreckt. Welche Nation mit dem Selbstmord begonnen hatte? Nicht mehr festzustellen. Aus enorm großer Höhe warfen die unvorstellbar riesigen Transport-Zeppeline Hunderttausende von Tonnen ab. Napalm C, die modernste und tödlichste chemische Mischung mit den verheerendsten Ergebnissen.

Feuer, die nicht mehr gelöscht werden konnten, unglaubliche Brände, die sich ungehindert über beide Nationen ausbreiteten. Alles zerstörten. Nicht nur die großen Metropolen wie das fränkische Rom oder das panarabische Wien, auch fast alle Wälder und Wiesen. Hitzegrade, die alles zum Schmelzen brachten. Die nicht zu löschen waren. Chemische Reaktionen, die nicht mehr kontrolliert werden konnten.

Diesmal nicht die atomaren Bomben, die schon den Dritten Weltkrieg in Asien und Amerika beendet hatten, den Konflikt zwischen China und den Vereinigten Staaten von Amerika vor mehr als zwanzig Jahren.

Die dort vom Krieg besonders betroffenen Länder bestanden nur noch aus verstrahlten, unbewohnbaren Landstrichen. Eigentlich geächtete Waffen, die von zu vielen Nationen massenweise produziert worden waren, waren damals doch zum Einsatz gekommen. Waffen zur gegenseitigen Abschreckung, wie es vorher hieß.

Das Gleichgewicht des Schreckens. Sämtliche atomaren Waffen waren vernichtet worden, nach dem Dritten Weltkrieg.

Nur diese weiterentwickelten Napalm-Bomben waren geblieben. Und etwas Schlimmeres.

Nachdem es noch Überlebende in Bunkern und militärischen Einrichtungen auf beiden Seiten gegeben hatte, kamen die eigentlich strengstens verbotenen biologischen Waffen zum Einsatz. Viren verursachten Pandemien. Lungenmilzbrand löschte innerhalb weniger Stunden nach der Ansteckung das Leben aller Männer und Frauen aus, die sich bereits in der Pubertät befanden oder erwachsen waren. Es gab kein Gegenmittel. Der fränkische Kaiser war gefallen, kurz vor der neuen panarabischen Hauptstadt Konstantinopel, so wie alle anderen. Die panarabischen Kalifen waren schon vorher von bulgarischen Separatisten ermordet worden. Zusammenbruch aller Strukturen und völlige Anarchie war in beiden Diktaturen die unabwendbare Folge gewesen. Die letzten Tage der Menschheit hatten begonnen.

In Europa blieb nur der traditionell neutrale iberische Bundesstaat verschont, auch wenn es in den Pyrenäen Ansteckungen und qualvolle Tode in einigen Krankenhäusern gegeben hatte. Die selbst gewählte Neutralität und fast vollständige Isolation hatten sich ausgezahlt. Der starke Westwind vom Atlantik half. Und die gute medizinische Versorgung.

Aufklärungsflüge der iberischen Luftwaffe hatten gezeigt, dass es jetzt, nach über einem Jahr, einzig in der uralten fränkischen gut geschützten, aber ebenfalls völlig zerstörten Hauptstadt Aachen noch menschliches Leben gab. Kinder, die tatsächlich überlebt hatten. In einer Welt, die es selbst mit den Kindern nicht gut meinte.

Drei Infanterie- und Pionierregimenter sowie ein katholischer freiwilliger Katastrophendienst wurden von der iberischen Bundesregierung in Sevilla entsandt, um Hilfe zu leisten, nachdem von den führenden einheimischen Biologen unter der Leitung von Frau Dr. Regine Arach festgestellt worden war, dass keine Ansteckungsgefahr mehr bestand. Die Viren existierten demnach nicht mehr. Sie hatten ihr mörderisches Werk vollendet und keine Opfer mehr gefunden.

Kimmi gehörte zu den Ärztinnen der katholischen Katastrophenhilfe, die sich für sechs Monate freiwillig verpflichtet hatten, um zu helfen.

Wieder einmal war sie erst kurz nach Mitternacht in ihr warmes Bett geklettert, in dem Rafael schon gewartet hatte. Sie kannten sich erst seit drei Wochen und hatten sich hektisch geliebt. Er war entkräftet eingeschlafen, Kimmi war wach geblieben und hatte den Tag mit ihren mitgebrachten vakuumverpackten andalusischen Lieblingswaffeln beendet, um dann schnell und ohne langes Grübeln einzuschlafen. Grübeln brachte nichts.

Abschalten. Verdrängen. Die einzig wirksamen Methoden.

Trotzdem fand sie kein Hilfsmittel, ihren Verstand daran zu hindern, doch weiter in den Erinnerungen herumzustochern.

In den ersten Tagen in Aachen hatte sie sich oft heimlich übergeben müssen. Bei dem Anblick mancher Kinder konnte sie ihren Magen nicht mehr beruhigen. Sie hasste ihre Schwäche, sie hasste ihre Übelkeit, und noch mehr begann sie die Menschen zu hassen, von denen das alles verursacht worden war.

Sie fühlt eine seelische Übelkeit, die durch Erbrechen nicht gelindert werden konnte.

Sie braucht Ablenkung. Sonst wird sie das nicht überstehen. Sie braucht jemand, an dem sie sich festhalten kann. Den sie lieben kann. Trost. Licht.

Immerhin einmal fast schon so viel geschlafen wie früher. Ihre erste eigene Unterkunft in einem Militärzelt für zehn Personen in Aachen war laut, kalt und ungemütlich gewesen. Jetzt habe ich Glück gehabt! Sie bewohnt nun seit einem Monat eine Wohnung in einer alten Stadtvilla im Norden Aachens, die das Feuer erstaunlich gut überstanden hatte und von den iberischen Pionieren wiederhergerichtet, gereinigt und bewohnbar gemacht worden war. Im Untergeschoss lebten drei Krankenschwestern aus Alicante, oben in den Zimmern neben ihr die hochdekorierte, führende iberische Wissenschaftlerin aus Madrid, Dr. Regine Arach, die sich zu weiteren Forschungszwecken in Aachen aufhielt und die drei großen Räume neben ihr bewohnte.

Mir genügt mein kleines Reich völlig! Sie betrachtet zufrieden ihre leicht überschaubare eigene Welt. Zufällig hatte ihr die sonst eher hochmütig wirkende, unsympathische Wissenschaftlerin aus Madrid bei einem Essen in der Verpflegungsbaracke die neue Übernachtungsmöglichkeit angeboten. Die Freundlichkeit kam ihr zwar unehrlich und eigenartig vor, aber das Haus lag ruhig, in einem verbrannten, ehemals wohl parkähnlichen Garten, in dem die schwarz verkohlten Baumstämme anklagend zum Himmel starrten, wie um die Sünden der Menschen anzuzeigen.

Vor dieser Frau hatte Rafael sie besonders gewarnt. Unnötigerweise. Sie würde auf sich aufpassen. Kontakt vermeiden. Keine Einladung annehmen. Dafür brauchte sie Rafaels Ermahnungen gar nicht. Regine Arach war ihr einfach unsympathisch.

Ihre neue Wohnung dagegen mit dem alten geschwärzten, aber immer noch tragenden Eichenholzparkett, mit der weiß angestrichenen, hohen Stuckdecke und mit dem von den Pionieren aufgestellten großen, hellen und überhaupt nicht in die Umgebung passenden modernen Kleiderschrank wirkt auf sie inzwischen schon sehr vertraut. Behaglich. Fast heimatlich, auch wenn sie ständig friert. Das Militärzelt war einfach schrecklich gewesen. Jetzt habe ich es viel besser. Da kann Rafael sagen, was er will. Meine Entscheidung. Ganz allein meine Entscheidung. Und meine Entscheidung war richtig. Kimmi ist keine ängstliche Frau.

