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Numantia, zentrale iberische Festung, soll fallen. 134 v. Chr. entsendet der römische Senat Scipio, den legendären Feldherrn. Julia, Angehörige eines geheimnisvollen Ordens, soll dafür sorgen, dass Scipio den Befehlen gehorcht. Doch der ruft seine alten Verbündeten, die Numider, zu Hilfe. Die unsterbliche Priesterin Abbala spürt: Erneut manipulieren fremde Wesen das Schicksal der Menschheit. -Der junge Gaius Marius vor seiner schwierigsten Mission -Der numidische Prinz Jugurtha mit ehrgeizigen Plänen -Der Bona-Dea-Orden, dessen Gesandte sich ausgerechnet jetzt verliebt -Und eine unsterbliche Priesterin, die das Ende kommen sieht
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Seitenzahl: 430
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Richard F. Conrad
DIE VERLORENE REPUBLIK
Zeitenwenden Turn of Eras
Band 3
© 2021 Richard F. Conrad
Lektorat: Julia Feldbaum, Augsburg
Layout, Cover: Dr. Matthias Feldbaum, Augsburg
Coverabbildung: Sondem – stock.adobe.com
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-00861-8
E-Book:
978-3-347-00862-5
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alexander und sein Maultiertreiber fanden ein gleiches Ende im fruchtbaren Geist des Kosmos oder in stofflichen Krümeln.
Marc Aurel
Eines Menschen Vergangenheit ist das, was er ist. Sie ist der einzige Maßstab, an dem er gemessen werden kann.
Oscar Wilde
Prolog – Zaide
Sevilla, im Oktober 2056
Ausgerechnet hier stehen zu müssen. Hier, vor diesem Regal. Peinlich. Sehr peinlich. Zaide blickt sich verstohlen um. Es ist aber auch wirklich kompliziert.
Sie hat nicht unrecht: Die Entscheidung fällt wahrscheinlich niemandem leicht. Nur sehr wenige treffen sie häufig in ihrem Leben. Wahrscheinlich fühlt man sich so in der Nacht vor der Hochzeit. Oder bei der Auswahl des geeigneten Bestattungsunternehmens. Es sind die seltenen Entschlüsse, die großes Unbehagen auslösen können.
Streifen? Stäbchen? Kassetten? Zaide betrachtet wieder verunsichert das erstaunlich reichhaltige Sortiment. So viele verschiedene Angebote für einen Schwangerschaftstest? Ein Schwangerschaftstest, von dem niemand etwas wissen darf! Niemand!
Fünf oder sechs Kunden halten sich in der Drogerie auf, erfreulicherweise weiter entfernt in anderen Gängen des großen Ladenlokals oder vorn an der Kasse, um sich beraten zu lassen.
Die Bevölkerung ist beunruhigt, allerdings wegen völlig anderer Nachrichten: Grippeviren oder Schlimmeres grassieren. Gerüchte wabern durch das ganze iberische Bundesland. Der tödliche Milzbrand, der vor zwei Jahren fast die ganze verbliebene Menschheit ausgelöscht hat? Jetzt auch hier? Genauso todbringend? Unheilbar?
Schlechte Nachrichten und verhängnisvolle Zeiten.
Das Licht ist zur Senkung des Stromverbrauchs im Laden stark gedimmt. Gut für Zaide, um nicht erkannt zu werden. Es ist kalt. Allgemeine Rationierung der Elektrizität. Keine Heizung. Schlecht für Zaide, weil sie den ganzen Tag friert.
Sie zieht den Reißverschluss ihrer dicken, warmen Strickjacke hoch. Schon vor ihrer Geburt, seit dem Dritten Weltkrieg, ist es auch auf der iberischen Halbinsel deutlich kälter geworden, selbst die inzwischen wieder zahlreicheren Sonnentage erinnern nur entfernt an die Hitze, die vor Jahrzehnten in den südlichen iberischen Bundesländern herrschte.
Immerhin haben die ständigen Aschenregen vor drei Jahren aufgehört. Und nicht mal die Asche ist von den vergangenen Zeiten übrig geblieben. Nur die Kälte.
Schlechte Nachrichten und bitterkalte Zeiten.
Jetzt muss sie endlich die richtige Wahl treffen. Um Freunden oder Bekannten aus dem Weg zu gehen, hat sie sich für einen Drogeriemarkt im Zentrum von Sevilla entschieden. Einwohner aus ihrem heimatlichen Vorort Triana würden hier niemals einkaufen.
Sich so sehr zu genieren. Ist das wohl schon meine Strafe? Dann ist es gerecht. Zaide geht es als überzeugte Katholikin schon irgendwie besser. Selbstkasteiung kann auch guttun. Gefällt einer Katholikin der Rausch oder der darauffolgende Kater besser? Was ist schöner: die Sünde oder die Absolution?
Sie muss trotz ihrer Aufregung grinsen.
Viele Regale sind leer – wie in jedem Geschäft in Sevilla: Die Auswirkungen des jüngsten (und letzten) Weltkriegs sind auch im iberischen Reich zu spüren. Zaide jedoch hat Glück. Es werden für ihre Bedürfnisse viel mehr Produkte angeboten, als sie erwartet hat.
Preisgünstig, einfach und sicher – so steht es auf allen Schwangerschaftstest-Packungen, also kein besonders geeignetes Unterscheidungskriterium. Als typischer Gefühlsmensch orientiert sich Zaide stattdessen am Namen des Produktanbieters. Wenigstens eine Marke kommt mir doch irgendwie bekannt vor: Velázquez, das ist doch dieser berühmte iberische Maler aus der Barockzeit, der hier bei uns geboren wurde und lebte. Ein gutes Omen!
Sie legt die Packung in ihren Korb, hochzufrieden, endlich eine Entscheidung getroffen zu haben. Auf welcher Grundlage auch immer. Dann noch zwei Tuben Zahnpasta und ein Deo. Jetzt noch alles gut im Einkaufskorb verteilen und so unauffällig wie möglich zur Kasse gehen.
Die gelangweilte, füllige Kassiererin scannt alle Waren gleichmütig ein. Auch völliges Desinteresse kann gelegentlich hilfreich sein.
Zaide gibt ihr einen Zwanzig-Peseten-Schein, nimmt das Wechselgeld entgegen, packt die erfolgreich eroberte Ware in ihren kleinen Rucksack und verlässt sehr erleichtert die Drogerie.
Bald wissen wir mehr, Zaide.
Sie spricht gern mit sich, wenn sie zufrieden ist.
Nach einer ereignislosen halben Stunde im alten, verschlissenen Elektrobus erreicht sie endlich ihr Ziel: Die vertraute Rosa-Luxemburg-Straße, nach einer alten fränkischen Revolutionärin benannt, in ihrem vertrauten Stadtviertel Triana, dessen Name noch auf den römischen Kaiser Trajan zurückgeht, der hier geboren wurde. Damals, als Sevilla in der Antike noch Hispalis hieß. Ein schöner Name. Triana. Wie ein Lied.
Damals war die Welt noch intakt! Oder nicht?
Pünktlich zu Hause zu sein, bevor die Elektrizität wie jeden Tag um 18.00 Uhr abgeschaltet und der öffentliche Nahverkehr eingestellt wird, das ist heutzutage wichtig. Strom sparen, denn Wind- und Solarenergie reichen nicht aus, um die iberische Bevölkerung mit genügend Strom zu versorgen. Fossilen Brennstoff gibt es nicht mehr. Atomenergie ist schon seit einigen Jahren, nach dem Dritten Weltkrieg, auch in Iberien verboten worden.
Schlechte Nachrichten und armselige Zeiten.
Sie schließt die Haustür mit ihrer alten Chipkarte auf und begrüßt rasch ihre Mutter in der Küche, die wie jeden Tag zu dieser Zeit mit den letzten Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt ist. Es tut gut, sie wieder auf den Beinen zu sehen, so abgezehrt, verhärmt und schwach ihre Mutter auch auf sie wirkt.
Zaide sieht kurz auf die große Pfanne auf dem Herd. „Lachs? Hm, lecker. Ist er frisch?“
„Wenn er auf deinen Teller kommt, wird er noch nach Luft schnappen. Papa hat ihn gestern mitgebracht. Wie war es in der Schule?“
Nicht schon wieder. Die Standardfrage.
Kurz und knapp berichtet Zaide von den Erlebnissen ihres Tages. Selbstverständlich, ohne den Einkauf in der Drogerie zu erwähnen.
„Kommt Rana zur gleichen Zeit wie immer heim?“, fragt sie noch vorsichtshalber die Ankunft ihrer jüngeren Schwester ab, um nach der bejahenden Antwort ihrer Mutter schnell ihr Zimmer oben anzusteuern. „Dann erledige ich nur noch meine Hausaufgaben und helfe dir gleich“, murmelt sie, die abwehrende Reaktion ihrer Mutter gar nicht mehr registrierend.
