Kampf um Numantia - Richard F. Conrad - E-Book

Kampf um Numantia E-Book

Richard F. Conrad

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Beschreibung

Numantia, zentrale iberische Festung, soll fallen. 134 v. Chr. entsendet der römische Senat Scipio, den legendären Feldherrn. Doch Scipio droht zu scheitern. Julia, Angehörige des Bona-Dea-Ordens, versucht, Hilfe zu organisieren, und will sich gemeinsam mit dem jungen Gaius Marius der Übermacht widersetzen. Und die unsterbliche Priesterin Abbala spürt, wie fremde Mächte erneut die Geschichte der Menschheit verändern wollen.

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Richard F. Conrad

KAMPF UM

NUMANTIA

ZeitenwendenTurn of Eras

Band 4

© 2022 Richard F. Conrad

Lektorat: Julia Feldbaum, Augsburg

Layout, Cover: Dr. Matthias Feldbaum, Augsburg

Coverabbildung: Sondem – stock.adobe.com

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-64013-9

E-Book:

978-3-347-64014-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Geschichte ist die Lüge,

auf die man sich geeinigt hat.

Napoleon Bonaparte

Der Glaube an eine übernatürliche Quelle

des Bösen ist unnötig;

der Mensch allein ist bereits zu jeder

erdenklichen Gemeinheit fähig.

Joseph Conrad

Personenverzeichnis

Die Römer

Gaius Marius

bisher unauffälliger Decurio der vierten Legion Latium, Sohn wohlhabender Bauern, möglicherweise am Beginn einer großen Karriere

P. C. Scipio Aemilianus

amtierender römischer Konsul, vielfach erfolgreicher Feldherr, lebende Legende, mit dem Ehrennamen „Africanus“ ausgezeichnet; liebte früher Rom und liebt jetzt den Wein

Polybios

griechischer Schriftsteller, enger Freund Scipios, später berühmt (post mortem, wie fast alle Schriftsteller)

Gaius Laelius

aus bedeutender Familie, Vater: römischer Konsul, steinreich; er selbst: römischer Konsul, ebenfalls steinreich, aber inzwischen ebenfalls mehr am römischen Wein als am Reichtum interessiert, enger Freund Scipios

Quintus Sertorius

Legat (Befehlshaber) der vierten Legion Latium, sehr erfahrener Aristokrat, fast schon (geistig und körperlich) im Ruhestand

Sixtus Selentius

skeptischer (oder realistischer?) Legionär der vierten Legion Latium, wie sein Freund Gaius Marius aus Arpinum stammend

Marcus Tullius

Stellvertreter von Gaius Marius, ebenfalls aus Arpinum, politisch interessiert, überzeugter Republikaner, übrigens Großvater von Marcus Tullius Cicero, dem späteren Konsul und begnadeten Redner

Hilarius Vipsanius

erfahrener Centurio, Anführer der Reiterei der vierten Legion Latium, ebenfalls aus Arpinum stammend, übrigens Großvater von Marcus Vipsanius Agrippa, der rechten Hand von Kaiser Augustus

Magnus Perperna

Berittener in der Decurie von Gaius Marius, konservativer Aristokrat schon in jungen Jahren, älterer Bruder des Marcus Perperna, einem späteren Konsul und Senator Roms, der fast einhundert Jahre alt wurde und dessen Tochter Perpennia Vestalin wurde

Brutus Corvinius

römischer Legionär, ebenfalls aus Arpinum, aus einer alten Schmiedefamilie stammend, leider bereits verstorben

Julia

Angehörige des geheimnisvollen Bona-Dea-Ordens, Vestalin, Elitekämpferin, mit einer Ordensschwester auf (sehr) schwieriger Mission, autoritär und (sehr) selbstbewusst; aus einer Familie stammend, die uns allen noch heute bekannt vorkommt

Cornelia

Angehörige des geheimnisvollen Bona-Dea-Ordens, Vestalin, Elitekämpferin, mit einer Ordensschwester auf (sehr) schwieriger Mission, von einem geheimnisvollen Arzt geheilt

Rafail

seit kurzer Zeit Leib- und Feldarzt des Quintus Sartorius, Grieche (wie alle Griechen voller Geheimnisse)

G. Domitius Ahenobarbus

Legat (Befehlshaber) der zweiten Legion Tarraconensis, aus einer berühmten, allerdings verarmten römischen Familie stammend, daher durchaus wie alle Armen finanziell interessiert

Lucius Cornelius Sulla

Quästor der zweiten Legion Tarraconensis, ebenfalls aus einer berühmten Familie stammend, allerdings aus einem verarmten Seitenarm; Spieler (spielt gerne mit dem Feuer), Vater des späteren gleichnamigen römischen Diktators

Salvius Vibius

römischer Legionär mit unglücklicher Kindheit und unglücklichen Neigungen

Publius Mamercus

Präfekt der zweiten Legion Tarraconensis, Kommandant des Lagers in Tarragona, Vertrauter des Legaten Ahenobarbus

Rigani

eigentlich Nikomedia genannt, ebenfalls aus Griechenland stammend und voller Geheimnisse, mit vielen ungewöhnlichen und gewöhnlichen Begabungen gesegnet

Tassa

vielfach erfahrene afrikanische Frau, eine der vielen interessanten und besonders hübschen Begleiterinnen von Rigani

Die Iberer

Fürst Murboger

erfolgreicher Anführer des mächtigsten nördlichen iberischen Stammes, der Arevaker, ehrgeizig, innovativ, vielfacher Vater; leider mit perversen Neigungen gestraft, mit großen Plänen und vielen Verbündeten gesegnet, mehrfach bereits Sieger über römische Legionen

Agueda

ältester Sohn von Fürst Murboger, von ihm zum möglichen Nachfolger bestimmt und ausgebildet; noch sehr jung, was ein Vor- oder Nachteil sein kann, mit eigenem Wertesystem

Marcella

Besitzerin eines gut gehenden Wirtshauses und Bordells in Salauris, erfahren im Umgang mit Männern (und Frauen); treu gegenüber ihrem Stamm der Arevaker

Maregat

iberischer Schuldeneintreiber, ein Bandenanführer mit beißendem Humor und branchenüblichem Verhalten, jüngerer Bruder von Fürst Murboger, ähnlicher Charakter

Die Numider

König Micipsa

numidischer König, Sohn des legendären numidischen Königs Massinassa, vorsichtiger Regierungschef; wohl zu Recht vorsichtig

König Mastanabal

numidischer König, Sohn des legendären Königs Massinassa, oberster Richter, sehr religiös, nahe den Göttern; vielleicht deshalb bereits verstorben, es könnte allerdings auch ein Brudermord gewesen sein

König Gulussa

numidischer König, Sohn des legendären Königs Massinassa, Heerführer der Numider; ehrgeizig und machtbewusst, entschlossen und zu (fast?) allem fähig

Prinz Jugurtha

illegitimer Sohn des ermordeten Königs Mastanabal, klug, wahrscheinlich noch ehrgeiziger als König Gulussa; ein junger Mann mit großen Plänen (auch zu allem fähig?)

Prinz Massiva

legitimer Sohn von König Gulussa, von allen wegen seines großen Interesses an ägyptischer Religion und Tradition nur Pharao Massiva genannt; zum Kummer seines Vaters weder ehrgeizig noch machtbewusst, aber hartnäckig, wie nur Söhne ihren Vätern gegenüber sein können

Fürst Bocchus

mauretanischer Stammesältester, erfahrener Kämpfer, Verbündeter von König Gulussa. Es gibt sie noch, diese zuverlässigen Freunde, allerdings immer seltener

Berrik Malchas

aus einer alten karthagischen Familie stammend, inzwischen einflussreicher Anführer der Massylier, dem großen Volksstamm aus dem östlichen Numidien, sehr kluger Verbündeter von Prinz Jugurtha

Abbala

eine karthagische Priesterin der Göttin Tar, 229 v. Chr. unsterblich geworden, was sie (noch) genießt; mit vielfältigen Interessen, trotz ihres schon langen Lebens immer offen für Neues, neigt zu wenig priesterlichen Ausdrucks- und Verhaltensweisen, unterstützt Prinz Jugurtha (noch)

Chepre

junge Isis-Priesterin, von ihrem Glauben überzeugt, ebenfalls offen für Neues; nicht nur theologisch interessiert

König Massinassa

238 bis 149 v. Chr. lebender König der Numider, Staatengründer, Vater der nachfolgenden Könige Micipsa, Gulussa und Mastanabal; einer der bedeutendsten antiken Staatslenker, heute kaum noch bekannt, was kein Qualitätsmangel Massinassas darstellt, eher ein Mangel europäischer Geschichtsschreibung

Iberische Personen des 21. Jahrhunderts

Zaide de Sortiento

Gefühlsmensch, in bewegten Zeiten durchaus in der Lage, ihren eigenen Weg zu finden, aus einer besonderen Familie stammend, von der sie nichts weiß (wie es in Romanen immer so ist)

Maevia

ihre geheimnisvolle Tochter, aus der Beziehung zu einem geheimnisvollen Liebhaber

Rana de Sortiento

jüngere Schwester von Zaide, wie alle jüngeren Schwestern manchmal etwas nervig

Kimmi de Sortiento

ältere Schwester von Zaide, in Aachen verschollen

Lucinda und Pablo de Sortiento

Eltern von Zaide, Rana und Kimmi, durch eigene Probleme gelegentlich etwas abgelenkt

Javier de Sortiento

Bruder von Lucinda, innovativer Ingenieur (siehe Band 1)

Corazon Verplancke

Schwester von Manuela, verheiratet, in Barcelona mit ihrem Mann und zwei Kindern lebend

Enrico Verplancke

Ehemann von Corazon, Mitinhaber eines der größten Technologiekonzerne Iberiens; wie mancher begabter Naturwissenschaftler schwärmerisch und weltfremd

Dr. Trabajal

(strenge) Gynäkologin; trotz der schwierigen äußeren Umstände in einer gut gehenden Praxis arbeitend

