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»Ein Meisterwerk der Wissenschaftsliteratur« Robin Wall Kimmerer, Autorin von Geflochtenes Süßgras Die preisgekrönte Wissenschaftsjournalistin Zoë Schlanger erzählt in ihrer poetisch-philosophischen Erkundung, was wir von den geheimnisvollen Fähigkeiten der Pflanzen lernen können. Wurzeln machen erfinderisch: Pflanzen überqueren Ozeane, verwandeln Licht in Leben und nehmen wahr, was uns verborgen bleibt. Sie führen ganz eigene, komplexe Sozialleben, können uns aber auch dabei helfen, die scheinbar unvermeidliche Klimakatastrophe aufzuhalten. Dass unser Planet überhaupt bewohnbar ist, verdanken wir diesen Geschöpfen, die uns zugleich vollkommen vertraut und faszinierend fremd sind. Voll staunender Neugier spürt Zoë Schlanger den Geheimnissen der Pflanzenwelt und der Verbundenheit alles Lebendigen nach. Sie erzählt von der Anpassungsfähigkeit und den ausgeklügelten Überlebenstechniken der Pflanzen, denen es gelingt, die denkbar ungeeignetsten Orte zu ihrem Lebensraum zu machen, und berichtet von revolutionären Entdeckungen in der Botanik, die alles in Frage stellen, was wir bisher über Pflanzen zu wissen glaubten. Dabei taucht sie tief in die faszinierende Welt dieser Wissenschaft ein und verwebt ihre Erkenntnisse mit philosophischen Überlegungen über die großen Zusammenhänge des Lebens. Denn die leidenschaftlich geführten Debatten um das mögliche Bewusstsein der Pflanzen, ihre Fähigkeit zu kommunizieren und sich sozial zu verhalten, sind Fragen nach dem Wesen der Realität selbst: Mit dem Verständnis der Pflanzen entschlüsseln wir das Wunder des Lebens. »Brilliant - Pflichtlektüre über die Wunder der grünen Welt. Dieses Buch hat mich erschüttert und verändert.« David G. Haskell, Autor von Das verborgene Leben des Waldes »Dieses Buch hat meinen Blick auf Pflanzen – und die Natur selbst – vollkommen verändert. [...] faszinierend, welterweiternd und schmerzlich schön.« Ed Yong, Autor von Die erstaunlichen Sinne der Tiere »Bereichernd, lebendig und voller Überraschungen. Lesen Sie dieses Buch! Sie werden die Welt auf ganz neue Weise betrachten.« Elizabeth Kolbert, Autorin von Das sechste Sterben
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Zoë Schlanger
Wie Pflanzen uns das Leben schenken
Wurzeln machen erfinderisch: Pflanzen überqueren Ozeane, verwandeln Licht in Leben und nehmen wahr, was uns verborgen bleibt. Sie führen ganz eigene, komplexe Sozialleben, können uns aber auch dabei helfen, die scheinbar unvermeidliche Klimakatastrophe aufzuhalten. Dass unser Planet überhaupt bewohnbar ist, verdanken wir diesen Geschöpfen, die uns zugleich vollkommen vertraut und faszinierend fremd sind.
Voll staunender Neugier spürt Zoë Schlanger den Geheimnissen der Pflanzenwelt und der Verbundenheit alles Lebendigen nach und erzählt von den revolutionären Entdeckungen in der Botanik, die alles in Frage stellen, was wir bisher über Pflanzen zu wissen glaubten. Die leidenschaftlich geführten Debatten um ihr mögliches Bewusstsein sind Fragen nach dem Wesen der Realität selbst: Mit dem Verständnis der Pflanzen entschlüsseln wir das Wunder des Lebens.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Zoë Schlanger ist Wissenschaftsjournalistin und schreibt als Reporterin für »The Atlantic« über den Klimawandel. Um den Nachrichten über diese scheinbar unaufhaltsame Katastrophe etwas entgegenzusetzen, sucht sie Trost und Hoffnung in den verblüffenden Fähigkeiten von Pflanzen. Ihre Artikel erscheinen u.a. in »The New York Times«, im »New York Times Book Review«, dem »TIME« Magazin und bei »The Nation«. 2017 wurde sie mit dem Preis der National Association of Science Writers‘ ausgezeichnet. »The Light Eaters« ist ihr erstes Buch. Schlanger lebt in Montreal und New York City.
[Widmung]
[Motto]
Prolog
Kapitel 1 Die Frage des Pflanzenbewusstseins
Kapitel 2 Wie Wissenschaften ihre Meinung ändern
Kapitel 3 Die kommunizierende Pflanze
Kapitel 4 Zum Fühlen erwacht
Kapitel 5 Mit dem Ohr am Boden
Kapitel 6 Der (Pflanzen-)Körper zählt mit
Kapitel 7 Gespräche mit Tieren
Kapitel 8 Der Wissenschaftler und die Boquila trifoliolata
Kapitel 9 Das soziale Leben der Pflanzen
Kapitel 10 Vererbung
Kapitel 11 Die Zukunft der Pflanzen
Dank
Register
Für Anne und Jeff, die in kleinen Dingen das große Bedeutsame erkennen.
Sie können Licht essen. Ist das nicht genug?
TIMOTHY PLOWMAN, ETHNOBOTANIKER
Ich gehe einen schummrigen Pfad entlang. Rund um mich herum wellen sich dicht mit Moos bewachsene Hügel. Ich blicke in den Himmel und fühle mich winzig klein angesichts der Säulen aus schleimig feuchten Stämmen. Der Boden unter mir ist nass und gibt nach. Ein Schild am Weg warnt vor einem aggressiven Elch. Ich sehe keinen Elch und gehe weiter. Farnwedel tauchen auf, Schwertfarne mit ihren eingerollten Triebspitzen von der Größe einer Babyfaust, bedeckt mit samtbraunen Härchen, unerwartete Vorboten der geschwungenen Wedel, die wie Pfauenfedern dort heraussprießen werden. Von den Zweigen über mir hängt in langen Fingern Moos herab. Auf einem umgestürzten Baumstamm drängen Pilze himmelwärts. Alles scheint zugleich nach oben, nach unten und zur Seite zu streben.
Ich dringe in all das ein, aber niemand scheint davon Notiz zu nehmen. Alle Dinge hier sind derart in ihr eigenes Leben vertieft, dass ich mir wie eine Ameise vorkomme, die unbemerkt über einen Baumschwamm läuft. Die an den Baumstämmen hinaufkletternden Flechten kräuseln die Ränder ihrer scheibenförmigen Körper nach oben und fangen Wassertropfen ein, während sie einen neuen Tag und eine weitere Chance zu wachsen begrüßen.
Ich befinde mich im Hoh-Regenwald im Pacific Northwest der USA, und alles hat etwas Geheimnisvolles an sich. Aus gutem Grund. Denn trotz allem, was die Wissenschaft über das biologische Geschehen hier weiß, bleibt doch noch so viel, was sie nicht zu erklären vermag. Ich befinde mich inmitten unzähliger komplexer adaptiver Systeme. Jedes Geschöpf ist in Schichten wechselseitiger Beziehungen mit anderen Geschöpfen in der Umgebung verbunden, die von den kleinsten bis zu den höchsten Größenordnungen reichen. Die Pflanzen mit dem Boden, der Boden mit den Mikroben, die Mikroben mit den Pflanzen, die Pflanzen mit den Pilzen, die Pilze mit dem Boden. Die Pflanzen mit den Tieren, die sich von ihnen ernähren und sie bestäuben. Die Pflanzen mit anderen Pflanzen. Das ganze wunderschöne Wirrwarr entzieht sich jeglicher Kategorisierung.
Beim Nachdenken darüber kommt mir das Konzept des Yang und Yin, die Philosophie der gegensätzlichen Kräfte, in den Sinn. Wir wissen, dass die Kräfte, die das Leben formen, sich in beständigem Fluss befinden. Die Motte, die jetzt die Blüte einer Pflanze bestäubt, gehört zur selben Spezies wie das Lebewesen, das in seinem Raupenstadium die Blätter dieser Pflanze frisst. Es liegt also nicht im Interesse der Pflanze, die fressenden Raupen vollkommen zu vernichten, denn sie werden sich in jene Geschöpfe verwandeln, auf die sie zur Verbreitung ihrer Pollen angewiesen ist. Andererseits kann die Pflanze keine vollständige Vernichtung ihrer Blätter dulden. Ohne Blätter vermag sie kein Licht zu essen und stirbt. Deshalb beginnt die Pflanze, nachdem sie einige Gliedmaßen verloren hat und Zeichen einer beträchtlichen Schädigung zeigt, ihre Blätter voll Bedacht mit unappetitlichen chemischen Stoffen zu füllen. Die meisten Raupen dürften inzwischen genug gefressen haben, um überleben, ihre Metamorphose durchmachen und ihren Beitrag zur Bestäubung leisten zu können. Alle Beteiligten geraten um Haaresbreite an den Rand des Todes, um dann letztlich doch zu gedeihen. Das ist der Zug und Druck der wechselseitigen Abhängigkeit und des Wettbewerbs. In großem Rahmen betrachtet, scheint niemand den Sieg davongetragen zu haben. Alle sind noch da: Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien. Am Ende stellt sich ein in ständigem Fluss befindliches Gleichgewicht ein. Mir wird klar, dass dieses ganze Drücken und Ziehen und Zusammenfließen von einer gewaltigen biologischen Kreativität zeugt.
Wie wir diese ganze Komplexität geistig zu erfassen vermögen, ist das gemeinsame berufliche Problem der Wissenschaft und der Philosophie, aber auch jedes Menschen, der staunend innehält. All dieses wuchernde Leben, das nicht lange genug stillhält, damit wir es in Ruhe anschauen können. Den Fokus auf die Pflanzen zu verengen, mag daher zunächst sinnvoll erscheinen. Das wäre einfacher, da wir es nur mit einer Sache zu tun hätten. Doch das erweist sich rasch als naiv, denn diese Komplexität herrscht in allen Größenordnungen.