Eine halbe Stunde Zeit, bis ihre neugierige jüngere Schwester und ständige Nervensäge wieder zu Hause ist. Allein im Obergeschoss zu sein, das ist jetzt wichtig. Sehr wichtig.
Bald wissen wir mehr, Zaide.
Sie macht sich gern Mut.
Zaide reißt die Packung von „Velázquez“ in ihrem Zimmer auf und überfliegt die klein gedruckte Gebrauchsanweisung.
Die grundsätzliche Methodik und Vorgehensweise hat sie schon tagelang vorher im öffentlichen Kommunikationsnetz nachgelesen: Im Urin existiert – oder nicht – ein Hormon, das durch Benetzung des Streifens sichtbar gemacht wird und nur im Fall einer Schwangerschaft vorhanden ist. Neben dem blauen Kontrollstrich – so wird es ihr auch noch auf einem Bild dargestellt – entstünde innerhalb von zwei Minuten ein weiterer blauer Teststrich, wenn der Test positiv verlief. Sonst entstünde nichts. Nicht sehr kompliziert. Schwanger (blau) oder nicht schwanger (nicht blau). Ganz einfach. Zu einfach? Funktioniert das wirklich?
Seit ihrer letzten Periode sind deutlich mehr als acht Wochen vergangen, also braucht sie auch nicht auf ihren höher konzentrierten Morgenurin zu warten. Sehr gut. Sie will jetzt Gewissheit, keine Verzögerungen, denn gewartet hatte sie schon lange genug für ihren Geschmack. Schwanger oder nicht. Also los jetzt!
Bedauert sie die Nacht Anfang August? Nein, keine Minute. Es war der perfekte Tag, ihr Tag, und er war der perfekte Mann. Sie spürt immer noch diesen süßen Schmerz in ihrem Unterleib, wenn sie an Rafael denkt. Dieses Begehren. Diese bebende Sehnsucht.
Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag fuhren Zaide und zwei Freundinnen an einem Sonntag los: Rota, die Atlantikküste, ihr Lieblingsort. Starker Westwind, blauer Himmel, über 25 °C, herrliche Wellen, feinsandiger Strand und Rafael. Ein junger Elektroingenieur, begeistert von der Solarwärmegewinnung. Etwas älter, ein Lächeln, hellbraune Augen, goldgesprenkelt, zum Versinken, volle Lippen zum Küssen, ein braun gebrannter, durchtrainierter Körper in orangenen Shorts für inspirierende erotische Gedanken. Sie schwammen gemeinsam im Meer, sonnten sich am Strand, unterhielten sich über Gott und die Welt, lachten viel und neckten sich. Sie war sofort unsterblich verliebt. Die beiden Freundinnen fuhren abends zurück – Zaide blieb. „Alles wird gut. Hab keine Angst“, so lautete sein Versprechen, dem sie völlig vertraute. Ihr Tag. Und ihre Nacht. War es richtig? Ja und immer wieder ja! Das Beste in ihrem ganzen Leben. Ihre Nacht. „Ich sorge für dich. Wir sehen uns wieder. Irgendwann. Es wird wahrscheinlich etwas dauern. Alles wird gut. Hab keine Angst!“ Die Verabschiedung. Sie hatte keine Angst. Gar keine.
Sie empfindet nur tiefste Verliebtheit. Unzerstörbare Liebe. Den süßen Schmerz der ersten tiefen Liebe. Den trockenen Mund und die Schluckbeschwerden, wenn sie an ihn denkt. Diese Sehnsucht, die alles überstrahlt. Das Kribbeln im Bauch. Auch tiefer. Nach mehr als acht Wochen denkt sie immer noch jeden Tag an ihn. Und jede Nacht.
Zurück in die Gegenwart. Auch wenn es schwerfällt. Fast rennt sie zum Badezimmer. Gut abschließen und vor dem Schlüsselloch ein Handtuch befestigen – das war für sie schon lange ein gewohntes Ritual. Eine jüngere neugierige Schwester erzieht früh zur Vorsicht. Von den fünf Teststreifen nimmt sie entschlossen den ersten heraus und zieht die Schutzfolie ab. Dann setzt sie sich auf die Toilette, füllt leicht angeekelt ihren Zahnputzbecher mit ihrem Urin und taucht den Streifen kurz ein.
Zwei Minuten warten … eine lange Zeit.
Etwas zittrig legt Zaide den Teststreifen flach auf ein Handtuch, sodass Kontroll- und Ergebnisfelder gut sichtbar sind.
Ihre kalten Hände und Füße spürt sie nicht, aber ihre Aufregung und Ungeduld nehmen immer mehr zu. Ihr Herz klopft schneller. Sie setzt sich auf den Badewannenrand, steht wieder auf und schaut noch einmal auf ihre digitale Armbanduhr. Noch nicht einmal dreißig Sekunden sind vergangen.
Ein leises Seufzen. Zaide sieht sich im Spiegel an.
Komm! Ruhe bewahren. Hab keine Angst, alles wird gut.
Trotz ihrer Anspannung kann sie sich anlächeln und nickt ihrem hübschen Spiegelbild mit den schwarzen lockigen Haaren zu.
Na also. Zuerst erscheint im Fenster des Streifens die angekündigte blaue Kontrolllinie. Der Test hat also funktioniert, ihre Aufregung nimmt jedoch noch weiter zu. Was wird das Ergebnisfenster anzeigen? Ist da eine ganz leichte Verfärbung zu erkennen?
Zaide verändert ihren Blickwinkel und versucht, von links oder rechts mehr zu erkennen. Mein Gott, wie lange dauert denn so etwas?
Sie sieht auf die Armbanduhr, mehr als eine Minute ist verstrichen, also weiteres Abwarten und geduldiges Beobachten. Vorschriften einhalten. Keine ihrer Charakterstärken.
Die Verfärbung des Kontrollfensters nimmt zu, das erkennt sie. Zwar sehr langsam, aber die zweite vergleichende Linie wird immer deutlicher sichtbar. Nur ist es keine blaue Linie, wie im Bild beschrieben, vielmehr leuchtet es immer stärker hellrot. Zaide schüttelt den Kopf. Ihr Mund fühlt sich trocken an, sie versucht zu schlucken. Viele Gedanken schwirren plötzlich in ihrem Kopf herum.
Rot – nicht blau? Keine normale Schwangerschaft? Eine Krankheit? Oder vielleicht Zwillinge? Was bedeutet das? Ein Fehler? Blutrot? Stimmt etwas nicht?
Nun doch verwirrt und besorgt säubert sie das Glas, nimmt das Handtuch von der Tür, schließt leise auf und schleicht so unauffällig wie möglich mit ihrem Testergebnis zurück in ihr Zimmer. An ihrem Schreibtisch sitzend beobachtet sie den Teststreifen noch einmal genauer. Nichts hat sich verändert. Ein blauer Streifen im Kontrollfenster, ein hellroter Streifen im Ergebnisfeld.
Gibt es farblich unterschiedliche Reaktionen bei einem Schwangerschaftstest? Habe ich die Gebrauchsanweisung falsch verstanden oder zu oberflächlich gelesen? Ist das Ablaufdatum des Tests überschritten? Es muss doch eine vernünftige Erklärung geben.
Ruhig bleiben, Zaide.
Noch einmal die Packungsbeilage genau durchlesen. Das Verfallsdatum ist nicht abgelaufen; einen Hinweis auf farbliche Unterschiede kann Zaide nicht finden. Nur der übliche Verweis auf die private Informationsseite von „Velázquez“ im öffentlichen iberischen Netz.
Zaide schaltet ihr Tablet ein. Der elektronische Auftritt des Unternehmens ist professionell und umfangreich. Sie scrollt die Preguntas-frecuentes-Rubrik herunter, wo die häufig gestellten Fragen dargestellt werden, findet viele Fragen und Antworten, aber nicht ihr Thema. Keiner hatte bisher farbliche Unterschiede bemerkt, geschweige denn einen roten Ergebnisstreifen.
Es bleiben die abschließende Erwähnung einer Telefonberatung und der Rat, im Zweifel immer einen Frauenarzt aufzusuchen. Toll. So viel zu unserer fortgeschrittenen medizinischen Versorgung, von der mir meine große Schwester Kimmi immer vorgeschwärmt hat. Kimmi, die begeisterte Ärztin. Seit Monaten verschollen.
Wieder muss sie ihre Angst herunterschlucken.
Schlechte Nachrichten und unsichere Zeiten. Womöglich tödliche Zeiten?
Sie wird jäh aus ihren Gedanken gerissen. Mit lautem „Hallo“ kehrt ihre jüngere Schwester Rana heim. Zaide verstaut die Testpackung inklusive ihres gebrauchten Streifens im hintersten Teil ihrer Schreibtischschublade und läuft die Treppe hinunter zur Küche, wo sie schon von der drei Jahre jüngeren Rana mit einem bissigen „Warum hast du Mama nicht geholfen?“ begrüßt wird.
