Die Leute von Oetimu - Felix K. Nesi - E-Book

Die Leute von Oetimu E-Book

Felix K. Nesi

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Beschreibung

Sergeant Ipi, der junge (und einzige) Dorfpolizist, übt seine Autorität nicht immer gewaltfrei aus. Doch heute hat er alle Männer von Oetimu eingeladen, um am einzigen Fernseher des Dorfes das Finale der Fußball-WM 1998 zu schauen. Er hat etwas zu feiern, nämlich seine Verlobung mit der schönen Silvy – eine Ankündigung, die alle Anwesenden in tiefes Unglück und sofortiges Besäufnis stürzt. Der Abend endet jedoch nicht nur für sie sehr anders als erwartet. Die mitreißende Geschichte, die sich nun entspinnt, führt mitten hinein in die von Umstürzen und Gewalt geprägte Geschichte Timors nach Ende der Kolonialzeit: Ipis Mutter Laura, deren Eltern bis 1975 Teil der portugiesischen Kolonialverwaltung in Osttimor waren, wird als junge Frau im Bürgerkrieg verhaftet und gefoltert. Sie entkommt und gelangt nach Oetimu, wo sie von Am Siki aufgenommen wird, einem allgemein verehrten Helden, der während der japanischen Besatzung ein Arbeitslager niedergebrannt haben soll und auf gutem Fuß mit den Ahnen steht. Auch Martin Kabiti lebt in Oetimu, als früherer pro-indonesischer Offizier war er verantwortlich für Massaker an der Bevölkerung Osttimors. Silvy hingegen ist ziemlich plötzlich im Dorf aufgetaucht. Dass sie von jemand anderem schwanger ist, weiß auch ihr Zukünftiger Ipi nicht … Geprägt von der mündlichen Erzähltradition Timors, strotzt der Roman vor satirischem Witz und komischen Überzeichnungen und erzählt leichtfüßig von Gewalt und Menschlichkeit am Rande des indonesischen Archipels.

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Seitenzahl: 387

Veröffentlichungsjahr: 2024

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FELIX K. NESIwurde 1988 in Nesam-Insana, Westtimor, geboren. Er studierte Psychologie und hat zur Versklavung von Menschen aus Timor durch den niederländischen Kolonialstaat geforscht. Er ist Mitbegründer der Komunitas Leko, die sich für Alphabetisierung einsetzt, sowie einer Buchhandlung, einer Bibliothek und eines Literaturfestivals in Westtimor. Nesi schreibt Romane, Kurzgeschichten und Lyrik. Beim Makassar International Writers Festival 2015 wurde er als Emerging Writer ausgezeichnet. 2018 gewann Die Leute von Oetimu bereits als Manuskript den Literaturwettbewerb des Kunstrats Jakarta als Bester Roman des Jahres. 2021 wurde der Roman mit dem Literaturpreis des indonesischen Ministeriums für Bildung und Kultur ausgezeichnet. 2022 war Nesi Writer in Residence an der Universität von Iowa.

SABINE MÜLLERist Übersetzerin aus dem Indonesischen und Englischen. Sie studierte Ethnologie, Malaiologie und Soziologie an der Universität Köln sowie Indonesisch an der Universitas Gadjah Mada in Yogyakarta, Indonesien. Ihre Übersetzungen aus dem Indonesischen umfassen Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke.

Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien

unter dem Titel Orang-orang Oetimu 2019 bei CV. Marjin Kiri,

Serpong, Tangerang Selatan.

© Felix K. Nesi, 2019

Der Verlag und die Übersetzerin danken dem Goethe-Institut

Indonesien für die Förderung der Übersetzung.

Editorische Notiz: Im Glossar am Ende dieses Buches werden

wichtige Begriffe und Anspielungen auf die indonesische Geschichte

erläutert. Im Roman kursiv gesetzte Begriffe stehen im Original

in den auf Timor ebenfalls gesprochenen Sprachen Uab Meto,

Tetum oder Malaiisch, sie sind ebenfalls im Glossar aufgeführt.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49a

D -22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2024

Deutsche Erstausgabe September 2024

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert

www.majabechert.de

Porträt des Autors Seite 2:

© Armando Elo

1. Auflage

ISBN EPUB 978-3-96054-371-8

Inhalt

KAPITEL 1: OETIMU, 1998

KAPITEL 2: LISSABON, 1974

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7: KUPANG, TIMOR, 1994

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

NACHWORT: DIE GESCHICHTE(N) HINTER DER GESCHICHTE

QUELLEN

GLOSSAR

Am Abend des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft und eine Stunde bevor die Killer sich Zutritt zu seinem Haus verschafften, wurde Martin Kabiti von Sergeant Ipi mit dem Motorrad abgeholt. Das Motorrad, eine Yamaha RX King, war frisiert worden und nun verstärkte der Auspuff die Motorengeräusche zu einem ohrenbetäubenden Röhren, das die Holzwände der von ärmeren Leuten bewohnten Häuser erzittern ließ, die Hunde zum Bellen reizte und die Fledermäuse in den Wipfeln der Kapokbäume aufscheuchte. In der kühlen Abendluft hatten sich feine Nebelschleier zwischen den Bananenstauden verfangen und auf den Oberflächen der Blätter niedergeschlagen, sodass diese im Scheinwerferlicht des Motorrads silbrig schimmerten. Drei Hunde jagten dem Gefährt hinterher, und als einer von ihnen nach Sergeant Ipis Bein schnappte, ließ dieser den Motor noch lauter aufheulen, als wollte er die dürren Kläffer herausfordern. Es war dies ein glücklicher Abend für ihn. Er hatte bereits sämtliche Vorbereitungen für eine bescheidene Feier in der Polizeiwache, in der er arbeitete und lebte, getroffen. Es würde Rica Anjing, gegrilltes Schwein, Reh und allerlei Getränke geben, und zwar sowohl solche mit den offiziellen Zollaufklebern auf der Flasche, die er aus der Stadt mitgebracht hatte, als auch Sopi Kepala, das alkoholische Gebräu aus Palmsaft, das man hier im Dorf bekam.

»Lass uns das Finale gemeinsam ansehen. Komm zu mir und freu dich mit mir!«, so lautete die Einladung, die er zwei Tage zuvor an Martin Kabiti gerichtet hatte.

Sergeant Ipis Einladung galt aber nicht nur Martin Kabiti. Er hatte zwei Schuljungen aufgetragen, allen Männern im Dorf, angefangen von den Oberschülern ohne Bartwuchs und Motorradtaxifahrern über die Unruhestifter und Kleinganoven, die nicht selten Schläge von ihm einzustecken hatten, bis hin zu den Dorfältesten und honorigen Herren von seiner Feier zu berichten. Martin Kabiti einzuladen war für ihn jedoch etwas ganz Besonderes und er fühlte sich verpflichtet, diesen Mann persönlich mit seinem Motorrad abzuholen.