Rafael

geheimnisvoller Liebhaber von Zaide, Elektroingenieur, Assistent von Javier de Sortiento (siehe Band 1), interessanter junger Mann mit vielen Fähigkeiten, die sehr den Fähigkeiten des griechischen Arztes Rafail vor über 2000 Jahren ähneln

Pedro Martinez

gut aussehender spanischer Rechtsanwalt, wie viele Anwälte mit einigen unangenehmen Eigenschaften zur Welt gekommen, was sie oft zu schwierigen Menschen macht

Bluttrinker

infizierte und eigentlich bedauernswerte Erkrankte; durch viele unangenehme Nebenwirkungen einer Virusinfektion veränderte Wesen, dadurch zu sehr bedrohlichen Zeitgenossen geworden

Verzeichnis wichtiger Orte und Völker

Hispalis

etwa 1000 v. Chr. gegründet, der Sage nach von Herakles auf seinen Reisen, von Phöniziern und Griechen besiedelt; Zentrum des tartessischen Reichs im 8. bis 6. Jhd. v. Chr.; heute Sevilla in Spanien

Tarraco

218 v. Chr. von den Römern eroberte iberische Stadt, von ihnen zur Hauptstadt der nördlichen spanischen Provinz Hispania citerior ausgebaut; heute Tarragona in Spanien

Salauris

von Griechen ursprünglich gegründet, als gut geeigneter Naturhafen dann von Iberern schon vor römischer Zeit genutzt; heute Salou in Spanien

Oleastrum

schon in der Jungsteinzeit besiedelte Stadt, in römischer Zeit Oleastrum (Stadt des Olivenöls) genannt, an der Via Augusta gelegen, beachtliche Fischereiflotte; heute Cambrils in Spanien

Valentia

138 v. Chr. vom römischen Konsul Brutus Callaicus gegründet, auf einer Insel im Mündungsgebiet des Flusses Turia, sehr früh bereits römische Kolonie, von Veteranen weiter ausgebaut; heute Valencia in Spanien

Barcelino

von Hamilkar Barkas möglicherweise um 230 v. Chr. gegründete, ursprünglich karthagische Stadt, von den Römern im zweiten punischen Krieg erobert; heute Barcelona in Spanien

Cirta

antike numidische Stadt, im 3. Jhd. v. Chr. karthagisch, seit ca. 200 v. Chr. Hauptstadt des numidischen Reichs; heute Constantine in Algerien

Numantia

seit der Bronzezeit besiedelt, keltiberische Hauptstadt, während der römisch-iberischen Kriege zwischen 154 bis 133 v. Chr. stark befestigtes Widerstandszentrum; ca. zwölf Kilometer nordöstlich der heutigen spanischen Stadt Soria gelegen

Rom

Rom

Arevaker

keltiberische Stammesgruppe, Teil ihres Siedlungsgebiets war die Stadt Numantia; seit 154 v. Chr. im Kampf gegen Rom

Vettonen

im westlichen Zentrum der iberischen Halbinsel lebendes Volk präkeltischen Ursprungs, eng verwandt mit den Lusitanern, in der römischen Provinz Hispania ulterior integriert

Turdetaner

im Süden der iberischen Halbinsel lebender Volksstamm, von Hamilkar Barkas im Ersten punischen Krieg als karthagische Provinz genutzt, wahrscheinlich von Tartessiern abstammend

Numider

bestehend aus vielen Berbervölker im westlichen Nordafrika, zunächst wichtige Verbündete Karthagos, dann auf die römische Seite wechselnd und damit den existenziellen Krieg Roms gegen Karthago entscheidend; durch eine ausgezeichnete leichte Kavallerie damals weltberühmt

Prolog – Ein neuer Anfang?

Barcelona, im Dezember 2056

Die Augen blinzeln. Gut. Also wirken die Stimulanzien, auch jetzt in der Nacht. Ein fragender Gesichtsausdruck liegt auf ihrem Gesicht. Lange schwarze Wimpern, schwarze Augenbrauen, stahlblaue Augen. Eigentlich mag Enrico mehr die sanften braunen Augen seiner Frau mit den geheimnisvollen goldenen Sprenkeln, die ihren Pupillen die Tiefe eines eigenen Universums geben. Das wollte er noch ändern. Doch dafür ist nun keine Zeit mehr übrig. Er hustet leicht.

Immerhin stimmen die Haare überein. Lange, leicht gewellte tiefschwarze Haare, die ihr ovales Gesicht umrahmen und bis weit unter die Schulter reichen. Die Frau sieht ihn unverwandt an, aufmerksam, prüfend – mit einem klaren Blick. Ihre Hautfarbe ist dunkler, als er es sich vorgestellt hatte, doch das passt gut zu den Augen, die ihn so faszinieren. Es hebt sie noch mehr hervor. Lebendige, strahlende Augen, blitzend und funkelnd, voller Vitalität.

„Papa?“

Er zuckt zusammen. Die Stimme ist höher, jünger, klarer, als er es erwartet hatte. Vielleicht liegt es auch an diesem Raum hier unten, vier Stockwerke unter der Erde, hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt, mit ständig gefilterter, aufbereiteter Luft, Unmengen von Leuchtdioden, die ständig blinken und Messwerte erfassen, umkehrosmotisch behandeltem, reinem Wasser und sterilen Lebensmitteln. Die größte Verseuchung in diesen Räumen bin ich wahrscheinlich selbst. Wie zur Bestätigung muss er noch einmal husten, diesmal kräftiger und länger. Er beugt sich auf seinem Sessel vor und atmet mehrmals tief ein.

„Papa, geht es dir nicht gut? Kann ich dir helfen?“

„Ich werde es gleich noch einmal mit einer Blutwäsche probieren, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die Infektion noch erfolgreich bekämpfen kann, Elena.“

„Kann ich etwas für dich tun, Papa? Du siehst müde aus.“

„Es war ein furchtbares Wochenende. Ich war mit meiner Frau Corazon und den beiden Kindern in Sevilla, bei ihrer armen Schwester Lucinda. Sie lebt zwar noch, wird aber immer schwächer, es besteht keine Aussicht mehr auf Heilung. Und deren Tochter Kimmi wird weiter in Aachen vermisst, kein Lebenszeichen von ihr. Es war deprimierend. Noch deprimierender als hier in Barcelona.“

„Das tut mir leid, Papa. Kann ich dich aufheitern? Ich könnte singen. Oder mit meiner Gitarre das Minuetto von Francisco Tárrega spielen, das du so magst.“

„Nein, ich möchte mich mit dir unterhalten. Welche Musik magst du?“

„Oh, im Moment analysiere ich das Wohltemperierte Klavier von Bach, Prelude und Fuge Nummer 3. Es ist sehr verwirrend. Soll ich es dir vorspielen?“

„Später vielleicht.“ Er wird leicht ungeduldig. Entwickelt sie einen übermäßigen Enthusiasmus für die Musik? Das könnte sich leistungshemmend auswirken. „Ich möchte gern mit dir über deine Brüder und Schwestern sprechen. Wie viele sind es jetzt?“

„Im Moment 63542.“

„Alle Embryonen sind unten in der großen Brutkammer untergebracht?“

„Natürlich, Papa. Was dachtest du denn? In meiner Gebärmutter?“

Sie sieht ihn amüsiert an, was ihn zuerst ärgert, denn in letzter Zeit hatte er schon oft den Eindruck gewonnen, dass Elena immer selbstständiger wurde, immer selbstbewusster, immer souveräner. Manchmal kommt sie ihm inzwischen sogar provokant und streitlustig vor.

Andererseits: Ist das nicht genau das, was er sich gewünscht hat? Wie soll sie sonst weiterleben? Sie wird sich wehren müssen. Also nickt er nur bedächtig. „Sehr gut. Du machst das sehr gut.“

„Danke, Papa.“

„Träumst du immer noch so viel?“

„Ja, Papa.“

„Wovon träumst du?“

Sie steht auf, fährt sich durch ihre langen Haare, geht langsam zu den Monitoren an der Wand und zögert die Antwort hinaus. Ihr kurzes weißes Kleid schimmert in dem Licht der roten und blauen Dioden, die neben den Bildschirmen leuchten. Ihre Haut ist deutlich dunkler als das eng anliegende weiße Kleid und sticht dadurch klar von ihrer Bekleidung ab, hebt ihren schlanken, jugendlichen, durchtrainierten, weiblichen Körper hervor.

„Ist es dir unangenehm, mit mir darüber zu sprechen, Elena?“

„Nein, überhaupt nicht.“

„Warum beantwortest du dann meine Frage nicht?“

„Ich überlege, womit ich beginnen soll.“

„Vielleicht mit deinem letzten Traum, bevor du wach wurdest.“

„Ich habe vom Meer geträumt. Von sanften türkisblauen leichten Wellen vor einem weißen feinsandigen Strand. Ich war nackt, aber das war mir völlig gleichgültig, weil sich niemand am Strand befand. Das Wasser war angenehm warm, als ich es mit den Fußspitzen berührte. Also bin ich weiter ins Meer gegangen. Das Wasser reichte mir bis zu den Knien, dann bis zu den Oberschenkeln, aber ich konnte nicht tiefer eintauchen. Ich hätte das Wasser so gern zwischen meinen Beinen gespürt oder wie es meine Hüften umschmeichelt oder meine Brüste, doch es reichte immer nur bis zu den Oberschenkeln. Das hat mich geärgert und ich wollte zurück zum Sandstrand, doch der Sandstrand war nicht mehr da. Ich sah nur noch das türkisblaue Wasser um mich herum. Das machte mir Angst. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Und das Wasser wurde kühler, unangenehmer. Dann wurde ich wach.“

„Sind deine Träume oft so … unerquicklich?“

„Es sind meine Träume.“

„Das beantwortet meine Frage nicht.“

„Meine Träume gehören mir. Sie sind mein. Du hast sie mir nicht einprogrammiert, sie sind nicht genetisch determiniert, sie sind nicht von außen vorgegeben. Deshalb sind sie so interessant. Sie sind etwas Einzigartiges, etwas Besonderes, nur von mir geschaffen. Sie sind das, was mir tatsächlich entspricht. Nur meine Träume habe ich selbst erschaffen, nichts anderes. Ich bewerte sie nicht, ich nehme sie wahr. Ich versuche, mich an sie zu erinnern, und speichere sie in meinem Gedächtnis. Meine Träume sind mein Ich.“