Noch einmal streckt sie sich. Ihr Magen beginnt zu knurren. Sie setzt sich im Bett auf und greift zu der angebrochenen Packung mit Waffeln auf dem Nachttisch. Leckere Süßigkeiten – eine klitzekleine Schwäche von ihr. Das sind eben meine kleinen Besonderheiten, so wie meine beiden Ringfinger, die länger als meine Mittelfinger sind. Sie muss lächeln und an ihren Freund Rafael denken. Wie oft habe ich dazu schon die lästernden Sprüche von Rafael hören müssen? „Viele Krümel in deinem Bett machen deinen Arsch zu fett“ oder „Hast du schlanke, lange Finger liebst du dicke, harte Dinger“. Er war nicht gerade Calderon, aber er konnte lachen – und sie mit ihm. Vergnügt knabbert sie weiter an ihrer Waffel. Mit ihrer sehr weiblichen und wohlgerundeten Figur sind sowohl sie selbst als auch – besonders – er sehr zufrieden. Er beweist es ständig.

Nur diese piksenden, stechenden Krümel. Einmal mehr ärgert sie sich über die unangenehmen Folgen ihrer Leidenschaft. So etwas Verrücktes! Da beherrsche ich schwierigste Operationen unter primitivsten Umweltbedingungen, bin ruhig, geschickt und vorsichtig, aber Kekse ohne Rückstände abzubrechen und zu essen ist mir einfach unmöglich. Kleine, unbedeutende Ereignisse können manchmal eine unverdiente Größe erreichen.

Sie streicht energisch die Krümel von der Bettdecke und hört das leise Knistern der auf dem Parkett aufschlagenden winzigen Stückchen. So. Das ist erledigt. Meine kleinen Helfer werden es schon richten. Meine private Wunderwaffe, die ich hier entdeckt habe! Mein Geheimnis. Seitdem sie in ihrer neuen Wohnung lebt, kann sie sich auf einen wunderlichen, geheimnisvollen, vor allem bisher sehr nützlichen Beistand verlassen.

Eine neue Herausforderung für meine unsichtbaren Helfer! Sie sieht ihre Unterstützung kaum, aber sobald sie von ihrer Arbeitsschicht zurückkommt, findet sie den Boden, das Bett und den Nachttisch, ja die ganze Wohnung sauber und ordentlich vor. Keine Krümel, kein Staub, keine Überreste. Obwohl sie Knabbereien in süßer und salziger Form liebt, nicht nur im Bett. Ablenkung. Verdrängung.

Ganz selten und dann auch nur aus dem Augenwinkel heraus kann sie einen Blick auf ihre vielbeinigen kleinen Helfer werfen. Es hängt überhaupt nicht mit Zauberei oder Magie zusammen, wie sie es anfangs instinktiv vermutet hatte, weil sie es sich nicht anders erklären konnte und schon immer über sehr viel Fantasie verfügte.

Vielleicht hing es mit Mutationen, sicher jedoch mit natürlichen Ursachen zusammen. Sie ist inzwischen überzeugt, dass die wunderbare Sauberkeit ihrer Wohnung wissenschaftlich gut erklärbare Ursachen hat. Wissenschaft kann sehr beruhigend sein.

Zwischen den Brettern ihres Holzparketts ist es lebendig: Kleine Käfer, Wanzen, Ameisen, Milben, Kakerlaken, Schaben? Sie will es gar nicht genau wissen und ahnt auch nur, dass ihre Wohnung Untermieter besitzt. Kimmi ist jedoch weder empfindlich noch schreckhaft. Ihre Familie stammt aus einem Armenviertel von Sevilla, und als sie mit ihren 24 Jahren das Medizinstudium in Toledo beendete, hatte sie schon einiges erlebt und gesehen.

Vor allem liebt sie inzwischen eine Idee, die sie im Medizinstudium näher untersucht hatte: die Symbiose. „Das Zusammenleben von Individuen unterschiedlicher Arten zum Vorteil aller Beteiligten“, so hat sie die Definition auswendig gelernt. Ja, das war eine gute Idee! Kommt es nicht jetzt in dieser erschöpften Welt darauf an?

Auch deshalb betrachtet Kimmi ihre unsichtbaren Mitbewohner inzwischen mit sehr viel Wohlwollen und erzählt niemand von dem seltsamen Phänomen: Es grenzt wirklich fast an ein Wunder, wie sauber sie jeden Tag ihre Wohnung wieder vorfindet. Sie muss nicht einmal mehr ihr Geschirr abwaschen. Trotzdem wurden nie ihre Nahrungsmittel angetastet.

Sie hatte die Sage von den Heinzelmännchen in Köln gelesen, die ihre Arbeit nachts heimlich verrichteten, wenn die Bürger schliefen. Vielleicht waren es schon damals in Wirklichkeit keine kleinen Kobolde oder Wichtel gewesen.

Wenn sie das mit dem Zustand in der provisorischen Klinik hier in Aachen vergleicht: Wischen, Saugen, Schrubben, Fegen. Vergeblich. In den vielen provisorischen Räumen, vor allem den Aufnahmezimmern, wirkte vieles unordentlich und unhygienisch.

Alles das bleibt ihr seit dem Einzug in ihre neue Wohnung erspart. Es herrscht eine schier unglaubliche Reinlichkeit. Selbst wenn sie Brotkrümel oder sogar abgeschnittene Finger- und Fußnägel, Hornhautreste und Haare auf den Boden fallen lässt. Sie hat viel ausprobiert: Alle Abfälle verschwinden. Lautlos, spurlos. Alles für sie Nützliche bleibt. Was hatte ihre komische Nachbarin Regine Arach bei der ersten Wohnungsbesichtigung so betont? „In meinem Haus herrscht eine einzigartige Sauberkeit und Ordnung. Sie werden es bemerken!“

Es hatte fast lustig, nicht bedrohlich, eher wie eine ironische Zustandsbeschreibung geklungen. Kimmi lächelt, zum letzten Mal in ihrem Leben. Sogar das protzige Messingschild an der Wohnungstür ihrer Nachbarin glänzt stets wie frisch poliert: „Dr. Regine Arach“. Angeberin! Wer ist hier so eitel und hat die Zeit, sich ein Schild an seine Tür zu heften?

Sie sieht wieder zurück zu ihrem Nachttisch und erschrickt plötzlich: Mehrere sechsbeinige kleine, extrem dünne, lang gestreckte Krabbler mit jeweils zwei überlangen, leicht phosphoreszierenden Fühlern bemühen sich doch tatsächlich, gemeinsam ein größeres Waffelstück von der Oberfläche ihres kleinen Nachttischs zu transportieren. Noch nie hat Kimmi ihre Mitbewohner so deutlich bei Licht sehen können. So groß – deutlich länger als jede Zweipesetenmünze – hatte sie sich ihre Helfer gar nicht vorgestellt. Eine Art mutierte Heuschrecke? Riesen Hornissen? Oder veränderteRiesenameisen? Sind sie in diesem Zwielicht plötzlich aktiver? Oder einfach nur sehr hungrig geworden? Das gibt es doch gar nicht!

Kimmis gute Laune schlägt jetzt schnell um. Sie presst die Lippen aufeinander, wie immer, wenn sie beginnt, sich zu ärgern. Aus ihrer trägen Entspannung und der Vorfreude auf den Tag wird Verdrossenheit, und aus Verdrossenheit wächst ihr Zorn. Verdammt, so habe ich mir Symbiose nicht vorgestellt. Das ist ja ekelig. Das ist Vertragsbruch! Nicht nur, dass ihr mir meine Waffelstückchen entwendet, jetzt wird mein schöner, friedlicher, freier Tag auch noch von euch gestört. Na wartet! Aus Kimmis Zorn wird spontane Wut.

Kimmi gehört nicht zu den Frauen, die sich leicht einschüchtern oder ungestraft ärgern lassen.

Langsam und vorsichtig tastet sie zum obersten Taschenbuch auf dem Stapel neben ihrem Bett. Sie liebt es, im Bett zu lesen. Und schon früh hat sie gelernt, Bücher auch zu anderen sinnvollen Zwecken zu verwenden, vor allem bei der Jagd nach den quälenden Stechmücken in ihrer Heimat.

Behutsam holt sie mit ihrem baskischen Liebesroman aus, um jegliche Geräusche, Luftbewegungen oder Lichtreflexe zu vermeiden.