Zwar schreitet ihre Mutter sofort ein und meint: „Die Küche bewältige ich nun wieder sehr gut allein, aber das Abschlusszeugnis kann nur Zaide zustande bringen.“
Doch Rana legt sofort nach: „Du weißt doch, wie schlecht es Mama geht und wie schwach sie ist!“
Eine kurze Stille.
Ja, es stimmt wirklich, nach einer schwierigen Woche im Krankenhaus fühlt sich Manuela de Sortiento noch immer kraftlos, matt und erschöpft. Sie, die sonst energische, temperamentvolle und energiegeladene Ibererin. Schwere Bronchitis? Dunkle Flecken auf beiden Lungenflügeln? Alles heilbar! Oder?
Noch viel schlimmer ist für Manuela de Sortiento, dass sie von ihrer ältesten Tochter Kimmi seit Monaten kein Lebenszeichen mehr erhalten hat. Spurlos in Aachen verschwunden, hieß es vom militärischen Nachrichtendienst. Auch die katholischen Hilfsdienste wussten nichts. Die Sorgen prägen jeden ihrer Tage. Aber sie kämpft. Für die ihr verbliebene Familie. Sie bekommt jetzt wieder etwas besser Luft, die Antibiotika haben bereits ein wenig geholfen. Und das Krankenhaus war ja sowieso völlig überfüllt. Eine Grippeepidemie? Schon im Oktober? Es gibt wohl viele Todesfälle. Die iberischen Behörden schweigen sich aus. Kein Grund zur Sorge, so lauten die offiziellen Verlautbarungen.
Dann wird es immer Zeit, Angst zu bekommen. Keinerlei Ansteckungsgefahr, hieß es. Alles im Griff.
Wirklich alles? Unsinn!
„Bringt meine Küche bloß nicht in Unordnung, ich werde ja wohl das Abendessen noch allein zubereiten dürfen! Hoffentlich habt ihr genug Hunger! Und jetzt raus hier!“ So treibt sie die Töchter mit zwei energischen Handbewegungen und einem leichten Schubser aus dem Raum.
Rana sieht Zaide immer noch empört nach. Mit dreizehn Jahren ist ihre Welt noch einfach und glasklar: Ihrer Mutter geht es schlecht, ihre älteste Schwester fehlt so sehr, und Zaide tut gar nichts. Rana ist keine Schwester, die sich mit ihrer Meinung zurückhält. Und sie hat eine feste, lebenslange Überzeugung: Zaide ist völlig zu Unrecht die Lieblingstochter ihrer Eltern. Ständig bevorzugt. Immer angehimmelt.
Es klingelt zweimal kurz. Die bedrückte Stimmung der drei Sortiento-Frauen schlägt blitzartig um. Wenn das Familienoberhaupt heimkommt, so langweilig sein Job bei der iberischen Staatsbahn auch ist, herrscht gute Laune. Er betritt die Wohnung mit den typischen kurzen Bewegungen eines kleinen, korpulenten Mannes und ruft laut lachend seine Familie zusammen: „Kommt, schaut mal. Das gibt’s nur einmal. Nur bei uns. Sortiento de luxe, voilà!“ Sein Standardspruch. Obwohl er die fränkische Sprache überhaupt nicht beherrscht. So wenig wie seine Frau.
Jedes Mal bringt er nicht nur von seiner üblichen Strecke Sevilla-Pamplona Köstlichkeiten aus dem Norden mit (Fisch, Käse, Wein, Gebäck, Wurst, Kuchen – alles, was so im Speiserestaurant des Zugs übrig blieb), sondern vor allem seine ansteckende gute Laune und Fröhlichkeit. Er breitet seine Mitbringsel auf dem Küchentisch aus wie ein Jäger seine Beute. Verbunden mit vielen Geschichten über Fahrgäste, Kollegen oder Begebenheiten auf der Strecke. Immer lustige Geschichten. Nur keine Erzählungen von Problemen. Nur das nicht.
Es wird viel gekichert, das Abendessen auf dem Balkon genossen, über Nachbarn geklatscht und über Familienmitglieder hergezogen, alles Düstere verschwindet. Auch Zaide ist erleichtert. Sie hat sich schon vor dem Abendessen entschlossen: Eine Telefonberatung anrufen, nein, das ist viel zu anonym und bestimmt nicht vertrauenswürdig genug. Also einen Termin bei Frau Dr. Trabajal, ihrer Frauenärztin, vereinbaren, morgen … noch vor der Schule. Die Familie informieren, dafür bleibt ja immer noch viel Zeit. Und worüber eigentlich? Über einen roten Ergebnisstreifen?
Und gibt es überhaupt ein dringendes Problem? Zaide trägt selten figurbetonte Kleidung, ist von Natur aus mit deutlichen weiblichen Rundungen ausgestattet. Wegen ihrer Brüste beneiden sie ihre Freundinnen und sehen ihr die Männer nach. Könnte sich ihr Körper vielleicht schon ein wenig geändert haben? Hat meine Körbchengröße zugenommen? Ist mein Bauch leicht gewölbt?
Eine Woche später. Im Wartezimmer ihrer Gynäkologin beobachtet Zaide die anderen wartenden Frauen. Die Patientin neben ihr wirkt so hochschwanger, dass ihre Niederkunft bestimmt sehr bald bevorstehen muss. Wie kann ein Bauch so kugelrund werden? Wird das bei mir womöglich auch so sein?
Ihr gegenüber sitzt eine andere junge Frau, die sich in männlicher Begleitung befindet. Beide husten sehr häufig, die Ausmaße der Epidemie sind inzwischen fast überall sicht- und hörbar. Mit einem Merkblatt wie sie selbst ausgestattet, lesen die junge Frau und ihr Begleiter konzentriert den Text und unterhalten sich leise. Zaide wendet sich wieder ihren eigenen langweiligen schriftlichen Informationen zu. Sehr vielen Informationen.
Muss ich das alles wissen?
Aus dem Untersuchungsraum von Dr. Trabajal kommt eine kleine, schlanke, drahtige, durch ihre dunklere Haut fremd wirkende Patientin auf Zaide zu, gerade als diese aufgerufen wurde und aufsteht. Die Fremde umarmt die völlig überraschte Zaide und nimmt ihr Gesicht in beide Hände, um sie schnell auf beide Wangen und ihre Stirn zu küssen. Zaide versteift sich, die nordafrikanisch wirkende Frau betrachtet sie jedoch liebevoll: „Alles wird gut. Hab keine Angst!“ Dann verschwindet sie schnellen Schrittes, ohne sich noch einmal umzudrehen, aus dem Wartezimmer.
Zaide sieht ihr verblüfft nach.
Eine Verwechslung? Die gleichen Worte, die Rafael ihr immer wieder zwischen vielen Küssen und Liebkosungen zuflüsterte: „Alles wird gut. Hab keine Angst!“ Zaide lächelt verblüfft, schüttelt den Kopf und ermahnt sich, in den Untersuchungsraum weiterzugehen. Es geht ihr wieder besser. So ein Zufall. Kann das sein?
Alles wird gut oder alles ist gut?
Kommt es Zaide nur so vor? Die hochgewachsene, ältere Frauenärztin blickt sie – auf ihrem Untersuchungsstuhl – sehr streng an, wird aber freundlicher, als die Ultraschalldiagnose für beide im Bildschirm sichtbar erscheint. Zaide ist erst schockiert („Mein Gott, ich bin tatsächlich schwanger“) und dann begeistert.
Noch nie habe ich so etwas Schönes gesehen! Schon so viel zu erkennen? Ein Wunder! Das Herzchen pulsiert heftig und gleichmäßig, der kleine Kopf und alle winzigen Gliedmaßen sind gut zu erkennen. Und noch ein weiteres untrügliches Zeichen … oder besser das Fehlen dieses Zeichens.
„Es wird ein Mädchen, oder?“
Frau Dr. Trabajal nickt: „36 cm, etwa 750 Gramm nach der Vermessung, das ist wirklich eine prachtvolle Erscheinung. Wunderbar. Vollkommen. Wir haben selten so ein gutes Bild im Ultraschall. Nur ihre Aussage zur letzten Periode, die kann nun wirklich nicht stimmen. Sie sind in der 29. oder 30. Woche, mein Kind.“
Zaide schaut die Ärztin verwirrt an. Wie kann das sein? 30 Wochen, das bedeutet vor mehr als sieben Monaten – im April?
So ein Unsinn. Vor und nach Rafael war ich mit niemandem zusammen. Was hat die Ärztin gerade gefragt?