Martin Kabiti, der den bewaffneten Kampf schon vor einer ganzen Weile an den Nagel gehängt hatte und keinen Gedanken an die Möglichkeit eines bevorstehenden Unheils verschwendete, zog sich seine dicke Jacke mit Tarnmotiv über, die er noch aus der Zeit besaß, als er am Berg Matebian Jagd auf Aufständische machte, steckte seine Füße in schwarze Socken und in Carvil-Sandalen, griff nach seinem Hausschlüssel und eilte aus dem Haus. Seine Frau ließ ihn ohne die leiseste Vorahnung ziehen, und seine Kinder schliefen bereits tief und fest, in den Schlaf gesungen vom Chor der Zikaden und der nachtaktiven Tiere der Savanne. Martin Kabiti nahm auf dem Sozius Platz. Auf dem gesamten Weg zur Polizeiwache überholten sie junge Männer in Jacken und alte Männer in Sarongs, die man hier Bete nannte; sie alle eilten zu Fuß in dieselbe Richtung. Ein anderes Motorrad, besetzt mit zwei aus Java herbeorderten Soldaten von der Grenzwache, heulte hinter ihnen auf. Der Fahrer beschleunigte, sowie er das Dröhnen der RX King von Sergeant Ipi erkannte. Martin Kabiti hatte die beiden Soldaten eingeladen. Er hatte ihnen schon mehrere Male geraten, engeren Kontakt zur Zivilbevölkerung zu suchen. Und dieser Abend bot dafür eine besonders günstige Gelegenheit, denn so würden sie sich unter die Dorfbewohner mischen und ihre Begeisterung für dieselbe Sache mit ihnen teilen können. Die beiden Motorräder fuhren das letzte Stück des Weges nebeneinander her, und die Männer aus dem Dorf, an denen sie vorüberfuhren, hoben respektvoll grüßend die Hand.

Die Leute von Oetimu hatte das Fußballfieber gepackt. Allabendlich versammelten sie sich vor dem Fernseher und feuerten die Männer an, die auf dem grünen Rasen einem Ball hinterherjagten. Sie schnitten sich die aktuellen Spielpläne aus der Zeitung aus und klebten sie an die Wand im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer oder sogar in der Hütte auf dem Feld; sie machten mit dem Bleistift ein Zeichen hinter dem Namen des Landes, welches bereits ein Spiel verloren hatte, und ein anderes Zeichen hinter dem Namen jenes Landes, welches ihrer Beurteilung nach noch ein Spiel verlieren würde. Sie hatten einen Favoriten, von dessen Sieg sie fest überzeugt waren, nämlich Brasilien; denn abgesehen davon, dass die brasilianischen Fußballer spielten, als würden sie tanzen, besaß die brasilianische Elf einen unbezwingbaren Stürmer: Ronaldo Luis Nazário de Lima. Die Leute vergötterten Ronaldo, sie nannten ihre Hunde Ronaldo und auch andere Tiere in Haus und Hof, und wenn Brasilien spielte, blieben in den Häusern nur die Frauen und Kinder zurück, während die Männer, jung und alt, sich vor dem Fernseher versammelten und ihrem Idol zujubelten.

Im Dorf gab es allerdings insgesamt nur drei Fernsehgeräte. Eins in der Polizeiwache, eins im Haus von Mas Zainal und eins im Haus von Baba Ong, dem Besitzer des Gemischtwarenladens Subur. Baba Ong war ungemein geizig und würde die Leute aus dem Dorf niemals in sein Haus lassen, es sei denn, sie wollten etwas bei ihm kaufen. Er besaß lange, blickdichte Vorhänge, die den Fernseher im Wohnzimmer vor den Augen der Kinder abschirmten, die oft und gerne durch die Fenster linsten. Mas Zainal hatte derart vorstehende Zähne, dass er jedem Besucher seines Hauses den Eindruck vermittelte, er würde ihn freundlich anlächeln. Allerdings war Mas Zainal Alteisensammler, und in seinem Haus fernzusehen bedeutete, sich zwischen verrostete und scharfkantige Eisenwaren sowie gebrauchte Ackus und Batterien zu zwängen. Zudem war man starken Gerüchen ausgesetzt: Der Duft nach frisch zubereitetem Essen drang aus der Küche und machte Appetit, aber gleichzeitig wurde einem von dem Gestank nach Altöl speiübel. Kein Zweifel, die Polizeiwache war der beste Ort, um fernzusehen – auf der geräumigen Fläche des Fußbodens würde man sich mit ausgestreckten Beinen fläzen können, zur Abwechslung könnte man sich gegen die glatt verputzte Wand lehnen und falls keine wichtigen Leute anwesend waren, könnte man sich auf das weich gepolsterte Sofa setzen –, doch Sergeant Ipi schaltete das Gerät üblicherweise nur für wichtige Leute wie Martin Kabiti, die Dorfältesten, Lehrer oder andere respektable Persönlichkeiten ein. So hatten die gewöhnlichen Leute, wenn sie fernsehen wollten, keine andere Wahl, als sich im Haus von Mas Zainal umgeben von allerlei Eisenschrott und unangenehmen Gerüchen zu versammeln.

Sergeant Ipi hatte den Männern daher mit seiner Einladung, an diesem Abend bei ihm in der Polizeiwache fernzusehen, eine riesengroße Freude bereitet. Umso größer war ihre Freude, als sie von der üppigen Auswahl an Fleischspeisen und Getränken erfuhren, die der junge Polizist bereits besorgt haben wollte. Die Männer strömten also in Scharen herbei, und auch Mas Zainal schaltete sein Fernsehgerät aus und machte sich auf zur Polizeiwache, um dort gemeinsam mit den anderen das Finale zu sehen.

Als die beiden Motorräder nebeneinander in den Hof der Polizeiwache einfuhren, hatte sich dort bereits eine erwartungsvolle Menschenmenge von rauchenden oder Betel kauenden Männern eingefunden. Die Wache war zu klein, als dass man sie Polizeirevier hätte nennen können, aber auch zu groß für einen Polizeiposten. Das Gebäude war aus Stein gebaut und verfügte über zwei Räume, einen im hinteren Bereich, in welchem Sergeant Ipi schlief, und einen deutlich größeren, zur Straße hin gelegenen, den er zum Arbeiten nutzte. In Letzterem schrieb er seine Berichte, sah fern, empfing Besucher und hier aß er auch.

Nachdem er sein Motorrad abgestellt hatte, griff Sergeant Ipi nach dem Schlüssel unter der Fußmatte und öffnete die Tür. Martin Kabiti, der sich für die respektabelste Person unter den Anwesenden hielt, trat als Erster ein und ließ sich sogleich auf Sergeant Ipis Bürostuhl nieder, einem Stuhl nämlich, der mit einem dicken Polster bezogen war, Rollen unter den Füßen hatte und sich drehen ließ. Die beiden Soldaten traten als Nächstes ein und setzten sich auf das Sofa hinter dem Drehstuhl mit Martin Kabiti. Dieses Sofa war recht breit und hätte noch drei weiteren Personen Platz geboten, doch niemand aus dem Dorf hätte es als angemessen empfunden, Seite an Seite mit Soldaten aus Java zu sitzen und fernzusehen. Sergeant Ipi setzte sich gegenüber auf eine Bank aus Holz, auf der einem schon nach wenigen Minuten der Hintern weh tat. Zu ihm quetschten sich zwei der Dorfältesten, drei Lehrer und zwei junge Kerle, die als Streithähne bekannt waren. Der einzige vorhandene Tisch war bereits in eine Ecke gerückt worden, sodass in der Mitte des Raumes Mas Zainal zusammen mit den anderen, weniger wichtigen Dorfbewohnern im Schneidersitz auf dem Boden Platz fand. Weitere Zuschauer drängten sich im Hof der Wache, zwängten ihre Köpfe zur Tür und zu den Fenstern hinein.

Bevor er den Fernseher einschaltete, machte Sergeant Ipi sich daran, die Fleischspeisen und die alkoholischen Getränke aus dem hinteren Raum herbeizuholen. Zwei der jungen Kerle halfen ihm, die Töpfe und Schüsseln auf dem Tisch, aber auch darunter und unter dem Fernsehregal zu arrangieren; die Speisen waren reichlich, sie heranzuschaffen schien beinah kein Ende zu nehmen. Während die beiden Jüngeren noch mit den Töpfen und Schüsseln hantierten, wählte Sergeant Ipi eine der Flaschen Sopi Kepala aus, zog das zusammengerollte Maisblatt, das als Korken diente, heraus und hob zur Erklärung an, warum er diese Feier ausrichtete. Silvy, jenes Mädchen, das zwar vor kurzem erst nach Oetimu gekommen sei, aber sofort alle Bewohner mit ihrer Schönheit und Klugheit zu verzaubern vermocht habe, jenes Mädchen also sei nun seine Liebste und künftige Ehefrau.