Sie weiß es genau. Auf den Überraschungseffekt kommt es an. Ihre Aufregung steigert sich. Adrenalin durchflutet ihren Körper. Rache! Entschlossenheit!

Nun ist sie in der Tat hellwach.

Sie schlägt auf die unheimlichen Diebe mit einer schnellen, kräftigen Bewegung ein. Ja! Na also! Treffer! Denen habe ich es gegeben!

Das Geräusch allerdings, das sie dadurch verursachte, ist unerklärlich laut. Extrem laut. Ungewöhnlich. Sie spürt die Vibrationen am ganzen Körper, das ganze Zimmer scheint zu erzittern, und Kimmi zuckt vor Schreck zusammen. Was war das denn?

Es hörte sich an wie ein gewaltiger Paukenschlag, direkt neben ihr, der noch lange nachhallt. Ein leichtes Beben? Ein Gewitter? Eine Explosion? Ein Militärflugzeug? Sie sieht erschrocken hoch zu ihrem Dachfenster über dem Bett, aber der dunkelgraue Himmel wirkt genauso unbeteiligt und langweilig wie vorher. Ihr Blick kehrt schnell wieder zum Nachttisch zurück.

Immerhin, da habe ich doch Jagdglück gehabt! Na also! Sie starrt ihr Opfer grimmig an. Zwar ist mein Waffelstück völlig zerbröselt, aber einen habe ich erwischt. Was hat mein Vater immer gesagt? „Rache löst kein einziges Problem.“ Er täuscht sich. Es hilft, die Seele zu beruhigen, die nach Gerechtigkeit schreit. Das hat wahrscheinlich schon der erste Höhlenmensch so empfunden, wenn er einen anderen nach einer Beleidigung niedergeschlagen hat. Es tut einfach gut.

Platt und noch mit einem Bein zuckend liegt das tote Insekt auf der Tischoberfläche.

Sind da womöglich noch andere? Kimmi kann nur ein Huschen wahrnehmen, eine pfeilschnelle Bewegung.

Misstrauisch legt sie ihr Buch auf den Stapel neben dem Bett zurück und streckt ihre Hand aus, um vorsichtig ihre Taschenlampe vom anderen Ende des Nachttischs zu ergreifen. Der helle Lichtkegel der Lampe beseitigt das Zwielicht und bestätigt den Erfolg ihrer Aktion: Keine weiteren Diebe in Sicht, nur das hilflose platte Opfer. Erfolgreiche Rache!

Der Erfolg ermutigt Kimmi, mit der Taschenlampe auch das Umfeld des Nachttisches zu untersuchen. Keine weiteren Krabbler.

Das sieht doch schon einmal sehr gut aus. Wehe, wenn ich noch mehr von euch entdecke! Sie warnt ihre ehemaligen Freunde schon einmal in Gedanken. Langsam lässt sie den kräftigen Lichtkegel vom Nachttisch an ihren Bettpfosten entlang herunterwandern und beugt sich aus dem Bett. Auch der leere Holzboden vor dem Bett verrät keine Spur ihrer fremdartigen Besucher.

Zufrieden wagt sie kopfüber mit ihrer Lampe einen Blick unter ihr auf Pfosten stehendes Bett. Vorsichtig beugt sie sich weiter heraus, erstarrt allerdings sofort erschrocken in ihrer Bewegung. Sie reißt ihre Augen weit auf, zittert, hält jedoch trotz ihres Schocks die Lampe gut fest.

Sie muss schwer schlucken. Dutzende, ja Hunderte sechsbeinige Insekten mit jeweils zwei langen Fühlern starren sie vom Holzboden unter ihrem Bett an, genauso versteinert und unbeweglich wie Kimmi selbst. Das einzige Lebenszeichen sind die langsamen Bewegungen der leicht phosphoreszierenden überlangen Fühler, die an ihren Enden heller zu leuchten schienen. Wie winzige Fackeln. Eine Invasion? Ein Schwarm? Ein Nest?

Trotz ihrer aufkommenden Panik will Kimmi die Situation genauer beobachten. Ihr Herz fängt an zu rasen. Sie blinzelt mehrmals, aber auch als sie die Augen wieder öffnet, bietet sich ihr das gleiche, völlig unwirkliche Bild. Ein Meer von Insekten. Sie hat schon viel in ihrem Leben gesehen, in ihrer Kindheit, in ihrer Ausbildung oder im Arbeitsalltag der Klinik. Aber das passt nicht in diese Welt, schon gar nicht in ihr Zimmer oder unter ihr Bett.

Was sind das für Wesen? Haben sie sich so stark vermehrt? Werden es immer mehr? Der ganze Fußboden wimmelt von diesen Missgeburten. Ihre Gedanken überschlagen sich. Und jetzt? Was mache ich jetzt?

Spüre ich da etwas?

Sie schreit auf und lässt jetzt doch ihre Lampe fallen. Hat sie ein Kribbeln am linken Fuß gefühlt? Die Erstarrung weicht. Blitzschnell zieht sie ihre Beine an. Weg mit der weißen Decke. Sie wirft sie neben das Bett.

Tatsächlich! Ihre Befürchtungen werden Realität. Drei oder vier Insekten haben ihr linkes Bein erreicht. Keine Zeit mehr für ein Taschenbuch. Mit der bloßen rechten Hand schlägt sie reflexartig zu, und spürt fast gleichzeitig einen starken Schmerz, der sich wie ein heftiger Messerstich sowohl an ihrem linken Bein als auch an ihrer rechten Hand anfühlt.

Furchtbar erschrocken hält Kimmi zwar den Atem an, schlägt im Reflex aber weiter zu – und spürt weitere schmerzhafte Einstiche in ihren Körper. Mein Gott! Ich muss hier raus! Nur wie? Wie komme ich aus diesem Zimmer?

Den braunschwarzen insektenverseuchten Parkettboden mit ihren nackten Füßen zu berühren, das kommt für sie überhaupt nicht infrage. Ihre Angst steigert sich zur Panik. Sie kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Ich muss flüchten! Schnell! Wohin soll ich bloß laufen? Aber wenn ich hier weglaufe, werden sie mich sofort erwischen! Kann ich mich überhaupt noch auf den Beinen halten? Ich darf nicht auf den Boden fallen!

Sie fühlt bereits, dass ihre Kräfte erlahmen. Das ist nicht real! Das muss ein Albtraum sein! Das kann einfach nicht sein!

Sie atmet schwer. Entsetzt sinkt sie matt, schockiert und schon sehr geschwächt zurück in ihr Bett.

Das ist alles nicht wahr! Sie schließt die Augen. Nicht hier! Nicht heute! Nicht in meinem Zimmer. Das ist unmöglich!

Der Schmerz breitet sich rasend aus. Nach ihren Händen und Beinen sind nun ihr Arm und fast der ganze Oberkörper betroffen. Sie fängt an, laut zu keuchen und zu zittern. Ihr Kreislauf bricht zusammen. Sie fühlt sich eiskalt. Atem zu holen wird immer mühsamer für sie. Milzbrand? Ich auch? Immer noch ansteckend? Oder ein lähmendes Gift? Die Ärztin in ihr sucht nach einer Diagnose.

Kimmi versucht krampfhaft, einen Ausweg zu finden. Sie öffnet die Augen. Was habe ich in der Ausbildung gelernt? Keine Hektik, nie! Ruhig und tief atmen. Ein und aus. Abbinden? Die Einstichstellen mit einem Schnitt öffnen und das Blut aussaugen? Ihr wird übel.

Die Schmerzen umfassen inzwischen fast ihren ganzen Körper. Ihre Augenlider zucken, Arme und Beine zittern. Kalter Schweiß hat sich auf ihrer Stirn und ihrem Rücken gebildet.

Die rechte Hand und das linke Bein spürt sie jetzt nicht mehr. Jede Bewegung fällt Kimmi unendlich schwer.

Mein Gott, was passiert mit mir? Ein Gift? Sterbe ich? Ich muss etwas tun? Hilfe rufen?