„Ist Ihr Partner auch mitgekommen?“
„Nein.“ Auch das noch. Peinlich. Wieder eine Strafe. Maßregelnde Blicke.
Dr. Trabajal seufzt hörbar. „Sie sind volljährig. Aber sie sollten baldmöglichst wenigstens einen Geburtsvorbereitungskurs besuchen“, fügt sie wieder etwas vorwurfsvoller hinzu und drückt Zaide nach der Untersuchung einen weiteren Merkzettel in die Hand. „Lesen Sie sich alles gut durch. Sprechen Sie mit Ihrer Familie. Wenn Sie Fragen haben, können Sie jederzeit in die Praxis kommen. Den Folgetermin machen Sie bitte mit meiner Arzthelferin aus. Dort wird auch Ihre Akte angelegt. Alles Gute weiterhin!“ Eine Routine-Verabschiedung.
Nach mehr als einer Stunde Wartezeit und einer fünfzehnminütigen Untersuchung ist Zaide entlassen. Auf den eigentlichen Anlass des Arztbesuchs, ihren Schwangerschaftstest, kommt sie gar nicht mehr zu sprechen, so viele Gedanken schwirren durch ihren Kopf. Unbewusst streicht sie über ihren Bauch. Schwanger! Und der Vater? Wie waren seine Worte zur Verabschiedung? „Ich sorge für dich. Wir sehen uns wieder. Alles wird gut. Hab keine Angst.“
Zaide hatte keine Angst.
Nur das von der Gynäkologin ausgerechnete Datum – das kann doch nicht sein. Dreißig Wochen, rechnet Zaide wieder nach. Also eine Empfängnis im April? Blödsinn. Es war im August. Eigenartig. Sie schüttelt kurz den Kopf. Wahrscheinlich ein Computerfehler. Oder eine besonders schnelle Schwangerschaft. Gibt es so etwas? Können Schwangerschaften derart unterschiedlich verlaufen?
Die Ultraschallergebnisse waren eindeutig alle sehr positiv, Frau Dr. Trabajal hatte mehrfach die Worte „perfekt“ und „fabelhaft“ verwendet. Alles sei bisher hervorragend verlaufen. Zaide könne sehr glücklich sein. Mutter und Tochter seien kerngesund.
Sie denkt an Rafael. Es wird unsere Tochter. Alles ist gut. Ich werde Mutter. Dann nach und nach jedoch auch: Wie bringe ich das meiner Familie bei?
Der Oktober und der November verstreichen, es wird kalt und regnerisch, die Grippe fordert erschreckend viele Todesopfer im ganzen Land. Quarantänen werden verordnet, Ausgangsverbote, öffentliche Einrichtungen geschlossen, Massenveranstaltungen verboten. Gerüchte gehen um. Furchtbare Veränderungen bei immer mehr Erkrankten werden publik. Anscheinend wurden sie nicht nur sterbenskrank, sondern auch wahnsinnig. Sie verwandeln sich nach und nach zu wandelnden Ungeheuern. Zu völlig Verrückten. Zu bluttrinkenden Bestien.
Zaide dagegen fühlt sich körperlich unheimlich wohl, ist guter Stimmung und freut sich auf zwei besondere Feiertage, die in ihrer Familie traditionell ausgiebig gefeiert werden: der 6. Dezember, der Tag der ersten freien iberischen Verfassung, und der 8. Dezember, das Fest der unbefleckten Empfängnis von Maria. Zwei Feiertage, schulfrei, zwei fröhliche Tage mit der ganzen Familie, sogar ihr Onkel Javier, der hier ganz in der Nähe von Sevilla als Ingenieur lebt und arbeitet, und ihre Tante Corazon aus Barcelona mit ihrem Mann und den beiden Kindern Sofia und Alexander, sind angereist. Zwei Tage, um in Ruhe eine notwendige Unterhaltung mit ihrer Mutter führen zu können, wenn die anderen beschäftigt sind. Es lässt sich auch äußerlich kaum noch verstecken. Wenigstens mit ihrer Mutter muss sie nun sprechen.
Am Vorabend des Festes der Unbefleckten Empfängnis nimmt die ganze Familie de Sortiento immer an den Gesängen auf dem gleichnamigen riesigen Platz mitten in Sevilla teil. Mit Unbefleckter Empfängnis kann Zaide zwar nicht dienen, doch es wird jetzt wirklich Zeit, ein gewisses Thema anzuschneiden, findet Zaide.
Die Mutter bleibt in diesem Jahr zu Hause, sie ist wieder schwächer geworden, hat immer öfter Atemnot und benötigt inzwischen regelmäßig ihr Kortison-Inhalationsspray.
Die Atmosphäre in der Familie ist gedrückt. Keiner achtet besonders auf Zaide, die an diesem Abend in der elterlichen Wohnung bleibt, um ihre Mutter nicht allein zu lassen, wie sie sagt.
In Wirklichkeit nicht nur darum. Es ist höchste Zeit für ein Gespräch unter Frauen. Ihre sonst so neugierige Familie hat bisher nichts gemerkt. Abgelenkt von abscheulichen Nachrichten (Immer mehr Mörder? Vergewaltiger? Bluttrinker?) aus dem ganzen Land. In großer Sorge um ihre immer schwächer werdende Mutter. Und um die verschwundene Kimmi. Keine neuen Informationen von den Hilfsdiensten. Ein Rätsel. Spurlos verschwunden in Aachen, so heißt es. Unerklärlich. Bedrückend. Tot?
Auch Zaide gehen viele Gedanken durch den Kopf. Und nun noch meine Schwangerschaft. Egal, es muss jetzt sein! Endlich allein.
„Mama, könnte ich mit dir einmal in Ruhe sprechen?“, beginnt sie vorsichtig und setzt sich mit ihrem Stuhl neben die bequeme Couch im Wohnzimmer, auf der ihre Mutter ruht, erschöpft und abgemagert, die Augen in dem kleiner gewordenen Gesicht noch größer als sonst, allerdings trübe, matt und glanzlos.
„Ach, du brauchst nichts zu sagen“, wehrt ihre Mutter ab, „ich sehe doch, was mit dir los ist, ich bin doch schließlich deine Mutter.“
Zaide sieht sie erstaunt an: „Du siehst es mir tatsächlich schon an?“
„Natürlich, ich kenne dich doch in- und auswendig, wie kein anderer, seit über achtzehn Jahren. Ich bin wohl etwas schwach, aber nicht blind, das fällt mir doch auf“, lächelt ihre Mutter sie tapfer und aufmunternd an.
„Ich hatte eigentlich gedacht, dass niemand …“
„Auch mit deinem Vater habe ich schon ausführlich darüber gesprochen.“
Zaide hält kurz den Atem an und schluckt. „Und was meint er?“
„Was soll er sagen? Das ist doch völlig natürlich in dieser Situation, das ist nichts Ungewöhnliches, da denkt er genauso wie ich.“
Zaide schweigt. Damit hat sie nun gar nicht gerechnet. „Und du brauchst dich doch nicht zu schämen. Weißt du, jede Frau reagiert da anders, das hat auch Tante Corazon gesagt.“
„Mit ihr hast du auch schon gesprochen?“
„Natürlich, sie ist meine Schwester, das muss man in der Familie diskutieren, da ist nichts Schlimmes dran. Du musst dich doch deswegen wirklich nicht schämen.“
„Schlimm finde ich es auch nicht“, meint Zaide benommen, „allerdings fällt es mir doch ziemlich schwer, so unbefangen mit euch allen über dieses Thema zu sprechen.“
Ihre Mutter richtet sich mühsam auf und lädt Zaide mit einer Geste ein, sich neben sie aufs Sofa zu setzen. Zaide nimmt neben ihrer Mutter Platz und wird sanft von ihr am Unterarm gestreichelt.
„Es ist wirklich gut, dass wir jetzt einmal ganz unter uns sind. Ich hätte mir viel mehr und viel früher Zeit für dich nehmen sollen. Natürlich sehe ich schon lange, wie viel Angst du hast und wie bedrückt du bist.“
„So viel Angst habe ich jetzt auch wieder nicht …“
„Ach was, es ist doch für uns alle eine Situation, die wir uns nicht gewünscht haben. Ich besonders nicht. Wir müssen lernen, damit zu leben, und wir werden das gemeinsam bewältigen. Wir sind stark! Wir sind immer füreinander da! Kimmi wird wieder gesund zurückkehren, davon bin ich fest überzeugt. Dir wird es gut gehen, ich werde wieder gesund. Unsere Wissenschaftler werden eine Arznei gegen die Epidemie finden. Ich glaube fest daran!“
Jetzt fängt Zaide entgegen ihren Vorsätzen doch an zu weinen und muss schluchzen: „Mama, ich liebe dich ganz schrecklich, und ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein könnte, so gut werden würde, darüber mit dir zu sprechen.“
Ihre Mutter schließt sie noch fester in die Arme, und auch ihr kommen jetzt die Tränen. „Das weiß ich doch. Weißt du, derzeit verändert sich unser aller Leben. Es ist für uns alle unheimlich. Dass du traurig bist, dass du dir Sorgen machst und erschrocken bist, das spüre ich doch.“ Ihre Mutter hustet leicht und macht entkräftet eine lange Pause.