»Bitte lasst euch das bescheidene Mahl schmecken und freut euch mit mir!«, so fuhr er fort. »In zwei Wochen werden wir heiraten.«

Die Vorfreude auf das Finale und auf ihr Idol sowie das Glück, das die jungen Männer angesichts der Mengen an Fleisch und Alkohol soeben noch empfunden hatten, war in dem Augenblick, als diese Neuigkeit an ihre Ohren drang, wie weggeblasen. Seit dem Tag von Silvys Ankunft hatten sie um ihr Herz gebuhlt, und nun? Nun war nichts mehr zu machen, nun war Silvy in Sergeant Ipis Arme gefallen. Als würde es ihm nicht reichen, die jungen Männer schlecht zu behandeln und sie, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, zu ohrfeigen, nun hatte Sergeant Ipi ihnen auch noch die Frau ihrer Träume gestohlen.

Mit einer Gefühlsmischung aus Eifersucht und gebrochenem Herzen begannen die Kerle nun, sich zu besaufen. Im Fernseher waren noch zwei Fußballkommentatoren in gelben Jacketts zu sehen, die ständig ihre Fäuste ballten und alle dreißig Sekunden ein Hoch auf den Fußball ausstießen. Martin Kabiti, die Ältesten, die Lehrer und die beiden Soldaten tranken in aller Seelenruhe, sie lehnten sich dann und wann entspannt zurück und schlossen, einen Schluck genießend, ihre Augen. Die Jungen hingegen tranken, als verdursteten sie. Sie stürzten ein volles Glas Whisky hinab, gingen zu Sopi Kepala über, gossen sich Bier ein und wechselten wieder zu Wein, sodass sie innerhalb kürzester Zeit völlig betrunken waren und zu lärmen anfingen. Sie lachten über Dinge, die außer ihnen niemand lustig fand, sie wurden immer lauter und übertönten schließlich die Kommentatoren.

Als jedoch das Spiel begann, wurden sie mucksmäuschenstill und niemand sagte mehr ein Wort. Das Spiel allerdings entsprach nun ganz und gar nicht den Erwartungen der anwesenden Zuschauer. Ihrem Idol Ronaldo Luis Nazário de Lima schienen die Reißzähne ausgefallen zu sein. Mit seinem offenstehenden Mund und den Vorderzähnen glich er eher einer Maus, und zwar einer Maus, die giftiges Kotpese gefressen hatte. Nichts war von den eindrucksvollen Manövern, die er sonst in jedem Spiel vollführte, zu sehen. Auch nichts von seinem gewinnenden Lächeln, wenn es ihm gelungen war, einen gegnerischen Spieler zu täuschen. Es machte keinen Spaß, ihm beim Fußballspielen zuzusehen. Skeptischen Auges verfolgten die Männer das Geschehen auf dem Bildschirm. Nicht, dass am Ende noch ihr Favorit von den Franzosen geschlagen wurde. Sie konnten die Franzosen nicht ausstehen, die Franzosen spielten ohne zu lächeln, und wenn sie einmal lächelten, dann ähnelten ihre Mienen denen der Niederländer, die einst als Kolonialherren über Oetimu geherrscht hatten.

In der 27. Minute bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Der französische Spieler Zinédine Zidane, kahlköpfig und groß wie ein Pferd, schoss den Ball ins Tor der Brasilianer. Die Männer wurden laut, sie fragten sich entrüstet, was wohl der Grund dafür sein konnte, dass Ronaldo spielte wie ein betäubtes Nagetier. Hatte er etwa vergessen, wie man Fußball spielt, war er durch das Zaubermantra eines Ältesten der Franzosen verwünscht worden oder hatte er einfach nur Hunger?

Während die Männer lautstark ihre Vermutungen darüber anstellten, was bloß mit Ronaldo los sei, stürmten Atino und die Killer zum Angriff auf das Haus von Martin Kabiti. Den Pick-up, mit dem sie gekommen waren, parkten sie außerhalb des Dorfes und schlichen sich dann, um den Dorfkötern aus dem Weg zu gehen, in Zickzacklinien auf ihr Ziel zu. Sie waren zuvor schon mehrmals in diesem Dorf gewesen, verkleidet als ein Trupp von Straßenvermessern oder als Bauern, die sich verlaufen hatten, und sie wussten genau, welches Haus von einem Hund bewacht wurde und in welchem Winkel es spukte. Sie töteten, noch bevor er bellen konnte, den Hund vor Martin Kabitis Haus mit einem Pfeil, traten die Haustür ein und rissen Kabitis Ehefrau und die Kinder aus dem Schlaf. Sie griffen sich die wertvollsten Gegenstände, vernichteten Bankunterlagen und Grundstückspapiere, dann setzten sie der Frau und den Kindern die Klingen ihrer Klewang-Schwerter an den Hals. Für Atino galt es, Seele für Seele zu vergelten. Martin aber sollte weiterleben und den Schmerz spüren, der ihm, Atino, widerfahren war. Atino hatte im Krieg in Osttimor gekämpft, er hatte viele Jahre im Gefängnis gesessen, hatte Folter und Misshandlungen durch Soldaten, aber auch die Last seines eigenen unermesslichen Hasses ertragen müssen. Heute war er gekommen, um abzurechnen. Er hatte lange auf einen Tag wie diesen gewartet, einen Tag, an dem jeder Mann im Dorf sein Haus verlassen und Frau und Kinder zurückgelassen haben würde. Er war sicher, Martin Kabiti würde die nächsten Stunden in der Polizeiwache verbringen und erst spät und sturzbetrunken nach Hause zurückkehren.

Einer von den Killern schlug Martins Frau mit dem Griff seines Klewang ins Gesicht. Sie schrie auf, verzweifelt, sie wusste, niemand würde ihnen zur Hilfe kommen; alle Männer Oetimus saßen in diesem Augenblick versammelt vor dem Fernseher in der Polizeiwache. Und wieder wurde sie geschlagen, sie solle still sein. Die Kinder waren viel zu verängstigt, um zu weinen. Das älteste, ein Mädchen, ihre Brüste wuchsen eben erst, verkroch sich unter dem Arm ihrer Mutter; der kleine Bruder hatte sich schon in die Hosen gemacht, als er aus dem Bett gezerrt worden war.

Atino und seine Bande gingen bei jedem Schritt ohne Hast vor, sie wussten, sie würden für das, was sie vorhatten, viel Zeit haben. Mit der Wendung, dass Ronaldo das Finale der Fußballweltmeisterschaft nur noch für die französische Elf und ihre Fans interessant machte, konnten sie nicht gerechnet haben.

Sowie Zidane kurz vor dem Ende der ersten Halbzeit das zweite Tor geschossen hatte, erhob sich Martin Kabiti von seinem Platz, trat gegen den Drehstuhl, beschuldigte Ronaldo, bestochen worden zu sein, um zu verlieren, und verfluchte die Vereinigten Staaten von Amerika als Drahtzieher hinter der ganzen Sache.