Wimmernd und keuchend versucht sie, sich mehr aufzusetzen. Mit letzter Kraft bringt sie einen Schrei zustande: „Hilfe!“ Und nochmals lauter: „Hilfe!“

Mehr ist nicht mehr möglich. Die letzte Energie verbraucht. Sie blickt, hilflos an das Kopfende des Bettes angelehnt, zu ihrer Zimmertür, die sich langsam öffnet.

Der letzte Hoffnungsschimmer ihres Lebens. Rettung? Ja! Ihre Nachbarin hat sie tatsächlich gehört. Dr. Regine Arach.

Kimmi bringt kein Wort heraus. Regine Arach beobachtet die schwer keuchende junge Frau, deren Augenlider zittern, interessiert.

Was soll das? Warum beeilt sich die Frau nicht? Sieht sie nicht, dass ich große Schmerzen habe? Warum grinst sie so eigenartig?

Sehr langsam und vorsichtig gehend kommt Regine Arach näher, betrachtet sie neugierig und fährt sich mit ihrer Zunge über die Lippen. Kimmi schaut sie verständnislos an, der Anblick verschwimmt und verdunkelt sich. Kraftlos lässt Kimmi ihren Kopf zurückfallen und verliert immer mehr das Bewusstsein. Panik und furchtbare Angstzustände zerstreuen sich. Eine wohlige Ruhe und Wärme breiten sich aus. Nicht mehr kämpfen müssen. Nur noch schlafen. Eine angenehme Müdigkeit. Entspannung. Sie schließt die Augen. Für immer.

Die letzten Eindrücke, die Kimmi in ihrem Leben wahrnimmt, sind ein leichtes Zerren an ihrem rechten Bein, ein leises schmatzendes Geräusch und irgendetwas, das in ihrem Nacken kitzelt.

Weit entfernt spürt es Rafael. Er hat Kimmi verloren. Eine der letzten Hoffnungen. Sie hat es wieder getan. Sie hat wieder gehandelt. Regeln verletzt. Was bleibt ihm? Er muss sie aufhalten. Zurück in die Zeit. Ihre Manipulationen bekämpfen. Sonst bleibt nichts übrig von der Menschheit. Zurück in den Fluss der Zeit. Den er inzwischen gut kennt.

Ein Fluss, der gelegentlich anschwillt, Stromschnellen entwickelt, alles mitreißt, voranstürmt, unaufhaltsam, immer schneller werdend, wild, verrückt, rau. Oder sich auch manchmal gemächlich und sanft fortbewegt, zum Verweilen einlädt, fast zum Stillstand kommt, die Ufer bewässert und fruchtbar macht, idyllisch wirkt, heiter und gelassen.

Iberien – um 230 v. Christus

1. Hamilkar

Hamilkar Barkas hatte schon viel gesehen in seinem Leben. Doch damit hatte er nicht gerechnet. Gut, um bei der Wahrheit zu bleiben, es war auch nicht mehr das irdische Leben, das er nun sah. Wie sollte er sich auch darauf vorbereiten.

Dieser Ort passt doch überhaupt nicht! Kurios! Entgegen all meinen Erwartungen!

Wie hat er es sich vorgestellt? Das Leben nach dem Tod?

Eine bedrückende, traurige Schwärze, kalt, unangenehm, eine graue Unterwelt, trist, felsig, ohne Pflanzen und Tiere, eintönig, geruchlos, traurig, leer, still, langweilig. Nur Steine. Geröll. Das waren die Bilder, die die Priester des Baals ihm vermittelt haben. Bis die Götter alle befreien würden. Am Ende der Welt. Dann ging es heim zu den Göttern, für die, die es verdient hatten.

Irgendwie konnte er sich beides nicht recht vorstellen.

Eigentlich hat er überhaupt nicht an ein Leben danach geglaubt. Nicht für ihn. Nicht bei dem, was er alles getan hat. Jemand wie er verdient es nicht weiterzuleben.

Und nun? Die Überraschung.

Der weiße Nebel (oder was auch immer es für eine milchige Dunstschicht war) lichtet sich nach und nach. Eine Abendsonne (Nein, eine Morgensonne kann es doch nun wirklich nicht sein) scheint den Himmel über ihn in ein purpurrotes zum Horizont hin heller werdendes Dach zu verwandeln, zum Ende hin zartrosa erscheinend. Wenn Hamilkar einen Sinn für Romantik gehabt hätte, dann würde ihm der Himmel gefallen.

Es duftet wie nach einem Sommerregen, würzig, lebendig, nach frischem Gras und einem vielfältigen Blumenmeer, fast so wie früher in dem riesigen Park seiner Sommerresidenz in der Nähe von Karthago, wo er (viel zu wenig) Zeit mit der Familie zugebracht hatte, mit seiner jungen Frau und seinen kleinen Kindern, mit Blick auf das Meer und einem kühlenden Wind.

Kalt? Nein, überhaupt nicht. Es fühlt sich angenehm warm an, allerdings ohne jeglichen Windzug, kein Frösteln und keine übermäßige Hitze. Einfach angenehm.

Er steht auf Steinstufen (kein Sandstein, mehr ein heller, fast weißer Granit oder Marmor), die zu einer sehr breiten, unendlichen Treppe zu gehören scheinen. Sowohl zu den Seiten hin als auch nach unten kann Hamilkar kein Ende erkennen, der Nebel (oder Rauch?) behindert seine Sicht in größere Entfernungen.

Die Stufen, die er erkennen kann, wirken sehr, sehr breit. Um eine Stufe zu überqueren, hätte er wohl mehrere Schritte auf der ebenen, konturlosen Stufe benötigt.

Je mehr sich der Nebel auflöst, desto mehr Stufen, die nach unten führen, werden sichtbar. Es scheint ein weiter Abstieg nach unten zu sein. Er dreht sich um und fühlte sich jung, kräftig, ohne Schmerzen, bei bester Gesundheit, so gut wie schon lange nicht mehr. Wie vielleicht in seiner Jugend. Als er überhaupt nicht darauf achtete, wie sich sein Körper überhaupt anfühlte. Wie lange mag das her sein? Ein ganzes Leben?

Der Blick in die andere Richtung ist überwältigend. Die Treppe führt sehr weit hoch, fast endlos, und verfügt über so breite, unterschiedliche Stufen, dass sie teilweise wie große, hell schimmernde Terrassen erscheinen. Hier existiert fast gar kein Nebel. Zeichnet sich ganz oben, am Ende, das dunkle gesprenkelte Braun und Grün eines Waldes ab? In der Stille glaubt er von oben Vogelstimmen zu hören, auch andere Tierstimmen, die aus dem satten, vielfältigen Grün erklingen. Er kann jedoch kein Tier erkennen, will es auch gar nicht. Er will auch nichts mehr hören.

Er hat überhaupt keine Lust, nach oben zu gehen. Nur nicht nach oben. Nicht wieder aufsteigen. Nicht in diese Richtung. Das wäre völlig falsch.

Er dreht sich schnell wieder zurück.

Nein, er will sehen, was sich dort unten befindet. Das interessiert ihn instinktiv. Wohin führt die Treppe, wohin führen die breiten Stufen? Eine saubere Steinmetzarbeit! Wer auch immer die Arbeit erledigt hat, derversteht sein Handwerk. Er schmunzelt anerkennend, fühlt sich in einer heiteren, gelassenen und unbeschwerten Stimmung. Jugendlich, kräftig, stark. Keine Gelenke, die schmerzen. Kein Kopfweh, weil er nicht genug Schlaf bekommt. Keine Muskeln, die gegen die Dauerbelastung protestieren.

Immerhin sterbe ich nicht als tattriger Greis.

Ist er womöglich glücklich? So wohl hat er sich schon seit vielen Sommern nicht mehr gefühlt. Zufrieden. Sorglos. Unbekümmert. Frei.

Vorsichtig nimmt er einige Stufen hinunter. Da die Stufen unterschiedliche Höhen haben, konzentriert er sich auf sie. Manche sind ganz flach, manche so tief, dass er sich setzen kann und die Beine baumeln lässt. Er trägt ein kurzes, helles leinenes Obergewand und keine Schuhe, fühlt eine angenehme Wärme sowohl um sich herum als auch von den Steinen her abstrahlend, so, als wenn die Abendsonne gerade noch genügend Hitze ausgestrahlt hätte, um die steinerne Treppe zu erwärmen.