Zaide will sie nicht unterbrechen und spekuliert in Gedanken mit verschiedenen weiteren Gesprächsverläufen:
„Wir werden gemeinsam für dein Kind sorgen. Wir sind alle für dich da und werden dich unterstützen, so gut wir es nur können und mit Gottes Hilfe. Du wirst dein Studium nach der Schule absolvieren, so wie Kimmi, ich verspreche es dir!“ (JA!)
„Wir werden mit meiner Tante, der Äbtissin des Klosters der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz, sprechen. Sie nimmt immer Neugeborene auf und sucht gute Eltern für sie, deren Kinderwunsch sich nicht erfüllt.“ (Kommt überhaupt nicht infrage!)
„Wir werden das Neugeborene zunächst deiner Tante Corazon geben, die schon zwei Kinder hat und durch ihren Mann sehr vermögend ist. Sie liebt Kinder so sehr und kann ihnen in dem modernen Barcelona eine gute Zukunft eröffnen.“ (Vielleicht kurz, zeitweise?)
Stattdessen seufzt ihre Mutter leise und fährt fort: „Dass du in solchen schwierigen Zeiten etwas Kummerspeck ansetzt, das ist doch nicht schlimm. Wenn meine Schwester und ich unglücklich waren, haben wir früher auch Heißhunger auf alle möglichen Süßigkeiten gehabt. Und du kennst ja Kimmi und ihren Verbrauch von andalusischem Gebäck. Das liegt wohl in der Familie. Wie unsere verlängerten Ringfinger. Da ist doch nun eine schlanke Figur überhaupt nicht wichtig. Und Papa meint auch, wenn dich Rana weiter hänselt, dann wird er noch ganz energisch einschreiten.“ Ihre Mutter lehnt sich müde zurück und schließt erschöpft ihre Augen.
Ein längeres Schweigen entsteht. Das war es also? Das war also in der Familie besprochen worden. Sie sei dick geworden. Einfach nur füllig? Mehr nicht? Wie soll Zaide jetzt ihr Anliegen loswerden? Was jetzt? Auch die Beantwortung dieser Frage wird ihr abgenommen. Ihre Mutter öffnet ihre Augen und lehnt sich vor.
„Ach, Zaide, jetzt wollen wir schlafen gehen. Wenn es irgendwie möglich ist, möchte ich morgen zur Kathedrale mitgehen. Ich bin froh, dass wir endlich einmal genug Zeit hatten, uns auszusprechen.“
Ihre Mutter küsst sie mit trockenen Lippen nochmals auf den Mund, steht auf und geht mit schlurfenden Schritten todmüde in Richtung des Elternschlafzimmers.
Zaide sieht ihr besorgt nach und ist nicht mit sich zufrieden, was selten vorkommt. Ein anderes Mal, aber bald. Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr, das spürt sie deutlich. Die Kindsbewegungen nehmen vor allem im Liegen deutlich zu. Bald wird es so weit sein. Bestimmt!
Um 21.00 Uhr ins Bett? Warum nicht?
Zaide bemerkt nun ihre eigene Erschöpfung und macht sich – nie hätte sie es geahnt – zum letzten Mal als Schwangere fertig für die Nacht. Sie ist selbst über sich erstaunt, wie glücklich sie ist. Liebevoll streicht sie sich vor dem Einschlafen über ihren Bauch. Was für eine schöne Zeit! Wie gut sie sich fühlt! Voller Zuversicht. Gesund. Erfüllt! Wie sie sich auf ihre Tochter freut, wie gut es ihr geht. Eine Tochter! Wie viele Chancen sich ihrer Tochter wohl in der Zukunft bieten werden? Sie würde alles für sie tun, alles! Ein ganz besonderes Kind, da ist sie sich ganz sicher. Ein Wunderkind. Ein außerordentliches Mädchen. Bestimmt. Einzigartig. In dieser schwierigen Zeit. Eine neue Hoffnung. Alles wird gut. Ich brauche keine Angst zu haben. Mit ihr wird alles gut.
Sie schläft sofort ein.
Zaide träumt. Sie sieht wieder den Atlantikstrand von Rota. Blauer Himmel, riesige feine Sandstrände, fröhliche Menschen, alle sind gesund und glücklich, keine Krankheiten und keine Kriege, leichter und erfrischender Wind, herrlicher Sonnenschein. Zaide kann die salzige Meeresluft schmecken, kann die Lebensfreude um sie herum fühlen, das pulsierende Dasein, Heiterkeit, Unbeschwertheit.
Keine Quarantänen, keine Ausgangsverbote, keine Mundschutzmasken.
Rafael lächelt sie an. Wieder dieses einmalige vertraute Lächeln. Goldgesprenkelte braune Augen. Küsse. Zärtliche Umarmungen. Und mehr. Sie gibt sich ihm gern hin, erwidert seine Liebkosungen, spürt, wie er sie liebt. Sie bebt. Jedes Mal. Unglaublich. Wie real können Träume sein?
Wieder die guten Gespräche. Das Gelächter. Das Necken. Das Streicheln. Die Geborgenheit.
Wieder ein langer Spaziergang am Meer. Sehr lang. Ewig.
Ein kleines Mädchen kommt aus dem Meer auf sie beide zu, das gleiche Lächeln wie ihr Vater, seine goldgesprenkelten Augen, seine Bewegungen, ein kleines Ebenbild, aber helle, lange, feine Haare, sieben Jahre vielleicht, wunderschön. Zaide will sie auf den Arm nehmen, um sie zu liebkosen, aber sie ist viel zu schwer für Zaide.
Rafael hebt sie hoch, sodass sie ihre Tochter endlich streicheln, liebkosen und küssen kann. Die Kleine kichert, jauchzt und erwidert vergnügt die Küsse. Zaide will so gern mit beiden nach Hause gehen, allerdings weiß sie auch ohne Worte, dass ihr das noch nicht möglich ist. Doch sie haben ja noch Zeit genug. Unendlich viel Zeit. Sie bauen im Sand eine fantastische Ritterburg, sie lassen einen roten Drachen endlos hoch steigen, sie genießen ein riesiges Schokoladeneis auf einer weißen Bank. Sie besitzen ein großes Zelt direkt am Strand. Weiße Stühle unter dem Zeltdach. Gemeinsames Abendessen bei Sonnenuntergang. Die Dämmerung setzt ein. Doch es bleibt so angenehm warm. Der Sternenhimmel leuchtet über ihnen. Die Milchstraße ist gut erkennbar.
Eine kleine Familie. Vollkommenes Glück. Lachen. Erzählen. Lieben. Ewigkeiten. Unendlich.
Langsam wird Zaide wach. Sie lächelt immer noch.
Jemand gibt ihr mit seinem kleinen Mund einen Kuss und noch einen und noch einen und noch einen. Eine kleine Hand streicht ihr eine Haarlocke aus der Stirn. Zaide macht die Augen auf, blinzelt und lächelt. Ein Mädchen strahlt zurück: „Ich bin Maevia.“
Ein kleines Mädchen liegt neben ihr, mit Rafaels Lächeln und Rafaels Augen. Sieben oder acht Jahre alt? Meine Tochter? Unsere Tochter? Zaide blinzelt. Ihr schönster Traum geht weiter? Sie sieht zur anderen Seite ihres Bettes.
Der Wecker auf ihrem Nachttisch zeigt 8.13 Uhr. Beginnendes Morgenlicht erhellt den Raum ein wenig. Das vertraute Bücherregal. Ein Poster von Rota. Nein, ich bin wach! Sie dreht sich wieder zurück, überzeugt, nur weitergeträumt zu haben, doch das kleine Mädchen lächelt sie immer noch liebevoll an.
Kein Traum. Zaide setzt sich etwas benommen auf, aber sie fühlt sich hungrig, kräftig, entspannt und wach. Maevia nimmt in einer fließenden, eleganten Bewegung im Schneidersitz neben ihr Platz.
So schön wie ihr Vater! Wie kann sie sich so bewegen, so vollkommen sein? Zaide streichelt über ihren kleinen Kopf und fährt durch ihre hellblonden, fast weißen schulterlangen, seidigen Haare. „Du kannst nicht bleiben, oder?“, fragt sie mit besorgter Vorahnung.