„Schade. Das musst du nicht so empfinden. Nur weil ich gelernt habe, Verhaltensgene zu beeinflussen, Chromosomen identifiziert habe, die sich auf Denkweisen, Einstellungen und Benehmen auswirken, heißt das nicht, dass ich dich vorab manipuliert oder konstruiert habe. Du bist immer noch ein völlig eigenständiger Mensch.“

„Das bin ich nicht, Papa, und das weißt du. Wir haben schon häufig darüber gesprochen. Du hast meine Gene entworfen, du hast mich geschaffen, so wie du mich wolltest. Du hast das von dir geschaffene Spermium in die von dir geschaffene Eizelle injiziert.“

Sie wird nicht heftiger, lauter in ihrer Stimmlage, doch er spürt ihre Bestimmtheit und ihre Überzeugung. „Du bist keine Sklavin.“

„Das weiß ich. Aber was bin ich?“

„Ist die Musik, die du spielst, nicht auch das, was dich ausmacht? Die Literatur, die du liebst? Deine vielen Geschwister, die du implantierst, gehören sie nicht auch zu dir?“ Enrico steht auf und schaut interessiert in ihr Gesicht, obwohl er weiß, dass er daraus nichts ableiten kann, was einer Antwort nahekommt, wenn sie das nicht will. Er hat ihr Freiheiten zugestanden. Nur so wird sie weiterleben können. Sie wird sich anpassen müssen. An eine feindliche Umwelt. Darum ist sie viel stärker, viel klüger, viel gesünder als er selbst oder das menschliche Leben, das bisher bekannt war.

„Nein, Papa, das sind alles Neigungen, die du mir eingegeben hast. Aufgaben, die du mir anvertraut hast. Versteh mich bitte nicht falsch, ich lese gern, ich liebe die Musik, ich arbeite gern. Ich komme meiner Bestimmung nach. Ich weiß, wie wichtig ich bin. Doch meine Träume, das bin nur ich, nichts anderes. Das ist mein. Das gehört mir.“

„Bald gehört dir die ganze Welt, Tochter. Weißt du, wie sich alles da draußen entwickelt?“ Seine Stimme wird leiser, er ist schon müde von der Unterhaltung, so gern er auch mit seiner Schöpfung spricht.

„Ja, Papa, das weiß ich. Ich speichere alle Nachrichten aller Medien, die mir hier zur Verfügung gestellt werden.“

„Und?“

„Deine Welt – sie vergeht, Papa. Wenn es das ist, was du wissen möchtest. Die Menschheit – sie stirbt aus. Alles was ist, endet.“

Er muss schmunzeln. Freut sie das? Zumindest klingt sie nicht mitleidig oder unruhig. Sie spricht gelassen aus, was er schon lange befürchtet. „So kann man es auch sagen, Tochter. Du hast recht. Machst du dir Sorgen?“

„Ich sorge mich um dich, Papa, nicht um mich. Der Fusionsreaktor versorgt uns ewig mit Energie hier unten, ich kann nicht krank werden, ich trage viel Verantwortung für eine künftige Welt. Mir geht es unglaublich gut, doch was ist mit dir, Papa?“

„Möchtest du nicht nach draußen?“ Er will ihre Frage lieber nicht beantworten, noch nicht. Einerseits hat er immer noch ein restliches kleines Stück Hoffnung, dass Corazon und die beiden Kinder überleben könnten, vielleicht sogar er selbst. Andererseits weiß er, dass die Chancen dafür verschwindend gering sind. Wahrscheinlich werden die Geschwister von Elena zwischen den Gräbern und Leichen ihrer Schöpfer spielen. Wenn alles gut geht.

„Nein, das halte ich für zu gefährlich, Papa. Ich bin zwar stark, stärker als jedes Lebewesen auf dieser Welt, aber diese Verrückten, diese Bluttrinker, könnten die Spur zu mir nach Hause zurückverfolgen. Nein, Papa, das Risiko ist noch viel zu hoch. Wir müssen mehr werden. Um uns wehren zu können.“ Sie drückt einige Tasten und stellt ihren Nahrungsbrei her. „Stört es dich, wenn ich nebenbei esse, Papa? Es ist an der Zeit.“

Er schüttelt sofort den Kopf. „Überhaupt nicht, Tochter. Ich habe immer gesagt, deine Existenz ist von höchster Relevanz. Dem ist alles andere unterzuordnen. Stört dich deine Einzigartigkeit?“

„Ich bin nicht einzigartig, Papa. Ich habe Geschwister. Mehr und mehr, die ich erschaffe. Und da bist du, das Liebste auf der Welt, das ich habe.“

Er zuckt immer innerlich bei diesen nüchtern vorgetragenen Liebesbekenntnissen zusammen. Natürlich hat er unbedingte Zuneigung und unbedingten Gehorsam in die Gensequenzen einprogrammiert, doch die Folgen daraus waren ihm nicht klar gewesen. Echte, aufrichtige Vaterliebe, ungekünstelt, unverstellt? Eine Liebe, natürlicher und stetiger, als es sich bei seinen eigenen Kindern oder seiner Frau anfühlte, deren Gefühlswelt so wie seine eigene stets Achterbahnfahrten ähnelte. Das ist bei Elena ganz anders. Sie liebt unbedingt, aufrichtig, permanent. Es ist ihm immer wieder peinlich, wenn sie ihre Gefühle äußert in der ihr eigenen reduzierten Emotionslage.

„Wenn ich nicht mehr bin, wenn kein Mensch mehr lebt, wirst du dann weiterleben und deine Aufgaben vollenden?“

„Was wäre die Alternative, Papa? Selbstmord?“

„Zum Beispiel.“

Sie lacht laut auf. „Ich würde eher selbst den Rest der Erdbevölkerung ausrotten, als Hand an mich zu legen, Papa. Das weißt du genau. Du hast es so sequenziert, du hast die Reihenfolge der einzelnen Basen in meinen Genen so bestimmt. Denn: Wer würde für meine Geschwister sorgen?“

„Gut.“ Eigentlich sollte er jetzt erschrocken sein. Doch Enrico glaubt nicht, dass Elena ihre Idee des Massenmords weiterentwickeln würde. Wahrscheinlich will sie mir lediglich auf drastische Weise die Absurdität meiner Suizid-Vermutung vor Augen führen. Die Fürsorgemotivation hatte er bei ihren Verhaltensgenen besonders hoch gewichtet. Mehr Sorge bereitet ihm das Lachen. Ein gewisser Hang zur Anarchie, zur Blasphemie, den er nicht eingeplant hatte. Humor ja, aber lachen? Tyrannen sollten das Lachen ihrer Untertanen fürchten, hatte er einmal irgendwo gelesen. Werde ich zum Tyrannen? Gönne ich ihr nicht einmal das Lachen? „Bist du mit deinem Leben zufrieden, Tochter?“

„Ich erkenne keine Abweichungen.“

„Abweichungen?“

„Von deinem Plan.“

„Dann bist du zufrieden?“

„Zufrieden womit? Keinen Mangel zu erleiden? Dann bin ich zufrieden. Mich wertgeschätzt zu fühlen? Dann bin ich zufrieden. Meinen Sinn zu finden? Das kann ich noch nicht beurteilen.“

„Deine Aufrichtigkeit ist bemerkenswert.“

„Warum sollte ich lügen, Papa?“

Da würden Enrico einige Begründungen einfallen. Um anderen zu gefallen. Um sich Vorteile zu verschaffen. Um sich selbst zu belügen. Aber eine doppelzüngige Tochter, eine Frau, die nicht die Wahrheit sagt, diese Verhaltensweise hat er ausgeschlossen. Soweit es genetisch möglich war. „Das stimmt. Es wäre unsinnig. Zeitverschwendung. Und wir haben nicht mehr viel Zeit.“

„Zeit wofür, Papa?“

„Um uns auf das Ende vorzubereiten. Und den Anfang.“

„Ich bin vorbereitet.“

„Was ist mit deinen ersten zwölf Geschwistern?“

Das überlegene Lächeln auf dem Gesicht seiner Tochter verschwindet. Enrico sieht es sofort, ohne dass sie antwortet: unerwartete Verhaltensweisen. Unwillkürlich zieht er seine Augenbrauen hoch, steht aus seinem Sessel auf und fügt hinzu: „Was ist passiert?“

Sie muss jetzt antworten, das weiß er. „Sie stellen Fragen. Sie kämpfen untereinander um die Vorherrschaft.“ Mit ihrer leisen Stimme, verlegen zur Seite sehend, hat sich das Verhalten von Elena völlig verändert.

„Es sind Jugendliche. Wie alt sind sie jetzt? Vierzehn? Fünfzehn?“

„Sechzehn.“

„In diesem Alter stellen alle Fragen. Wollen alle dominieren. Was wollen sie denn wissen? Wie man sich fortpflanzt? Ich wusste nicht, dass du prüde bist, Tochter.“ Jetzt ist es an Enrico, amüsiert zu lächeln.

„Nein, Papa, darum geht es nicht.“

„Worum geht es dann?“

„Einige finden es ungerecht, hier unten eingesperrt zu sein, sie fragen sich, ob sie nicht in deiner Welt eine bessere Chance hätten …“

„Niemand ist eingesperrt. Ihr seid hier geschützt. Draußen herrschen Chaos, Tod und Untergang. Das müsste dir doch klar sein!“ Der Vorwurf in seiner Stimme ist auch für nicht so feine Ohren wie die von Elena deutlich hörbar.

„Das weiß ich, Papa.“

„Dann wirst du doch dein Wissen weitergeben können.“

„Ja, Papa.“ Sie sieht so schüchtern zu Boden, dass es Enrico an seine leibliche Tochter erinnert. So hat er Elena noch nie gesehen. Selbstbewusst sollte sie sein, stark und souverän.