Er könnte sich jetzt auch zufrieden setzen, was für ihn jedoch überhaupt nicht infrage kommt. Er will weiter und ist neugierig auf das Ende der Stufen. Wohin führt diese Treppe? Wer hat sie erbaut? Und was befindet sich am Ende der Stufen? Gibt es ein Ende?

Hamilkar atmet tief ein und versucht sich zu erinnern, ob er die Düfte kennt. Ein angenehmer, dezenter Geruch nach Sandelholz, Orchideen, frisch gemähtem Rasen. Vertraut? Bekannte Düfte? Eine schwache Erinnerung taucht auf, ist es aus seiner Kinderzeit auf dem Land bei seinem Großvater? Oder stammt die Erinnerung von seinem Anwesen am Mittelmeer, von seinen Gärten, die er mit seiner Frau so liebte?

Er schüttelt den Kopf, lässt sich mit einem Sprung auf die nächste Stufe unter ihm fallen und versucht wieder zu erkennen, wo der lange Weg nach unten wohl enden mag.

Zwischen den letzten, hellen, hauchdünnen Nebelfetzen meint er, gar nicht so weit und gar nicht so tief entfernt, etwas zu erkennen. Einen prachtvollen weißen Strand, der vom Himmel angeleuchtet in ein zartes Rosa wechselt, sobald der Nebel einige freie Stellen sichtbar macht. Keine Steine, keine Felsen, nur verlockender feinsandiger weißer Strand.

Am Strand stehen einige Gestalten, in dünnes, weißes Tuch gehüllt, nicht aus dem groben Leinen wie sein Gewand, sondern aus feinem, seidigen Tuch. Und anders als er bis zum Boden bekleidet und den Kopf wie mit einem leichten Schleier verhüllt. Menschen? Statuen?

Sie blicken anscheinend alle von ihm weg in die entgegengesetzte Richtung. Bewegungslos. Lebendig? Er will instinktiv nach seinem Schwert greifen, aber da ist nichts. Er schmunzelt leicht. Schade, eine Waffe oder eine Rüstung hätten sie mir ja schon lassen können!

Er fühlt sich nicht bedroht, er könnte sich auch mit seinen Händen wehren, da ist er sicher, er ist stark und schnell. Genauso ist er allerdings davon überzeugt, dass er hier gar nicht kämpfen muss. Stille. Tiefer Friede und eine ausgeprägte Ruhe liegen über allem.

Oder?

Er steigt einige Stufen weiter hinab und versucht, mehr von unten zu erkennen. Der weiße Strand stellt tatsächlich eine Zwischenzone dar, danach folgt das Wasser, türkis, sehr hell schimmernd, anscheinend sehr flach, denn einige Gestalten (Menschen?) stehen in dem Wasser, teilweise weit weg vom Uferstrand entfernt, nicht einmal bis zu den Knien eingesunken, eigentlich nur mit den Füßen sich im Wasser befindlich, so weit er es erkennen kann. Es existiert kein Wellenschlag, das Wasser ist spiegelglatt, keine Figur scheint sich zu bewegen, alle sehen weg vom Ufer in die andere Richtung. Was sehen sie? Wohin?

Er hört plötzlich, von oben kommend, einen furchtbar lauten Glockenschlag und erschrickt. Ein Tempel? Die Götter? Der große Auftritt der Richter? Ein tiefer, dunkler Klang, die Schwingungen gehen durch seinen Körper, nicht unangenehm, jedoch viel stärker, als er es bisher je von einem Ton erlebt hatte. Mit dem Gongschlag ist der ganze Nebel verschwunden.

Er sieht das riesige Meer einen gigantischen Halbkreis um den weiten Strand (eine Halbinsel?) bilden. Er sieht den unendlich weiten rötlichen Himmel, der sich nicht verändert (kein Sonnenuntergang?). Er sieht Dutzende Gestalten am Strand und im Wasser, sehr verteilt, einzeln, allein, jeweils weit voneinander entfernt, teilweise nur als winzige Punkte in der Ferne erkennbar – keine Gruppierungen oder größere Ansammlungen von Figuren.

Das Meer schimmert und leuchtet überall gleichmäßig kräftig in einem Helltürkis, und er vergisst alles andere, seine Neugier, seine Angst (Wo bin ich?), seine üblichen Sorgen (Wer führt Karthago zum Sieg gegen Rom?), seine Fragen (Wohin gehe ich?).

Weil er zuhause angekommen ist. Obwohl er noch nie hier war, hat er das tiefe Gefühl der Heimkehr dahin, wo er hingehört, so, wie es sein soll, eins mit allem. Seine Sehnsucht hat sich erfüllt, er weiß es instinktiv, ohne es begreifen oder verstehen zu können, ohne darüber nachzudenken und weiter zu grübeln.

Ich bin da.

Dies ist das Wasser des Lebens, zu dem wir alle gehen, zu dem wir so lange streben, ohne es zu wissen, um uns zu stärken und zu erfrischen, von dem wir trinken können, um gesund zu werden. Oder in dem wir ruhig nachdenken können über Impulse, die wir erhalten haben, über Intuitionen, die wir spürten, über Erlebnisse, die wir hatten und kaum wahrnehmen konnten, weil sie zu schnell vorbeizogen. Noch einmal erleben, korrigieren, neu erschaffen, neu leben. Hier dürfen wir alle sein und bleiben, verbunden mit allem, was ist, für sehr lange oder für immer, wenn wir es wünschen.

Er beginnt, sein Leben bei Baal zu spüren. Tiefe Ruhe zu empfinden. Nahezu völlige Entspannung.

Der süße Duft, den er wahrnimmt, das war ihr Duft, das ist ihm jetzt völlig klar. So war sie. Der Weg zum Meer und darüber hinaus führt zu ihr, das weiß er nun genau. Er beschließt, sich mehr zu beeilen, es sind nicht mehr viele Stufen bis zu dem feinsandigen Strand, der ihn so anlockt, und zu dem Meer, das ihn noch mehr anzieht, aber er spürt, dass Schnelligkeit nicht zu diesem Ort gehört, sondern ihm schaden würde. Hier eilt keiner, kaum einer der Gestalten scheint sich überhaupt zu bewegen, niemand spricht, keine Veränderung ist spürbar (Gibt es hier überhaupt so etwas wie Zeit?).

Trotzdem herrscht keine bedrückende, lastende Stille, er nimmt immer noch das leise Rauschen von oben wahr (Aus dem Wald?), kann ihm unbekannte Vögel singen hören (Wirklich Vögel?) und meint sogar brünstige Rufe in weiter Ferne zu identifizieren (Hirsche?), kaum vernehmbar, sehr leise. Laute Geräusche würden nicht hierhin passen. Keinesfalls.

Er sieht nach links und rechts. Auf den Stufen könnten Tausende stehen oder sitzen, fast wie im großen Amphitheater von Karthago, das ihm jetzt nur noch als vergleichsweise winzig klein in Erinnerung ist.

Jedoch gibt es hier keine Reliefbilder, keine Statuen früherer Helden, keine Bögen oder Säulen, keine Mosaike oder Verzierungen, nur Stufen, unendlich weite, schlichte Stufen, so weit sein Auge reichte, nur Stufen unterschiedlicher Höhe und Breite. Das gefällt mir. Schlicht und einfach. Wir sollten in Karthago … Ach egal, darüber sollen doch andere befinden, es ist gleichgültig, völlig gleichgültig, was dort geschieht.

Die Gestalten auf den Stufen stehen entfernt von ihm, verschleiert (Totenhemden?), manche bewegen sich langsam, waten kurz einen Schritt durch das Wasser, keiner geht nach oben, keiner sagt etwas, keiner nähert sich einem anderen.

Er möchte eine verhüllte Person ansprechen und schreitet ganz langsam zu der auf seiner Stufe nächsten Gestalt zur Rechten, um sie nicht zu erschrecken. Obwohl sie der Schleier fast völlig verbirgt, meint er das Gesicht einer fremdartigen jungen Frau zu erkennen, die träumerisch in die Ferne des Meeres schaut, versunken lächelnd, ohne zu blinzeln, glücklich, still verharrend, völlig abwesend.