Maevia schüttelt sanft den Kopf, sieht sie kurz fast traurig und mitleidig an und meint dann mit ihrer ganz leisen, langsamen, hohen Stimme. „Wenn du mich rufst, werde ich immer versuchen, zu dir zu kommen.“ Jetzt lächelt ihre Tochter sie wieder an. „Immer, wenn du mich brauchst.“
Mit der linken Hand streicht Zaide instinktiv über ihren flachen Bauch. Sie fühlt sich gesund, stark und hat großen Appetit. „Wann musst du gehen?“
„Jetzt.“ Das kleine Mädchen steht wieder mit einer anmutigen Bewegung auf, um sie kurz zu umarmen, immer wieder zu küssen und noch einmal lange anzusehen. Die gleichen hellbraunen, goldgesprenkelten Augen zum Versinken. Mit einer Abschiedsgeste streichelt das Mädchen über den dunklen Lockenkopf von Zaide und hat Tränen in den Augen: „Das Virus. Es mutiert. Es kam von Norden her und breitet sich aus. Wir können nichts mehr dagegen tun.“
Vor den Augen von Zaide verblasst das Bild ihrer Tochter. „Maevia, bitte bleib, was …?“
„Ich versuche, dir zu helfen. Mit meiner Geburt bist du immun. Wenigstens du. Alles wird gut. Hab keine Angst. Mein Vater ruft mich.“
Dann ist sie verschwunden.
Iberien – um 134 v. Christus
1. Gaius Marius
In der Nähe von Numantia, im Frühjahr 134 v. Chr.
Am schlimmsten war diese Kälte. Gaius Marius hatte den Winter nie gemocht. Winter bedeutete für ihn Dunkelheit, Nässe, Frieren. Und dann noch hier. In Iberien. So weit weg von zu Hause.
Das Gelände war nun nicht mehr so schroff und gebirgig, nicht mehr so dicht bewaldet, es wellte sich jetzt wie eine runzelige Haut. Kleine Bäche und gut gefüllte Flussbetten versuchten immer wieder vergeblich, den römischen Vormarsch zu stören.
Krähenschwärme begleiteten sie seit einiger Zeit. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn die Krähen kamen. Sie wussten, wann es sich lohnte, sich zu sammeln. Sie schrien laut ihre Vorfreude hinaus, wie eine höhnische Vorwarnung. „Wir kriegen euch. Wir kriegen euch alle. Kräh. Alle. Kräh. Kräh.“ Gaius Marius hatte auch Krähen nie gemocht.
„Tausende Römer haben in dieser von allen Göttern verlassenen Gegend ihr Leben gelassen. Jetzt sind wir also an der Reihe.“ Sixtus Selentius kam aus Arpinum, südöstlich Roms, wie Gaius Marius auch, er hatte allerdings eine noch deutlich pessimistischere Lebenseinstellung. Der traurige Sixtus. Schmaler und länger als Marius, jedoch bei Weitem nicht so viel Vitalität wie dieser ausstrahlend. Er wirkte mehr wie ein Priester, der ständig mit Bestattungszeremonien zu tun hatte. Trotzdem schätzte Marius ihn sehr, war mit ihm seit Kindertagen befreundet und ritt oft an Sixtus’ Seite. Anscheinend habe nicht nur ich düstere Vorahnungen. Aber bei Sixtus wäre alles andere ja auch ungewöhnlich.
„Natürlich werden wir alle sterben. Irgendwann“, meinte Marius gleichmütig.
Seit fünf Tagen näherte sich die vierte Legion Latium langsam ihrem Ziel, einer sehr gut befestigten iberischen Stadt, Numantia genannt, die seit vielen Jahren Zentrum des iberischen Widerstands war.
Numantia. Der Schrecken vieler römischer Feldherrn. Vieler erfolgloser römischer Feldherrn.
„Blödsinn. Jetzt wird alles anders. Mit Scipio Aemilianus als Feldherr können wir nicht verlieren. Er hat Karthago vernichtet, und er wird die aufständischen Iberer vernichten.“
Der junge Reiter hinter ihnen, Magnus Perperna, gab die neue Hoffnung des römischen Heeres wieder. Zwei römische Legionen mit jeweils fast fünftausend schweren Infanteristen sowie jeweils einer gut ausgebildeten Legionsreiterei mit deutlich über hundert Berittenen sollten doch in der Lage sein, Numantia zu erobern. Magnus Perperna war begeistert und träumte von unvergänglichem Ruhm. Magnus Ibericus? Vielleicht würde bald ein Ehrenname ihn schmücken. Oder Gold und Silber sein Leben versüßen.
„Hat irgendjemand den Mann überhaupt schon gesehen? Wahrscheinlich befindet er sich noch in Rom und feiert seine früheren Siege. Ehemalige Siege. Siege vor sehr vielen Jahren.“ Sixtus Selentius spuckte aus und fügte hinzu: „Wenn er klug ist.“
„Scipio Aemilianus ist in diesem Jahr unser Konsul und oberster Befehlshaber. Der Senat hat ihn einstimmig entsandt, auch wenn sein erneutes Konsulat eigentlich rechtlich unmöglich ist. Ein weiterer Bruch der römischen Verfassung durch die Aristokratie. Die Patrizierfamilien glauben, der Staat gehöre ihnen. Jedenfalls muss Scipio nun die Legionen vor Numantia selbst anführen. Sonst entehrt er sich und seine Familie.“ Marcus Tullius war Stellvertreter von Gaius Marius, kam ebenfalls aus Arpinum und ritt auf seiner anderen Seite.
Die aktuelle römische Politik interessierte den stämmigen Marcus Tullius sehr, er war schon oft in Rom gewesen und sympathisierte mit den Reformern, den Popularen, den Anhängern der Gracchen, was allerdings keinen seiner Kameraden interessierte.
„Er ist ein Säufer und ein Hurenbock. Wie alle Senatoren.“ Sixtus ließ sich nicht für römische Politik begeistern, hatte jedoch eine klare Vorstellung von der herrschenden römischen Klasse.
„Unser Centurio hat gesagt, er kennt Scipio noch von Karthago her und schätzt ihn sehr. Hilarius Vipsanius hat eine gute Menschenkenntnis. Scipio würde klug, umsichtig und pragmatisch handeln. Ich bin gespannt, wann er zu uns stößt. Dann werden wir sehen.“ Marius diente seit über fünf Jahren in der römischen Armee und war seit Beginn dieses Jahres bereits zum Decurio aufgestiegen, er führte als einer der fünf Decurionen der Legion einen Teil der Reiterei der vierten Legion Latium. Jeder Decurio befehligte etwa dreißig Berittene. Die fünf Decurionen standen unter dem Befehl von Hilarius Vipsanius, einem mit seinen fünfunddreißig Jahren schon sehr erfahrenen und lang gedienten römischen Centurio.
„Wir haben hier doch überhaupt keine Chance, einen Sieg zu erringen. Wie viele iberische Stämme werden uns wohl diesmal von allen Seiten überfallen, wenn wir unser Lager vor Numantia errichten? Zehntausende von selbstmörderischen Wilden mit ihren unberechenbaren Magiern und ihren keifenden Weibern. Was soll unser weiser Scipio da ausrichten?“, brummte Sixtus. „Ein einziger alter Mann. Vergreist und versoffen.“
„Wenn er Karthago erobert hat, wird es ja wohl für Numantia auch reichen“, wehrte sich der junge Magnus Perperna hinter ihnen.
„Ja, das haben die konsularischen Feldherren vor ihm auch immer gesagt. Ich habe die Gallier geschlagen. Ich habe die Germanen geschlagen. Ich habe die Hopliten Makedoniens geschlagen. Immer die gleiche Leier“, meinte Sixtus schlecht gelaunt wie immer. „Und seit Jahren haben alle in Iberien versagt. Die geschlagenen Feldherren begeben sich danach zu ihrem Ruhesitz am Mittelmeer, die Legionäre in die Unterwelt des Pluto, nachdem sie ordnungsgemäß massakriert und abgeschlachtet wurden. Und wofür das Ganze? In diesem abgelegenen, weit von Rom entfernten, fremden Land? Wo wir wahrscheinlich so in der Minderheit sind wie die Parther in Rom!“
„Schlachten werden nicht immer von denen gewonnen, die in der Überzahl sind“, brummte Marius genervt. Allerdings sehr oft. Die ständigen Zweifel des Sixtus Selentius wurden selbst ihm manchmal zu viel, auch wenn er dessen Sorgen gut nachvollziehen konnte. Er ist bestimmt nicht der Einzige, der Zweifel hegt. Aber keiner spricht dauernd darüber, bei Jupiter! „Rom wird auch hier in Iberien herrschen. Wir sind von den Göttern dazu ausgewählt. Wir sind die vierte Legion Latium. Wir werden Numantia vernichten!“ Marius sprach lauter, damit auch seine eigenen Gedanken übertönt wurden.