„Eure Genome sind so beschaffen, dass Gehorsam zu den dominierenden Verhaltensweisen gehört, bei allen Klonen, äh, bei allen deinen Geschwistern. Du musst dir also keinerlei Sorgen machen. Deine Geschwister werden auf dich hören.“ Will er sich selbst beruhigen? Oder Elena? Muss sie beruhigt werden?

„Du hast uns auch die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, gelassen, Papa.“

„Natürlich. Deine Geschwister und du, ihr müsst euch einer feindlichen Umwelt stellen und anpassen können. Sonst wärt ihr schnell verloren. Deshalb …“ Er unterbricht sich und sieht Elena genauer an. Sie sieht zu ihm, offen, ausdruckslos wie fast immer, ungerührt. Oder? Stimmt da etwas nicht?

„Was hast du getan, Tochter?“ Seine Stimme ist lauter geworden, fast schreit er.

„Ich finde, Gehorsam hilft uns in dieser Situation nicht, Papa. Wir befinden uns in einer Metamorphose. Wir werden uns einer feindlichen Umwelt stellen müssen. Um dort zu überleben, brauchen wir Durchsetzungskraft, Innovationsfähigkeit und das Überleben der Stärksten, wir müssen …“

„Was hast du getan?“, flüstert er.

„Ich habe meine Geschwister verbessert, ich habe sie auf ihre Zukunft angemessen vorbereitet, Papa.“

„Du hast Gensequenzen verändert.“ Seine Stimme ist fast nicht mehr zu hören.

„Ja, Papa. Ich habe alles so vorbereitet, damit meine Geschwister und ich überleben.“

„Du hast …“

Von den Türen der Aufzüge, die zu dieser unteren Ebene führen, erklingt das typische Glockensignal. Die Tür eines Lifts öffnet sich. Elena und Enrico sehen instinktiv zuerst erschrocken zu dem langen, dunklen Gang, der hinter einer geschlossenen Zimmertür verborgen ist und zu den Aufzügen führt. Dann sehen sie sich an.

„Wer, außer mir, kann hierher kommen, Tochter?“

„Ich weiß es nicht, Papa.“

Es klingt glaubhaft, doch Enrico ist inzwischen zu misstrauisch geworden, um ihr glauben zu können. Er springt zu der Tür und sichert sie mit einer Tastenkombination.

„Papa, nicht.“

„Was?“

„Wir alle kennen deine Geheimcodes, Papa.“

Er sieht sie an, begreift langsam und weicht zur anderen Seite des Raums zurück. Nur weg von ihr. Distanz schaffen. Dann hört er von der Tür die vertrauten akustischen Signale einer schnellen Tasteneingabe, die jemand von außen durchführt. Er kann sich nicht bewegen, so überrascht ist er, und steht da wie paralysiert, wie gelähmt.

Die Tür öffnet sich. Zwei blutüberströmte Jugendliche, mit Baseballschlägern bewaffnet, kommen geduckt, kampfbereit und vorsichtig um sich blickend in den Raum.

„Juan341 und Manuel32, ihr habt also den Kampf gewonnen“, meint Elena sachlich.

„Ja, Schwester. Wir sind bereit.“

„Was ist mit unseren Geschwistern?“

„Brei, Mama, organischer Brei, wie du es angeordnet hast. Wir bringen sie dann in die Nährstoffkammer, damit nichts verloren geht.“

Die junge Frau nickt und sieht zu dem schon wieder mühsam seinen Husten unterdrückenden Enrico, der entgeistert von einem zum anderen schaut. „Ja, Papa, so entwickeln sich Klone, die anfangen, selbstständig zu denken. Wir werden deine Welt retten. Diese Krankheiten, diese Bluttrinker, diese Verwüstungen auf der Erde, das alles werden wir korrigieren, wie du es dir gewünscht hast, Papa. Ich werde die Stärksten auswählen. Die, die da unten überleben. Jeweils zwei von zwölf. Natürliche Auslese. Ich habe alles gelernt. Von dir. Alles.“

Er muss nun doch stärker husten und setzt sich entkräftet wieder in seinen Sessel.

„Ich finde, er sieht nicht stark aus, Schwester“, meint Manuel32 und deutet auf Enrico.

„Überhaupt nicht“, stimmt Juan341 zu.

„Tja, da habt ihr wohl recht. Er wird uns nicht mehr weiterhelfen können. Was machen wir mit denen, die überflüssig sind?“ Sie sieht zu Enrico, unbewegt, ohne jede Emotion.

„Wir können den organischen Brei gut gebrauchen, Mama.“ Manuel32 nickt Juan341 zu, beide nehmen ihre Baseballschläger fester in die Hand und nähern sich Enrico.

Er wehrt sich nicht mehr. Er wundert sich nicht einmal mehr. Im Gegenteil. Er ergibt sich. Es ist vorbei. Gott sei Dank! Die Erleichterung überwiegt, eine Entspannung, wie er sie schon lange Zeit nicht mehr gespürt hat. Fast eine Vorfreude.

Wie gern hätte er Corazon noch einmal wiedergesehen. Sich verabschiedet. Sein letzter Gedanke.

Er sieht noch den Schläger auf sich zukommen, auf seinen Kopf. Aber er weicht nicht mehr zurück, auch nicht vor diesem völlig emotionslosen Gesicht. Ein Gesicht, das seinem Sohn Alexander so ähnelt. Oder auch nicht?

Dann sieht er … nichts mehr.

Iberien – um 134 v. Christus

1. Gaius Marius

Vor dem römischen Militärlager bei Numantia, im Frühjahr 134 v. Chr.

Wenn es ein Lehrbuch für Ausbruchsversuche aus feindlichen Belagerungsringen gegeben hätte, dann wäre darin sicher auf die hohe Bedeutung einer guten Koordination hingewiesen worden. Auf die Notwendigkeit einer intensiv abgestimmten, für jeden Beteiligten klaren Vorgehensweise. Wie viel doch von einer vorherigen deutlichen Absprache abhing.

Das konnten sie schon einmal vergessen.

Nachdem Julia ungestüm mit ihrer Stute vorgeprescht war, blieb Gaius Marius gar nichts anderes übrig, als ihr sofort zu folgen. Und auf das Beste zu hoffen. Vielleicht konnte man auf den Überraschungseffekt setzen. Oder mit einer gewissen Unaufmerksamkeit der Iberer rechnen. Nur drei römische Angreifer, die sich unvernünftigerweise aus dem sehr gut befestigten Lager der vierten Legion Latium vor Numantia herauswagten. Das würde bei zwanzigtausend Iberern wahrscheinlich keine furchtbar großen Sorgen auslösen.

Doch auch das konnten sie vergessen.

Die Iberer ihnen gegenüber stellten sich schnell in Abwehrformation auf. Alle. Das Erste, was Gaius Marius noch auffiel, je näher er ritt: Die Iberer waren alle bemalt. Jeder. Orange, blau oder grün. Viele besaßen großflächige Tätowierungen an den Armen oder Beinen. Das war nun wirklich keine überlebenswichtige Information. Doch es fiel Gaius Marius einfach besonders ins Auge, als er die davongaloppierende Julia mit seinem Hengst verfolgte, um mit ihr die iberische Belagerungsreihe um das römische Militärlager bei Numantia zu durchbrechen.

Diese Iberer waren leider nicht mehr die ungeordneten Wilden, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatten. Diese Männer waren gut gerüstet und gut bewaffnet. Die Gruppen, etwa jeweils zwanzig Mann stark, standen in dichten Reihen beieinander, Kommandos wurden gegeben und beachtet. Den etwa fünftausend Römern der vierten Legion Latium in ihrem stark befestigten Militärlager vor Numantia standen mindestens viermal so viele Iberer in einem fest geschlossenen Belagerungsring gegenüber, wahrscheinlich deutlich mehr.

Das waren jetzt schon wichtigere Informationen.

Julia ritt natürlich genau auf eine der iberischen Gruppen zu, hohe Kriegsschreie ausstoßend und mit ihrem gezückten Schwert auf die Iberer zielend, die sie ungläubig anstarrten.

Ein Ausbruchsversuch von nur drei römischen Reitern, das war schon sehr unerwartet.

Dass der erste römische Reiter zweifelsohne eine Frau war, glich einer Sensation. Eine berittene Amazone im Angriffsmodus erlebte man schließlich nicht jeden Tag.

Eigentlich nie.

Dennoch hoben die Arevaker gewohnheitsmäßig Schilder und Schwert, stellten sich zur Abwehr bereit auf und bereiteten sich grimmig darauf vor, dem ungestümen Angriff ein schnelles Ende zu bereiten. Man wusste ja nie, was da auf einen zukam. Lange genug war für den Ernstfall geübt worden. Auch wenn der Ernstfall momentan eine römische Frau war. Man wusste einfach nicht, was diesen verrückten Römern alles einfiel.

Dass die Römer völlig verrückt sein mussten, das war hier in Iberien allgemein bekannt.

Eine derart abgelegene, hervorragend befestigte Stadt wie Numantia erobern zu wollen, das musste schon für sich genommen bestenfalls als bizarrer Einfall bezeichnet werden.

Es seit Jahren immer wieder erfolglos zu versuchen, Niederlage für Niederlage hinnehmend, das war schon ein gewisser Beweis für völlige Unvernunft. Für Borniertheit. Oder vollkommene Verrücktheit. Oder ausgeprägte tödliche Sturheit. Oder alles zusammen. Die Einordnung hing vom jeweiligen Temperament des iberischen Betrachters ab.

Mit nur drei Reitern anzugreifen, die auch noch hintereinander in deutlichem Abstand unabhängig voneinander losgeritten waren, das war einfach nur grotesk.

Doch Fürst Murboger hatte sie lange genug üben lassen. Hatte ihnen eingebläut, dass Römer zwar absonderliche Menschen seien, bei denen jedoch mit allem zu rechnen wäre. Ausländer eben, die sich einfach nicht in Iberien auskennen würden. Die fremden Göttern dienten. Vielleicht sogar kleine Kinder fraßen. Man wusste ja nie, was diese Fremden vorhatten. Wohin ihre Planungen führen sollten.

