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»So fesselnd und trügerisch, dass du alles und jeden infrage stellen wirst.« Karin Slaughter
Lund, Schweden: Adam, Ulrika und Stella sind eine ganz normale Familie. Adam ist Pfarrer, Ulrika Anwältin und Stella ihre rebellierende Tochter. Kurz nach ihrem 19. Geburtstag wird ein Mann erstochen aufgefunden und Stella als Mordverdächtige verhaftet. Doch woher hätte sie den undurchsichtigen und wesentlich älteren Geschäftsmann kennen sollen und vor allem, welche Gründe könnte sie gehabt haben, ihn zu töten? Jetzt müssen Adam und Ulrika sich fragen, wie gut sie ihr eigenes Kind wirklich kennen – und wie weit sie gehen würden, um es zu schützen …
Sie lieben meisterhaft erzählte skandinavische Spannung? Dann lesen Sie auch die anderen Romane von Mattias Edvardsson.
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Seitenzahl: 571
Buch
Lund, Schweden: Adam, Ulrika und Stella sind eine ganz normale Familie. Adam ist Pfarrer, Ulrika Anwältin und Stella ihre rebellierende Tochter. Kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag wird ein Mann erstochen aufgefunden und Stella als Mordverdächtige verhaftet. Doch woher hätte sie den undurchsichtigen und um einiges älteren Geschäftsmann kennen sollen und vor allem, welche Gründe könnte sie gehabt haben, ihn zu töten? Jetzt müssen Adam und Ulrika sich fragen, wie gut sie ihr eigenes Kind wirklich kennen – und wie weit sie gehen würden, um es zu schützen …
Autor
Mattias Edvardsson lebt mit seiner Frau und den beiden gemeinsamen Töchtern außerhalb von Lund in Skåne, Schweden. Wenn er keine Bücher schreibt, arbeitet er als Gymnasiallehrer und unterrichtet Schwedisch und Psychologie.
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Roman
Deutsch von Annika Krummacher
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »EN HELT VANLIG FAMILJ« bei Forum, Stockholm.
Das Zitat von Fjodor Dostojewskij stammt aus »Verbrechen und Strafe«, übersetzt von Swetlana Geier, © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010.
Das Zitat von Émile Zola stammt aus »Thérèse Raquin«, übersetzt von Ernst Sander, © Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 1975, 2007.
Das Zitat von Sylvia Plath stammt aus »Die Glasglocke«, übersetzt von Reinhard Keiser, © Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2010.
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Copyright der Originalausgabe © 2018 by Mattias Edvardsson
Published by agreement with Ahlander Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: www.buerosued.de
Covermotiv: NETFLIX is a registered trademark of Netflix, Inc. and its affiliates. Artwork © Netflix 2023. Used with permission.
JaB · Herstellung: kw/wag
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24090-5V004
www.limes-verlag.de
Eingezwängt in die Ecke, in der ich sitze, reagiere ich auf jede Bewegung, die ich aus dem Augenwinkel wahrnehme. Das leiseste Geräusch lässt mich zusammenzucken. Die Sekunden vergehen immer langsamer und stehen jetzt beinahe still. Ich weiß nicht, ob ich erst fünf Minuten hier sitze oder schon eine Stunde.
Das Amtsgericht von Lund liegt mitten in der Stadt, schräg gegenüber vom Polizeipräsidium, einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt. Ab und zu kommt man am Amtsgericht vorbei, aber die meisten Bewohner dieser Stadt setzen in ihrem ganzen Leben nie einen Fuß hinein. Bis vor Kurzem galt das auch für mich.
Nun sitze ich auf einem Sofa vor dem Gerichtssaal 2. Auf dem Bildschirm vor mir ist zu lesen, dass gerade die Hauptverhandlung um einen Mordfall stattfindet.
Meine Frau ist dort drinnen, hinter der Tür. So nah und doch so weit entfernt. Bevor wir das Amtsgericht betraten und die Sicherheitskontrolle durchliefen, hatten wir draußen auf der Treppe gestanden und uns in den Arm genommen. Meine Frau drückte meine Hände so fest, dass sie zitterten, und sagte, jetzt liege die Entscheidung nicht mehr in unserer Hand, sondern in der von anderen. Dabei wissen wir beide, dass dies nicht ganz der Wahrheit entspricht.