Journalistinnen und Journalisten meiner Sparte neigen dazu, sich auf den Tod zu konzentrieren. Oder auf dessen Vorboten: Krankheit, Katastrophen, Niedergang. So spricht der Klimajournalismus über die ablaufende Zeit, während die Erde auf ihrem Weg in die absehbare Krise unerbittlich einen Orientierungswert nach dem anderen überschreitet. Davon kann ein Mensch nur ein gewisses Maß ertragen. Vielleicht war meine Toleranz nach Jahren der Beschäftigung mit Dürren und Überschwemmungen auch irgendwann erschöpft und aufgebraucht. In den letzten Jahren hatte ich begonnen, mich taub und leer zu fühlen. Ich brauchte etwas, das einen Ausgleich bieten konnte. Ich fragte mich, was das Gegenteil von Tod ist. Vielleicht Schöpfung? Das Gefühl, dass etwas beginnt, statt zu enden. Pflanzen sind genau das, wenn man bedenkt, dass sie ständig wachsen. Sie hatten mir auch in meinem bisherigen Leben immer schon Ruhe geschenkt, lange bevor Studien bestätigten, was wir längst wussten: dass mit Pflanzen verbrachte Zeit uns stärker zur Ruhe kommen lässt als ein langer Schlaf. Als ich in einer dichtbesiedelten Stadt lebte, ging ich gerne in den Park und machte einen Spaziergang unter dem Blätterdach der Ulmen und Eiben, wenn ich meinen Kopf freibekommen wollte. Minutenlang betrachtete ich die neuen Blätter, die sich an meinen Topfphilodendren bildeten, wenn ich mit meinen Nerven am Ende war. Pflanzen sind das Urbild schöpferischen Werdens. Sie sind in ständiger, wenngleich langsamer Bewegung und suchen Luft und Boden unablässig nach einer lebensfähigen Zukunft ab.
In der Stadt schienen sie die denkbar ungeeignetsten Orte zu ihrem Lebensraum zu machen. Sie brachen durch Spalten in zerfallendem Pflaster. Sie überwucherten die Maschendrahtzäune an den Rändern vermüllter Grundstücke. Ich freute mich heimlich über einen Götterbaum – im Nordosten der USA als invasive Art verschrien –, der aus einem Riss in meinem Treppenaufgang hervorwuchs und in einer einzigen Wachstumsperiode fast die Höhe eines zweistöckigen Gebäudes erreichte. Heimlich, weil ich wusste, dass er in New York als teuflische Spezies galt – und das zum Teil deshalb, weil er den Boden im Umkreis seiner Wurzeln mit Giften verseucht, so dass andere Pflanzen dort nicht gedeihen können und er sich sein Stückchen Sonne zu sichern vermag. Ich freute mich, weil mir das teuflisch brillant erschien. Als mein Nachbar den Baum im Herbst mit einer Machete zerhackte, hatte ich durchaus Verständnis dafür. Dennoch betrachtete ich den Stumpf jeden Morgen, wenn ich das Haus verließ, mit Bewunderung. Ich konnte bereits neue grüne Triebspitzen erkennen. Solcher Einsatz verdient Respekt.
So schienen denn die Pflanzen der rechte Ort zu sein, um meine erschöpfte apokalyptische Aufmerksamkeit zu wecken. Sicher konnten sie mich erfrischen. Bald erfuhr ich jedoch, dass sie noch viel mehr taten. Im Laufe einer jahrelangen obsessiven Beschäftigung veränderten die Pflanzen mein Verständnis dessen, was Leben bedeutet und welche Möglichkeiten es bietet. Wenn ich mich nun im Hoh-Regenwald umschaue, sehe ich mehr als nur beruhigendes Grün. Ich erlebe eine Lehrstunde in der Kunst, das eigene Potenzial in der vollsten, absonderlichsten und einfallsreichsten Weise zu entfalten.
Zunächst einmal stellt ein Leben, das in ständigem Wachstum an einer einzigen Stelle verbracht wird, eine gewaltige Herausforderung dar. Um diese Herausforderung zu bewältigen, haben Pflanzen einige der kreativsten Überlebensfähigkeiten aller Lebewesen entwickelt – einschließlich des Menschen. Viele sind derart genial, dass sie fast unmöglich erscheinen für eine biologische Ordnung, die wir weitgehend an die Grenzen unseres Lebens verdrängt haben und für eine bloße dekorative Rahmung des Schauspiels der Tierwelt halten. Aber das ändert nichts an den unglaublichen Fähigkeiten der Pflanzen, die unseren blutleeren Erwartungen Hohn sprechen. Wie ich bald erfahren sollte, ist ihre Lebensweise so erstaunlich, dass bis jetzt noch niemand die Grenzen dessen kennt, was Pflanzen in der Lage sind zu tun. Tatsächlich weiß offenbar noch niemand genau, was eine Pflanze überhaupt ist.
Natürlich ist das ein Problem für die Botanik. Oder das Aufregendste, was diesem Fachgebiet in einer einzigen Generation passiert ist – je nachdem, wie wohl Sie sich damit fühlen, wenn sich das Wissen, das Sie einmal für wahr hielten, grundlegend verändert. Nun war ich hoffnungslos fasziniert. Kontroversen in einem wissenschaftlichen Fachgebiet sind oft Vorboten gänzlich neuer Entwicklungen, eines neuen Verständnisses seines Gegenstandes. In diesem Fall war der Gegenstand das gesamte grüne Leben schlechthin. Ich begann, mein wachsendes Interesse ganz auf das aufkommende neue Denken in der Wissenschaft der Pflanzen zu richten. Je mehr die Botanikerinnen und Botaniker die Komplexität der Formen und Verhaltensweisen der Pflanzen entdeckten, desto weniger schienen die überkommenen Annahmen zum Pflanzenleben zuzutreffen. Mit diesen Widersprüchen fraß das Fachgebiet sich selbst auf. Die strittigen Punkte vervielfachten sich ebenso rasch wie die Mysterien. Irgendetwas an diesem Fehlen klarer Antworten zog mich an, und ich denke, dass es vielen von uns so ergeht. Wer fände das Unbekannte auch nicht zugleich anziehend und abstoßend?
Dieses Buch greift diese neuen Epiphanien in der Pflanzenwissenschaft auf und befasst sich mit dem Kampf um die Frage, wie neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden. Nur selten erhalten wir Einblick in ein Fachgebiet, das sich tatsächlich im Umbruch befindet und darüber debattiert, was es denn nun wirklich weiß – ein Fachgebiet, das dabei ist, ein neues Verständnis seines Gegenstandes zu entwickeln. Wir werden dabei auch einer Frage nachgehen, die gegenwärtig in Laboren und Fachzeitschriften heiß diskutiert wird: Sind Pflanzen intelligent? Soweit wir wissen, besitzen Pflanzen kein Gehirn. Manche behaupten jedoch, sie sollten wegen der bemerkenswerten Dinge, die sie zu tun vermögen, dennoch als intelligent gelten. Wir bestimmen Intelligenz – unsere eigene und die einiger anderer Spezies – auf indirektem Wege: indem wir Verhalten beobachten und nicht indem wir nach irgendeinem physiologischen Anzeichen suchen. Wenn Pflanzen Dinge tun können, die wir bei Tieren für Hinweise auf Intelligenz halten, dann wäre es nach Ansicht dieser Gruppe unlogisch und ein Beweis für eine unvernünftige zoozentrische Verzerrung, diese Sprache nicht auch für die entsprechenden Pflanzen zu benutzen. Andere gehen noch weiter und meinen, Pflanzen hätten möglicherweise auch ein Bewusstsein. Das Bewusstsein ist das vielleicht am wenigsten verstandene Phänomen der menschlichen Existenz und erst recht bei anderen Lebewesen. Das Gehirn, so glaubt man in diesem Lager, ist vielleicht nur einer der Wege zur Entwicklung von Geist und Bewusstsein.
Andere in der Botanik sind vorsichtiger und nicht bereit, Vorstellungen auf die Pflanzenwelt zu übertragen, die in ihren Augen eindeutig auf die Tierwelt gemünzt sind. Schließlich bilden die Pflanzen eine eigene Klade, eine geschlossene Abstammungsgemeinschaft mit einer Evolutionsgeschichte, die schon vor langer Zeit von unserer eigenen abzweigte. Wenn wir sie mit unseren Konzepten der Intelligenz und des Bewusstseins beschreiben, erweisen wir ihrem Wesen als Pflanzen keinen guten Dienst. Auch diesem wissenschaftlichen Lager werden wir später noch begegnen. Doch ich bin noch keiner Botanikerin und keinem Botaniker begegnet, die nicht voller Staunen betrachtet hätten, wozu die Pflanzen nach unserem neuesten Wissen in der Lage sind. Dank neuer Technologien hat die Botanik in den letzten zwei Jahrzehnten unglaubliche neue Beobachtungsmethoden gewonnen. Aufgrund ihrer Befunde verändert sich die Bedeutung des Begriffs »Pflanze« unmittelbar vor unser aller Augen.
Wie auch immer wir über Pflanzen denken mögen: Sie wachsen stetig weiter in die Höhe, der Sonne entgegen. In unserer weltweit so desaströsen Zeit eröffnen Pflanzen einen Blick auf eine grüne Art des Denkens. Wenn wir wirklich Teil dieser Welt und ihrer quirligen Lebendigkeit sein wollen, müssen wir die Pflanzen verstehen. Sie erfüllen unsere Atmosphäre mit dem Sauerstoff, den wir atmen, und bauen ganz buchstäblich unseren Körper aus den Zuckern auf, die sie mit Hilfe des Sonnenlichts gewinnen. Sie produzierten die Zutaten, die es einst möglich machten, dass überhaupt Leben entstand. Dennoch sind sie nicht bloß nützliche Zulieferer. Sie führen selbst ein komplexes, dynamisches Leben – ein soziales Leben, ein Geschlechtsleben und besitzen eine ganze Reihe subtiler Sinne, die wir eigentlich nur den Tieren zubilligen. Sie nehmen Dinge wahr, die wir uns nicht einmal vorstellen können, und besetzen eine Welt aus Informationen, die wir nicht zu sehen vermögen. Wenn wir die Welt der Pflanzen verstehen, eröffnet das neue Horizonte für unser Verständnis des Menschen: dass wir nämlich unseren Planeten mit einer Lebensform ganz eigenen Rechts teilen, der wir unser eigenes Leben verdanken und die uns zugleich fremd und vertraut erscheint.