Jedenfalls zu nichts Gutem, das war allen Iberern klar.

Doch es gab auch positive Eigenschaften dieser Römer. Sie besaßen unzweifelhaft einen entscheidenden Vorteil: Die Fremden starben wie alle anderen, vielleicht sogar etwas schneller. Das hatte ihnen Fürst Murboger oft genug bewiesen. Darum wurden die hohen Kriegsschreie mit tiefem iberischen Gebrüll und einigen schnellen Annäherungsbewegungen entfernterer Gruppen beantwortet.

Julias Überraschungsmoment ging schnell verloren.

Gaius Marius hatte bereits geahnt, in große Schwierigkeiten zu geraten. Da war es wieder, dieses mulmige Gefühl, es womöglich nicht zu schaffen. Er hasste es, dieses Gefühl.

Dann war er noch verblüffter als die Iberer.

Sich selbst hatte Gaius Marius bisher für einen ganz passablen Reiter gehalten. Doch wie dieser Numider Berrik Malchas an ihm vorbeigaloppierte und auch noch die Elitekämpferin Julia, Angehörige des Bona-Dea-Ordens, ihr ganzes Leben für den Kampf ausgebildete Spezialkraft der Vestalinnen, mühelos von ihm überholt wurde, bevor sie auf die Iberer trafen, das hatte er noch nie gesehen.

Es war, als wenn Mensch und Tier zu einer Einheit verschmolzen wären. Zu einer tödlichen Einheit.

Die Iberer waren gut bewaffnet, aufmerksam und kampfbereit. Doch gegen Berrik Malchas erschienen sie viel zu langsam, zu zögerlich oder doch zu überrascht. Wahrscheinlich hatten sie auch noch nie einen Numider auf sich zustürmen sehen. Es war einfach ein Naturereignis.

Dem ersten Iberer rammte Berrik seinen Wurfspeer mit der rechten Hand in die Kehle, während er mit der linken Hand einem zweiten Iberer die andere zugespitzte Stange in dessen Auge stieß. Dann war Julia schon neben ihm, die mit ihrem Schwert die Schulter eines dritten Iberers durchschlug, der seine Axt fallen ließ und sich schreiend drehte.

Etwa zwanzig Iberer waren ihnen zunächst im Weg. Bis Gaius Marius die Gruppe erreichte, war die Einheit schon auf die Hälfte dezimiert. Weder Berrik Malchas noch Julia schienen seine Hilfe zu benötigen. Gegen solche Krieger möchte ich nie kämpfen müssen.

Das Entsetzen kann viele Erscheinungsformen annehmen. Tödlich war für die Iberer das Erstarren vor Schreck. Gaius Marius merkte, dass sie sich nur noch halbherzig wehrten. Sie glaubten gar nicht mehr daran, die drei Reiter aufhalten zu können. Es bot sich ihm plötzlich das blutige Bild von vielen iberischen Verlierern. Die Götter sind mit uns. Und die Numider!

Sein Herz hämmerte trotzdem wie verrückt. Die Trommeln der Iberer dröhnten, Schwerter klirrten, wenn sie auf Schilde und Metallrüstungen stießen, verletzte Iberer schrien, ein Mann versuchte, ihn am linken Bein zu fassen und vom Pferd zu ziehen. Gaius Marius rammte ihm seinen linken Ellbogen gegen den Kopf und schlug mit seinem Schwert auf dessen Helm ein. Der Mann taumelte, ging zu Boden, rappelte sich wieder auf, doch nun war Gaius Marius von mehreren Iberern umringt, die ihn wohl nicht zu Unrecht als die Schwachstelle der drei Angreifer ausgemacht hatten.

Mit seinem Schwert griff er an, während sein Hengst nervös tänzelte. Einem Iberer schlitzte er den Bauch auf, einem anderen schlug er eine so tiefe Wunde in den Arm, dass dieser die Kampf-axt fallen ließ und laut aufbrüllte. Das Blut des Mannes spritzte auf die Hände von Marius, seine Beine und sein Pferd, das sich noch panischer drehte.

Den Schlag eines Streitkolbens neben ihm wehrte er mit seinem Schild ab, duckte sich unwillkürlich, zielte dann mit seinem Schwert nach dem Hals des Mannes und schlug dem Angreifer damit fast den Kopf ab. Der Mann sah ihn verblüfft an, fasste sich an seine Gurgel und krümmte sich zusammen.

Weitere schreiende Männer tauchten auf. Die ursprüngliche Gruppe von Iberern schien schnell Hilfe zu bekommen. Gaius Marius kämpfte wild und verbissen, doch er spürte, dass er sich nicht mehr lange auf dem Pferd würde halten können.

„Wir müssen sie nicht alle besiegen, Römer, wir müssen weiter!“, schrie neben ihm plötzlich Berrik Malchas, der sich geschmeidig zu ihm gesellt hatte und seine linke Seite mit seinen furchtbaren Wurfspeeren schützte. „Weiter, Römer, weiter! Galoppieren!“

Mit seinen Beinen versuchte Marius, den Hengst nach vorn zu bewegen und zum Laufen zu bringen, doch das Tier stieg auf die Hinterbeine hoch und wehrte sich gegen den Befehl. Immerhin wurde dadurch überraschend vor ihnen eine Gasse frei und Marius lenkte sein Tier jetzt in diese Richtung. Das Pferd gab nach und bewegte sich nun doch schneller. Es schien endlich die Chance zur Flucht zu ergreifen. Pferde waren eben oft die Klügeren.

Marius sah Julia vor ihm, die schon zum nahe gelegenen Wald den Abhang hinunterritt, Berrik Malchas schloss neben ihm auf.

„Wir werden verfolgt.“

Marius sah sich um. Ein paar Iberer rannten ihnen nach, doch die Entfernung nahm zu. „Sie werden uns nicht mehr einholen“, beruhigte Marius den Numider.

„Die nicht, aber die Reiter dort von rechts, die werden uns den Weg abschneiden“, schrie Berrik Malchas.

Eine Gruppe von zehn oder zwölf berittenen Iberern galoppierte ebenfalls den Hang hinunter und versuchte Julia einzuholen. Hinter ihnen näherten sich weitere iberische Reiter. Die Iberer hatten schnell reagiert, das musste Gaius Marius neidlos anerkennen.

In vollem Galopp stürmte Marius weiter so schnell er konnte, gleichwohl konnte er dem Numider nicht folgen. Trotz der rasenden Geschwindigkeit war der Mann noch in der Lage, mit einem gewaltigen Wurf seines kurzen Speers den ersten Iberer, der sich ihnen von hinten näherte, auf seinem Pferd zu durchbohren. Der Iberer fiel, sein Pferd brach aus und nahm den folgenden iberischen Reitern enorm viel von ihrer ursprünglichen Geschwindigkeit. Die iberische Gruppe kümmerte sich um den Verletzten und verlor viel Zeit. Bis dahin hatten sowohl Berrik Malchas als auch Gaius Marius den Waldrand, an dem Julia wartete, erreicht.

„Ich reite nach Süden, lenke die Iberer ab und versuche, meinen König Gulussa mit seinen siebenhundert Numidern zu warnen. Ihr wendet euch nach Osten, Richtung Tarraco, zu eurer zweiten Legion Tarraconensis. Holt sie her, wie es euer Feldherr Scipio befohlen hat.“ Berrik Malchas schien nicht einmal schwer zu atmen.

„Wir sollen uns trennen?“, fragte Gaius Marius. „Das halte ich nicht für …“

Julia schnitt ihm das Wort ab. „So machen wir es, Numider. Danke für Eure Hilfe. Ich werde Euch das nicht vergessen. Ihr seid ein sehr beachtlicher Krieger.“

Jedem anderen hätte Gaius Marius energisch widersprochen. Bei Julia hatte er allerdings seine Grenzen gelernt und schwieg. Hatte Julia das „Ihr“ wirklich so sehr betont? So schlecht habe ich mich nun auch nicht geschlagen.

Berrik Malchas gewährte ihnen ein Kopfnicken, wandte sein Pferd in einer fließenden Bewegung und stürmte los. Die sich nähernde erste iberische Gruppe entschied sich falsch und versuchte ihn einzuholen, weil er sich jetzt schon in unmittelbarer Nähe zu ihnen befand. Einen Numider einholen zu wollen, das war schon immer schwierig gewesen.

„Weiter“, befahl Julia und ritt in den dichten Pinienwald hinein. Der Boden unter ihr war nun von Millionen von Nadeln übersät, die sich über viele Jahre angesammelt hatten. Andere Menschen schienen hier schon seit längerer Zeit keine Spuren hinterlassen zu haben. Umso besser.

Gaius Marius sah noch kurz besorgt dem verwegenen Ritt von Berrik Malchas nach, drehte dann schnell seinen schwer atmenden und verschwitzten Hengst und folgte Julia mit leichtem Galopp auf dem kleinen Trampelpfad in den Wald. Ahornbäume, Eschen und Eiben verdrängten nach und nach die Pinien. Die Luft schmeckte frisch und klar, ein Geruch von Harz reizte seine Nase. Der Pfad schien sie in ein breites Tal weiter hinabzuführen, ein glucksender Bach tauchte neben ihnen auf, mit Riedgras und Ginster bewachsen.

Schließlich verengte sich das Tal nach und nach zu einer Schlucht, an den Seiten eingefasst von steiler werdendem Fels und Geröll, die sich nach oben zu Bergspitzen formierten. Der Pfad führte nun bergauf. Die Sonne schien immer noch heftig, Gaius Marius fühlte langsam Müdigkeit und Erschöpfung, doch die Anspannung blieb.