Als es im Lautsprecher knistert, wird mir schlecht. Ich höre meinen Namen. Jetzt bin ich an der Reihe. Schwankend stehe ich auf, und ein Justizwachtmeister öffnet mir die Tür. Er nickt, ohne auch nur einen Gedanken oder ein Gefühl preiszugeben. Hier ist für so etwas kein Platz.
Der Gerichtssaal ist größer, als ich erwartet hatte. Meine Frau sitzt zwischen den anderen Zuhörern. Sie sieht müde und mitgenommen aus. Man merkt, dass sie geweint hat.
Dann fällt mein Blick auf meine Tochter.
Sie ist blass und magerer, als ich sie in Erinnerung hatte. Die Haare hängen in zerzausten Strähnen herab, und sie sieht mich aus matten Augen an. Ich muss meine ganze Energie aufwenden, um nicht zu ihr zu laufen, sie in die Arme zu schließen und ihr zuzuflüstern, dass ihr Papa hier ist und sie nicht loslassen wird, bevor das alles vorbei ist.
Der Richter begrüßt mich, und ich habe gleich einen guten Eindruck von ihm. Er hat einen wachen Blick und wirkt dennoch sensibel. Obwohl er eine gewisse Autorität ausstrahlt, scheint er aufgeschlossen zu sein. Ich glaube nicht, dass sich die Schöffen seinem Beschluss widersetzen werden. Außerdem weiß ich, dass er selbst Kinder hat.
Da ich zur Angeklagten in einem engen verwandtschaftlichen Verhältnis stehe, darf ich keine Zeugenaussage unter Eid machen. Das Gericht muss bei meinen Aussagen berücksichtigen, dass die Angeklagte in diesem Verfahren meine Tochter ist, das ist mir bewusst. Aber ich weiß auch, dass das Gericht aufgrund meiner Person und nicht zuletzt meines Berufs meine Aussagen für glaubwürdig erachten wird.
Der Vorsitzende übergibt das Wort an den Strafverteidiger. Ich hole tief Luft. Was ich jetzt sagen werde, wird das Leben zahlreicher Menschen viele Jahre lang beeinflussen. Was ich jetzt sagen werde, kann ausschlaggebend sein.
Und ich habe noch immer nicht entschieden, was ich sagen werde.
Wer Gutes sagt und tut, dem wird es gut ergehen. Denn der Mensch bekommt, was er verdient.
Sprüche 12,14
Wir waren eine ganz normale Familie. Meine Frau Ulrika und ich hatten interessante, gut bezahlte Arbeitsplätze und einen großen Freundeskreis, und in unserer Freizeit waren wir sportlich und kulturell aktiv. Freitags aßen wir Take-away-Essen vor dem Fernseher und sahen uns die beliebte Talentcastingshow Idol an, schliefen aber meistens noch vor der Endausscheidung auf dem Sofa ein. Samstags aßen wir mittags in der Stadt oder in irgendeinem Einkaufszentrum. Wir gingen zu Handballspielen oder ins Kino, trafen uns mit guten Freunden auf eine Flasche Wein. Abends schliefen wir eng aneinandergekuschelt ein. Die Sonntage verbrachten wir im Wald oder im Museum, führten lange Telefonate mit unseren Eltern oder setzten uns mit einem Roman aufs Sofa. Die Sonntagabende endeten häufig damit, dass wir mit Unterlagen, Ordnern und Notebooks im Bett saßen, um die bevorstehende Arbeitswoche vorzubereiten. Montagabends ging meine Frau zum Yoga, und donnerstags spielte ich Hockey. Wir bezahlten unser Baudarlehen planmäßig ab, wir trennten unseren Müll, setzten beim Autofahren brav den Blinker, hielten uns an die Geschwindigkeitsbegrenzungen und gaben die Bücher in der Stadtbibliothek immer rechtzeitig zurück.
In diesem Sommer nahmen wir relativ spät Urlaub, von Anfang Juli bis Mitte August. Nach mehreren wunderschönen Sommerreisen nach Italien hatten wir unsere Urlaube in den letzten Jahren in den Winter verlegt. Im Sommer hatten wir uns dafür zu Hause entspannt oder kleine Ausflüge an die Küste zu Verwandten und Freunden unternommen. Diesmal hatten wir eine Hütte auf Orust gemietet.
Unsere Tochter Stella jobbte fast den ganzen Sommer bei H&M. Sie sparte auf eine Fernreise nach Asien im Winter. Noch immer hoffe ich, sie wird sie auch antreten können.