„Zu Befehl, Decurio!“ Sixtus spürte, dass er nun schweigen sollte. Wenn die Götter ins Spiel kamen, duldete kaum noch jemand Widerspruch. Doch er wusste genau, dass er mit seinen Zweifeln nicht allein war.
Numantia. Allein der Name der iberischen Stadt löste in Rom Wut und Erschrecken aus. Je nach römischem Temperament und römischer Stimmungslage.
Schlimmer noch: Es wuchsen Zweifel an der eigenen Ausgewähltheit, an der eigenen Größe, an der eigenen Bedeutung.
Religiöse Zweifel: Waren die Götter wirklich auf der Seite Roms?
Strategische Zweifel: War Rom überhaupt in der Lage, die Welt zu beherrschen?
Zweifel am Sinn: Was soll Rom in diesen fernen, gottverlassenen Ländern? Wem nutzte das?
Und vor allem politische Zweifel: Wussten die herrschenden römischen Patrizierfamilien eigentlich noch, was sie taten? Konnten sich die römischen Bürger auf den Senat, die Konsuln, die Prätoren, die Feldherren verlassen? Was waren das eigentlich für Anführer? Die sollten Rom in die richtige Richtung lenken? Ausgerechnet die, die hier in Iberien so oft versagt hatten?
Numantia. Wiederholte Niederlagen. Tausende Tote. Drohender Machtverlust im Westen. Das Ende Roms? Das Ende der Senatoren?
Gab es Antworten der römischen Aristokratie? Natürlich. Die üblichen Antworten. Patriotismus. Appelle an die Ehre. Mahnungen. Zukunftsvisionen. Durchhalteparolen. Noch mehr Steuern. Noch mehr Truppenaushebungen. Mehr Geld für die Armee. Prophezeiungen. Götterbefehle.
Mehr Freiwillige für die Armee gewinnen. Mit Sesterzen locken. Gutes Land nach zwanzig Jahren Kriegsdienst versprechen. Auch weniger Vermögende anlocken. Das Heer wurde proletarischer, plebejischer. Viele lehnten die Veränderungen ab, vor allem die Konservativen. Die Mehrzahl begrüßte (noch) die Maßnahmen. Was waren die Alternativen, wenn man ein Imperium errichten wollte? Wie sollte der Stadtstaat Rom sonst die Welt beherrschen?
Römer konnten sehr hartnäckig sein. So beschrieben Römer ihre Tugend. Manche meinten auch, sie seien einfach nur stur. Feinde beschrieben sie als borniert, starrköpfig und verstockt.
Endlich wurden die Tage wieder wärmer. Die richtige Zeit für große Schlachten war gekommen, so hieß es. Marius wusste nicht, ob es jemals richtige Zeiten für große Schlachten gab, aber er wusste, was ein römischer Legionär zu tun hatte. Und die ganze vierte Legion Latium, etwa fünftausend Mann, unter dem Befehl des Legaten Quintus Sertorius, wusste es auch.
Die Hauptaufgabe eines römischen Legionärs war es, zu marschieren, in einer disziplinierten, immer wieder geübten Formation – schnell und ausdauernd.
Mit breiten Transportschiffen war die Legion nach Tarraco gebracht worden, der römischen Hauptstadt in der Provinz Hispania citerior. Dann ging es nordwestlich weiter. Viel weiter. Marschieren. Immer weitermarschieren.
Marius genoss es, von dieser Pflicht entbunden zu sein. Als Decurio, als Anführer einer Turma mit dreiunddreißig Reitern, folgte er mit seiner Einheit den Führungsoffizieren um den Legaten und seine Leibwache, die wiederum den römischen Kundschaftern folgten.
In der Nähe der Spitze der Legion fühlte er sich wohl. Es tat seinem Ehrgeiz gut, vorn dabei zu sein. Alles zu sehen, was dort ablief. Die Offiziere zu grüßen. Bekannt zu sein. Er spürte, das könnte wichtig sein für die künftige Karriere. Gaius Marius gehörte keiner aristokratischen römischen Familie an. Er stammte von einem Landgut, das eine Tagesreise südöstlich Roms lag. Eine weitere Laufbahn als römischer Offizier würde nicht einfach für ihn. Wenn nicht sogar unmöglich. Er besaß weder umfangreiche Kontakte zur römischen Oberschicht noch sehr viel Geld, um die üblichen Bestechungszahlungen zu leisten. Doch er war ein sehr guter Reiter, etwas länger gewachsen als die anderen Römer, ein ordentlicher Kämpfer mit dem Schwert und nunmehr auch ein passabler Anführer, wie er hoffte. Wer weiß, was die Götter mit mir vorhaben? Zumindest Marius selbst hatte noch viel vor.
Die vierte Legion Latium. Marius neue Heimat. Er dachte oft über die früheren Legionen nach. Von der ersten Legion Latium weiß niemand mehr etwas. Ihre Feldzeichen im Marstempel sind so unkenntlich vermodert, dass sie kaum noch als Standarten erkennbar sind. Der silberne römische Adler ist nur noch ein Holzklumpen. Die zweite Legion Latium scheint im Krieg gegen Pyrrhos und seine verbündeten Diadochennachfolger vor über 150 Jahren untergegangen zu sein. Von ihr fehlen Feldzeichen, aber eine Tafel erinnert im Marstempel an ihren tapferen Kampf. Die dritte Legion wurde von der karthagischen Armee unter Hannibal bei Cannae vor fast hundert Jahren vernichtet. Hannibal hatte die Feldzeichen in poliertem Zustand Rom übersandt. Eine Provokation? Oder eine Ehrerbietigkeit? Was hätte ich gemacht, wenn ich 16 römische Legionen in einer Schlacht vernichtet hätte? Und was wird aus der Standarte unserer vierten Legion Latium werden? Wird unsere Standarte immer im Feld stehen? Oder auch irgendwann nach einer verlorenen Schlacht im Tempel des Mars aufbewahrt werden? Womöglich schon nach einer Niederlage vor Numantia?
Der Wind frischte auf, der Regen hatte aufgehört, und manchmal ließ das helle Licht der Sonne die bewaldete, hügelige Landschaft freundlicher erscheinen. Trotzdem war es noch kalt, und der Frühling hatte den Winter noch nicht vertrieben. In den Morgenstunden war der Atem der Pferde gut zu sehen, wenn der Dampf aus ihren Nüstern strömte. Alle Reiter trugen ihre Wollumhänge über der Rüstung, viele immer noch ihre Lederhandschuhe.
Die weit abschweifenden Gedanken von Marius wurden jäh unterbrochen.
„Es kommt jemand auf uns zugeritten. Ein Ordonnanzoffizier des Legaten, wenn ich es richtig erkenne“, warnte Marcus Tullius leise seinen Decurio.
„Vielleicht schicken sie Sixtus wegen Wehrkraftzersetzung nach Hause“, knurrte Marius immer noch gereizt.
„Sollen sie doch. Ich werde deine Eltern herzlich grüßen, wenn ich endlich wieder daheim bin“, meinte Sixtus ungerührt, der gut wusste, was die bäuerliche Familie des Gaius Marius von dessen weiter andauernden militärischen Aktivitäten hielt.
Marius beachtete ihn nicht mehr und hob seinen rechten Arm hoch, der Befehl zum Halten an seine Decurie. Der Ordonnanzoffizier kam heran, grüßte formal mit einem Schlag auf die Brust und seinem dann weit ausgestreckten rechten Arm, Marius nickte ihm freundlich zu und erwiderte den Gruß.
„Decurio Gaius Marius, der Legat befiehlt Euer Erscheinen. Ich werde Euch zu ihm begleiten.“
Fast hätte Marius gefragt, ob wirklich er gemeint sei oder worum es gehe, doch dann nickte er nur und sah zu Marcus Tullius neben ihm. „Du hast das Kommando. Du kennst unsere Befehle.“
Auch Marcus Tullius lagen einige Fragen auf der Zunge. Befehle in der Armee wurden allerdings nicht mit Fragen beantwortet, so sehr es ihm widerstrebte, einfach zu schweigen. Deshalb brüllte er nur, so laut er konnte: „Jawohl, Decurio!“ Keiner soll einen Argwohn gegenüber der Disziplin unserer Decurie entwickeln. Trotz Sixtus Selentius und dessen Unkenrufen. Oder meiner eigenen Rechtsauffassungen.
Der schnelle Ritt zum Legaten war nach kurzer Zeit beendet. Weder Marius noch der Ordonnanzoffizier wechselten unterwegs ein Wort. Befehlsdisziplin. Oder schlechte Vorahnungen? Marius verscheuchte seine Grübelei und konzentrierte sich auf die vor ihm auftauchende Personengruppe.