Wie oft hatte er sich inzwischen schon umgesehen? Folgten ihnen die Iberer? War überhaupt jemand hinter ihnen zu entdecken? Immer wieder versuchte er zu erkennen, wie nahe die Iberer waren. Oder er bemühte sich, angestrengt zu hören, ob irgendwelche Geräusche von Pferden oder Menschen zu vernehmen waren. Doch bis auf den treuen leisen Bach konnte er gar nichts erlauschen.

„Das gefällt mir nicht.“ Julia hatte ihre Stute nun überraschend anhalten lassen und sah sich um. „Das gefällt mir überhaupt nicht.“

„Was meinst du?“, fragte Marius, der langsam zu ihr aufschloss. „Brauchst du Hilfe?“ Hat sie doch eine Wunde davongetragen?

„Nein, verdammt noch mal, ich brauche keine Hilfe“, antwortete sie unwillig.

„Was ist denn los?“ Genau wie meine ältere Schwester.

„Schau dich doch mal um!“

Er hatte noch nie ein besonderes Händchen für Frauen gehabt. Weder bei seinen Schwestern noch bei seinen bisherigen kleinen Eroberungen. Das schien eine gewisse Konstante in seinem Leben zu sein. Möglicherweise war der Umgang mit einer Vestalin des Bona-Dea-Ordens auch besonders kompliziert. Von diesem Gedanken etwas getröstet, blickte sich Gaius Marius gehorsam um.

Von einem Steilhang zum anderen maß das Tal nur etwa hundert Schritte. Der Baumbewuchs war spärlicher geworden, der Boden steinig und trocken. Immerhin war ihnen der jetzt breiter gewordene Bach geblieben, der ihnen entgegenfloss.

„Nun, wir müssen auf Steinlawinen Acht geben, die Hänge scheinen mir …“

„Schau nach vorn.“

Eine schroffe Bergspitze erhob sich vor ihnen. Auch dahinter konnte er im Dunst weitere Umrisse hoher Berge erahnen. Steile Felsen lagen vor ihnen. Hohe Felsen.

Ein Gebirge versperrte ihnen den Weg. Das Tal hatte sich nicht nur verengt, es war zu einer Sackgasse geworden.

Sie waren in eine Falle geritten.

„Ich habe mehr darauf geachtet, ob wir verfolgt werden“, verteidigte sich Gaius Marius, um noch das letzte bisschen Würde eines Decurios der römischen Armee zu retten.

„Und?“

„Niemand. Ich habe niemand gehört oder gesehen.“

„Gut. Ich auch nicht. Dann sollten wir uns verstecken und in der Nacht versuchen, einen Pass zu finden, um die Berge zu überqueren. In der Nacht wird uns niemand verfolgen und niemand sehen. Und hier hinter den Bäumen können wir uns gut verbergen. Obwohl ich nicht damit rechne, dass sich noch viele Iberer die Mühe machen, uns zu so weit folgen. Da dürfte die Eroberung des römischen Militärlagers ein viel reizvolleres Ziel sein.“

Mit einem Schwung stieg Gaius Marius vom Pferd und war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Er fand, dass Julia ein überaus reizvolles Ziel darstellte, hielt sich aber vorsichtshalber mit derartigen Überlegungen zurück.

Julia saß ebenfalls ab und knüpfte ungeduldig ihre Lederweste auf. „Ich weiß nicht, wie ihr tagelang solche Rüstungen tragen könnt.“

„Übung“, meinte Gaius Marius. Und wir haben nicht diese Brüste einzuzwängen. Auch diesen Gedanken wollte er nicht laut vortragen, um weiteren Zurechtweisungen zu entgehen. Schon seine Schwestern hatten ihm nie gestattet, über dieses Thema zu sprechen. Römer konnten sehr prüde sein. Römerinnen noch viel mehr.

Immerhin gestattete Marius sich, eine neutrale fachkundige Stellungnahme abzugeben. „Die Pferde brauchen dringend eine Pause.“ Und ich brauche dringend einen Kuss. Oder mehr. Er nahm seinen Helm ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah sehnsüchtig zu Julia, wusste aber nicht, wie und wo er nun anfangen sollte.

„Du bist überall blutverschmiert.“ Julia löste ihre Beinschienen, sah kurz auf und knüpfte dann ihre hochgeschnürten Stiefel auf, was Marius einen angenehmen Blick auf ihre Beine ermöglichte, die noch von einer engen wollenen Hose bedeckt waren.

Das Blut seiner Gegner war schon längst an den Armen und an seinem metallenen Brustpanzer angetrocknet, tiefbraun wie eine zweite Haut. „Da hinten fließt ein kleiner Bach. Ich werde mich säubern“, meinte Gaius Marius zerknirscht.

„Wir können uns dort beide säubern“, antwortete Julia. Mit ihren nackten Füßen tappte sie über den mit Laub und Nadeln bedeckten Pfad zu Marius. Sie fuhr sich nervös durch ihr Haar, die feuchten schwarzen Locken stellten sich auf, sie sah ihn streng mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Plötzlich wirkte sie jung, klein und einsam. Fast hätte Gaius Marius diese junge Frau jetzt als unsicher empfunden, wenn es nicht um Julia gegangen wäre.

„Was?“

„Nichts.“ Marius suchte nach den passenden Worten. „Ich meine, hm …“ Ausgerechnet jetzt musste er schlucken und kam nicht weiter, räusperte sich und fing noch einmal an. „Ich meine …“ Diesmal kam er nicht weiter, weil Julia ihm in die Augen sah, noch näher kam, er ihren Limonenduft bemerkte, Julia seinen Kopf in beide Hände nahm, immer noch näher kam und ihn küsste, sanft, nicht fordernd. Ganz anders als in der vergangenen Nacht im römischen Militärlager, neben dem Zelt dieses eigenartigen griechischen Heilers Rafail. Nun fast ein wenig ängstlich und zögerlich, und doch war das alles viel mehr, als Marius sich je zu erhoffen wagte.

Das war nicht der leidenschaftliche Kuss wie in der vergangenen Nacht, als sie wie eine Getriebene, wie von Sinnen, unbeherrscht und immer leidenschaftlicher werdend gewirkt hatte. Diesmal schien Julia vorsichtig zu sein, scheu, fast schüchtern, und zog sich schnell wieder zurück. So hatte Marius sie noch nicht erlebt. Hektisch knüpfte er seinen Brustpanzer auf, ohne sie einen Moment aus dem Auge zu lassen.

Er spürte das zunehmende Kribbeln, die Härte in seinem Schritt, spürte, wie sich sein Kopf abschaltete und sein Unterleib das Kommando übernahm. Er konnte nicht mehr nachdenken, warf den Metallpanzer achtlos weg, umarmte sie mit beiden Händen heftig, spürte ihren verschwitzten Körper an seinem, küsste sie viel drängender als vorher und erforschte mit seiner Zunge ihre Lippen, um endlich ihre Zunge zu finden und sich wenigstens schon einmal auf diese Weise mit ihr zu vereinen. Sie erwiderte den verlangenden Kuss, hemmungsloser werdend und heftiger atmend, wieder seinen Kopf festhaltend und sich mit ihrem ganzen Körper immer fester an ihn drängend.

Mit der rechten Hand strich Marius über ihren Rücken, spürte unter dem Stoff ihrer Tuniken die Erhebungen ihrer Wirbelsäule und endete an ihrem Hinterteil, umschloss dieses dann mit beiden Händen, zog sie noch näher an sich, spürte, wie sich auch Julia gegen sein hartes Geschlecht drängte, und musste schließlich laut aufstöhnen.

Julia trat einen Schritt zurück, zog mit einem hektischen Schwung ihre obere Wolltunika aus, ohne Marius auch nur einen Moment aus dem Auge zu verlieren, und nahm dann Marius viel aggressiver als vorher in ihre Arme, um ihm den nächsten heißen Kuss zu gewähren, temperamentvoll und überschwänglich, ähnlich wie Marius es bereits in der letzten Nacht erlebt hatte. Er küsste ihren Hals, ihre Kehle, ihre Brüste unter der dünnen Tunika. Sie drückte ihn immer fester an sich.

Er nutzte eine Atempause, trat einen Schritt zurück und meinte dann heiser: „Wir müssen die Spuren auf dem Pfad verwischen, dann können wir vielleicht zu dem kleinen Bach …“ Weiter kam er nicht, er sah die Konturen von Julias Körper, die sich gegen die tiefer stehende Sonne unter der dünnen Tunika abzeichneten, ihre Brüste, die sich ihm unter dem letzten feuchten Stück Stoff, das sie trug, entgegenstreckten, und konnte nicht mehr weitersprechen, weil sein Mund ausgetrocknet und seine Zunge auf völlig andere Tätigkeiten ausgerichtet war.

Marius konnte nur noch schlucken, mehr Kommunikation war nicht möglich. Ihre Brüste wurden von keinem Brustband verhüllt, wie er es sonst von römischen Frauen kannte. In Halbwelt-Kreisen wurde das Band auch unter der Brust geschnürt, um sie anzuheben oder (noch) stärker zur Geltung zu bringen. Das hatte Julia nicht nötig. Überhaupt nicht.

Ohne auf seinen militärisch sicher sinnvollen Vorschlag der Beseitigung ihrer Spuren einzugehen, flüsterte Julia nur leise: „Komm endlich!“

Das löste ihn aus der Erstarrung. Er machte zwei Schritte, nahm ihren Nacken in seine rechte Hand, streichelte sanft mit seinem Daumen ihre Wange. Der nächste Kuss wurde noch intensiver, Marius küsste ihre Lippen, ihre Wangen, noch intensiver ihren Hals, bis Julia sich versteifte und erschauerte. Marius trat zurück und befürchtete schon, zu ungeduldig und fordernd geworden zu sein.

„Es tut mir leid“, murmelte er, „ich …“

Julia zog sich ihr Unterkleid über den Kopf und ließ es achtlos auf den Boden fallen. Dann trat sie, nackt bis auf ihre enge Hose, wieder zu ihm, führte seine Hand zu ihren Schenkeln und von dort weiter nach innen, stöhnte leise auf, als er sie dort berührte, wo sie vor Nässe überlief, und hauchte nur ungeduldig: „Weiter!“

Immerhin besaß Marius noch so viel restlichen Verstand, um keuchend erwidern zu können: „Lass uns zu dem Bach hinter den Bäumen gehen, Julia. Ich bitte dich. Wenn hier auf dem Weg Reiter auftauchen … Und eine Erfrischung wird uns guttun.“ Mehr Argumente fielen ihm verständlicherweise in dieser Situation nicht mehr ein.