Man könnte sagen, dass Ulrika und ich uns in diesem Sommer neu kennengelernt haben. Das klingt natürlich klischeehaft, fast ein bisschen lächerlich. Man glaubt ja nicht, dass man sich nach zwanzig Jahren Ehe neu in seine Frau verlieben kann. Als wären die Jahre mit dem Kind eine Episode in unserer Liebesgeschichte gewesen. Als hätten wir nur auf diese Zeit gewartet. Jedenfalls fühlt es sich so an.
Kinder sind ein Vollzeitjob. Erst sind sie Babys, und man wartet darauf, dass sie selbstständig werden, macht sich Sorgen, dass sie sich verschlucken oder hinfallen könnten. Dann kommt das Kindergartenalter, und man macht sich Sorgen, sobald sie nicht in der Nähe sind, und befürchtet, sie könnten von der Schaukel fallen oder bei der nächsten Vorsorgeuntersuchung versagen. Wenn die Schulzeit anfängt, macht man sich Sorgen, dass sie im Unterricht nicht mitkommen oder keine Freunde haben. Jetzt sind Hausaufgaben und Reiten angesagt, Handball und Übernachtungspartys. Mit Jugendlichen gibt es noch mehr Freunde, Partys und Konflikte, Schulberatergespräche und Taxifahrten. Man macht sich Sorgen wegen Alkohol und anderer Drogen, befürchtet, sein Kind könnte in schlechte Gesellschaft geraten, und so vergehen die Teenie-Jahre wie eine Seifenoper mit hundertneunzig Stundenkilometern. Dann steht man plötzlich mit einem erwachsenen Kind da und glaubt, man müsse sich jetzt keine Sorgen mehr machen.
In diesem Sommer erlebten wir wenigstens ein paar längere Phasen, in denen wir uns keine Sorgen um Stella machten. Unsere Familie ist wohl noch nie so harmonisch gewesen. Dann veränderte sich alles.
An einem Freitag im Spätsommer wurde Stella neunzehn, und ich hatte einen Tisch in unserem Lieblingsrestaurant reserviert. Italien und die italienische Küche haben uns schon immer am Herzen gelegen, und es gibt im Stadtteil Väster ein kleines Lokal, das himmlische Pasta und Pizza serviert. Ich freute mich auf einen ruhigen und gemütlichen Abend mit der Familie.
»Una tavola per tre«, sagte ich zur rehäugigen Kellnerin mit der Perle in der Nase. »Adam Sandell. Ich habe für zwanzig Uhr einen Tisch reserviert.«
Sie sah sich ängstlich um.
»Einen Moment, bitte.« Dann verschwand sie im vollbesetzten Lokal.
Ulrika und Stella sahen mich an, während die Kellnerin mit ihren Kollegen wütend diskutierte und gestikulierte.
Es stellte sich heraus, dass der Kellner, der meine Reservierung angenommen hatte, diese versehentlich für Donnerstag eingetragen hatte.
»Wir haben gedacht, dass Sie gestern kommen wollten«, sagte die Kellnerin und kratzte sich mit ihrem Stift im Nacken. »Aber das kriegen wir schon hin. Geben Sie uns fünf Minuten.«
Eine andere Tischgesellschaft musste aufstehen, während die Kellner einen weiteren Tisch in den Raum schleppten. Ulrika, Stella und ich standen mitten im engen Restaurant und taten so, als sähen wir nicht die genervten Blicke, die von allen Seiten auf uns gerichtet wurden. Beinahe hätte ich erklärt, dass nicht wir den Fehler begangen hatten, sondern die Mitarbeiter des Lokals.
Als wir uns endlich an den gedeckten Tisch setzen konnten, versteckte ich mich hinter meiner Speisekarte.
»Bitte entschuldigen Sie unseren Fehler«, sagte ein graubärtiger Mann, vermutlich der Restaurantbesitzer. »Das Dessert geht natürlich aufs Haus.«
»Kein Problem«, entgegnete ich. »Wir sind alle nur Menschen.«
Die Kellnerin kritzelte unsere Getränkebestellung auf einen Block.
»Ein Glas Rotwein?« Stella sah mich fragend an. Ich wandte mich zu Ulrika.
»Es ist schließlich ein besonderer Tag«, meinte meine Frau.
Also nickte ich der Kellnerin zu.