»Ronaldo wurde doch geschmiert! Mit Sicherheit von Amerika, Pukimai! Das ist keine Fußballweltmeisterschaft, das ist ein Sumpf der Korruption!«

Fluchend und wild in Richtung Fernseher gestikulierend erklärte er, wie das raffgierige Amerika die Strippen hinter jedem, aber auch wirklich jedem auf der Erdoberfläche herrschenden Übel zog. Er war derart in Rage, dass ihm beim Sprechen die Spucke durch seinen Schnurrbart hindurchspritzte. Niemand wagte es, ihm zu widersprechen, denn schon hatte er die Fäuste erhoben, als wolle er Amerika und seine Verbündeten zum Kampf herausfordern.

»Bring mich nach Hause, bevor ich den verfluchten Fernseher in Stücke haue! Der wurde doch auch in Amerika hergestellt, oder etwa nicht?«, fluchte er.

Beim Anblick des Mannes, der gerade mit seinem wuchtigen Stuhl in den Händen ausholte, um ihn auf das Fernsehgerät zu werfen, eilte Sergeant Ipi ohne ein Wort des Widerspruchs aus der Tür und startete das Motorrad. Martin Kabiti, der sich Worte des Abschieds oder der Entschuldigung sparte, bahnte sich ebenfalls den Weg durch die Menge der betrunkenen und liebeskranken Männer. Das Gemurmel der Zurückbleibenden begleitete ihn bis hinaus vor die Tür. Einige der Männer stimmten Kabiti zu und verfluchten ihrerseits Amerika, einige andere warteten, bis er gegangen war, und fingen dann erst zu debattieren an, und wieder andere hielten ihre Flasche umklammert und beweinten still ihren Kummer. In weniger als nur einer Stunde hatten sie gleich zwei Schicksalsschläge zu verkraften: die Tatsache, dass die Frau ihrer Träume bald einen anderen Mann ehelichen sollte, und die Niederlage Brasiliens.

Seit ihrer Ankunft war Silvy der Traum eines jeden Mannes in Oetimu. Die Männer hatten alle den gleichen Traum vom Glück der Familiengründung mit Silvy als die Mutter der gemeinsamen Kinderschar. Obgleich Silvy noch zur Oberschule ging, buhlten die Männer um ihr Herz. Die Motorradtaxifahrer boten ihr gratis Mitfahrgelegenheiten an, die Rowdys versprachen ihr Schutz und die Witwer sorgenfreie Behaglichkeit.

An jedem Tag, ob die junge Frau nun zu Fuß auf dem Weg zur Staatlichen Oberschule Oetimu gegenüber des Subur war oder mit einem Sack Wäsche hinunter zum Fluss, folgte ihr ein Haufen junger Kerle in einem Abstand, der keinen Verdacht erregen sollte, so als gingen sie rein zufällig in dieselbe Richtung. Im Gehen betete jeder der Männer, es möge sich eine Gelegenheit ergeben, bei der er Silvy von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und sich ihr bekannt machen könnte; es wäre ein flüchtiges Bekanntmachen, welches aber bei einer weiteren zufälligen Gelegenheit den Weg zu weiteren Schritten würde ebnen können, etwa zu dem Schritt, ihr seine Liebe zu gestehen. Doch jedes Mal, wenn sich eine zufällige Gelegenheit zum Bekanntmachen einstellte, wurde die Zunge schwer wie Blei, die Wangen wurden heiß und das Sprechen war verlernt.

Und jetzt, da Silvy also bereits in die Arme eines anderen Mannes gefallen war, saßen die Kerle gegen die Wand gelehnt auf dem Boden, stürzten den Alkohol hinunter und bedauerten ihr Schicksal.

Die älteren Anwesenden waren in keinster Weise von Sergeant Ipis Ankündigung überrascht – die meisten freuten sich für ihn. Ruhig leerten sie ihre Gläser, zupften sich dann und wann ein Stück Fleisch von einem der Teller und kauten darauf herum. Wenn einer von ihnen aufgebracht war, dann war er es wegen Brasilien, das eine Niederlage kassiert hatte, und nicht wegen Sergeant Ipi, dem das Glück hold war. Sie lebten bereits lange genug, sie hatten miterlebt, wie Sergeant Ipi als Kind in der Obhut Am Sikis, den sie ausnahmslos verehrten, aufgewachsen war. Obwohl sich Sergeant Ipi nicht selten danebenbenahm und sich nicht sonderlich um die Leute im Dorf scherte, fühlten sie sich ihm verbunden. Dieses Kind, dessen waren sie sich sicher, würde auf immer von Unheil verschont bleiben und von Glück überschüttet, denn schon bei seiner Geburt waren die Vorzeichen zu sehen gewesen: Seine Mutter und seine Vorfahren würden stets ein wachsames Auge auf ihn haben.

Júlio Craveiro dos Santos feierte im Kreis der Familie den sechzehnten Geburtstag seiner Tochter Laura, als das Telefon klingelte und ihn die lang erwartete Nachricht erreichte: Er würde nach Timor entsendet werden, um dort Mario Lemos Pires, den Gouverneur der Kolonie Portugiesisch-Timors, im Dekolonialisierungsprozess vor Ort zu unterstützen.

»Ich habe dir doch von Anfang an gesagt, Gott schläft nicht«, sagte seine Frau Lena.

Auch nach dem Putsch einer Gruppe linker Militärs vor etwa sechs Monaten war er nicht von seiner Haltung abgerückt, Premierminister Marcelo Caetano weiterhin zu stützen. Doch inzwischen befand sich Caetano auf der Insel Madeira im Exil, und Júlio hatte allen Grund, sich über sein eigenes Schicksal Sorgen zu machen. Die Nelkenrevolution hatte alles in Unordnung gebracht. Wenn er nicht vor Gericht gezerrt werden würde, dann würde er mit Sicherheit zumindest seine Arbeit verlieren. Einer von diesen selbsternannten Revolutionären würde in sein Büro treten, ihn grimmig ansehen und ihn dann durch einen anderen selbsternannten Revolutionär ersetzen. Falls er nicht rausgeschmissen werden würde – was sehr unwahrscheinlich war –, würde man ihn zwingen, mit Männern zusammenzuarbeiten, die ihn als Feind betrachteten und sicher leicht reizbar waren. Kurz: Nach der Revolution führten für Júlio alle Wege, auf die er das Rad seines Schicksals hinzulenken versuchte, in Sackgassen. Es war zum Verzweifeln.

Dann aber ließ die Revolutionsregierung ihre politische Weisung zur Dekolonialisierung verlautbaren, und ab diesem Zeitpunkt ergriff Júlio Craveiro dos Santos jede Gelegenheit zum Beten, und er kontaktierte gewisse Bekannte in Regierungskreisen mit der Frage, wie es um seine Chancen stand, in eine der Kolonien in Afrika entsendet zu werden. Mit einer solchen Entsendung würde er ein wenig Abstand von hiesigen Problemen gewinnen können, ohne dass er seine Arbeit verlöre. Er würde sich bei der Arbeit die allergrößte Mühe geben, und wenn alles glücklich lief, würde er nach Abschluss des Dekolonialisierungsprozesses mit einem etwas höheren Rangabzeichen nach Lissabon zurückkehren. Denn war es nicht so, dass man eher in einen höheren Rang versetzt wurde, wenn man aus einer der Kolonien heimkehrte?