Im Hoh-Regenwald entfaltet ein Oregon-Ahorn sein Blätterdach über meinem Kopf. Der Stamm ist vollständig von Süßholzfarnen, Lungenkräutern und Moosfarnen überzogen, so dass er aussieht, als trüge er ein Grinch-Kostüm. Nur an wenigen Stellen ist noch die Borke erkennbar – überall dort, wo sie aus dem grünen Bewuchs herausragt, wie ein Bergkamm sich über einer Matte aus dichten Wäldern erhebt, ähnlich den Gipfeln der Olympic Mountains gleich östlich des Hoh-Regenwaldes. Ich beuge mich vor, um genauer hinzusehen. Der grüne Bewuchs ist eine Welt in einer Welt. Die kleinen Büschel und Wedel wiederholen in einem winzigen Maßstab die Struktur des Waldes. Dreiblättriger Sauerklee und Etagenmoos überziehen den Boden. Ich werde in diese Welt hineingezogen und verirre mich darin. Doch letztlich geht es uns allen so: Wir alle wussten lange Zeit nicht, was in dieser Welt vor sich geht. Das scheint mir unklug zu sein. Ich wollte mehr wissen, und so ging ich hinaus und sah nach.
Was ist eine Pflanze? Wahrscheinlich haben Sie eine bestimmte Vorstellung davon. Vielleicht kommt Ihnen eine große Sonnenblume mit ihrem an eine Radkappe erinnernden Gesicht und ihrem dicken, mit Härchen besetzten Stiel in den Sinn oder die Bohnenranke, die sich im Garten Ihrer Großmutter um ein Rankgerüst schlingt. Möglicherweise denken Sie wie ich an eine Goldene Efeutute, die an Ihrem Küchenfenster hängt und wahrscheinlich mal wieder gegossen werden müsste. Sie stellen sich also etwas Bekanntes vor: das Grün unseres alltäglichen Lebens.
Natürlich haben Sie damit recht. Die Menschen haben schließlich auch seit jeher auf einen Oktopus gezeigt und ihn einen Oktopus genannt. Wir wussten jedoch bis vor kurzem nicht, dass solch ein Oktopus mit seinen Armen schmecken kann.[1] Dass er Werkzeuge benutzt.[2] Dass er menschliche Gesichter im Gedächtnis zu behalten vermag.[3] Dass er seine Umgebung viel sensibler wahrnehmen kann als wir die unsere. Und dass er über Neuronen verfügt, die wie eine Vielzahl getrennter Miniaturgehirne in seinem ganzen Körper verteilt sind. Was also ist ein Oktopus? Jedenfalls weit mehr, als wir es uns jemals vorgestellt hatten.
Die Antwort beginnt uns gerade erst zu dämmern und hat unser Verständnis nichtmenschlicher Intelligenz bereits in einem entscheidenden Punkt revolutioniert: Der Oktopus-Zweig am Stammbaum des Lebens trennte sich von unserem schon sehr früh in der Geschichte des tierischen Lebens. Unser letzter gemeinsamer Vorfahr dürfte ein Plattwurm gewesen sein, der vor mehr als 500 Millionen Jahren am Meeresgrund lebte.[1] Bisher hatten wir Intelligenz nur Tieren zugeschrieben, die uns evolutionär weitaus näher stehen, etwa Delphinen, Hunden und Primaten, unseren viel jüngeren Verwandten also. Heute wissen wir jedoch, dass ein überaus hohes Denkvermögen sich auch vollkommen unabhängig von unserem eigenen entwickeln kann. Eine ähnliche tektonische Verschiebung ereignet sich derzeit bei den Pflanzen, nur – bislang jedenfalls – stiller, in den Laboren und auf den Versuchsfeldern eines der am wenigsten strahlenden Fachgebiete innerhalb der Biowissenschaften. Doch das Gewicht dieses neuen Wissens droht die Wände des Behälters zu sprengen, in den wir die Pflanzen in unserem Denken setzen. Am Ende könnte es sogar unsere gesamte Vorstellung vom Leben selbst verändern.
Also: Was ist eine Pflanze? Ich war mir sicher, dass ich das wusste. Und dann begann ich, mit Botanikerinnen und Botanikern zu sprechen.
Vor einigen Jahren war ich eine Umweltreporterin, die ein Problem hatte. Der größte Teil meiner Arbeit konzentrierte sich auf zwei Dinge: das ständige Voranschreiten des Klimawandels sowie die gesundheitlichen Auswirkungen der Luft- und Wasserverschmutzung. Anders gesagt, schrieb ich über den unerbittlichen Weg der Menschheit in den Tod. Nach fünf oder sechs Jahren in diesem Feld beschlich mich eine gewisse Angst, die meine Stimmung verfinsterte. Als Reaktion darauf begann ich mich sonderbar zu benehmen. So erklärte ich meinen Kolleginnen und Kollegen den neuesten IPCC-Report – in dem wir erfahren, dass wir nur noch wenige Jahre haben, um die Katastrophe abzuwenden – mit einer gespenstisch anmutenden Fröhlichkeit und erwartete, dass sie erbleichten. Oft verbrachte ich den ganzen Morgen damit, Nachrichten über rekordbrechende Waldbrände und Wirbelstürme zu verschlingen, um mittags nahtlos zu Bürotratsch überzugehen. Die Abspaltung reichte schließlich so weit, dass ich zu keinerlei emotionaler Reaktion auf Umweltkatastrophen mehr fähig war. Das Abschmelzen der Eisschilde in Grönland schien mir nur eine weitere gute Story zu sein.
Um diese Zeit begann ich, ohne dass mir das bewusst gewesen wäre, in den Naturwissenschaften nach etwas zu suchen, das sich wunderbar und lebendig anfühlte. Ich mochte Pflanzen. Ich sah gerne zu, wie mein Nachtjasmin an meinem Fensterrahmen hinaufkletterte und wie sich an meiner Geigenfeige nach Monaten ohne jede Veränderung in einem plötzlichen Wachstumsschub drei neue Blätter entfalteten. Meine Wohnung war ein Zufluchtsort, in dem die Pflanzen mir ein Zufriedenheit schaffendes Schauspiel boten – weitaus besser als das Drama, das sich auf meinem Computerbildschirm abspielte. Warum sollte ich mein Reportergehirn also nicht den Pflanzen zuwenden, dachte ich plötzlich. Ich begann in meiner Mittagspause nach botanischen Zeitschriften zu suchen. Dazu nutzte ich dieselben Internetportale, auf denen ich nach Veröffentlichungen zum Klima Ausschau hielt – ein System, das Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit bietet, die neuesten Forschungsergebnisse einzusehen, bevor sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt, sie verpflichten sich, nicht vor dem festgesetzten Freigabedatum darüber zu berichten. Die Artikel in den Zeitschriften waren voller fundamentaler Entdeckungen über Pflanzen. Sie enthüllten zum Beispiel die evolutionären Ursprünge der Banane oder erklärten, warum manche Blüten klebrig sind (um nektarraubende Ameisen fernzuhalten). Ich hatte das Gefühl, eine Wissenschaft aus einer früheren Zeit zu bespitzeln. Gab es tatsächlich derart viel Grundlegendes zu entdecken? Zwei Wochen nach Beginn meiner neuen Faszination erfuhr ich, dass erstmals ein vollständiges Farngenom sequenziert worden war und schon bald ein Aufsatz darüber erscheinen sollte.[4] Ich wusste damals noch nicht, wie bemerkenswert das war – die entwicklungsgeschichtlich sehr alten Farne können bis zu 720 Chromosomenpaare besitzen (der Mensch hat nur 23), was erklärte, warum es so lange gedauert hatte, bis die Genomrevolution sie erreichte.[5] Ich war wie gebannt von dem Bild eines Farns, das den noch gesperrten wissenschaftlichen Text begleitete. Es handelte sich um die Fotografie eines winzigen schuppenartigen Pflänzchens auf dem Fingernagel eines Forschers: ein Algenfarn. Er war so grün, dass er von innen her zu leuchten schien. Ich war sofort verliebt.
Azolla filiculoides (Großer Algenfarn) oder kurz Azolla ist einer der kleinsten Farne der Welt und wächst seit Jahrtausenden an feuchten Orten. Wie bei allen Pflanzen wäre es nicht klug, Größe mit Komplexität zu verwechseln. Vor gut 50 Millionen Jahren, als die Erde weitaus wärmer war als heute, begann Azolla in riesigen Algenteppichen auf dem Nördlichen Eismeer zu wachsen. In den folgenden eine Million Jahren nahmen diese Farne so viel CO2 auf, dass sie nach Ansicht von Paläobotanikern eine wichtige Rolle bei der Abkühlung des Planeten spielten. Heute prüfen einige Forscherinnen, ob sie dies nicht erneut tun könnten.
Azolla hat noch einen weiteren Zaubertrick auf Lager. Vor etwa hundert Millionen Jahren entwickelte er eine spezielle Tasche in seinem Pflanzenkörper, um Cyanobakterien zu beherbergen, die Stickstoff umwandeln können. Die Luft um uns herum besteht zu fast 80 Prozent aus Stickstoff. Jede Lebensform einschließlich unserer eigenen braucht ihn für die Herstellung von Nukleinsäuren, den Bausteinen jeglichen Lebens. Doch in seiner atmosphärischen Form ist der Stickstoff für uns gänzlich unerreichbar. Überall Stickstoff und kein einziges Molekül, das wir nutzen könnten. In einer demütigenden Wendung sind Pflanzen vollkommen abhängig von Bakterien, die wissen, wie man Stickstoff in Formen umwandelt, die Pflanzen – und wir alle, die Stickstoff von den Pflanzen erhalten – aufnehmen können. So verwandelte sich Azolla denn in ein Hotel für solche Bakterien. Der winzige Farn füttert die Cyanobakterien mit dem Zucker, den sie benötigen, und die Cyanobakterien wandeln für sie den Stickstoff um. Die Bauern in China und Vietnam wissen das seit Jahrhunderten und arbeiten Azolla in ihre Reisfelder ein.[6]
Ich besorgte mir Bestimmungsbücher für Farne und Texte über Farnkunde. Ich war begeistert von meinem Wissensdurst, den ich in dieser Form nur wenige Male in meinem Leben verspürt hatte. Ich war derart fasziniert, dass ich mir eine winzige Azolla auf meinen linken Arm tätowieren ließ. Journalistinnen und Journalisten sind notorische Generalisten, die sich kurz und intensiv für zahlreiche Dinge interessieren, um sie bald wieder fallen zu lassen. Doch diesmal dachte ich, so müsse es sein, wenn man sich vollständig von einer Sache einnehmen lässt. Plötzlich hatte ich unzählige Fragen zu dieser äußerst gewöhnlichen Pflanzengruppe, die scheinbar ganz unspektakulär gewachsen war und doch die Welt verändert hatte. Was sonst wusste ich nicht?