»Ein Glas Rotwein für das Geburtstagskind.«
Nach dem Essen überreichte Ulrika Stella einen Briefumschlag.
»Ein Stadtplan?«, fragte Stella, nachdem sie das Kuvert geöffnet hatte.
Ich lächelte über unsere ausgeklügelte Idee.
Wir begleiteten Stella aus dem Restaurant und folgten ihr hinter die nächste Straßenecke. Ich hatte ihr Geschenk schon am Nachmittag dort deponiert.
»Aber Papa, ich hatte doch gesagt … Die ist ja viel zu teuer!«
Es war eine rosa Vespa Piaggio. Wir hatten uns in der Woche davor ein ähnliches Exemplar im Internet angesehen, und es war mir gelungen, Ulrika trotz des stattlichen Preises zum Kauf zu überreden.
Stella schüttelte den Kopf und seufzte.
»Warum hörst du mir nicht zu, Papa?«
Ich hielt die Hand hoch und lächelte.
»Ein Dankeschön genügt völlig.«
Ich wusste, dass sich Stella Bargeld gewünscht hatte, aber ich fand Geldgeschenke langweilig. Mit der Vespa würde sie schnell und problemlos in die Stadt, zur Arbeit oder zu Freunden fahren können. In Italien fahren alle Teenies eine Vespa.
Stella umarmte uns und bedankte sich mehrmals, ehe wir ins Restaurant zurückgingen, aber ich war trotzdem irgendwie enttäuscht.
Die Kellnerin brachte unser Entschuldigungstiramisu, und wir stellten alle drei fest, dass wir eigentlich keinen Krümel mehr essen konnten. Und dann aßen wir trotzdem alles auf.
Ich trank Limoncello zum Kaffee.
»Ich glaube, ich muss jetzt los«, sagte Stella und rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum.
»Doch nicht jetzt schon?«
Ich sah auf die Uhr. Halb zehn.
Stella presste die Lippen zusammen.
»Gut, noch ein bisschen«, sagte sie dann. »Zehn Minuten oder so.«
»Es ist dein Geburtstag«, sagte ich. »Und der Laden öffnet morgen doch sowieso nicht vor zehn Uhr?«
Stella seufzte.
»Ich arbeite morgen nicht.«
Nicht? Normalerweise arbeitete sie jeden Samstag. Als Samstagsaushilfe hatte sie bei H&M einen Fuß in die Tür bekommen. Daraus war ein Ferienjob geworden, den sie jetzt auf Stundenbasis verlängert hatte.
»Ich hatte den ganzen Nachmittag Kopfschmerzen«, sagte sie ausweichend. »Migräne.«
»Das heißt, du hast dich krankgemeldet?«
Stella nickte. Das sei gar kein Problem, erklärte sie mir. Es gebe da ein anderes Mädchen, das in solchen Fällen gerne ihre Schicht übernahm.
»So haben wir dich aber nicht erzogen«, bemerkte ich, während Stella aufstand und ihre Jacke von der Rückenlehne nahm.
»Adam«, sagte Ulrika.
»Aber warum so eilig?«
Stella zuckte mit den Schultern.
»Ich bin mit Amina verabredet.«
Ich nickte und schluckte meine Enttäuschung hinunter. So war das wohl mit Neunzehnjährigen.
Stella umarmte Ulrika lang und innig. Ich war noch gar nicht aufgestanden, da hatte sie mich schon kurz gedrückt. Unsere Umarmung war ungeschickt und steif.
»Und die Vespa?«, fragte ich.
Stella warf Ulrika einen Blick zu.
»Wir sorgen dafür, dass sie nach Hause kommt«, versprach meine Frau.
Als Stella verschwunden war, wischte sich Ulrika langsam den Mund mit der Serviette ab und lächelte mich an.
»Neunzehn Jahre«, sagte sie. »Nicht zu fassen, wie schnell die Zeit vergeht.«
Ulrika und ich waren beide völlig erledigt, als wir an diesem Abend nach Hause kamen. Wir saßen auf dem Sofa und lasen, während als Hintergrundmusik ein Song von Cohen lief.
»Also, ich finde, sie hätte ruhig ein bisschen mehr Begeisterung zeigen können«, sagte ich. »Nicht zuletzt nach der Sache mit dem Auto.«
Die Sache mit dem Auto – das war schon zu einem feststehenden Begriff geworden.