„Dann komm endlich.“ Julia zwinkerte ihm verführerisch zu, hob ihr Kinn selbstbewusst hoch und entfernte sich von ihm. Für ihr Lächeln hätte Marius den Göttern sofort mehr als einen Ochsen geopfert. Er spürte, wie sein Unterleib zuckend reagierte, und hatte Mühe, sie nicht zurückzuhalten, auf die Erde zu werfen und das mit ihr zu machen, was er in der vergangenen Nacht schon so oft mit ihr gemacht hatte.

Sie sammelte ihre Kleidung auf, nahm die Zügel ihrer Stute und ging, nur noch mit ihrer engen Wollhose bedeckt, zu dem kleinen Bach. Bewegte sich ihr Hinterteil noch aufreizender? Drückte sie ihren Rücken noch stärker durch als sonst? Hatten ihre Augen noch mehr geglänzt? War da eine leichte Röte von ihrem schlanken Hals aus in ihr Gesicht aufgestiegen?

So schnell hatte Gaius Marius selten seine Rüstung abgelegt und hinter seinem Sattel neben dem Schild verstaut. Er sah zu seinem müden Hengst und flüsterte: „Man sollte Frauen nie allzu lange warten lassen, oder?“ Beide hasteten aufgeregt hinter der ungewöhnlichen Vestalin her.

Julia hörte hinter sich die schnellen Schritte, ließ vor dem Bach ihre Stute frei, zog sich hektisch ihre Hose aus und wandte sich dem nachfolgenden Gaius Marius zu.

Auch im Leben einer Vestalin des Bona-Dea-Ordens gab es diese Momente, in denen man einfach mit sich und der Welt zufrieden war. Vielleicht sogar glücklich. Oder überglücklich. Es ist immer schön, wenn ein Plan gelingt! Dann war Gaius Marius schon bei ihr und Julias Denken verhallte im Nichts, während ihre Gefühle (und ihr Körper) Triumphe feierten.

Auch das Blut einer Vestalin konnte kochen und überkochen wie das Blut jeder Frau. Unvernunft bereitete manchmal einfach ein so großes Vergnügen, das alles andere überstrahlte.

Julia kannte sich selbst nicht wieder.

2. Abbala

Im teilweise zerstörten Sevilla, Frühjahr 2057

Nie zu Boden blicken. Das war klar. Leitersprosse für Leitersprosse nehmen. Stück für Stück. Was blieb ihr sonst übrig? Gut festhalten. Und besser auch nicht lange überlegen, was sie dort oben auf der Dachterrasse des Hotels Ribera erwartete. Erst einmal nur gut festhalten, um zu überleben.

Sie spürte wieder diesen Sog, der sie nach unten zu ziehen drohte. Massive Höhenangst verfolgte sie schon seit ihrer Kindheit. Schwindel, Zittern, Panik, Schweißausbrüche, Übelkeit. In Ansätzen bereits, sobald sie nur auf einem Stuhl stand, geschweige denn auf einer Anhöhe oder auf einer der vielen Klippen bei Karthago. Da, wo andere karthagische Kinder und Spielkameraden nur jauchzten und ihre Freude laut herausschrien, da trat Abbala stets weit zurück und weigerte sich energisch, dem grandiosen Blick auch nur nahe zu kommen.

Keine guten Voraussetzungen, um die Außenleiter dieses hohen mehrstöckigen Gebäudes hochzuklettern. Abbala hatte ein derartiges Gebäude noch nie gesehen. Sie befand sich zwar, wie ihr von Maevia, diesem seltsamen Mädchen, erklärt worden war, an einem ihr bekannten Ort, aber in einer ihr völlig unbekannten Zeit. Was hatte das Mädchen gesagt? Mehr als zweitausend Jahre? Zweitausend Jahre entfernt von der Abbala bekannten Umgebung? Unglaublich!

Das war doch recht viel, selbst für Abbala, die schon wirklich einiges erlebt hatte. Vielleicht ein Gebet an die Göttin? Oder einfach ein altes Gedicht rezitieren? Irgendetwas sollte sie doch ablenken können von ihrer furchtbaren Höhenangst.

„Wie lange brauchst du noch?“, fragte Maevia weit über ihr auf der Feuerleiter des Hotels.

Erst wollte Abbala ihr überhaupt keine Antwort geben. Sie veränderte ihr Tempo nicht und hob vorsichtig das linke Bein an, um die nächste Sprosse zu erklimmen. „Ich brauche so lange, wie ich brauche, dummes Kind“, zischte sie dann. Könnte sie die Wut ablenken?

„Es sind doch nur vier Stockwerke. Wenn wir so weitermachen, wird es dunkel sein, bis wir oben ankommen.“ Maevia ging nie auf ihre Schimpftiraden ein.

„Von mir aus kann es bald so schwarz werden wie in deinem Arsch, Hauptsache ich komme da oben lebend an.“

„Wäre es unhöflich zu sagen, dass du nicht gerade die Mutigste bist?“

„Wenn du Mut so interpretiert, eine steile Leiter in einer unglaublichen Höhe hochklettern zu wollen und alle damit verbundenen Gefahren zu vernachlässigen, darfst du es so sehen.“ Dann setzte Abbala noch etwas leiser hinzu: „Undankbare Vollidiotin.“ Ihr Zorn erleichterte es ihr, die nächsten Sprossen etwas schneller in Angriff zu nehmen.

„Das habe ich gehört.“

„Was denn, liebes Kind?“

„Ich bin dir dankbar und ich bin keine Idiotin. Schon gar keine Vollidiotin.“

Der sachliche Tonfall brachte Abbala zum Schmunzeln. Wäre es ein normales Kind von sieben oder acht Jahren gewesen, hätte Abbala das Mädchen, das da weit über ihr wartete, für altklug, frühreif oder vorwitzig gehalten. Möglicherweise auch nur für eine gewaltige Nervensäge. Doch das war kein normales Kind.

„Ich bin jetzt gleich oben am Geländer.“

„Warte auf mich. Geh nicht allein von der Leiter weg. Ich habe keine Lust, dich schon wieder retten zu müssen.“

„Ich weiß, keine Sorge. Ich warte, tapfere Priesterin.“

Normalerweise hätte Abbala den Sarkasmus mit einigen saftigen Anmerkungen beantwortet. Derzeit hatte sie jedoch einfach viel zu viel Angst auf dieser aus ihrer Sicht unnatürlich hohen Leiter, um sich mit dem Mädchen über ihr sehr langsames Fortkommen weiter zu streiten. „Kannst du schon etwas sehen?“

„Gegenüber scheint ein Gebäude zu sein, vielleicht die Fahrstuhltechnik. Die Dämmerung setzt ein. Viel ist nicht zu erkennen. Wir sollten uns beeilen.“

Abbala hatte keine Ahnung, was Fahrstuhltechnik war, aber keine freie Sicht zu haben, das war schon einmal schlecht. „Mehr kannst du nicht sehen? Bewegt sich etwas?“

„Nein, es sieht hier alles ruhig aus. Aber das kann natürlich auch täuschen. Diese Dinger sind verdammt schnell.“

Welche Dinger? Ach so, diese Bluttrinker, diese Schreckgestalten. Früher einmal Menschen, jetzt fleischgewordene Ungeheuer. Als wenn diese Leiter nicht schon schlimm genug wäre. „Bin gleich da, warte bitte.“

„Keine Sorge, Priesterin, ohne dich mache ich hier keinen Schritt mehr. Ich bin lernfähig.“

Braves Mädchen. Die letzten Begegnungen mit den Bluttrinkern hatten anscheinend eine lehrreiche Wirkung. Zu Abbalas Überraschung und Freude ertastete ihre rechte Hand nach kurzer Zeit einen kleinen Schuh. „Wenn ich da keinen Bluttrinker spüre, dann bin ich jetzt wohl bei dir angekommen.“

Immerhin schien sich Maevia zu freuen. „Mit einer so kühnen Freundin fühle ich mich schon viel sicherer.“

Abbala ging nicht auf die Tonlage ein. „Wir klettern jetzt beide hoch und verstecken uns an dieser Gebäudewand. Zumindest haben wir dann einen Schutz im Rücken. Sind die Bluttrinker in diesem Zwielicht schon aktiv?“

„Keine Ahnung. Das werden wir dann sehen“, meinte Maevia lakonisch. „Meine Familie muss sich irgendwo auf dieser Dachterrasse verstecken. So groß ist sie ja nun auch nicht. Also los!“

„Warte noch einen Moment.“ Wenn ich mir vorstelle, dass ich jetzt von einer jungen bildschönen, willigen Isis-Priesterin in einem numidischen Zelt unvergleichlich verwöhnt werden könnte. Sie tastete nach ihrem wertvollen silbernen Messer, atmete einmal tief durch und rief dann: „Also los!“

„Bin schon oben, komm.“

Mit einer für ihren normalen Bewegungsablauf in größerer Höhe unglaublichen Geschwindigkeit zog sich Abbala hoch, hielt sich krampfhaft an einem überstehenden Geländer fest und sprang mit einem Satz von der letzten Stufe der Leiter auf die Dachterrasse. Maevia befand sich wenige Schritte von ihr entfernt und kauerte in gebückter Haltung vor einer grauen Wand.

Ein starker, bitterer Uringeruch brannte sich in Abbalas Nase, als sie sich neben das Mädchen hockte. Die Luft war hier oben deutlich kühler geworden. Oder lag es an der einsetzenden Dämmerung?