Im Rahmen meiner Nachforschungen las ich Die feine New Yorker Farngesellschaft, ein dünnes Bändchen von Oliver Sacks über eine dem Farn gewidmete Exkursion, die er per Bus im Südwesten Mexikos unternommen hatte, zusammen mit lauter leidenschaftlichen Amateur-Pteridologen, alles Mitglieder der New Yorker Ortsgruppe der American Fern Society. Der Mitorganisator der Exkursion Robin C. Moran, ein vierundvierzigjähriger Kurator im New York Botanical Garden, der dort für Farne zuständig ist, hatte sie überall im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca umhergeführt. Nachdem sie tagelang Dörfer und Landschaften besichtigt und die Erzeugnisse auf den Märkten, Färberbottiche mit roter Cochenille und natürlich Lebermoose und Farne aller erdenklichen Arten, bewundert haben, erlebt Sacks einen Augenblick, den man nur als Verzückung beschreiben kann. Die kräftige Nachmittagssonne fällt schräg auf ein hohes Maisfeld. Ein älterer Herr, Botaniker und Spezialist für die Landwirtschaft dieser Region, steht vor dem Mais. Sacks erwähnt den transzendenten Moment – ein ganz kurzes Aufflackern – nur mit wenigen Worten, doch die erschienen mir auf Anhieb als wahr.
Der hohe Mais, die warme Sonne, der alte Mann – das alles verschmilzt zu einem einzigen Ganzen. Dies ist einer jener unbeschreiblichen Augenblicke, die von einer intensiven, beinahe übernatürlichen Wahrnehmung der Realität gekennzeichnet sind. Dann gehen wir den Weg hinunter zum Tor und steigen in den Bus. Alle sind benommen, wie in Trance, als wäre uns unvermittelt eine göttliche Vision zuteilgeworden – doch nun sind wir zurückgekehrt in die gewohnte, alltägliche Welt.
Die Erfahrung solch eines kurzen Aufflackerns des Ewigen, des Wirklichen, der Gestalt zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte naturkundliche Literatur. Ich war nicht die Einzige, die sich in dieser Weise hingerissen fühlte. In Pilger am Tinker Creek erlebt die Autorin Annie Dillard einen ähnlichen Augenblick, als sie vor einem Baum steht und das Licht durch die Zweige fallen sieht. Ein Aufflackern von Wirklichkeit. Kaum hat sie dieses Aufblitzen bemerkt, ist der Moment auch schon vorbei, doch sie behält davon das Wissen um eine Art offener Aufmerksamkeit zurück, die nur in Bruchstücken zugänglich ist, aber möglicherweise eine unmittelbarere Beobachtung der Welt als die übliche Alltagsversion darstellt.
Ich las nach der Arbeit und oft bis in den frühen Morgen hinein weitere Bücher über Pflanzen und deren hingerissene Beobachter und stellte fest, dass immer wieder von solchen Augenblicken berichtet wurde. In Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, Andrea Wulfs Biographie des berühmten Naturforschers des 19. Jahrhunderts, erfuhr ich, dass auch er solche Augenblicke erlebt hatte. Humboldt fragte sich, warum der Aufenthalt in der freien Natur solch ein existenzielles und wahrhaftiges Erleben auslöste. Überall lasse »die Natur den Menschen […] eine Stimme hören, die in vertrauten Lauten zu ihm spricht«, schrieb er, und sie vermittele ihm den Eindruck, dass sie »ein lebendiges Ganzes« sei. Humboldt führte in die geistige Welt Europas den Gedanken ein, dass die Erde ein lebendiges Ganzes darstelle, in dem die Klimasysteme wie auch die ineinandergreifenden biologischen und geologischen Muster zu einem »netzartig verschlungene[n] Gewebe« verbunden seien. In der westlichen Naturwissenschaft ist dies das erste Aufschimmern eines ökologischen Denkens, in dem die natürliche Welt als eine Gesamtheit aus wechselseitig aufeinander einwirkenden biotischen Gemeinschaften verstanden wird.[7]
Etwas in dieser Lektüre botanischer Schriften vermittelte mir Bruchstücke dieses Gefühls, erste Eindrücke eines Ganzen, die ich noch nicht recht zum Ausdruck zu bringen vermochte. Ich hatte das Gefühl, dass ich große Lücken in meinem Wissen entdeckte. Wie lange hatte ich mich in der Nähe von Pflanzen aufgehalten, ohne das Geringste über sie zu wissen? Nach und nach zog es mich in ein Paralleluniversum, von dem ich wusste, dass es da war, nicht jedoch, was es enthielt.
Ich belegte im New York Botanical Garden einen Kurs über Farne, der von niemand anderem als jenem Moran aus Sacks’ Exkursion abgehalten wurde, nun nicht mehr 44 Jahre alt, aber immer noch jugendlich wirkend. (Ich sollte erfahren, dass es in der Botanik eine Reihe von immer wieder auftretenden Figuren mit einer gemeinsamen, zuweilen freundschaftlichen, zuweilen aber auch weniger freundschaftlichen Geschichte gibt.) Wir lernten Farne zu bestimmen, erfuhren etwas über ihren grundlegenden Aufbau wie auch über idiosynkratischere Arten. Der Wiederauferstehungsfarn wächst an den Ästen von Eichen und kann in Dürrezeiten nahezu vollständig austrocknen, so dass er verdorrt und tot erscheint. In diesem Zustand vermag er mehr als ein Jahrhundert zu überdauern und danach wieder vollauf zu rehydrieren. Baumfarne können bis zu 20 Metern hoch werden, während andere wie die winzige Azolla miniaturisierte Düngemittelfabriken darstellen. Und dann ist da der Adlerfarn, an dem Kühe innerlich verbluten, falls sie es wagen, ihn zu fressen. »Ein absolut grausamer Farn«, meinte Moran.
Ich erfuhr, dass Farne evolutionär sehr viel älter sind als Blütenpflanzen. Sie erschienen bereits auf der Bildfläche, als die Evolution vom Konzept des Samens noch nicht einmal träumte. Sie pflanzen sich ohne Samen fort. Einige Tage später las ich in der Mittagspause, die ich inzwischen wie eine wahrhaft Besessene mit der Lektüre von allerlei Schriften über Farne verbrachte, dass man sich in Europa jahrhundertelang über dieses Fehlen von Samen den Kopf zerbrochen hatte. Alle Pflanzen besaßen Samen. Sie waren für ihre Fortpflanzung unerlässlich, so dachte man im Mittelalter. Wenn sich bei den Farnen keine Samen finden ließen, konnten sie nach der damals gültigen Logik nur unsichtbar sein. Und da die physischen Merkmale der Pflanzen nach einer anderen damals gängigen Vorstellung Hinweise auf deren mögliche Verwendungsweise durch den Menschen waren, meinten manche, wenn man diese unsichtbaren Samen fände, könne man sich mit ihrer Hilfe selbst unsichtbar machen.
Tatsächlich erwies sich die Fortpflanzung der Farne als weitaus absonderlicher. Zunächst einmal benutzen sie dazu keine Samen, sondern Sporen. Aber hier kommt der Clou: Farne besitzen schwimmende Spermien. Bevor sie zu den Wedeln heranwachsen, die wir alle kennen, führen sie ein vollkommen anderes Leben als gametophyter Farn – eine winzige, nur eine Zellschicht dicke, gelappte Pflanze, die nicht einmal entfernt als Farn erkennbar ist. Auf dem Waldboden würden Sie vergeblich danach suchen. Der männliche Gametophyt setzt Spermien frei, die in dem Wasser schwimmen, das sich nach einem Regenschauer auf dem Boden angesammelt hat, und nach weiblichen Gametophyten oder Eizellen suchen, die sie befruchten können. Die Farnspermien haben die Form winziger Korkenzieher und sind ausdauernde Sportler – sie sind in der Lage, bis zu 60 Minuten lang zu schwimmen. Unter einem Mikroskop können Sie sehen, wie sie sich durch die Flüssigkeit schlängeln.
Das Spermium ist indessen nicht der erstaunlichste Aspekt in der Fortpflanzung der Farne. Als meine Schwärmerei 2018 begann, kam in der Forschung gerade der Gedanke auf, dass Farne mit anderen Farnen in der Umgebung um Ressourcen konkurrieren und dabei ein Hormon ausschütten, das die Spermien benachbarter Farnarten zu einer Verlangsamung ihrer Bewegung zwingt. Langsamere Spermien bedeuten, dass weniger Vertreter dieser Arten sich fortpflanzen. So kann sich der Verursacher dieser Sabotage mehr von dem sichern, was gerade knapp ist, ob nun Wasser, Sonnenlicht oder Boden.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begannen damals gerade erst, sich über diese Tatsache den Kopf zu zerbrechen. »Das ist vollkommen neu«, sagte mir Eric Schuettpelz, Forschungsbotaniker am Smithsonian National Museum of Natural History in Washington, D.C., in einem Telefongespräch. Mit der Sabotage fremder Spermien war ich offenbar auf die vorderste Front in der Erforschung der Farne gestoßen. »Wir wissen, dass es das Pflanzenhormon ist, haben aber keine Ahnung, wie das funktioniert«, sagte er. Woher wusste eine Farnpflanze, dass sich in ihrer Nähe Konkurrenten befanden? Wie bestimmte sie den Zeitpunkt der heimtückischen Ausschüttung der Hormone? Ein Farnforscher an der Colgate University hatte im selben Monat auf einer botanischen Tagung ein Paper zu genau diesem Phänomen vorgelegt.