Ulrika murmelte irgendwas Unverständliches, ohne von ihrem Buch aufzublicken. Draußen hatte der Wind aufgefrischt, und es knackte in den Wänden. Es war der Sommer, der seufzend Atem holte. Der August neigte sich seinem Ende entgegen, aber das machte mir nichts aus. Ich habe den Herbst schon immer ganz besonders gemocht. Er gibt mir das Gefühl eines Neustarts, der mich an den Beginn einer Verliebtheit erinnert.
Als ich meinen Roman schließlich beiseitelegte, war Ulrika schon eingeschlafen. Vorsichtig hob ich ihren Nacken hoch und schob ihr als Stütze ein Kissen darunter. Sie bewegte sich unruhig im Schlaf, und einen Moment erwog ich, sie zu wecken, doch dann kehrte ich zu meiner Lektüre zurück.
Schon bald verschwammen die Buchstaben vor meinen Augen, und meine Gedanken drifteten ab. Ich schlief ein, mit einem dumpfen Gefühl von Traurigkeit angesichts der Kluft, die zwischen mir und Stella entstanden war – zwischen den Menschen, die wir einst gewesen waren, und denen, die wir jetzt waren, zwischen den Bildern, die ich früher von uns gehabt hatte, und der Realität.
Als ich erwachte, stand Stella im Zimmer und trat von einem Fuß auf den anderen. Schwacher Mondschein fiel durchs Fenster auf ihren Kopf und ihre Schultern.
Ulrika war ebenfalls aufgewacht und rieb sich die Augen. Bald war das Zimmer von Schluchzen und Schniefen erfüllt.
Ich richtete mich auf.
»Was ist denn passiert?«
Stella schüttelte den Kopf, große Tränen liefen ihr über die Wangen. Ulrika nahm sie in den Arm, und als sich meine Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, dass Stella zitterte.
»Nichts.«
Dann verließ sie das Zimmer zusammen mit ihrer Mutter, und ich blieb sitzen, mit einem unheimlichen Gefühl von Leere.
Wir waren eine ganz normale Familie, und dann veränderte sich alles.
Es braucht viel Zeit, um sich ein Leben aufzubauen, aber nur einen Moment, um es in Trümmer zu legen. Es dauert viele Jahre, Jahrzehnte, vielleicht ein Leben lang, bis man der wird, der man eigentlich ist. Die Wege sind fast immer verschlungen, und ich glaube, es liegt ein tieferer Sinn darin, dass das Leben als Trial and Error konzipiert ist. Erst durch die Prüfungen, die uns auferlegt sind, entstehen wir und finden unsere Form.
Dennoch fällt es mir schwer, den Sinn von dem zu verstehen, was unserer Familie in diesem Herbst widerfahren ist. Ich weiß, dass nicht alles begreifbar ist und dass letztlich auch dies einen höheren Zweck hat, aber in den Ereignissen der letzten Wochen kann ich noch immer keinen Sinn sehen. Ich kann sie nicht erklären, weder mir selbst noch jemand anderem.
Vielleicht ergeht es allen Menschen so, aber ich bilde mir ein, dass ich als Pfarrer öfter als andere zur Rede gestellt werde, was meine Sicht auf die Welt betrifft. Den Leuten fällt es normalerweise nicht schwer, meine Weltanschauung infrage zu stellen. Sie fragen mich, ob ich wirklich an Adam und Eva und die Jungfrauengeburt glaube oder daran, dass Jesus auf dem Wasser ging und die Toten zum Leben erweckte.
Zu Beginn meines christlichen Lebens fing ich in solchen Situationen an, mich zu verteidigen und stattdessen über das Weltbild des Fragenden zu diskutieren. Bisweilen argumentierte ich damit, dass die Wissenschaft nur eine Religion unter vielen sei. Natürlich hatte auch ich immer wieder Zweifel, und manchmal schwankte sogar meine Überzeugung. Inzwischen fühle ich mich jedoch sicher in meinem Glauben. Ich habe den Segen Gottes entgegengenommen und lasse sein Angesicht über mir leuchten. Gott ist Liebe. Gott ist Sehnsucht und Hoffnung. Gott ist meine Zuflucht und mein Trost.
Ich sage gern, dass ich gläubig bin, nicht wissend. Wenn man glaubt, zu wissen, sollte man misstrauisch werden. Ich betrachte das Leben als ewiges Lernen.