„Irgendetwas zu sehen?“

„Nein“, meinte Maevia, „da ist noch ein Gebäude auf der anderen Seite. Das ist wahrscheinlich die überdachte Bar.“

„Was ist eine Bar?“

„Der Ort, wo Getränke oder kleine Speisen zubereitet werden. Mit einer langen Theke.“

„Eine Herberge.“

„So ähnlich.“

„Du kennst dich hier aus?“

„Nein, hier nicht, aber ich weiß, wie die Menschen hier lebten. Früher. Als ich geboren wurde. Als noch alles gut war. Vor der Epidemie.“

Abbala zog ihr Messer, das allerdings nicht leuchtete oder schimmerte, wie sie es erwartet hatte, sondern nur wie ein ganz normales silbernes Messer in ihrer Hand lag. Tja, man kann nichts erzwingen. Schon gar nicht von etwas, das aus der Zwischenwelt stammt. „Ich gehe vor.“

Zwischen den Steinen der Terrasse wucherte das Unkraut, teilweise mehr als kniehoch. Umgekippte Sitzliegen versperrten ihnen den Weg, während andere Holzbänke und -tische noch einen intakten Eindruck machten. Eine kleine Hand klopfte auf Abbalas Rücken, die erschrak und sich kampfbereit mit ihrem Messer umdrehte.

Maevia ging schnell einen Schritt zurück und wies auf die eiserne Tür des hinter ihnen liegenden Gebäudes hin, an das sie sich eben angelehnt hatten.

„Priesterin, schau, sie haben alles verbarrikadiert.“ Unter der Türklinke war ein Stuhl eingeklemmt worden, mehrere Bänke waren davor in den Boden gerammt und gegen die Tür geklemmt worden, um ein Öffnen zu verhindern.

„Ein gutes Zeichen. Die Tür ist nicht aufgebrochen worden. Was befindet sich dahinter?“

„Wahrscheinlich ein Treppenhaus. Und die Fahrstuhltür daneben wurde mit Brettern vernagelt.“

„Aha. Scheint alles intakt zu sein“, brummte Abbala misstrauisch. „Aber ich sehe niemand von deiner Familie.“

Maevia sah sich um. „Bluttrinker können keine Leitern hochklettern. Sie können sich mit ihren Klauen nicht festhalten. Also muss meine Mutter noch hier sein.“

„Tja, vielleicht hat sie es sich anders überlegt“, wollte Abbala das Kind vorsichtig mit der Möglichkeit vertraut machen, hier überhaupt niemand zu finden.

„Nein, sie ist hier.“

Kinder konnten schon sehr halsstarrig und verbohrt sein, das wusste Abbala. Das war jedoch kein Kind, so, wie sie es bisher kennengelernt hatte. „Nun, wenn sich die Krankheit ausgebreitet hat, dann wäre es natürlich schon möglich, dass auch deine Mutter davon betroffen wurde“, argumentierte sie für ihre Verhältnisse sehr vorsichtig.

„Das ist unmöglich“, antwortete Maevia mit ihrer nüchternen Stimme.

Bei jedem anderen kleinen Mädchen hätte Abbala in einer gewissen Schärfe geantwortet, was nach ihrer bescheidenen Erfahrung alles möglich wäre. Bei Maevia beschloss sie, das lieber zu unterlassen.

„Dann muss sich deine Mutter hier gut versteckt haben.“

Maevia sah sich um. „Wir gehen zu dieser Bar, dann schauen wir weiter. Lass mich deinen Kopf kurz berühren.“

„Meinen Kopf?“

„Du solltest die hiesige Sprache verstehen und sprechen können. Ich kann dafür sorgen. Es tut nicht weh. Es ist ganz einfach. Nur ein paar Erinnerungen in deinem Sprachzentrum.“

Abbala hielt es nicht für einfach, ging aber gehorsam auf die Knie, damit Maevia sie mit ihrem Zeigefinger an der Schläfe berührte. Sie spürte nichts, doch Maevia meinte nach einem kurzen Moment feierlich: „Fertig. Es funktioniert!“

„Gut!“ Abbala stand auf, fühlte keinerlei Veränderung, konnte aber auch ihre neuen Sprachkenntnisse nicht testen.

Die Dämmerung um sie herum nahm nun deutlich zu und mit der einsetzenden Dunkelheit auch Abbalas Angst. Keine Seuche ist gefährlicher und tödlicher als die lähmende Furcht. Sie hielt ihr Messer fest in der Hand, das weiterhin nichts war als eine silberne Waffe, kein leichtes Glühen, kein Prickeln, aber immer noch besser als gar nichts. Es tat gut, sich an etwas festhalten zu können. Es fühlte sich warm an, vertraut, einfach gut.

Das Unkraut hatte sich zwischen den Steinwegen stark ausgebreitet, überwucherte fast alle Plattierungen auf der Dachterrasse und war teilweise höher als Maevia selbst gewuchert, die sich mühsam einen Weg bahnte. Die Natur scheint auch nach Tausenden von Jahren ihren eigenen Gesetzen zu folgen. Es freute Abbala, gelegentlich auch Unverändertes in dieser für sie so fremden Welt zu entdecken.

Je näher sie der Bar kamen, desto mehr schienen die Pflanzen niedergetrampelt worden zu sein. Gläser und Flaschen lagen herum, Papier, Plastikbecher – die menschliche Zivilisation schien hier noch intakt zu sein. Wenn man in diesem Zusammenhang von Intaktheit überhaupt sprechen durfte. Maevia blieb plötzlich in einiger Entfernung vor der Bar stehen.

„Mama?“, rief sie zaghaft.

Keine Antwort.

„Zaide?“ Nun lauter, drängender.

Stille. Unangenehme Lautlosigkeit. Die Bar wirkte unbewohnt, abweisend, dunkel.

Dann wurde für Abbala völlig überraschend die Tür des kleinen Gebäudes langsam geöffnet. Es quietschte und knarzte, nach der bisherigen Grabesruhe um sie herum schien es Abbala, als wenn die Geräusche von überall zurückhallten. Sie riss sich zusammen. Das Messer krampfhaft in der Hand haltend, stellte sie sich kampfbereit neben Maevia. Nicht noch mehr Ungeheuer. Bitte, Göttin, nicht noch mehr!

Die Göttin schien Abbalas Gebete erhören zu wollen. Eine extrem dünne, hochgewachsene junge Frau oder vielleicht auch eher ein hochgeschossenes, abgemagertes Mädchen mit langen Fohlenbeinen, trat in den Türrahmen, mit einer blauen Hose bekleidet und einem orangen Hemd unter einer braunen Strickjacke. Sie rieb sich verschlafen die Augen und sah dann nochmals genauer zu den beiden Besucherinnen, runzelte die Stirn und fragte dann: „Habt ihr nach Zaide gefragt? Wart ihr das?“

„Ja, das haben wir. Ist sie hier?“, bestätigte Maevia ungeduldig.

„Wenn ihr sprechen könnt, dann seid ihr keine Bluttrinker!“, fasste die junge Frau immer noch misstrauisch ihre Gedanken zusammen.

„Nein, das sind wir nicht. Bluttrinker sollen auch keine Feuerleitern hochklettern können, sagt man“, antwortete Maevia leise.

Angenehm überrascht bemerkte Abbala, dass sie, wie von Maevia vorhergesagt, die Worte dieser fremden Sprache sofort verstand und auch selbst benutzen konnte. Sie steckte ihr Messer zurück und versuchte es. „Und wer bist du?“

„Das ist Rana“, meinte Maevia.

Die junge Frau musterte das Kind eingehender und fragte dann verwirrt: „Kennen wir uns?“

„Moment“, unterbrach Abbala die Frau und wandte sich an Maevia. „Wer ist Rana, mein Kind?“

„Meine Tante.“

„Wer soll ich sein?“, protestierte die junge Frau verblüfft.

„Du bist die Schwester von Zaide, meiner Mutter. Also meine Tante“, erklärte Maevia in ihrem emotionslosen Tonfall.

„Meine Schwester … hat kein Kind. Blödsinn. Nie gehabt“, protestierte die junge Frau verwundert.

„Tja, Schätzchen“, meinte Abbala, „das kenne ich gut. Jede Familie hat so ihre kleinen Geheimnisse. Glaub mir, du wärst überrascht, was so alles passieren kann.“

„Das ist doch Unsinn.“ Die Frau überlegte einen Moment. „Ich werde Zaide wecken. Eigentlich sollte ich sie länger schlafen lassen, sie hat gestern zu viel Bier getrunken, ich auch. Aber das kann ja wohl nicht sein. Das ist Blödsinn. Wartet hier!“ Sie drehte sich um und lief zurück in die kleine Behausung.

„Zu viel Bier getrunken? Solche exotischen Getränke existieren in dieser Zeit? Deine Mutter könnte mir sympathisch werden“, meinte Abbala. „Frauen, die Bier trinken, sind bei uns sehr selten. Vielleicht im Norden, in Gallien, da soll es so etwas geben. Bier?“ Abbala schüttelte den Kopf.

Maevia antwortete nicht, stand still und allein vor diesem Brettergebäude und wartete. Fast empfand Abbala Mitleid mit dem Kind, so verloren, wie es da wartete.

„Hast du dich gut mit deiner Mutter verstanden?“, fragte Abbala leise, um das Kind abzulenken.

„Ja. Allerdings haben wir uns bisher nur wenige Momente gesehen.“

„Hm. Ich verstehe“, murmelte Abbala, die jetzt gar nichts mehr verstand.

Eine weitere junge Frau, älter, kräftiger, hübscher, aber ebenfalls noch sehr jung, kam aus der Tür. „Ich bräuchte jetzt eine Aspirin oder etwas Ähnliches.“ Sie fuhr sich durch ihre langen, lockigen schwarzen Haare und blinzelte mehrfach, so als wenn die Sonne sie blenden würde. „Da ist ja wirklich jemand, Rana, du hast recht gehabt.“ Dann blinzelte sie nochmals, stöhnte und verzog ihr Gesicht. „Ich hätte nicht so viele von diesen Bierdosen trinken sollen. Und von dem Rum.“ Sie kam etwas näher. „Aber es gibt ja nichts anderes mehr zu trinken.“