Ich ließ das ein paar Minuten sacken. Farne können aus der Ferne mit fremden Farnspermien interagieren. Das war eine unglaublich bissige pflanzliche Aktivität. Ich begann zu verstehen, worauf Moran hinauswollte. Es schien aber auch bemerkenswert brillant zu sein. Wozu waren Pflanzen noch in der Lage?
Mit dieser Frage im Hinterkopf begann ich mein neugewonnenes Interesse auf ein relativ junges Gebiet innerhalb der Pflanzenwissenschaft zu fokussieren: das Verhalten von Pflanzen. Wie ich herausfand, wimmelte es in den Ankündigungen neuer Forschungsvorhaben nur so von Publikationen zu diesem Thema. Für mich öffnete sich damit ein neues geistiges Tor, das ich durchschreiten konnte. Dass Pflanzen sich überhaupt verhalten konnten, war ein verführerischer Gedanke. Einige Publikationen trieben diesen Gedanken sogar noch weiter und gingen der These nach, dass Pflanzen möglicherweise sogar eine Form von Intelligenz besitzen. Ich war fasziniert, aber auch skeptisch. Damit war ich nicht allein. Wie sich zeigte, hatte die These einer pflanzlichen Intelligenz erst kürzlich einen regelrechten Krieg ausgelöst.
Ich war zu einem bemerkenswert aufregenden Zeitpunkt auf diese Ecke in der Welt der Wissenschaft gestoßen. In den letzten anderthalb Jahrzehnten hatte ein Revival der Erforschung des Pflanzenverhaltens in der Botanik zu zahlreichen neuen Erkenntnissen geführt – mehr als 40 Jahre nachdem ein verantwortungsloser Bestseller diesem Forschungsgebiet beinahe für immer den Garaus gemacht hatte. Das geheime Leben der Pflanzen, ein 1973 erschienenes Buch von Peter Tompkins und Christopher Bird, erregte weltweit großes Aufsehen. Es war eine Mischung aus realer Wissenschaft, unsoliden Experimenten und unwissenschaftlicher Vorausschau. In einem Kapitel behaupteten Tompkins und Bird, Pflanzen könnten fühlen und hören – und sie bevorzugten Beethoven gegenüber Rock and Roll. In einem anderen unterzog ein ehemaliger CIA-Agent namens Cleve Backster seine Zimmerpflanze einem Test mit einem Lügendetektor und stellte sich im Geiste vor, dass er sie anzündete. Die Nadel des Detektors schlug angeblich wie wild aus, das heißt, es kam in der Pflanze zu einem plötzlichen Anstieg der elektrischen Aktivität. Beim Menschen galt solch ein Ergebnis als Indikator für steigenden Stress. Die Pflanze reagierte nach Ansicht Backsters auf seine böswilligen Gedanken. Daraus folgerte er, dass Pflanzen nicht nur ein Bewusstsein hätten, sondern auch Gedanken lesen könnten.
Das Buch feierte auf dem populärwissenschaftlichen Buchmarkt sogleich gewaltige Erfolge – erstaunlich für eine Veröffentlichung über Pflanzenwissenschaft. Paramount Pictures brachte einen Kinofilm darüber heraus. Die Musik zum Film schrieb Stevie Wonder. Die ersten Pressungen der Schallplatte mit dem Soundtrack wurden vor ihrer Auslieferung mit einem Blumenduft versehen. Vielen erstaunten Leserinnen und Lesern bot das Buch einen neuartigen Blick auf die Pflanzen in ihrer Umgebung, die bis dahin lediglich als ein passiver Zierrat erschienen waren, eher mit der Welt der Gesteine verwandt als mit den Tieren. Das Buch stand zugleich auch im Einklang mit dem Aufstieg der New-Age-Kultur, die nur allzu begierig Geschichten aufnahm, in denen behauptet wurde, dass die Pflanzen ebenso lebendig seien wie wir. Die Menschen begannen, mit ihren Zimmerpflanzen zu sprechen, und ließen für ihren Ficus klassische Musik abspielen, wenn sie aus dem Haus gingen.
Das alles war jedoch nur eine Sammlung schöner Mythen. Viele Wissenschaftler versuchten, die Ergebnisse der in dem Buch dargestellten und äußerst verlockenden »Forschung« zu reproduzieren – aber vergebens. Der Zell- und Molekularphysiologe Clifford Slayman und der Pflanzenphysiologe Arthur Galston bezeichneten das Buch 1979 in einem Artikel im American Scientist als eine »Ansammlung irriger oder unbeweisbarer Behauptungen«.[8] Da half es auch nicht, dass der ehemalige CIA-Agent Backster wie auch der IBM-Forscher Marcel Vogel, der behauptete, den »Backster-Effekt« reproduzieren zu können, die Ansicht äußerten, man müsse eine emotionale Beziehung zu der Pflanze aufbauen, bevor irgendein Effekt einträte. Auf diese Weise versuchten sie zu erklären, warum andere Labore die Ergebnisse nicht zu reproduzieren vermochten. »Entscheidend ist die Empathie zwischen Pflanze und Mensch«, behauptete Vogel. »Eine spirituelle Entwicklung ist unerlässlich«.
Nach Ansicht der damals tätigen Botaniker lässt sich der Schaden, den das Buch anrichtete, gar nicht überschätzen. Die beiden Torwächter der Naturwissenschaften, die Institutionen der Forschungsförderung und die Peer-Review-Ausschüsse, schlossen ihre Tore. Wie mehrere Forscherinnen und Forscher mir berichteten, sank in den folgenden Jahren die Bereitschaft der National Science Foundation, Forschungsprojekte zu fördern, in denen es um die Reaktion von Pflanzen auf ihre Umwelt ging. Anträge, die auch nur entfernt an eine Erforschung des Pflanzenverhaltens denken ließen, wurden abgelehnt. Die Geldströme, so schmal sie gewesen sein mochten, versiegten vollends. Wissenschaftler, die Pionierarbeit auf diesem Forschungsgebiet geleistet hatten, schlugen andere Wege ein oder ließen die Naturwissenschaften gänzlich hinter sich.
Einige wenige hielten jedoch an ihrem Vorhaben fest, verwandten ihre Zeit unterdessen auf andere Fragen und warteten auf einen Wechsel der Gezeiten.
In den letzten anderthalb Jahrzehnten ist solch ein Gezeitenwechsel eingetreten. Für einige Forschungsprojekte zum Pflanzenverhalten begannen wieder Fördergelder zu fließen, auch wenn es anfangs sehr schwer war, an diese Gelder zu gelangen. Fachzeitschriften für Botanik begannen, einige wenige Artikel aus diesem Forschungsfeld zu publizieren, auch wenn viele der Zeitschriften immer noch von Gegnern des Fachgebiets der pflanzlichen Intelligenz herausgegeben wurden. Diese Veränderung war möglicherweise die Folge neuer Technologien wie der genetischen Sequenzierung und verbesserter Mikroskope, die es möglich machten, bislang befremdliche Behauptungen mit echter wissenschaftlicher Strenge zu belegen. Vielleicht lag auch das politische Gespött im Gefolge des Buchs von Tompkins und Bird lange genug zurück. Viele Autorinnen und Autoren verwendeten bei der Beschreibung ihrer Befunde keine Ausdrücke wie »Intelligenz«, doch die Ergebnisse legten dennoch den Gedanken nahe, dass die Pflanzen weitaus komplexer waren, als irgendjemand bis dahin zu denken gewagt hatte.
Wie ich bei meiner Lektüre erfuhr, waren Forscher kürzlich auf vielversprechende Indikatoren gestoßen, die nahelegten, dass Pflanzen ein Gedächtnis besitzen. Andere hatten herausgefunden, dass zahlreiche Pflanzen fähig sind, zwischen ihnen selbst und anderen zu unterscheiden, und dabei erkennen können, ob diese anderen Pflanzen genetisch mit ihnen verwandt sind oder nicht. Wenn solche Pflanzen bemerken, dass sie in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihren Geschwistern wachsen, sind sie in der Lage, ihre Blätter innerhalb von zwei Tagen neu zu arrangieren, so dass die Nachbarpflanzen nicht in ihrem Schatten stehen.[9] Die Wurzeltriebe von Erbsenpflanzen vermögen offenbar Wasser zu hören, das durch abgedichtete Rohre fließt, und sind in der Lage, in die Richtung dieser Rohre zu wachsen.[10] Und diverse Pflanzen, darunter Limabohnen[11] und Tabak[12], können auf einen Angriff blattfressender Insekten reagieren, indem sie spezifische Fressfeinde anlocken, die wiederum die Insekten dezimieren. (Andere Pflanzen – darunter eine bestimmte Tomatenpflanze – scheiden einen chemischen Stoff aus, der dafür sorgt, dass hungrige Raupen die Blätter in Frieden lassen und stattdessen ihre Artgenossen fressen.[13]) Artikel über weitere bemerkenswerte Verhaltensweisen von Pflanzen entwickelten sich von einem kleinen Rinnsal zu einem recht kräftigen Strom. Es schien, als stünde die Botanik vor etwas ganz Neuem. Ich wollte dabei sein und zuschauen.
Wenn ich dann wieder an meinem Schreibtisch in der klimatisierten Nachrichtenredaktion saß, genoss ich diese kleinen Risse im schweren Gewebe meines Alltags. Etwas an dieser Renaissance in der Erforschung des Pflanzenverhaltens sprach in mir zu einem früheren Ich. Bis mein Bruder geboren wurde, war ich neun Jahre lang das einzige Kind in der Familie gewesen. Doch auch ein neunjähriges Mädchen konnte nicht viel mit einem Säugling anfangen, vor allem nicht, wenn es glaubte, eine Erwachsene zu sein, die im Körper eines Kindes gefangen war. Solche Mädchen neigen dazu, komplexe innere Welten zu konstruieren, die sie dann wie eine Decke über der Welt um sie herum ausbreiten. Erwachsene, die anders gestrickt sind, sprechen dann gerne von einem Hang zum Melodramatischen. Ich mochte diesen Ausdruck nicht, weil er unterstellte, dass man meiner Version von Realität nicht vertrauen durfte. Ich war mir sicher, dass ich einfach nur Dinge in meiner Umgebung sah, die tatsächlich da waren. Meist handelte es sich um Bäume oder Eichhörnchen oder auch Steine, und sie waren äußerst lebendig und aufmerksam gegenüber der Welt. Kinder sind bekanntlich geborene Animisten.