Er atmet tief ein und will sich leise vorstellen, woher er kommt, aus welcher Zeit, aus welcher Nation, aus welcher Familie, seinen Namen, seine Aufgaben. Aber schon beim Einatmen hält er inne und findet alle seine Gedanken hier lächerlich, völlig unpassend, unangemessen. Er sagt nichts, sieht sie nur an. Ich störe hier. Er betrachtet die Frau still.

Und ich will hier bestimmt keinen belästigen. Nicht hier. Nicht auch noch hier. Gehöre ich überhaupt hierhin? Ich trage keinen Schleier.Noch nicht? Gibt es noch andere Menschen hier ohne Schleier? Noch jemanden, der Erklärungen sucht? Gibt es überhaupt irgendwelche Erklärungen? Brauche ich welche?

Langsam wendet er sich von der Frau ab, ohne sie zu unterbrechen, sieht auf das Meer und setzt seinen Gang nach unten fort, verwirrt, überhaupt nicht ängstlich, sondern suchend, immer sicherer werdend, sehr bald anzukommen. Angst hat er nur davor, nach oben gehen zu müssen. Er will auf keinen Fall zurück in den Wald, zu dem lebendigen Grün, zu den Geräuschen des alten Lebens. Und er will nicht noch einmal diese Glocke hören, die ihm durch Mark und Bein fuhr, so, als wenn er kurzfristig die Kontrolle über seinen Körper verlieren würde, der sich jetzt so gut anfühlte wie schon ganz lange nicht mehr, so als wäre alles geheilt, als wäre sein Leib in einem idealen Zustand. War er jemals in einer solch exzellenten Verfassung gewesen?

Endlich hat er die letzte untere Stufe erreicht. Ein kurzes Zögern.

Die Treppe ist ihm jetzt vertraut, was erwartet ihn danach?

Nein, er freut sich auf den Strand. Mit seiner Frau war er mit Vergnügen am Meer, später auch noch mit den Kindern. Er macht einen Schritt nach unten und spürt den feinen Sand unter seinen Füßen, warm, leicht kitzelnd und ihn massierend. Er genießt die ersten Berührungen und erinnert sich, wie er mit den Kindern (Hannibal? Himilko?) am Strand spielte. Karthager und Römer natürlich. Die hohen Sandmauern der Römer wurden von der tapferen karthagischen Armee erstürmt, auch wenn es hohe Verluste (umgefallene Holzreiter und -soldaten) zu beklagen gab. Er machte seinen Streitkräften Mut, spornte sie an, schrie mit den Kindern so laut um die Wette, dass seine Frau immer wieder laut lachte, begeistert war, wie sie jedes Mal Stück für Stück das heidnische Rom eroberten (er hatte eigens den Tempel des Jupiters, so wie ihm seine Gesandten beschrieben hatten, aus Holz nachbauen lassen), trotz heftiger Gegenwehr und dann den Stab des Baal oben auf dem gegnerischen Hügel befestigten, um …

Noch ein Glockenschlag reißt ihn aus seinen erstaunlich lebendigen Erinnerungen.

Er hat kurz Mühe, Atem zu holen und fühlt sich schwach, der rosa-weiße Strand unter ihm verschwimmt zu einer unwirklichen Helligkeit ohne Konturen, aber dann spürt er wieder die feinen Sandkörner unter seinen Füßen und blinzelt, um wieder alles in gewohnter Klarheit zu erkennen. Er mag diese Glocke nicht, doch jetzt ist alles wieder gut, er ist wieder zuhause, jung und kräftig, fühlt sich wohl und schaut sich um. Haben die anderen Gestalten in der Nähe auch den durchdringenden, unangenehmen Ton gehört? Keiner hat reagiert, keiner hat sich verändert, keiner schaut zurück nach oben, woher der Klang herkam.

Nein, er gehört genau hier hin, keine Schwingung ist mehr zu vernehmen. Hat jemand gerade gelacht? Er muss wieder schmunzeln. Es werden doch keine Römer hier sein, die meine Erinnerungen nachvollziehen und missbilligen?

Nun geht er doch zu einer neben ihm am Strand stehenden Figur und versucht, durch den Schleier das Gesicht oder das Minenspiel zu erkennen. Wieder eine Frau, sehr fremd und exotisch, hellhäutig, mit offenen mandelförmigen Augen, lieblich, weit entrückt auf das Meer blickend, versunken, ihn überhaupt nicht beachtend, leicht lächelnd.

Er spricht sie ganz leise und vorsichtig an: „Wo sind wir hier, Frau? Verstehst du meine Sprache? Du musst von weit herkommen, welchem Volk gehörst du an?“

Seine Stimme ist geschmeidig, höher als er sie in Erinnerung hat, aber durchaus vernehmbar. Die Frau reagiert allerdings überhaupt nicht.

Er wird unsicher und berührt die schmalen Schultern der zierlichen Frau mit beiden Händen, spürt ihre Zartheit und Wärme in seinen Händen, schüttelt sie ganz sanft, möchte sie umarmen, wie ein Mann eine Frau umarmt, unterdrückt seinen Impuls und ruft lauter.

„Wo sind wir hier? Sag es. Ich befehle es dir! Sprich endlich.“

Keiner missachtet seine Anordnungen, so war es doch immer. Die Frau rührt sich nicht, er lässt los und will sich schon enttäuscht abwenden. Dann blinzelt sie jedoch tatsächlich, schaut vom Meer weg und sieht ihn an.

„Lasst mich, bitte. Herr, bitte nicht. Wir sind endlich da.“

Eine ganz leise Stimme, belegt, kaum hörbar, verschwommen. Sie macht einen kleinen Schritt zurück und will sich wieder dem Meer zuwenden, er folgt ihrem Schritt, ohne zu zögern, greift mit seiner rechten Hand nach ihrem linken Oberarm, der zart und verlockend in seiner Hand liegt.

„Was soll das heißen? Wo sind wir?“

Sie schaut ihn verständnislos an, nimmt ihn jetzt immerhin wahr, hat nun einen strengeren, energischeren Blick, enttäuscht oder erstaunt.

„Bitte seid leise. Nicht hier!“

Dann wendet sie sich wieder ab, so als wenn er nicht da wäre und schaut zurück zum Horizont. Er hält sie nochmals an ihren Schultern und drückt sie leicht, vorsichtig. Er weiß, er darf sie nicht stören, noch mehr jedoch will er endlich Gewissheit.

„Warum nicht hier? Was soll das bedeuten?“

Sie entzieht sich ihm, indem sie noch einen kleinen Schritt zurückweicht und ihn nicht mehr ansieht.

„Seid still, ich werde in Ruhe nachdenken … Warum habe ich es ihm nicht gesagt? Warum habe ich so lange geschwiegen? … Es gibt eine andere Lösung … Ich kann es erklären … Natürlich, wenn ich ihm …“ Jetzt spricht sie so leise, dass er sie nicht mehr versteht. Dann findet sie wieder ihr entrücktes Lächeln, hat nur noch Augen für das Meer und das, was sie hinter dem Meer erkennt. (Träumt? Erlebt? Nachdenkt?)

Er will sie nicht mehr stören, schüttelt leicht den Kopf und sieht sich um, sieht das Wasser, verlockend schimmernd und schreitet gemächlich in die Richtung des Meeres. Keine Welle, nicht einmal ein leises Schwappen ist zu beobachten. Nichts. Wie kann ein Meer so still sein? Vorsichtig taucht er den rechten Fuß ein, bereit, ihn sofort wieder herauszuziehen, aber das Wasser ist warm, er spürt wohlig die Flüssigkeit, ein Gefühl des Glücks durchströmt ihn, er zieht den anderen Fuß nach und verharrt. Es tut so gut.

Die Wärme durchströmt seinen ganzen Körper, die Haut fiebert und vibriert wie beim Geschlechtsakt, er fühlt sein Geschlecht und ist überwältigt. Es ist schon so lange her, er vergisst alles andere und atmet tief ein, ihren Duft.

Ob ich mich in das Wasser legen kann? Kann ich es trinken?