In der Nacht schlief er leidenschaftlich mit seiner Frau. Wie ein Fünfzehnjähriger, der gerade eben zwischen Gut und Böse zu unterscheiden gelernt hat und nun die Frau seiner lang gehegten Träume traf. Seine Ehefrau, die keine Gelegenheit hatte verstreichen lassen, für das Wohlergehen ihres Mannes Fürbitten an die Jungfrau Maria zu richten, war nicht weniger lustvoll und küsste ihren Ehemann unablässig, biss und kratzte ihn. Erst als Júlio erschöpft neben ihr lag und sie an die Zimmerdecke blickte, wurde ihr bewusst, dass ihre Gebete tatsächlich erhört worden waren. Aber bedeutete das nicht gleichzeitig, dass sie bald von ihrem Ehemann verlassen in Lissabon zurückbleiben musste? Unwillkürlich kullerten ihr Tränen die Schläfen hinab. Sie bemühte sich, keinen Laut von sich zu geben, einem winzigen Seufzer aber gelang es doch, sich aus ihrer Kehle zu befreien. Und dann kamen ihr auch noch alle möglichen düsteren Gedanken in den Sinn und spukten dort herum. Sie hatte einfach von allzu vielen Offizieren und Angestellten des Gouverneurs gehört, die in den Kolonialgebieten mit einheimischen Frauen zusammenlebten oder durch Rebellenhand getötet worden waren.

»Wir haben doch bereits darüber gesprochen«, sagte Júlio, als er den kleinen entwichenen Seufzer vernommen hatte.

Seine Frau nahm einen tiefen Atemzug, wischte ihre Tränen ab, drehte sich zu Júlio und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Seine Wangen. Seine Augen.

»Es werden nicht einmal fünf Jahre sein«, hob Júlio wieder an. »Wenn alles nach Plan läuft, sind es vielleicht sogar nur zwei oder drei Jahre. Wir sorgen lediglich dafür, dass dort drüben freie Wahlen stattfinden.«

Aus der Ferne war das Dröhnen eines Zuges zu hören und Leute, die auf der Straße lärmten. Die Städter betranken sich in den Bars bis spät in die Nacht und auf dem Heimweg diskutierten sie über die Lage der Nation. Das, so dachte Júlio bei sich, wäre ein Ding der Unmöglichkeit, wenn es die Geheimpolizei PIDE noch gäbe.

»Warum können sich die Afrikaner nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern?«, murmelte seine Frau nach einer längeren Schweigepause.

»Timor. Nicht Afrika. Timor ist ein kleines Land in der Nähe Australiens«, stellte Júlio richtig.

»Die Länder klingen doch alle gleich.«

Júlio lachte.

»Es handelt sich um die sicherste Kolonie. Dort herrscht kein Krieg. Du solltest eigentlich dankbar sein, dass ich dorthin und nicht nach Afrika entsendet werde.«

Sie küsste seine Schulter. Júlio antwortete mit einem Gutenachtkuss, löschte das Licht, legte einen Arm um seine Frau und schloss die Augen.

Lena schloss ihre Augen nicht. Die unterschiedlichsten Gedanken gingen ihr im Kopf herum, es waren freundliche Gedanken darunter, aber auch ausgesprochen finstere, leichte und weniger leichte. Schließlich gelangte sie an einen Punkt, an dem sie sich entschloss, Júlio an die Schulter zu fassen und wachzurütteln.

»Wenn es sich tatsächlich um ein sicheres Land handelt, wie du sagst, warum kommen Laura und ich dann nicht einfach mit dir mit?«

Die Frage wiederholte sie drei Mal, so als würde sie damit nicht nur eine Bitte an Júlio formulieren, sondern sich selbst auch von möglichen Implikationen einer positiven Antwort zu überzeugen versuchen.

»Warum sollten wir hier ohne dich zurückbleiben?«

Júlio öffnete die Augen und knipste das Licht wieder an. Er blickte in das Gesicht seiner Frau – ihre etwas zu lang geratene Nase, in die er sich einst verliebt hatte, ihre schmalen Lippen, ihr gelocktes Haar – und ließ sich alles Mögliche durch den Kopf gehen, von belanglosen bis hin zu weniger belanglosen Fragen, bis er wenige Augenblicke später zu der Frage gelangte, ja, warum eigentlich sollten Laura und Lena ohne mich hier zurückbleiben?

»Du könntest in einer Schule unterrichten«, wandte er sich zu Lena. »Oder zuhause bleiben, ganz wie du möchtest.«

Die Vorstellung von einem Leben in einer fernen Kolonie, in einem kleinen, exotischen Land, in dem sie vom Revolutionschaos verschont in Ruhe zur Schule gehen konnte, gefiel auch Laura.

Und so setzten Júlio, seine Frau und seine Tochter bereits einen Monat später ihre Füße auf den Boden von Timor. Sie landeten in Baucau, an der Nordküste der Insel gelegen, und fuhren in einem Konvoi aus Jeeps und Unimogs in Richtung Dili, der Hauptstadt Osttimors. Der Weg führte sie durch beinah völlig verlassen wirkende Städte, in denen sich nur Rinder und Wasserbüffel zu tummeln schienen. In Dili war es heiß, die Straßen staubig, und die Menschen liefen mit auffällig sorgenvollen Gesichtern umher. Die Häuser der portugiesischen Beamten waren beeindruckend prächtig und der Markt beeindruckend schmutzig. An einigen Mauern befanden sich revolutionäre Parolen und Wandmalereien, die aber offenbar von politischen Gegnern in Teilen wieder übermalt worden waren.

Auf dem Weg zur Dekolonialisierung existierten in Timor mehr als fünf Parteien, von denen vor allem drei starken Rückhalt besaßen: Die Demokratische Timoresische Union, UDT, strebte die Anbindung an Portugal an; die Revolutionäre Front für die Unabhängigkeit von Osttimor oder kurz Fretilin forderte die uneingeschränkte Unabhängigkeit Timors, und die Timoresische Demokratische Volksvereinigung, abgekürzt Apodeti, befürwortete die Vereinigung mit Indonesien, dem Nachbarland Timors und ehemaligen Kolonie der Niederländer. Während der Ära der Estado Novo hatte keine Partei existiert, die sich für die Belange der Bevölkerung Timors einsetzte. Die PIDE war stets an Ort und Stelle, um auch die kleinste politische Bewegung bereits im Keim zu zerschlagen. Männer von dieser inzwischen offiziell aufgelösten Geheimpolizei schlichen, wenn auch unter neuem Namen, nach wie vor durch die Straßen der Stadt und sie lebten auch noch in den von der Regierung bezahlten Häusern, ganz so als hätte es die Revolution nie gegeben. Politische Tatkraft konnten sie jedoch nicht beugen oder aufhalten. Die Menschen in diesem Land waren lange Zeit unterdrückt worden und ließen sich nun, da sie ihre Freiheit wiedererlangten, von nichts und niemandem aufhalten. Die politischen Parteien lieferten sich einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf; sie ließen nichts unversucht, um ihre Position und den Rückhalt in der Bevölkerung zu stärken, sie bedienten sich moderater Mittel, aber auch hinterhältiger Intrigen. Jede der Parteien hatte fanatische Anhänger und auch Milizionäre in ihren Reihen, die bereit waren, für ihre Partei zu sterben. Die Meldung, dass jemandem etwas zugestoßen war, weil er einer anderen und damit falschen Partei anhing, war inzwischen nichts Ungewöhnliches mehr.

Die aufgeheizte politische Stimmung war bis hinein in die Amtsstuben der Regierung zu spüren. Etliche von Júlios Kollegen hielten sich mit ihrer politischen Einstellung nicht zurück und sympathisierten offen mit einer der Parteien. Einige unter ihnen schlossen sich sogar einer Partei an und kehrten dem Regierungsdienst den Rücken, andere arbeiteten weiter wie bisher, trafen sich aber heimlich mit Parteimitgliedern. Júlio jedoch, den die Nelkenrevolution beinahe den Kragen gekostet hatte, war längst entschlossen, alles irgendwie Politische zu meiden, und zog es vor, neutral zu bleiben. Er kam pünktlich ins Büro, erledigte, was zu erledigen war, und machte sich pünktlich zum Feierabend auf den Heimweg. Seine Tochter kaufte einen Punglor Cendana, einen heimischen Vogel, dem man allerdings noch das Pfeifen beibringen musste; und seine Frau legte einen Garten hinter dem Haus an, mit einem kleinen Pavillon darin, der zum entspannten Lesen oder zum Genießen eines Glas Weins oder zu beidem einlud. Zeit mit seiner Familie zu verbringen, war eine erbauliche Beschäftigung, die ihn voll und ganz erfüllte. Obgleich nicht wenige seiner Kollegen sich in lokalpolitische Angelegenheiten einmischten, suchte Júlio sich davon fernzuhalten.