Dinge wahrzunehmen, die andere Leute, vor allem Erwachsene, offenbar nicht sahen, schien mein Gefühl der Absonderung nur zu verstärken. Im Frühling sah ich, wie die purpurfarbenen Krokusse mit ihren Schnäbeln durch die harte Erde brachen wie Küken durch ihre Eierschale. Ein Carolinaspecht bohrte an der riesigen Weißeiche vor dem Fenster meines Schlafzimmers. Immer wenn ich ein Geschöpf in einem Akt uneingeschränkter Kreatürlichkeit beobachtete, hatte ich das Gefühl, einen heimlichen Blick hinter den Vorhang und in ihre Welt zu werfen: in die reale Welt.
Der schönste Teil unseres Zuhauses war eine mittelgroße Bodensenke, ein paar hundert Meter entfernt im Wald hinter unserem Haus. Jeden Frühling sammelte sich darin zwischen einem halben und einem ganzen Meter Wasser und blieb dort fast das ganze Jahr stehen, so dass es im Dezember gefror. Im Sommer sah ich nach, ob keine Spinnen sich in meine Gummistiefel verirrt hatten, und watete dann durchs knöcheltiefe Wasser, streichelte die schwammartigen Moose, die auf den halb im Wasser liegenden Steinen gewachsen waren, und begrüßte die Stinkkohlköpfe, als wären sie meine Freunde. Und in gewisser Weise waren sie es tatsächlich. Auch ein Stockentenpaar lebte dort, doch mit ihnen redete ich nicht. Sie schienen in puncto Geselligkeit bereits hinreichend beschäftigt zu sein, denn sie hatten einander. Die Pflanzen dagegen hatten offenbar sonst nichts zu tun.
Nicht dass ich mir wirklich vorgestellt hätte, die Pflanzen wären kleine Menschen, nur in anderer Gestalt. Ich erinnere mich nicht, jemals gedacht zu haben, dass sie mit mir sprächen. Ich hatte aber auch nicht das Gefühl, dass sie stumm wären. Sie machten ihr eigenes Ding. Wie ich. Sie waren wie Kinder: unterschätzt.
In The Ecology of Imagination in Childhood blickt die Schriftstellerin und Forscherin Edith Cobb auf zwei Jahrzehnte der Erforschung der Rolle der Natur im frühen Denken von Kindern zurück. Sie stellt fest, dass Kinder eine »offenen Systemen ähnelnde Einstellung« besitzen, die ihnen eine gewisse emotionale Nähe zur natürlichen Welt ermöglicht. Sie schreibt: »Für das junge Kind ist die ewige Frage nach dem Wesen des Realen weitgehend eine wortlose Dialektik zwischen Ich und Welt.« Sie verweist auf zahlreiche Künstler und Denker, die behaupten, ihr schöpferischer Prozess bestehe hauptsächlich in einer Kanalisierung der Sichtweise, die sie als Kind hatten. Bernard Berenson, ein Gigant der Kunstkritik im 20. Jahrhundert, schreibt in seiner Autobiographie, seinen vielleicht glücklichsten Augenblick habe er als Junge erlebt, als er auf einem Baumstumpf stand.
Es war ein früher Sommermorgen, und über den Lindenbäumen glänzte und flimmerte silbriger Dunst. Die Luft war getränkt mit Lindenduft und voll von zärtlicher Wärme. Ich erinnere mich gut – ohne es mir erst zurückzurufen –, wie ich auf einen Baumstumpf kletterte und plötzlich im »EINEN« aufging und unterging. Ich nannte es nicht so, denn ich bedurfte keiner Worte. Das »Eine« und das Ich waren eins.[14]
Wer hätte keine Erinnerungen dieser Art? Das »Eine« hat hier große Ähnlichkeit mit dem Gefühl des »Wirklichen«, das seinen Widerhall bei Sacks und Dillard und Humboldt fand. Und mit dem, was ich als Kind fühlte, als ich auf den Boden gekauert die Krokusse betrachtete. Ich frage mich, was Augenblicke dieser Art sind und was sie zu bewirken vermögen.
Jahrzehnte nachdem ich das Haus im Wald verlassen hatte, war ich nun eine Stadtbewohnerin, die in einem hermetisch abgeschlossenen Bürogebäude hockte. Das wissende Gespür der Neunjährigen für eine Welt jenseits der üblichen Wahrnehmung war vollkommen abgestumpft. Doch dann überkam mich die Farnsucht, gefolgt von der Debatte über die Intelligenz der Pflanzen. Etwas Vertrautes begann still in mir zu ticken.
Die mittägliche Botanik-Lektüre wurde für mich zum Antrieb meines ganzen Tages. Was ich da in den wissenschaftlichen Zeitschriften fand, war die erbittertste Debatte, die mir in meinen Jahren als Journalistin jemals begegnet war. Ebenso groß wie die Zahl der Artikel, in denen es um die Erkundung pflanzlicher Intelligenz ging, war die Zahl derjenigen, die dieses aufstrebende Forschungsfeld kritisierten, meist wegen der Wortwahl. Den meisten Pflanzenwissenschaftlern gefiel es nicht, dass man den Ausdruck »Intelligenz« auf Pflanzen anwendete. Das galt erst recht für die noch kühnere Vermutung, dass Pflanzen über ein »Bewusstsein« verfügten. Dagegen gab es gute Argumente. Pflanzen besitzen kein Gehirn und nicht einmal Neuronen. Ihre Evolution war darauf angelegt, ganze andere Herausforderungen zu bestehen als wir. Wozu sollten sie ein Gehirn oder eine Bewusstsein brauchen? In einem Artikel in der Zeitschrift Trends in Plant Science mit dem Titel »Plants Neither Possess nor Require Consciousness« (»Pflanzen besitzen und brauchen kein Bewusstsein«) schienen die Autoren, acht hochangesehene Pflanzenwissenschaftler, umfassend das Für und Wider abzuwägen. Sie schrieben, es sei »extrem unwahrscheinlich, dass Pflanzen, denen sämtliche auch nur entfernt mit der Komplexität eines Gehirns vergleichbare anatomische Strukturen fehlen, Bewusstsein besitzen«. Vielmehr könne man alles, was Pflanzen tun, einer »angeborenen Programmierung« durch eine »genetische Information« zuschreiben, »die durch natürliche Selektion erworben wurde und sich grundlegend von Wahrnehmung oder Wissen unterscheidet, zumindest im üblichen Sinne dieser Worte«.[15]
Die Autoren räumten ein, Vertreterinnen und Vertreter des Pflanzenbewusstseins hätten »ausgezeichnete Artikel veröffentlicht«, in denen keine wirklich provokativen Thesen vertreten würden – selbst jene über die Rolle der elektrischen Signale im Körper von Pflanzen, die ihres Erachtens als Analogie (wenngleich nicht als Homologie, wie sie selbst betonten) zu tierischen Nervensystemen verstanden werden könnten. Der Streit gehe auf Forscher zurück, die ihre Schlüsse allzu weit getrieben und Ausdrücke wie »Lernen« oder »Fühlen« zu stark vereinfacht hätten, um ihre Behauptung plausibel erscheinen zu lassen. Sie klagten: »Warum lebt der Anthropomorphismus in der Biologe heute wieder auf?«
Die Wissenschaft ist aus guten Gründen eine konservative Institution. Der Konservatismus ist eine wichtige Versicherung gegen falsches Wissen. Doch irgendetwas an diesem Artikel schien sich selbst zu widerlegen. Tatsächlich gibt es in der Wissenschaft keine allgemein anerkannten Definitionen für Leben, Tod, Intelligenz oder Bewusstsein. Worte sind zweifellos sehr wichtig, doch die Definitionen dieser Worte sind nicht klar bestimmt und deshalb erweiterungsfähig. Könnte es nicht sein, dass Pflanzen eine Intelligenz besitzen, die ganz anderer Art ist als unsere eigene? Und tatsächlich klang das, was die genannten Forscher über elektrische Signale in einem Pseudonervensystem sagten, extrem überzeugend.
Trotz all ihrer Stärken beschränkt Wissenschaft sich auf Fragen, die mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden beantwortet werden können. Die Bedeutung oder Definition des Lebens gehört möglicherweise nicht zu diesen Fragen. Überlässt man die Sache den Wissenschaften, die nicht dazu geschaffen wurden, um ethische Fragen des Seins und Nichtseins aufzugreifen, bleiben die Pflanzen begrifflich draußen in der Kälte des Unbelebten. Doch da gab es all diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mutig der härtesten aller Fragen stellten, dem eigentlichen Wesen der Aufmerksamkeit für die Welt, dem schwierigen Problem des Bewusstseins. Und sie waren schließlich die Hüter der wissenschaftlichen Information, die man nutzen konnte, um zu irgendeinem ethischen Schluss über die Frage zu gelangen, wo die Pflanzen einzuordnen sind und in welche Beziehung wir zu ihnen treten können. Es lag ganz in ihren Händen, ob bestimmte Experimente zugelassen oder nicht zugelassen, veröffentlicht oder nicht veröffentlicht wurden. Ich wollte mir das genauer anhören.