Mühelos kniet er sich hin (wie schon lange nicht mehr), taucht den rechten Zeigefinger ein, richtet sich wieder auf und führt den Finger vorsichtig zum Mund. Es schmeckt süß, erfrischend, sehr lecker, verlockend. Obwohl das Wasser warm ist, wird seine Kehle angenehm gekühlt.

Er nimmt beide Hände, bildet eine Halbkugel und will mehr von der Flüssigkeit (Wasser? Wein? Saft?) schöpfen, hört einen weit entfernten Schrei und sieht sich unwillig um. Er ist schon weit entfernt vom Strand, obwohl er sich überhaupt nicht bewegt hat. Ist das Wasser gestiegen? Flut?

Irgendein Schrei, weit entfernt, unterbricht seine Gedanken, doch er beachtet ihn nur kurz.

Nur seine Füße sind vom Wasser bedeckt – nein, jetzt nicht mehr. Eigenartig, auch wenn ich mich weiter entferne, versinke ich nicht, im Gegenteil, es geht mir immer besser. Ich fühle mich immer wohler? Geht das?

Zufrieden wendet er sich wieder dem Meer zu. Was wollte er noch tun?

„Hamilkar!“

Jetzt nimmt er den Ruf besser war. Es war gar kein Schrei, jemand hat etwas gerufen. Ein Wort. Irgendein Wort. Er sieht sich ganz langsam um, ob irgendein anderes Wesen darauf reagiert, kann aber keine Bewegung wahrnehmen. Eigentlich ist es ihm auch völlig egal, was die anderen machen, er möchte das Wasser wahrnehmen, dieses Körpergefühl, dieses Glück, dem er nachspüren möchte, das er für unmöglich gehalten hat, das ihn erinnert an …

„Hamilkar!“

Er richtet sich auf. Dieses Wort, das ist ein Name. Das ist doch mein Name! Kann man seinen Namen vergessen? Bei Baal, das bin ich. Mein Name ist Hamilkar. Hamilkar … Barkas. Was ist hier los?

Schon ist er wieder viel näher beim Strand und watet langsam zurück, mit einem großen Gefühl des Bedauerns, so, als wenn er etwas Wichtiges, etwas Lebenswichtiges, liegen lassen müsste oder nicht gefunden hätte, etwas zurücklassen müsste, weil er gestört wurde.

Nur von wem?

Der Sand ist immer noch warm, feinkörnig und angenehm, im Wasser jedoch hatten sich nicht nur seine Füße wohler gefühlt, sondern er sich insgesamt. Enttäuscht sieht er sich am Strand um, aber alle verhüllten Gestalten starren zum Horizont, keiner beobachtet ihn. War da wirklich etwas? Unsinn. Er will wieder zurück zum Meer, hier gehört er nicht mehr hin, nicht zu der exotischen Frau, die er gefragt hat, nicht zu dem Strand, nicht zu den Stufen, schon gar nicht nach oben zu diesem Grünbraun ….

„Hamilkar!“

Der Ruf kommt nicht vom Strand. Er seufzt unwillig, geht langsam in die Richtung der riesigen Steintreppe, sieht nach oben, obwohl er eigentlich nicht mehr die Stufen hochblicken möchte, sondern Sehnsucht nach dem Meer empfindet.

Eine unverschleierte junge Frau kommt herunter, sich erstaunlich schnell bewegend, nur die höheren Stufenabstände bremsen ihren Lauf. Die erste Gestalt hier, die er klar erkennen kann, die sich schnell bewegt und die ihn von oben herab ansieht. Eigentlich sollte er sich freuen oder wenigstens erleichtert sein, ihm kommt die Situation stattdessen wie ein Sakrileg, eine Blasphemie oder ein furchtbarer Rückschritt vor, das Verlassen des Meeres wie ein großer Nachteil, wie ein spürbarer Verlust, unwirklich und völlig unpassend. Irreal.

Vor kurzer Zeit (oder war es schon länger her?) hatte er noch einen Gesprächspartner gesucht, jemand, der Erklärungen für ihn hat, jetzt möchte er lieber vor der Frau und der nach weit oben führenden Treppe fliehen. Ein Hamilkar Barkas läuft nicht davon. Schon gar nicht vor einer Frau.

Nach und nach erinnert er sich wieder an sich, er bleibt aufrecht stehen und wartet gelassen, bis die Frau die letzte Treppenstufe erreicht.

„Kommt bitte etwas näher, Hamilkar, ich werde hier auf der Stufe stehen bleiben.“

Er geht näher auf sie zu, die junge Frau ist deutlich kleiner als er, steht sehr stolz und aufrecht, blickt ihn streng an und besitzt eine unnatürlich laute Stimme, die überhaupt nicht hierhergehört. Sie hat ein kantiges Gesicht mit einem kräftigen Unterkiefer, langes schwarzes Haar fällt ihr über ihre Schultern, die klare, ebene Stirn mit den kleinen Augenbrauen spricht für ihre Klugheit, die hellbraunen Augen, die ihn energisch mustern, für ihre Leidenschaft. Er kennt sie nicht, sie ist nicht hübsch im herkömmlichen Sinn, aber sie ist ihm nicht fremd, irgendetwas kommt ihm bekannt vor.

„Was willst du von mir, Frau?“

Sie kichert, was die Stille stört und ihm nicht gefällt, außerdem kann er sich nicht an sie erinnern und weiß auch nicht, ob er das überhaupt will.

„Erkennt Ihr mich nicht, Hamilkar Barkas, edler Feldherr und großer Führer des karthagischen Volks? Habt Ihr schon alles vergessen, erkennt nichts?“ Spöttische Augen, die ihm irgendwie bekannt vorkommen, strahlen ihn furchtlos an.

Er denkt an eine Schwester seiner Frau, verwirft den Gedanken wieder und versucht vergeblich, sich an andere Frauen zu erinnern.

„Haben wir uns schon irgendwo gesehen? Sprich, wer bist du, oder geh!“ Er wird ungeduldig, will wieder zurück zum Wasser und keine eigenartigen Rätsel lösen, die Frau interessiert ihn kaum noch und er wendet sich schon fast wieder ab.

„Bleib! Ich bin Abbala, die Priesterin der Tanith. Corduba schickt mich. Wisst Ihr überhaupt noch, wer Corduba ist?“ Sie sieht ihn wieder streng an.

Abbala? Tanith? Ja, die Göttin und ihre schönen Priesterinnen. Sie ist nicht so schön, so reizvoll, wie die Priesterinnen sonst sind. Abbala? Das war doch die uralte Frau, die Geisterseherin. Ich erinnere mich. Sie konnte mir von meiner Frau berichten. Sehr geheimnisvolle Frau. Und Corduba? Hm…. Ist das wichtig? Corduba, der Name kommt mir bekannt vor …. Schluss jetzt!

„Junge Priesterin, was willst du hier von mir? Du gehörst hier nicht hin, du störst hier alle! Ich weiß nicht, wer Corduba ist, es ist mir auch völlig gleichgültig, ich will …“

Sie lacht ihn laut aus, er zuckt zusammen. „Oh, wenn das unser wichtiger Oberpriester des Baals wüsste. Er versucht, Euch mit all seinem Wissen zu retten, er ist eigentlich gar kein so schlechter Heilkundiger und Berater. Habt Ihr schon alles vergessen? Haltet Ihr mich nun schon für jung, Hamilkar Barkas?“

„Oberpriester?“ Er spricht leise, wird aber klarer. „Ja, natürlich. Er ist bei uns im Lager, versorgt mit seinen Priestern die Verwundeten und spricht die Gebete für die Toten. Das macht er gut. Sehr gut. Dann ist ja alles gut.“

Hamilkar ist zufrieden, er hat ihr Rätsel gelöst und will sich wieder abwenden. Sein vollkommenes Glück befindet sich in entgegengesetzter Richtung.