Bis Kapten Gustavo in sein Leben trat.

In den Straßen war es bereits still geworden, als Kapten Gustavo an die Haustür klopfte. Júlio öffnete die Tür und erkannte den Mann sofort als einen der Mitarbeiter aus dem Büro für Politische Angelegenheiten. Sie hatten sich zwar schon einige Male miteinander unterhalten, dennoch fragte sich Júlio, warum Kapten Gustavo ihn an diesem Abend unangekündigt und zu später Stunde zuhause aufsuchte. Ihre letzte Begegnung lag fast zwei Monate zurück, sie hatten sich über die Einmischung Indonesiens in die Angelegenheiten der portugiesischen Kolonie unterhalten. Am Ende ihres Gesprächs hatte Kapten Gustavo ihm unvermittelt eine persönliche Frage gestellt, nämlich ob Júlio das Haus mit den drei Sandelholzbäumen in der Jalan Fernando bewohnte. Júlio bestätigte, dass drei Sandelholzbäume auf seinem Grundstück standen, fügte aber hinzu, dass er sich nicht sicher sei, ob nicht noch weitere Bäume dieser Art an einem anderen der Häuser in der Straße wuchsen. »Mein Vater hat diese Bäume einst gepflanzt«, erwiderte der Kapten und erklärte: »Früher waren es vier, aber einer ist nach einem Raupenbefall abgestorben und wurde gefällt.« Júlio antwortete, dass tatsächlich an drei der vier Ecken seines Hauses jeweils ein Baum stand und es daher wahrscheinlich früher einmal einen vierten Baum an der vierten Ecke gegeben habe.

Im Büro rauchte der Kapten ständig Zigarre. Sein Gesicht war von auffallend dunkler Hautfarbe und stets von einer Erschöpfung gezeichnet, als befände er sich auf dem Schlachtfeld. So wie dieser Mann nun vor seiner Haustür stand, ohne Zigarre, aber mit diesem unverkennbaren erschöpften Gesichtsausdruck, fragte sich Júlio, ob er gekommen war, um die Sandelholzbäume aus der väterlichen Hinterlassenschaft zurückzufordern.

»Zweifellos, das ist das Haus, in dem früher mein Vater lebte«, erklärte Kapten Gustavo.

Júlio bat den späten Gast ins Haus, hieß ihn Platz nehmen und öffnete eine Flasche Wein. In den folgenden Stunden sprach Kapten Gustavo ausschließlich über seinen Vater und erzählte Episoden aus dessen Leben.

Sein Vater, so begann Gustavo, habe seinerzeit dem portugiesischen Präsidenten Manuel Gomes da Costa nahegestanden. Er sei aber dann 1926 nach der Militärrevolte unter General António Oscar de Fragoso Carmona, die zur Absetzung des Präsidenten geführt hatte, nach Timor in die Verbannung geschickt worden. Zwei Jahre später wurde Gustavo geboren, seine Mutter, eine Einheimische, war die Pflegerin seines Vaters gewesen. Noch bevor Gustavo sprechen konnte, kehrte sein Vater nach Portugal zurück und ließ seine Mutter und ihn in Timor zurück. Er war vierzehn Jahre alt, als die Japaner einmarschierten, und er könne nur von Glück sprechen, dass er die japanische Besatzung lebend überstanden habe. Es war ein grausamer Krieg. Seine Mutter kam in dieser Zeit ums Leben. Später wurde er, es lag ihm als Sohn seines Vaters wohl im Blut, selbst Soldat. Er war an der Zerschlagung der Aufstände in Manufahi und in anderen Regionen im östlichen Teil der Insel Timor beteiligt. Man hätte ihm seiner Meinung nach einen höheren Dienstgrad verleihen müssen. »Aber was willst du schon von einer korrupten Regierung wie dieser erwarten, nicht wahr, Júlio?«

Júlio murmelte etwas Unverständliches als Antwort, fügte dann aber deutlicher hinzu, er würde allmählich müde. Seine Tochter und seine Frau schliefen bereits im Schlafzimmer, dessen Tür er nach Gustavos Eintreten verriegelt hatte, denn schließlich kannte er die Absichten seines Besuchers nicht. Kapten Gustavo musste Júlios Bemerkung als Zeichen verstanden haben, dass es Zeit für ihn war, nach Hause zu gehen, doch er fragte seinen Gastgeber, ob er auf dem Sofa übernachten dürfe.

»Diese Nacht schreibt Geschichte für mich«, sagte er, ohne dass Júlio verstand, was er damit meinte. »Erlaube mir, meines Vaters zu gedenken, hier in diesem Haus.«

Unter dem Einfluss des Weins gab Júlio der sentimentalen Bitte seines Gastes nach.

»Wir alle haben einen Vater, dessen wir gedenken«, antwortete er. »Dort drüben ist das Gästezimmer«, fügte er hinzu und deutete auf einen Raum im vorderen Teil des Hauses. »Sei unser Gast!«

Kapten Gustavo bedankte sich und sparte nicht mit Entschuldigungen, seinem Gastgeber bereits solche Umstände bereitet zu haben. Júlio erwiderte, er solle sich darüber nicht den Kopf zerbrechen, es sei ihm vielmehr eine Ehre, einem Sohn, dem sein Vater fehle, einen Herzenswunsch zu erfüllen.

Nachdem Kapten Gustavo in das ihm zugewiesene Zimmer getreten war, blieb Júlio noch eine Weile auf dem Sofa sitzen, um abzuwarten und sicherzustellen, dass sein Gast mit der Bewirtung und der Unterkunft zufrieden war und bald tief und fest schlafen würde. In diesen Momenten dachte Júlio an seinen eigenen Vater, der, ebenfalls als Soldat, in Angola gefallen war. Nach dessen Tod war Júlios Mutter in ihr Heimatdorf im Süden Portugals zurückgekehrt. Júlio führte sich seine eigene gegenwärtige Situation vor Augen, er schätzte sich glücklich, seine Arbeit hinter dem Schreibtisch verrichten und sich um seine Familie kümmern zu können. Gerade als er sich entschlossen hatte, schlafen zu gehen und die Schlafzimmertür entriegelte, hörte er die Geräusche von Schritten vor dem Haus, die von mehr als einem Paar Stiefel herrühren mussten und näher zu kommen schienen.

Einen Augenblick später klopfte es an der Haustür. Júlio ging zur Tür und spähte durch das kleine Türfenster hinaus. Acht Männer standen auf der anderen Seite des Türblatts, fünf von ihnen mit einem Mauser-Gewehr in den Händen.

»Wir sind auf der Suche nach Kapten Gustavo!«, rief einer der Männer, der allem Anschein nach die Gruppe anführte.

Júlio wandte sich um, da stand Kapten Gustavo bereits in der offenen Tür des Gästezimmers und gab ihm resigniert ein Zeichen, die Haustür zu öffnen. Júlio kam der Aufforderung nach und die Männer traten ein. Sofort griffen zwei von ihnen Kapten Gustavo bei den Armen.

»Es tut mir leid, Malae. Sie müssen uns ebenfalls begleiten«, ergriff der Anführer erneut das Wort.