Wie die allermeisten anderen auch halte ich mich selbst für einen guten Menschen. Das klingt natürlich vermessen, um nicht zu sagen überheblich. Aber ich meine es nicht so. Ich bin ein Mensch mit vielen Mängeln, ein Mensch, der unzählige Fehler und Irrtümer begangen hat. Das ist mir durchaus bewusst, und ich gestehe es fraglos ein. Ich meine nur, dass ich immer in besten Absichten gehandelt habe, aus Liebe und Fürsorge. Ich habe es immer richtig machen wollen.
Die Woche, die auf Stellas neunzehnten Geburtstag folgte, unterschied sich nicht nennenswert von anderen Wochen. Am Samstag radelten Ulrika und ich nach Gunnesbo zu guten Freunden. Ich ergriff die Gelegenheit, um Ulrika eine vorsichtige Frage zu den Ereignissen der vergangenen Nacht zu stellen, aber Ulrika versicherte mir, dass mit Stella alles in Ordnung sei. Es gebe Probleme mit irgendeinem Typen, was ja bei Neunzehnjährigen öfter vorkomme. Ich müsse mir keine Sorgen machen.
Am Sonntag telefonierte ich mit meinen Eltern. Als wir auf Stella zu sprechen kamen, sagte ich, dass sie mittlerweile kaum noch zu Hause sei, woraufhin mich meine Mutter daran erinnerte, wie ich selbst als Teenager gewesen war. Man vergisst so schnell.
Am Montag hatte ich vormittags ein Begräbnis und nachmittags eine Taufe. Ich habe einen seltsamen Beruf, bei dem sich Leben und Tod im Hausflur die Hand reichen. Am Abend fuhr Ulrika zum Yoga, und Stella schloss sich in ihrem Zimmer ein.
Am Mittwoch traute ich ein älteres Paar in unserer Kirchengemeinde. Es war eine schöne Feier. Die beiden waren verwitwet und hatten sich kennengelernt, als sie noch um ihren jeweiligen Ehepartner trauerten. Es war ein Moment, der mich bis in die Tiefe meines Herzens berührte.
Am Donnerstag verstauchte ich mir beim Hockeyspielen ganz leicht den Fuß. Mein alter Handballfreund Anders, mittlerweile Feuerwehrmann und Vater von vier Jungen, trat mir in einem Nahkampf versehentlich auf den Fuß. Mir gelang es immerhin, den Pass zu vollenden.
Als ich am Freitagmorgen zur Arbeit radelte, war ich müde. Nach der Mittagspause beerdigte ich einen Mann, der nur zweiundvierzig Jahre alt geworden war. Krebs natürlich. Ich werde mich nie an die Tatsache gewöhnen, dass Menschen, die jünger sind als ich selbst, sterben können. Seine Tochter hatte ein Abschiedsgedicht geschrieben, doch sie weinte zu sehr, um es vortragen zu können. Ich konnte nicht umhin, an Stella zu denken.
Am Freitagabend fühlte ich mich nach der Woche ungewöhnlich erschöpft. Ich stand am Fenster und sah den August am Horizont versinken. Der Ernst des Herbstes hatte an die Tür geklopft. Der letzte Grillrauch verschwand über den Hausdächern, und die Kissen der Gartenmöbel wurden weggeräumt.
Endlich konnte ich das Kollar abnehmen. Ich fuhr mir mit der Hand über den verschwitzten Nacken. Als ich mich an den Fensterrahmen lehnte, stieß ich versehentlich gegen das Familienfoto, und es fiel auf den Boden.
Die Glasscheibe bekam einen Sprung, aber ich stellte das Foto trotzdem zurück. Auf dem Bild, das mindestens zehn Jahre alt ist, wirkt meine Haut frisch, und mein Blick hat etwas Verspieltes. Ich weiß noch, wie wir gelacht haben, ehe der Fotograf abdrückte. Ulrika lächelt mit offenem Mund, und vor uns steht Stella mit roten Wangen, geflochtenen Zöpfen und einem Micky-Maus-Pulli. Ich blieb eine Weile am Fenster stehen und betrachtete das Foto, während die Erinnerungen zu einem Kloß im Hals anschwollen.
Nachdem ich geduscht hatte, machte ich einen Eintopf aus Schweinefilet und Chorizo. Ulrika hatte sich neue Ohrringe gekauft, kleine silberne Federn, und wir teilten uns zum Essen eine Flasche südafrikanischen Wein, um dann den Abend mit Salzstangen und einer Partie Trivial Pursuit auf dem Sofa zu beschließen.