„Nichts ist gut. Ihr sterbt viel zu früh. Euch wären noch viele Sommer bestimmt gewesen. Irgendetwas oder irgendjemand hat den Willen der Göttin gestört. Ihr habt nach Hasdrubal, Eurem älteren Bruder, und nach Hannibal, Eurem ältesten Sohn gesandt, auch nach Hiram Malchas, Eurem Stellvertreter und General der Reiterei. Ihr müsst mit ihnen sprechen. Es war Euch sehr dringlich, Eure Botschaft zu vermitteln. Ich bin gesandt worden, um Euch dabei zu helfen.“

Hamilkar denkt nach. „Meine Botschaft?“ Ja, ich habe Ihnen noch … etwas zu sagen. Das Reich … es muss geführt werden … Es geht um unser Volk, unseren Platz in der … Geschichte der Menschen, unseren Weg in die Zukunft … Um meine Familie!

„Ihr habt Recht, Priesterin. Ich erinnere mich wieder.“ Er spricht immer noch leise und stockend. „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ich ihnen meine Aufträge und Erklärungen übermitteln kann und …“

„Ah, gut. Ihr erinnert Euch. Fast mit der gleichen Entschlossenheit wie früher. Erstaunlich, hier in dieser Umgebung überhaupt noch eine entscheidende Bedeutung zu spüren.“ Abbala kichert wieder. „Ja, mein Feldherr, Euer Licht leuchtet wieder heller. Ich werde Euch helfen.“

Widerstrebend wendet sich Hamilkar jetzt ganz Abbala zu. „Also, Priesterin, wenn das alles hier einen Sinn haben soll, was müssen wir tun? Was wollt Ihr von mir? Was soll ich tun?“

„Du wirst einige Stufen hochgehen müssen, mein Feldherr. Je höher Ihr steigt, desto besser. Dann werde ich Euch verlassen und versuchen, die von Euch gewünschten Gesprächspartner hierherzubringen. Es wird eine gefährliche Reise, anstrengend für alle Beteiligten. Doch zunächst gehen wir ein paar Stufen hoch.“

Hamilkar schüttelt den Kopf. „Nein, Priesterin, ich werde nicht zurückgehen. Nicht diese Stufen. Ich werde hier auf Euch warten und mich setzen.“

„Dann, mein großer Feldherr, ist alles vorbei. Ich werde bei meiner Rückkehr nichts mehr für Euch tun können, Ihr werdet Euch nicht mehr an mich, an Eure Familie oder an Euer Volk erinnern können. Es ist Eure Entscheidung, in welche Richtung Ihr geht. Hierbleiben ist keine Lösung. Wenn Ihr mit Hiram Malchas oder Eurem Sohn Hannibal oder Eurem Bruder Hasdrubal sprechen möchtet, werden wir ein paar Stufen hochgehen müssen. So weit es nur geht.“

„Ich spüre meine Frau in der Nähe, meinen Vater, ich atme ihren Duft, ich nähere mich ihrer Welt, es ist nicht mehr weit, ich bin bald angekommen. Ich kann und will nicht mehr lange warten.“

„Das verstehe ich, mein Feldherr. Ich verspreche Euch, es wird auch nicht mehr lange dauern. Nur ein paar Stufen hoch, nicht weit. Dort werdet Ihr sitzen und kurz auf uns warten. Überlegt Euch, was Ihr sagen wollt, wir werden nicht lange bleiben können. Danach werdet Ihr gehen, wohin Ihr wollt, zum Strand, zum Meer und immer weiter. Es ist Eure Entscheidung, nur Ihr könnt den Weg wählen. Was ist Euch wichtig? Welchen Weg wollt Ihr gehen?“

Hamilkar blinzelt und betrachtet die Stufen hinter Abbala. Nur nicht zum Meer sehen. Meine Sehnsucht wird immer größer. Ich will nur noch …

Er seufzt, atmet tief durch und sieht dann wieder zu der vor ihm stehenden Priesterin. „Ich vertraue Euch. Es sei, wie Ihr gesagt habt. Führt mich einige Stufen hoch, aber nicht zu weit, drei oder vier Stufen. Dort werde ich auf Euch warten.“

„Sehr tapfer, mein großer Feldherr. Nehmt meine Hände.“ Sie zieht ihn fast auf die erste Treppenstufe zurück und hakt sich dann bei ihm unter. „Wir gehen gemeinsam die Stufen zurück. Keine Sorge, nicht sehr viele, aber einige Stufen. Haltet Euch an mir fest. Wir schreiten hoch wie ein verliebtes Paar.“ Sie lacht laut los. Sein Griff wird fester. Er fühlt sich wieder sicherer. Die Berührung tut ihm gut. Sehr gut.

„Wer hätte das gedacht. Hamilkar Barkas und ich. Ein Paar. Aber ich warne Euch: Denkt nicht mal daran!“

Jetzt muss auch Hamilkar Barkas laut lachen.

2. Hannibal

Was war schlimmer? Die furchtbar drückende, schwüle, kochende, schwächende und zermürbende Hitze im iberischen Binnenland oder seine bleierne, alles überstrahlende und ständig noch zunehmende Müdigkeit, die jedes klare Denken verhinderte?

Oder die Ungewissheit, die sich ständig wiederholenden Fragen: Was ist passiert? Wie geht es ihm? Wie geht es weiter? Hannibal hatte keine Antwort. Nicht nur wegen der Müdigkeit. Schien bisher alles in seinem Leben wohlgeordnet, festgefügt bis zur Starrheit, aus der er kaum ausbrechen konnte (Oder wollte?), war nun alles infrage gestellt, was ihm bisher so vertraut war und was sein Leben ausmachte:

Einzelgänger, das war er mal gewesen. Jetzt fühlte er sich einer jungen Frau fest verbunden.

Sohn des karthagischen Herrschers, das war er wohl mal gewesen. Was war mit seinem Vater geschehen?

Emotionslos und arrogant, das war er mal gewesen. Jetzt durchlebte er Schmerz, Sehnsucht, Sorge, Verzagtheit und Hoffnung.

Was war aus ihm geworden? Was würde aus ihm werden? Als sie losritten, waren noch Gespräche möglich gewesen, kurze Gespräche. Kurz, wie die Gespräche mit Hiram Malchas immer verliefen.

„Hat Neyla noch mehr gewusst über den Zustand meines Vaters?“

„Nein, man hat ihr nichts Genaues gesagt.“

„Wer hat ihr den Auftrag erteilt, uns zu holen?“

„Hasdrubal.“

„Und er hat ihr nichts weiter mitgeteilt?“

„Nein.“

„Werden wir es schaffen, rechtzeitig zu Hamilkar zu kommen?“

„Das weiß ich nicht, Hannibal.“

Gespräche mit Hiram Malchas waren nie sehr ergiebig. Eines waren ihnen allen drei klar: Wenn Hasdrubal von Leuke Akra zum Schlachtfeld geholt wurde und dann den Befehl erteilt hatte, sie zu suchen und zu ihm zu bringen, dann musste es sich um eine sehr ernste Situation handeln. Wenn Hamilkar Barkas überhaupt noch lebte. Die Schlacht hatte vor zwei Tagen stattgefunden, Neyla hatte einen ganzen Tag für ihren halsbrecherischen Ritt benötigt, den sie nun mindestens auch für den Rückweg brauchen würden, um in vergleichbarer Zeit im Lager von Helike anzukommen. Insoweit war alles denkbar, alles möglich, alles ungewiss. Was konnte in drei Tagen alles passieren? Sich alles verändern?

Auch die Gespräche mit Bomilkar Malchas erwiesen sich zu Anfang ihres Ritts als nicht sehr viel fruchtbarer.

„Glaubst du an die Götter, Bomilkar, an Baal oder Tanith?“

„Ich habe sie noch nie gesehen.“

„Dann hältst du Gebete um göttlichen Beistand für überflüssig?“

„Das will ich damit nicht sagen. Allerdings meine ich, dass der Ritt, der vor uns liegt, so anstrengend wird, dass wir uns völlig darauf konzentrieren sollten.“

Ausgerechnet Bomilkar Malchas hat Respekt vor einem Ritt, teilt sich seine Kräfte ein und weist andere auf kommende Schwierigkeiten hin. Ausgerechnet Bomilkar! Ennergenses hat ihn irgendwie verändert. Oder Ennergenses hat uns alle irgendwie verändert. Ach, Nalbe!