Die Führungsoffiziere standen um den Legaten herum in einer kleinen Lichtung, die von der Hochebene aus einen guten Blick auf das gebirgige, schroffe und nur teilweise dunkelgrün bewachsene Umland ermöglichte. Ein erster Hauch von Frühling, von Blütenduft neben dem üblichen Geruch nach frischen Tannennadeln lag in der Luft. Die Wolkendecke riss gelegentlich auf, und das tiefe Blau des Himmels erinnerte an bessere Tage.
Marius saß ab und folgte dem Ordonnanzoffizier, der vor dem Legaten salutierte und überflüssigerweise auf ihn hinwies. „Der Decurio Gaius Marius, Legat, wie Ihr befohlen habt.“
Quintus Sertorius hatte seinen Helm mit dem hellen, roten Federbusch abgelegt. Ein schon silberhaariger, untersetzter, eher kleiner Mann mit scharfen Augen, frisch rasiert, wie es seit den heroischen Erzählungen über Alexander den Großen auch in Rom Mode geworden war. Der jetzige Legat der vierten Legion Latium hatte vor Jahren bereits einige erfolgreiche Feldzüge gegen die Korinther und Thraker kommandiert. Nur auf ausdrückliche Bitte des Senats von Rom ließ er sich zu einem neuen Kommando bewegen. Seine Kenntnisse betrafen eigentlich den Osten des Reichs und nicht den Westen. Zudem lockte ihn schon lange seine moderne Villa bei Misenum mit Blick auf das Mittelmeer und dem fantastischen Rotwein der Umgebung. Trotzdem: Der Ruf des römischen Senats überwog schließlich alles. Er hatte seinem Vaterland viel zu verdanken. Die Aussicht auf weitere Kriegsbeute war auch nicht zu verachten. Die Iberer besaßen Gold- und Silberminen. Quintus Sertorius mochte Gold und Silber. Auf das Altenteil konnte er sich auch später noch freuen.
Der Legat sah den deutlich längeren und jüngeren Marius müde von unten an. „Decurio, wir haben einen Auftrag für Euch.“
„Herr?“
„Habt Ihr Neues von unserem Feldherrn Scipio Aemilianus gehört?“
„Nein, Herr.“
„Wir auch nicht.“ Quintus grinste missvergnügt. „Immerhin sind seine beiden Begleiter zu uns gekommen.“ Er nickte zwei Gestalten zu, die Umhänge und weite, hochgezogene Kapuzen trugen. Eine der beiden Personen trat vor, klein und schmal unter ihrem Umhang erscheinend.
„Wir sind mit Scipio Aemilianus im Auftrag unseres Ordens bis Tarraco gekommen. Unter nicht einfachen Umständen. Dort ist er trotz unserer Wache in der ersten Nacht entkommen. Durch ein, hm, nennen wir es einmal … geschicktes Ablenkungsmanöver. Nachdem wir die ganze Stadt durchsucht hatten, dachten wir, er habe sich allein auf den Weg zu seinen Truppen gemacht.“
Nach einer kurzen Pause klang die Stimme leicht resigniert, als sie fortfuhr: „Wir haben falsch gedacht.“
Eine hohe Stimme, die Marius irgendwie irritierte.
Quintus Sertorius nutzte die Pause. „Ihr wisst, Decurio, Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus ist eine Legende. Der erste Bürger Roms, unser Konsul und unser Held. Der Bezwinger Karthagos. Doch er ist auch, nun, sagen wir … ein schwieriger Mann. Mit eigenem Kopf. Sehr eigenem Kopf.“
„Ein sehr schwieriger Mann“, wiederholte die hohe Stimme. Marius schwieg und wartete ab. Falls dies eine weiterführende Information sein soll, verstehe ich sie nicht. Wie Quintus Sertorius war er glatt rasiert, trug kurz geschnittene Haare, besaß eine sehr gerade Stirn, was ihm ein etwas strenges Aussehen verlieh. Das eher schmale, asketische Gesicht und die schlanke, hochgewachsene Figur verstärkten den Eindruck von Disziplin und Bestimmtheit. Auffällig waren seine grünen Augen, wach und forschend blickend.
„Im Auftrag welchen Ordens seid Ihr unterwegs, Herr?“, unterbrach Marius die Stille und versuchte, mehr von dem Gesicht unter der Kapuze der kleinen Gestalt zu erkennen.
Die Gestalt nahm ihre Kapuze herunter. „Ich bin im Auftrag des Bona-Dea-Ordens hier. Auf Befehl der Virgo Vestalis Maxima. Meine Begleiterin und ich sind Vestalinnen.“ Sie fuhr sich trotzig durch ihre kurz geschnittenen, gelockten schwarzen Haare. Leicht erhobenes Kinn. Provozierender Blick. Selbstbewusst. Markantes Gesicht. Sinnliche Lippen. Hübsch. Eine Frau. Zweifelsohne. Marius starrte sie an. Und was für eine Frau. Er musste sich zusammenreißen.
Eine Frau? Priesterinnen? Der geheimnisvolle Kriegerorden des römischen Senats? Der Orden existiert tatsächlich? Jetzt hier vor Numantia?
„Ich dachte, der Orden sei nur in Rom ansässig.“
„Was wisst Ihr von unserem Orden? Das geht Euch überhaupt nichts an“, schnappte die andere Gestalt böse. Sie hatte ihre Kapuze nicht abgenommen, sodass Marius kein Gesicht erkennen konnte.
Marius wandte sich beunruhigt zu dem Legaten Quintus Sertorius. „Herr, ich verstehe das nicht. Was soll meine Aufgabe sein?“
„Wir vermuten, dass Scipio Aemilianus zu den Numidern geritten ist, Decurio. Die Vestalinnen sollten ihn unbedingt vorher zu uns bringen. Doch Scipio hatte wohl andere Pläne.“
„Das ist eine weite Reise, Herr. Numidien. Nordafrika. Was will er dort?“
„So weit ist die Reise nicht, Decurio. Reitereinheiten der Numider sind bereits bei Carthago Nova in Iberien gelandet, Scipio hatte sie um Hilfe gebeten. Warum, wissen wir nicht. Seitdem sie sich mit Scipio vor der Eroberung Karthagos im dritten großen Krieg verbündet haben, pflegt der römische Senat sehr enge Beziehungen zu ihnen. König Micipsa zählt zu unseren treuesten Verbündeten.“
„Dann wird unser Feldherr sie für die Eroberung Numantias brauchen, Herr?“
„Numidische Reiter? Für die Eroberung einer sehr stark befestigten Stadt wie Numantia? Das wäre eine völlig neue Taktik, Decurio. Mir ist sie unbekannt.“ Quintus Sertorius gefiel sich gern in der Rolle des überlegenen Heerführers.
„Was kann ich dann für Euch tun, Herr?“ Langsam wurde Marius unruhig. Wollen wir über Eroberungstaktik plaudern? Vor den Vestalinnen?
„Es ist ein etwas heikler Auftrag, Decurio. Euer Centurio Hilarius Vipsanius hier wird ihn Euch genauer erklären. Ihr reitet mit ihm und den beiden Vestalinnen sofort los und sucht unseren Feldherrn. Ihr wart beide bereits früher in Hispalis stationiert, sprecht die iberische Sprache, und der Centurio kennt die Numider von früheren Missionen. Die vierte Legion Latium wird ihr befestigtes Lager vor Numantia aufschlagen und auf die Befehle unseres Feldherrn warten.“
Marius salutierte ordnungsgemäß mit einem Faustschlag auf seine Brust und neigte kurz seinen Kopf. „Wie Ihr befehlt, Herr.“
Der hochgewachsene, schlanke Hilarius Vipsanius trat aus der Gruppe der Führungsoffiziere zu ihm und grinste. „Ihr reitet doch so gern, Decurio. Jetzt könnt Ihr es zeigen. Die Vestalinnen hier sind … sehr ungeduldig.“
Quintus Sertorius legte seinen rechten Arm vertraulich um den deutlich höher gewachsenen Hilarius und zog seinen Kopf zu sich herunter. „Und seht zu, dass er nüchtern zu uns kommt. Scipio Aemilianus ist inzwischen entweder ständig betrunken oder völlig betrunken oder besinnungslos betrunken, heißt es“, flüsterte er. „Darum auch diese Vestalinnen. Seine Aufpasser. Jetzt Eure Aufpasser.“
„Ein weiterer unangenehmer Grund dafür, momentan nüchtern zu bleiben, Herr“, flüsterte Hilarius zurück.
Beide mussten leise lachen. Sertorius schlug ihm vertraulich leicht auf den Rücken und gluckste leise vor sich hin, bevor er wieder ernst wurde.
Dann ließ der Legat schnell den Centurio Hilarius los, trat zurück und verneigte sich charmant lächelnd vor der unverhüllten Vestalin. „Ehrwürdige Herrin Julia, habe ich damit Eurem Wunsch entsprochen? Sowohl Centurio Hilarius Vipsanius als auch Decurio Gaius Marius sind der einheimischen Sprache mächtig und kennen die …“