Als Júlio einen Schritt zurücktrat und zum Widerspruch ansetzte, fügte der Mann mit ruhiger Stimme hinzu: »Oberstleutnant Magiolo Gouveia erwartet Sie in seinem Büro. Es wird nicht lange dauern.«

Sowie der Name des Polizeichefs gefallen war, öffnete Júlios Frau die Schlafzimmertür. Sie beide kannten den Polizeichef. Er war ein guter und ehrbarer Mann, alles würde gut werden.

* * *

Doch es kam anders als sie vermuteten, nichts wurde gut. Die Partei UDT hatte einen Putsch lanciert und hielt inzwischen die Stadt mit sämtlichen ihrer zentralen Regierungseinrichtungen einschließlich des Polizeipräsidiums besetzt. Júlio und Kapten Gustavo wurden zwar zum Präsidium, nicht aber vor den ehrbaren Polizeichef gebracht. Stattdessen wurden sie in eine Zelle gesperrt und wie Gefangene behandelt, sie wurden als Kommunisten bezeichnet und über die Pläne der Fretilin sowie über andere Umstände, von denen Júlio nicht im Geringsten wusste, befragt. Júlio drohte seinerseits, er sei schließlich portugiesischer Regierungsbeamter, doch das brachte die Männer nur noch mehr gegen ihn auf und sie begannen ihn zu schlagen. Auch Kapten Gustavo wurde mehrfach geschlagen, und ihnen beiden wurde bewusst, dass sie nun dasselbe Schicksal teilten.

Weil ihr Ehemann auch am nächsten Tag nicht nach Hause kam, suchte Lena einige der ihr bekannten Regierungsbeamten auf, um sich bei ihnen zu erkundigen, was da vor sich ging. Sowie sie den Herren aber mitteilte, dass ihr Mann den Abend vor seiner Festnahme mit Kapten Gustavo verbracht hatte, dass dieser bei ihnen zu Gast war und auch in ihrem Haus übernachten wollte, beschuldigten die Beamten wiederum Lena und ihren Mann, sie hätten mit Überläufern kollaboriert.

»Wir werden sehen, was sich machen lässt. Aber sollte sich herausstellen, dass Ihr Mann mit der Fretilin zusammenarbeitet, dann können wir nicht mehr viel für ihn tun.«

Lena versuchte, sie zu überzeugen, dass ihr Mann in keinerlei Konspiration verwickelt und Kapten Gustavo an diesem Abend zum ersten Mal in ihrem Haus zu Besuch gewesen war. Am Ende schickte man Lena nach Hause und versprach, sich um die Angelegenheit zu kümmern.

In der zweiten Nacht ihrer Gefangenschaft forderte Kapten Gustavo Júlio auf, sich bereitzuhalten. Um zwei Uhr morgens begann er zu klagen und flehte die Wärter an, zur Latrine gebracht zu werden. Seine Stimme klang gedämpft, mehr wie erstickte Schreie aus seinem Inneren, ein mitleiderregendes Stöhnen. Die zwei diensthabenden Wärter, einfache Milizionäre und ohne jede Ausbildung in Selbstverteidigung, näherten sich der Zelle, um dem jammervollen Wehklagen auf den Grund zu gehen. Sowie sie die Zellentür geöffnet hatten, setzte Gustavo zum Angriff an. Dem einen Wärter drehte er den Hals um und dem anderen schlug er mit der geballten Faust gegen den Kehlkopf. Als die beiden Männer außer Gefecht gesetzt waren, flohen Kapten Gustavo und Júlio aus ihrer Zelle, und es gelang ihnen, die Gefängnismauer zu überwinden und sich dann geduckt mit gesenkten Köpfen durch dunkle Gassen zu schleichen, bis sie schließlich an ein Haus gelangten, in dem laut Kapten Gustavo eine Bekannte von ihm namens Sarah lebte.

»Alle haben sich schon nach Aileu zurückgezogen«, teilte Sarah Kapten Gustavo mit.

Júlio machte sich Sorgen um seine Familie, aber Kapten Gustavo erinnerte ihn an die Gefahren, die ihm drohten, sollte er jetzt nachhause zurückkehren.

»Dein Haus wird mit Sicherheit überwacht.«

Júlio gab Kapten Gustavo die Schuld dafür, dass er nun in einem Schlamassel steckte, mit dem er nicht das Geringste zu schaffen hatte. Doch es war zu spät. Jeder Zentimeter seines Körpers schmerzte. Und in seinem Inneren entbrannte ungeahnter Hass auf die UDT. Bisher hatte er sich als Portugiese immer für zivilisierter und aufgeklärter als die Einheimischen gehalten, in den vergangenen zwei Tagen aber war er von Männern beschimpft, geschlagen und getreten worden, die auf Seiten Portugals standen. Im Namen der portugiesischen Sache hatten sie seinen Kopf gepackt und auf die Tischplatte geschlagen.

»Kann denn Lemos Pires nichts ausrichten?«

»Ihr beide geltet jetzt als Überläufer. Als Vaterlandsverräter«, erwiderte Sarah. »Haltet euch zunächst hier versteckt. Unser Freund Francisco wird sicherlich etwas unternehmen.«

Während Júlio sich in Sarahs Haus versteckt hielt, verlegte Mario Lemos Pires seinen Regierungssitz von Dilis Stadtzentrum in den Stadtteil Farol. Von dort versuchte er die Kontrolle über die Lage zurückzugewinnen und die Sicherheit der portugiesischen Staatsangehörigen zu gewährleisten. Dort erreichte ihn auch Lenas Nachricht von der Festnahme ihres Mannes, woraufhin er zwei Inspektoren zum Polizeipräsidium schickte, um sich nach Júlios Verbleib zu erkundigen. Im Präsidium wurde den beiden Männern dann geschildert, auf welche Weise Júlio und Kapten Gustavo die Flucht gelungen war. Einem Wachmann sei der Hals umgedreht worden, so hieß es, er sei auf der Stelle tot gewesen. Der zweite Wachmann, der Kapten Gustavos Attacke überlebt hatte, tischte ihnen, wohl aus einer Gefühlsmischung aus Wut und Scham heraus, die Geschichte auf, dass sich in der besagten Nacht eine Gruppe von Partisanen der Fretilin heimlich in das Gefängnis geschlichen und Júlio und Kapten Gustavo zur Flucht verholfen haben mussten.

»Ich konnte sie nicht genau erkennen, aber die Männer waren gut ausgebildet. Die beiden müssen wichtige Leute bei der Fretilin sein, wenn sie von so gut ausgebildeten Kämpfern befreit werden. Aber wir werden sie aufspüren. Wehe dem, der sie verstecken sollte!«

Nachdem ihm wiederum die beiden Inspekteure diese Version der Flucht gemeldet hatten, versprach Lemos Pires, Júlio festnehmen zu lassen, falls dieser in sein Büro zurückkehren sollte, und für den Fall, dass Júlio nicht zurückkehrte, stehe ihm in diesem Krieg nunmehr allein Gott der Allmächtige bei.

Eine Woche lang hielt sich Júlio in Sarahs Haus versteckt, wo er Schach spielte und sich Kapten Gustavos Heldengeschichten anhörte. In diesem Zeitraum gelang es der Fretilin, in die Stadt vorzudringen und der UDT die Kontrolle zu entreißen. Mitglieder der UDT und ihre Unterstützer, darunter der Polizeichef, wurden festgenommen. Sympathisanten der Fretilin, die sich in Gefangenschaft befanden, wurden auf freien Fuß gesetzt. Unterdessen wurde Júlio an der Seite von Kapten Gustavo von hochrangigen Männern der Revolutionspartei empfangen und in ihren Reihen willkommen geheißen.