»Weißt du, wo Stella ist?«, fragte ich, während ich mich im Schlafzimmer auszog. Ulrika lag schon unter der Decke.
»Sie wollte sich mit Amina treffen und wusste vorhin noch nicht, ob sie heute Nacht nach Hause kommt.«
Das Letzte klang wie eine Nebensächlichkeit, dabei weiß Ulrika genau, was ich davon halte, wenn unsere Tochter nachts nur vielleicht noch nach Hause kommt.
Ich sah auf die Uhr, es war Viertel nach elf.
»Sie wird schon irgendwann kommen«, meinte Ulrika.
Ich starrte sie an. Manchmal glaube ich, dass sie gewisse Dinge nur sagt, um mich zu provozieren.
»Ich schicke ihr eine SMS«, erklärte ich.
Und dann schrieb ich Stella eine Nachricht und fragte sie, ob sie vorhabe, zu Hause zu schlafen. Natürlich bekam ich keine Antwort.
Ich legte mich mit einem schweren Seufzer aufs Bett. Ulrika rollte gleich auf meine Seite herüber und legte sanft eine Hand auf meine Hüfte. Sie küsste mich auf den Hals, während ich an die Decke starrte.
Ich weiß, dass ich mir keine Sorgen machen sollte. In jungen Jahren war ich nie neurotisch. Die Angst kam erst angekrochen, als wir ein Kind bekamen, und sie scheint von Jahr zu Jahr größer zu werden.
Mit einer neunzehnjährigen Tochter hat man genau zwei Möglichkeiten: Entweder geht man an konstanter Nervosität zugrunde, oder man verdrängt alle Risiken, denen sich das Kind offenbar nur allzu gern aussetzt. Es ist eine Frage des Selbsterhaltungstriebs.
Bald schlief Ulrika auf meinem Arm ein. Ihr warmer Atem traf in weichen Wellen auf meine Wange. Hin und wieder zuckte sie kurz zusammen, doch schon bald umschloss sie wieder der Schlaf.
Ich bemühte mich wirklich einzuschlafen, aber in meinem Kopf kreisten die Gedanken. Die Müdigkeit war in einen Zustand manischer Gehirnaktivität übergegangen. Ich dachte an die Träume, die ich selbst im Lauf meines Lebens gehegt hatte. Viele von ihnen hatten sich inzwischen verändert, manche würde ich mir hoffentlich noch erfüllen. Und dann dachte ich an Stellas Träume und musste mit gewissem Schmerz feststellen, dass ich nicht wusste, was sich meine Tochter vom Leben wünschte. Sie behauptet hartnäckig, es selbst nicht zu wissen. Keine Pläne, keine Struktur. Ganz anders als ich. Als ich Abitur machte, hatte ich ein ziemlich klares Bild davon, wie mein Leben aussehen sollte.
Ich weiß, dass ich Stella nicht beeinflussen kann. Sie ist neunzehn und trifft ihre eigenen Entscheidungen. Ulrika hat einmal gesagt, Liebe bedeute, loszulassen und denjenigen, den man liebt, fliegen zu lassen, aber häufig kommt es mir so vor, als sitze Stella noch immer da und schlage mit den Flügeln, ohne vom Boden abzuheben. Ich hatte mir etwas anderes vorgestellt.
Obwohl ich so müde war, konnte ich nicht einschlafen. Ich rollte auf die Seite und sah aufs Handy. Stella hatte geantwortet.
Bin jetzt unterwegs nach Hause.
Es war fünf vor zwei, als sich der Schlüssel im Türschloss drehte. Ulrika war auf ihre Seite des Bettes gerutscht und hatte sich weggedreht. Im Erdgeschoss schlich Stella umher, aus dem Bad war Wasserrauschen zu hören, dann rasche Schritte in die Waschküche und erneutes Wasserspülen. Es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit.
Schließlich erklangen knarrende Schritte auf der Treppe. Ulrika zuckte zusammen. Ich beugte mich vor und sah sie an, aber sie schien zu schlafen.
Ich war hin- und hergerissen. Zum einen war da mein Ärger darüber, dass Stella mich im Ungewissen gelassen hatte, zum anderen die Erleichterung darüber, dass sie endlich nach Hause gekommen war.