Das Lager der Gegner des Gedankens, dass Pflanzen Intelligenz besitzen könnten, wollte eindeutig klarstellen, dass Pflanzen nicht wie Tiere sind. Aber sie verwendeten eine homozentrische Definition von Intelligenz und Bewusstsein, um ihre These zu vertreten, dass Pflanzen unmöglich eines von beidem besitzen konnten. Diese Argumentation schien mir fehlerhaft, weil sie einen inneren Widerspruch enthielt. Das Argument fiel auf sie selbst zurück. Paco Calvo, ein Philosoph für Kognitionswissenschaft an der Universität Murcia, und Anthony Trewavas, ein bekannter Veteran der Pflanzenphysiologie an der University of Edinburgh, sind derselben Ansicht: »Es handelt sich eindeutig um einen Zirkelschluss.«[16]
Ich fragte mich auch, ob es da möglicherweise Ängste gab. Ich sah durchaus, warum Gegner des Gedankens einer pflanzlichen Intelligenz sich wünschen mochten, dass dieses Narrativ ihnen nicht entglitt und vorzeitig Eingang in die Mainstreamkultur fand, wo es vielleicht seiner Komplexität beraubt und in einer verdünnten, phantastischen Form aufgenommen würde. Unter Umständen benutzte man es dort zur Stützung jener New-Age-Vorstellungen, die den Pflanzenwissenschaftlern beim letzten Mal mit Das geheime Leben der Pflanzen solchen Ärger eingebracht hatten. Bis zu einem gewissen Punkt verstand ich das. In der Populärkultur gibt es von jeher einen extremen Hang, anderen Spezies einfache menschliche Narrative überzustülpen, wie man es in Märchen oder Zeichentrickfilmen so häufig sieht. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass ebendiese Fähigkeit auch deutlich unterschätzt wird. Die Phantasie des Publikums ist durchaus ausbaufähig, dachte ich mir. Wenn man ihr die Chance dazu gibt, kann sie in einer Weise erweitert werden, die auch nichtmenschliche Formen von Intelligenz umfasst. Das war eine schwierige Aufgabe. Die Vorstellungkraft so weit zu öffnen, dass sie auch gänzlich andere Intelligenzen einschließen kann, ist in der Tat schwierig. Von den meisten unter uns hat man so etwas bislang noch nicht verlangt. Die Auseinandersetzung mit Komplexität ist jedoch eine Übung, die den Geist erweitert. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zurückzuhalten, weil man befürchtete, wie sie aufgenommen werden könnten, schien unfair gegenüber uns anderen zu sein. Die Welt, in der wir leben könnten, wenn wir Komplexität nicht in den Hintergrund drängten, war die Welt, in der ich leben wollte.
Es schien, als wäre ich auf die Debatte über pflanzliche Intelligenz zwar recht früh, aber doch zur rechten Zeit gestoßen. Es gab noch so viele Fäden, die aufgenommen werden mussten. Doch dahinter stand echte Wissenschaft, und die neuen Ergebnisse waren allzu faszinierend, als dass man sie unbeachtet lassen konnte. Worum ging es? Immer wieder sah ich, dass die Debatte als Streit über syntaktische Fragen dargestellt wurde. Auf mich wirkte sie eher wie ein Streit über Weltbilder. Über das Wesen der Realität. Über die Frage, was Pflanzen sind – vor allem im Unterschied zu uns selbst.
Man sagt, wenn man versuche, eine Kultur zu verstehen, sei das so, als schaute man auf einen Eisberg. Da gebe es ausgedehnte Tiefenbereiche, die wir nicht sehen. Ich stellte mir die Welt der Botaniker und ihre Kultur – die Ideen, mit denen sie arbeiteten und auf denen sie aufbauten – eher wie eine Rhizompflanze vor. Von meinem Schreibtisch aus, wo ich Artikel ausdruckte und durchforstete, konnte ich nur die Triebe sehen. Die Namen, die Begriffe. Aber schon bald bat mich eine Botanikerin, mit einer anderen zu sprechen, die mich wiederum an eine andere verwies. So begannen Wissensnetzwerke aufzutauchen – die zahllosen unsichtbaren und im Untergrund verlaufenden Verbindungen zwischen Laboren und Fachzeitschriften. Wer vertraute wem – und wer nicht? Triebe und Sprossausläufer, Triebe und Sprossausläufer.
Immer wenn ich eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler anrief, wurde ich daran erinnert, dass die meisten von ihnen keinerlei Interesse hatten, Pflanzen in den Dienst der Menschen zu stellen. Meine besten Gespräche waren solche mit Forscherinnen und Forschern, die ganz in der Liebe zu ihrem Forschungsgegenstand aufgingen – in jener Art Liebe, von der man allen erzählen möchte. Sobald sie davon überzeugt waren, dass ich wirklich etwas wissen wollte, erlaubten sie es sich, ihrer ungehemmten Begeisterung freien Lauf zu lassen. Sie erzählten mir von dem Winkel der Welt, den sie selbst enträtselt hatten, von ihrem eigenen persönlichen Puzzleteilchen dieses riesigen und chaotischen Puzzles Biologie, das sie gefunden hatten, indem sie das Sediment der Welt mit den feinsten Sieben durchsuchten, bis sie das Teil in ihren Händen hielten und dank einer Mischung aus Jahren fleißigen Lesens, unermüdlicher Laborarbeit und obsessiven Interesses schließlich erkannten, welche Bedeutung es hatte und an welchen Platz sie es setzen mussten.
Wer die Natur in dieser Weise betrachtet, erhält natürlich nur eine Teilansicht. Die Natur ist kein Puzzle, das darauf wartet, zusammengesetzt zu werden, kein Kodex, den es zu entziffern gilt. Natur ist Chaos in Bewegung. Biologisches Leben ist eine spiralförmige Diffusion von Möglichkeiten, fraktal in ihrer Fülle. Jeder Organismus, und ganz gewiss jede Pflanze, stammt aus einem anderen Bruchstück des Evolutionsnetzwerks grünblättriger Dinge, um dann weitere Variationen hervorzubringen. Sie alle verändern natürlich weiterhin ihre Form, da all das niemals endet – außer wenn Pflanzen aussterben. Die Vielfalt wirkte endlos und unmöglich zu erfassen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mit denen ich sprach, wussten das und gaben dennoch nicht auf. Dafür liebte ich sie noch mehr.
Ich lernte mit der Zeit, was ich sagen musste, um diese Wissenschaftler am Telefon zu halten – oder genauer: was ich nicht sagen durfte. Von den »Sinnen der Pflanzen« zu sprechen, war in aller Regel in Ordnung – neutrales Gebiet. Mit »Planzenverhalten« geriet ich schon auf gefährlicheres Terrain, und »Pflanzenintelligenz« war äußerst gefährlich. Auf Bewusstsein durfte ich, wie ich lernte, erst dann zu sprechen kommen, wenn ich bei den drei oben genannten Begriffen die Feuerprobe bestanden hatte, ohne das Gefühl zu haben, ich würde gleich abgehängt oder gescholten. Falls ich auf ein Triggerwort traf, merkte ich das sogleich. Die Wissenschaftler wurden nun vorsichtig und weniger offen, vor allem wenn wir uns noch im Stadium argwöhnischen Abtastens befanden und sie noch nicht recht wussten, ob sie überhaupt mit mir sprechen wollten.
Aber ebenso oft erspürte ich auch den weichen Punkt, an dem sie nachgiebig wurden und offenbar selbst neugierig darauf waren, was es heißen mochte, dass Pflanzen ein Verhalten zeigten oder dass man ihnen Intelligenz zubilligte. Dann dachten sie über meine Fragen nach und gaben nach einigem Zögern nachdenkliche Antworten. Darin kamen häufig innere Konflikte zum Ausdruck. Vielen Menschen, mit denen ich sprach, erschien der Ausdruck »Intelligenz« gefährlich, allerdings nur, weil ihn die meisten direkt mit menschlicher Intelligenz in Verbindung brachten. Pflanzen an der menschlichen Kognition zu messen, hat keinen Sinn. Dadurch werden die Pflanzen allenfalls zu geringeren Menschen oder zu geringeren Tieren. Anthropomorphismus ist gefährlich, weil er den Stellenwert dieser grünen Körper reduziert und keinen Raum für die Erkenntnis lässt, dass Pflanzen mehrere Sinne – oder sollte man sagen: Intelligenzen? – nutzen, die weit über die Fähigkeiten des Menschen auf diesen Gebieten hinausgehen. Unsere Version dieser Sinne, sofern wir sie denn überhaupt besitzen, sind im Vergleich dazu nur dürftig entwickelt. Für diese Forscherinnen und Forscher war es schwer, über Pflanzenintelligenz zu sprechen. Sie hatten Angst, es könnte sich um eine Falle handeln und letztlich zu Schlussfolgerungen führen, die nicht dem wirklichen Wunder entsprachen, das sie kennengelernt hatten.
Unterdessen war mehr als ein Jahr vergangen, seit ich auf diese Fragen gestoßen war. Es war August 2019 in New York City, und in der Luft hing der Gestank erhitzten Mülls und heißen Asphalts. Jeden Tag verließ ich mein drückend heißes Apartment im New Yorker Stadtteil Flatbush und ging sechs Blocks weit zum Prospect Park. Manchmal blieb ich stehen, um mir bei einem Straßenhändler kaltes Kokosnusswasser (eine Steinfrucht) oder ein Stück Zuckerrohr (ein Gras) zu kaufen. Wenn ich die steinernen Kolonaden im Park erreichte, verlangsamte ich meinen Schritt. Das Licht wirkte nun gedämpft, und dank der Exhalationen von Millionen Pflanzen sanken die Temperaturen. Ich erinnerte mich, dass manche Naturforscher vor der Entdeckung der Fotosynthese als chemischer Reaktion zur Produktion von Zucker geglaubt hatten, es handelte sich hier gleichsam um eine Klimaanlage der Natur.[17] Die kühle Luft strich über meine Haut, und ich atmete tief ein. Es duftete nach nassen Blättern, und mein Kopf wurde frei. Ich betrachtete Breitwegerich und Apfelbeere unterdessen mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Misstrauen. Ich wusste inzwischen, dass im Leben all der Pflanzen, an denen ich vorbeikam, sehr viel mehr passierte, als ich mir jemals vorgestellt hatte, und zwar sowohl über als auch unter der Erde. Vielleicht bemerkten sie sogar, dass ich an ihnen vorbeiging. Inmitten des Grüns, teils hell, teils dunkel, begann ich viele verschiedene Pflanzenarten zu erkennen und noch beträchtlich mehr einzelne Pflanzen. Ich wusste, dass überall, wohin ich blickte, unendlich viele Dinge geschahen, auch wenn ich sie weder sehen konnte noch vollständig verstand.