»Ihr habt an der Seite des Volkes gekämpft. Ihr habt im Namen der Fretilin und im Namen des Volkes der Maubere Folter erleiden müssen. Ihr seid die ersten Märtyrer dieses Kampfes!«

Da sich die Stadt nun unter der Kontrolle der Fretilin befand, wagte Júlio es, sich heimlich mit seiner Familie zu treffen. Einen Fuß in sein Büro zu setzen, schien ihm jedoch nach wie vor zu gefährlich.

»Lemos Pires ist außer sich vor Zorn«, teilte Lena ihm mit. »Man wird dich festnehmen und vor Gericht zerren.«

Júlio sendete eine Nachricht an den Gouverneur mit der Bitte um ein persönliches Treffen, bei dem er seinen Standpunkt erklären würde. Anstatt eine Antwort des Gouverneurs zu erhalten, erfuhr er einige Tage später, dass dieser seinen Regierungssitz nun auf die Insel Atauro, rund fünfundzwanzig Kilometer vor der Küste der Stadt Dili, verlegt hatte. Der Gouverneur war außerstande, die Kontrolle über die Stadt zurückzuerlangen. Júlio hatte das Gefühl, von seinem eigenen Land im Stich gelassen worden zu sein.

Während er sich von seinem Heimatland verraten und verkauft fühlte, wurde er von den Männern der Fretilin mit offenen Armen empfangen und für seine Taten gerühmt. In Ansprachen und Reden hochrangiger Parteimitglieder wurde er häufig als leuchtendes Beispiel für andere genannt: »Seht euch diesen Ausländer an! Entschlossen kämpft er an unserer Seite. Er wurde von der UDT gefangengenommen und gefoltert, weil er sich für unser Volk einsetzt. Wenn ein Malae mit dem Volk der Maubere zu kämpfen bereit ist, wollt ihr dann tatenlos am Rande stehen und zusehen? Apartidarismo hat dazu geführt, dass dieses Land Hunderte von Jahren unter dem Joch der Kolonialherren verharrt hat!«

Mit der Zeit gewann Júlio mehr und mehr das Gefühl, ein neues Heimatland zu haben, das ihn mit offenen Armen aufnahm. Wozu nach Portugal zurückkehren? Er würde doch nur ins Gefängnis geworfen werden. Aber hier in diesem Land liebten ihn die Menschen. Und so begann er, im Kreis der Fretilin zu arbeiten. Seine Mitarbeit bestand darin, Sinn und Zweck des Kampfes schärfer zu definieren, Abtrünnige zu identifizieren und die Deklaration der Unabhängigkeit vorzubereiten. Die verfeindeten Lager bekämpften sich unerbittlich und viele Menschen wurden auf allen Seiten getötet, doch Júlio und seine Gefährten blieben zuversichtlich, dass, wenn sie nur ihr Bestes gaben, die Lage sich stabilisieren ließe. Frieden und Sicherheit würden in das Land zurückkehren, und seine Frau und seine Tochter würden ihr Leben unbeschwert genießen können.

* * *

Als am frühen Morgen die Angriffe der indonesischen Armee auf Dili begannen, hatte Júlio noch kein Auge zugetan. Die ganze Nacht über hatte er vergeblich zu schlafen versucht. Immer wieder war er ins Bad gegangen oder hatte sich grübelnd an den Esstisch gesetzt und war dann wieder ins Schlafzimmer zurückgekehrt. Jedes Mal, wenn er die Schlafzimmertür öffnete oder schloss, weckte das Quietschen der Türangeln seine Frau auf. Indonesische Truppen kontrollierten inzwischen die Grenzen zum Westteil der Insel. Scharmützel im Grenzgebiet hatten in den letzten Monaten viele Menschen das Leben gekostet, darunter fünf Journalisten aus Australien, die Balibo Five, von denen zwei die britische Staatsbürgerschaft besaßen. In Dili lebende Australier versuchten eilig, Flugtickets zu ergattern, und verließen scharenweise die Stadt, um in ihr Heimatland zurückzukehren. Große Teile der timoresischen Bevölkerung selbst flohen in die Berge.

Nachdem im November die Stadt Atabae, rund sechzig Kilometer Luftlinie von Dili entfernt, von indonesischen Truppen angegriffen und besetzt worden war, beeilte sich die Fretilin, die Unabhängigkeit von Portugiesisch-Timor im Namen der Demokratischen Republik Timor-Leste zu erklären. Schleunigst wurde eine Fahne genäht und in nur wenigen Tagen eine Verfassung auf die Beine gestellt. Die Unabhängigkeitserklärung wurde vor dem Sitz der nun ehemaligen portugiesischen Regierung öffentlich verlesen. Die portugiesische Fahne, die dort über Hunderte von Jahren geweht hatte, wurde herabgelassen, die neue Fahne Timor-Lestes wurde gehisst, die Menge sang die Hymne Pátria! Pátria!, und zu Ehren der Gefallenen wurden Kanonen abgefeuert. Über Rádio Marconi verbreitete die Führung der Fretilin die Nachricht von der Unabhängigkeit Timor-Lestes in alle Teile der Welt.

In der Welt allerdings zeitigte die Unabhängigkeitserklärung nicht allzu große Wirkung. Die Parteien UDT und Apodeti hatten sich bereits mit Indonesien verbündet und erklärten nun ihrerseits die Integration Portugiesisch-Timors in die Republik Indonesien. Auch die Anerkennung der Souveränität Timor-Lestes durch andere Länder gestaltete sich schwierig – selbst Mario Lemos Pires war nur gewillt, das Ergebnis allgemeiner Wahlen anzuerkennen. Dabei war es unrealistisch, auf die Durchführbarkeit von allgemeinen Wahlen zu setzen, zumal er und seine Regierung sich wie Feiglinge noch auf der Insel Atauro versteckt hielten.

Júlio, der zu einer kleinen Arbeitsgruppe gehörte, die fünfundfünfzig Artikel der neuen Verfassung für das Land formulierte, sagte zu Kapten Gustavo, er habe keine Angst vor einem Krieg.

»Aber ich fürchte um Lenas und Lauras Leben«, fügte er hinzu.

»Falls Indonesien tatsächlich Dili angreifen sollte«, erwiderte Kapten Gustavo, »dann sag den indonesischen Soldaten, dass ihr portugiesische Staatsbürger seid.« Da Kapten Gustavo zum engsten Kreis um den Fretilin-Mann Rogério Lobato gehörte, hatte Júlio keine Veranlassung, nicht auf seine Worte zu vertrauen.

Um drei Uhr in der Früh erloschen die Lichter, und Júlio wusste, die Invasion hatte begonnen. Der Angriff erfolgte vom Meer aus und aus der Luft, Flugzeuge dröhnten über der Stadt und Fallschirmjäger sprangen ab. Bombendetonationen und Maschinengewehrfeuer zerschlugen die Stille der Nacht. Júlios Tochter war aus dem Schlaf aufgeschreckt und lief zitternd vor Angst in das Schlafzimmer ihrer Eltern. In der Dunkelheit hörte er seine Frau den Lobgesang Mariens aufsagen.

Den folgenden Tag über verließ die Familie dos Santos nicht das Haus. Von Zeit zu Zeit ebbte der Lärm ab, um nur wenige Augenblicke später erneut aufzuflammen. Einheiten der Fretilin und ihrer Unterstützer leisteten Widerstand, doch noch bevor der Tag zu Ende ging, war die Stadt von indonesischen Truppen besetzt. Die einmarschierten Soldaten durchsuchten jedes Haus, durchkämmten jedes Gebäude. Als man schließlich auch Júlio aufforderte, das Haus zu verlassen, widersetzte er sich nicht. Seine Waffe hatte er bereits hinter dem Kleiderschrank versteckt. Er er