Durch die Beobachtung der Pflanzen gewann ich eine materielle Vertrautheit mit der natürlichen Welt zurück. Dabei ging es nicht darum, die Umweltkatastrophe zu ignorieren. Vielmehr war es eine Möglichkeit, sich klarzumachen, was hier auf dem Spiel stand. Jede Pflanze verkörperte eine Welt, die zu verlieren wir im Begriff waren, jedes Ökosystem eine ganze Galaxie. Die Lektüre der Aufsätze zur Pflanzenintelligenz glich indessen dem Versuch, einen Berg zu verstehen, indem man ihn mit einer Lupe untersucht. Die Flut der Entdeckungen aus jüngster Zeit unterstrich diesen Eindruck nur noch. Die Forschung hatte gerade herausgefunden, dass Pflanzen sich erinnern können, nicht aber, wo sie diese Erinnerungen speichern. Sie hatte entdeckt, dass Pflanzen Verwandte zu erkennen vermögen, nicht jedoch, wie sie das bewerkstelligen. Diese Funde waren allenfalls Hinweise, Bruchstücke, die auf etwas Größeres, auf ein Ganzes hindeuteten.
Was ist eine Pflanze? Das schien noch niemand zu wissen. Auf diesem Spaziergang beschloss ich, meinen Job zu kündigen und nur noch über Pflanzen nachzudenken. Die Nachrichtenredaktion, in der ich arbeitete, machte gerade schwere Zeiten durch. Leute wurden entlassen, da die Einnahmen aus Anzeigen zurückgingen und Investoren dadurch kopfscheu gemacht wurden. Die Arbeitsmoral sank auf einen Tiefpunkt. Ich sah nicht mehr, welchen Sinn es hatte, dort zu bleiben, und hatte das Gefühl, jeden Tag könnte die Kündigung auf meinen Schreibtisch flattern, so dass selbst die Sicherheit einer Vollzeitbeschäftigung wie eine Lüge erschien. Ich hatte ein paar Ersparnisse und würde mich einschränken müssen. Ein Freund aus Kindertagen hatte Platz im alten Farmhaus der Farm, auf der er aufgewachsen war. Als Kinder waren wir dort durch die Kornfelder gelaufen. Ich konnte dort wohnen und dann umherreisen, um mir weitere Pflanzen anzuschauen, in ihren angestammten Lebensräumen, an deren Bedingungen sie sich im Laufe der Evolution angepasst hatten.
Es würde die Sache wert sein, denn in der Botanik geschah gerade eindeutig etwas Bedeutsames. Diese Wissenschaft stand vor einem Umbruch, aus dem sie vollkommen verändert hervorgehen musste. Unsere Vorstellung, nach der Pflanzen stumme, fühllose Wesen seien, war offenbar vollkommen falsch. Die Zeit schien reif. Es war eine gute Story, zu gut, als dass sie im dunklen Reich der akademischen Welt eingeschlossen bleiben durfte. Ich hatte langsam das Gefühl, sie könnte die Welt verändern. Und ganz sicher veränderte sie bereits mein Leben. Es ging offenbar um weit mehr als um meine persönliche Faszination. Oder vielleicht war beides doch dasselbe, dachte ich. Je mehr Zeit ich mit dem Nachdenken über Pflanzen verbrachte, desto größer wurde der Wunsch, noch mehr Zeit damit zu verbringen. Es tat mir jedenfalls sehr gut. Ich hatte das Gefühl, alles klarer sehen zu können.
Ich ging zurück nach Hause und betrachtete die Goldene Efeutute an meinem Küchenfenster. All ihre Blätter standen aufrecht. Sie alle hatten sich zur Fensterscheibe hin gedreht, seit ich die Wohnung verlassen hatte, und drängten sich geradezu an das Glas. Ich sah nach meinen übrigen Pflanzen. Der Philodendron war dabei, eine seiner gertenschlanken Luftwurzeln im Boden des neben ihm stehenden Geldbaums zu versenken. Ich sah nach meinem Gummibaum, den ich aus einem Kopfsteckling des Gummibaums meines Vaters gezogen hatte, der seinerseits aus einem Steckling des Gummibaums seiner Eltern gezogen worden war, die ihn zu ihrer Hochzeit vor 60 Jahren geschenkt bekommen hatten. Diese ursprüngliche Pflanze, inzwischen ein stattlicher Baum, stand immer noch neben dem Klavier in ihrem Wohnzimmer und beherrschte die Szenerie. Einmal wäre er beinahe eingegangen. Die Mutter meiner Großmutter schnitt einen noch lebenden Zweig ab und stellte ihn in Wasser, bis am unteren Ende weiße Wurzeln hervorkamen. So entstand aus diesem einzelnen gesunden Trieb wieder ein ganzer Baum. Vier Generationen meiner Familie hatten diese Pflanze gepflegt. Da stand sie nun und bildete stumm neue Körperteile aus. War nicht allein das schon ein Gedächtnis?
Es war unerträglich geworden, diese Dinge nicht zu verstehen. Ich musste hinausgehen und selbst nachschauen.
[1]
Zum Vergleich: Der letzte gemeinsame Vorfahr der Menschen und der Delphine war ein landbewohnendes Säugetier, das vor etwa 50 Millionen Jahren lebte. Unser letzter gemeinsamer Vorfahr mit den Schimpansen lebte vor etwa sechs Millionen Jahren.
Tatsachen sind theoriebeladen; Theorien sind wertebeladen; Werte sind geschichtsbeladen.
DONNA HARAWAY, In the Beginning Was the Word: The Genesis of Biological Theory, 1981[1]
Wer den Menschen fragt, was das In-der-Welt-Sein bedeutet […], reproduziert damit ein extrem lückenhaftes Bild des Kosmos.
EMANUELE COCCIA, Die Wurzeln der Welt, 2018[2]
Die aufgewühlte Plasmaoberfläche der Sonne schleudert eine Handvoll Licht hinaus. Die Teilchen – Milliarden von Photonen – rasen 150 Millionen Kilometer durch den dunklen Weltraum und regnen schließlich wie Milch und Honig auf die ausgebreitete Haut der am reichlichsten vorhandenen Biomasse auf der Erde herab. Pflanzen essen Licht. Die für Pflanzen so fundamentale Fotosynthese bildet die unverzichtbare Grundlage für die meisten anderen Lebensformen auf der Erde. Durch Fotosynthese reichern die Pflanzen die Luft, die wir atmen, mit Sauerstoff an.
Wie kam es dazu? Vor anderthalb Milliarden Jahren verschluckte eine algenähnliche Zelle ein Cyanobakterium. Diese algenähnliche Zelle war der frühe Organismus, aus dem sich später sowohl die Tiere als auch die Pilze entwickeln sollten. Das Cyanobakterium ist ein Vorfahr der unvorstellbar vielfältigen Bakterien, die unsere Welt heute überfluten. Gemeinsam bildeten sie den Anfang eines gänzlich neuen Zweigs des Lebens.[1] In den trüben Gewässern des Präkambriums treibend, begann dieser einzige Wächter eines neuen Reiches mit der Fotosynthese. Er nahm Sonnenlicht und verwandelte damit in einem alchemistisch anmutenden Vorgang überschüssige Stoffe in seiner Umwelt – Wasser, Kohlendioxid, vielleicht ein paar mineralische Spurenelemente – in Zucker.
Die erste Pflanze wurde als Schimäre geboren, als ein Organismus, der aus genetisch verschiedenartigen Zellen zusammengesetzt ist. Die Blätter jeder grünen Pflanze auf der Erde enthalten den genetischen Abdruck dieser ersten Vereinigung. Die Pflanzenzellen, die heute aus dem Weltall kommende Photonen einfangen, sind selbst Miniaturschimären. Dieses erste Cyanobakterium ist immer noch in ihnen und verwandelt zuverlässig Licht in Nahrung.[3]
Anderthalb Milliarden Jahre später haben die Pflanzen sich zu einer halben Million unterschiedlicher Arten entwickelt, die in allen Ökosystemen der Erde gedeihen. Ihre Vormachtstellung ist absolut. Das Gewicht aller Pflanzen macht etwa 80 Prozent der gesamten lebenden Materie auf der Erde aus.[4]
Als einige Pflanzen vor etwa 500 Millionen Jahren an Land gingen, kamen sie in ein terrestrisches Ödland, das in einen unwirtlichen Nebel aus Kohlendioxid und Wasserstoff gehüllt war. Unwirtlich für alles, was keine Pflanze war. Sie hatten bereits gelernt, Sauerstoff aus dem in den Meeren gelösten Kohlendioxid herauszutrennen. Diese Technologie passten sie an ihre neue Umwelt an. In gewisser Weise nahmen sie den Ozean mit an Land. Durch ihr unermüdliches Ausatmen veränderten diese Legionen früher Landpflanzen die Zusammensetzung der Luft zugunsten des Sauerstoffs.[5] Sie schufen die Atmosphäre, in der wir heute leben. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, diese Pflanzen schufen die bewohnbare Welt. Wie der italienische Philosoph Emanuele Coccia es ausdrückt, erbauten sie unseren Kosmos: »Die Welt ist vor allem das, was die Pflanzen daraus zu machen wussten.«[6]
Durch denselben Prozess erzeugten Pflanzen jedes Quäntchen Zucker, das wir jemals gegessen haben. In unserer bekannten Welt sind es einzig die Blätter, die Zucker aus Stoffen herzustellen vermögen, die niemals lebendig waren: aus Licht und Luft. Alle anderen von uns sind sekundäre Nutzer, die das von den Pflanzen gebildete Material recyceln. Die Verbindungen, die wir dann daraus herstellen, mögen genial sein, doch der Originalstoff stammt nicht von uns. Er wird so hergestellt: Wenn von der Sonne ausgehende Photonen auf die grünen Teile einer Pflanze treffen, verwandeln Chloroplaste in den Blattzellen die Lichtteilchen in chemische Energie. Diese Solarkraft wird in spezialisierten Molekülen gespeichert – gewissermaßen den wiederaufladbaren Batterien der Pflanzenwelt.
Dabei saugt das Blatt über winzige porenähnliche Öffnungen an seiner Unterseite, Stomata oder Spaltöffnungen genannt, Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Unter dem Mikroskop sehen die Stomata wie kleine Münder aus, wie Fischmünder, die sich öffnen und schließen. Auf ihre Weise atmen sie. Die Stomata saugen Kohlendioxid ein, und dieses Kohlendioxid wird nun sowohl mit der in den Chloroplasten gespeicherten Sonnenenergie als auch mit dem Wasser