Ich stand auf und öffnete die Schlafzimmertür im selben Moment, als Stella in Unterwäsche und mit nassen Haaren vorbeiging. Im Halbdunkel sah ich ihr Rückgrat als leuchtenden Strich, während sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.
»Stella?«, sagte ich.
Ohne zu antworten, schlüpfte sie rasch durch den Türspalt und schloss die Tür hinter sich ab.
»Gute Nacht«, hörte ich von der anderen Seite der Tür.
»Schlaf gut«, flüsterte ich.
Meine Tochter war zu Hause.
Am Samstagmorgen wachte ich spät auf. Ulrika saß im Morgenmantel am Frühstückstisch und hörte sich ein Podcast an.
»Guten Morgen!«
Sie zog die Kopfhörer herunter.
Obwohl ich länger als sonst geschlafen hatte, fühlte ich mich noch immer benommen und verschüttete Kaffee auf der Zeitung.
»Wo ist Stella?«
»Bei der Arbeit«, sagte Ulrika. »Sie war schon weg, als ich aufgewacht bin.«
Ich versuchte die Zeitung mit einem Lappen abzuwischen.
»Eigentlich müsste sie total geschafft sein. Sie war die halbe Nacht unterwegs.«
Ulrika betrachtete mich mit einem Lächeln.
»Du siehst auch nicht besonders wach aus.«
Was meinte sie damit? Sie wusste, dass ich nicht schlafen konnte, wenn Stella nicht zu Hause war.
Wir waren zu einem späten Mittagessen bei Dino und Alexandra im Trollebergsvägen eingeladen. Spätes Mittagessen beinhaltete alkoholische Getränke, also fuhren wir mit dem Rad in die Stadt. Auf Höhe der Ballsporthalle entdeckte ich einen Polizeiwagen. Fünfzig Meter weiter, am Kreisverkehr nahe der Polhemskolan, standen noch zwei Streifenwagen. Der eine hatte das Blaulicht eingeschaltet. Drei Polizisten gingen mit raschen Schritten die Rådmangatan entlang.
»Was mag wohl passiert sein?«, sagte ich zu Ulrika.
Wir stellten unsere Räder auf dem Innenhof ab. Im Treppenhaus fiel mir ein, dass man nicht mit leeren Händen kommen sollte.
»Was für ein Glück, dass wenigstens einer in unserer Familie mitdenkt«, sagte Ulrika und fischte eine Schachtel Pralinen aus der Handtasche.
»Du bist meine Rettung, Liebling«, flüsterte ich und küsste sie auf die Wange.
Alexandra öffnete lächelnd die Tür.
»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte sie, als ich die Pralinen überreichte. Sie duftete frisch nach Maiglöckchen und Zitrone.
»Hallihallo«, sagte Dino und drückte meine Hand.
Wir blieben eine Weile im Flur stehen, um die wichtigsten Neuigkeiten auszutauschen. Es war schon eine Weile her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten.
»Ist Amina gar nicht zu Hause?«, fragte Ulrika.
Alexandra zögerte ein wenig.
»Eigentlich hat sie heute ein Handballspiel, aber es geht ihr nicht so gut.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, was los ist«, meinte Dino. »Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals ein Handballspiel verpasst hätte.«
»Ich denke, es ist eine ganz normale Erkältung«, sagte Alexandra.
Dino verzog das Gesicht. Ich war vermutlich der Einzige, der das bemerkte.
»Hauptsache, sie ist gesund, wenn das Semester anfängt«, meinte Ulrika.
»Den Studienbeginn würde sie nie verpassen, nicht einmal mit vierzig Grad Fieber«, versicherte Alexandra.
Ulrika lachte.
»Sie wird bestimmt eine großartige Ärztin. Ich kenne niemanden, der so gründlich und so ehrgeizig ist.«
Dino strahlte wie ein Pfau. Er hatte guten Grund, stolz zu sein.
»Wie geht es denn Stella?«, fragte er.
Eigentlich war das keine überraschende Frage. Ganz im Gegenteil. Aber ich glaube, wir zögerten etwas zu lang mit der Antwort.
»Alles in bester Ordnung«, sagte ich schließlich.
Ulrika lächelte zustimmend. Vielleicht war die Antwort gar nicht so weit entfernt von der Realität. Unsere Tochter war in diesem Sommer häufig gut gelaunt gewesen.
Wir saßen auf dem eingeglasten Balkon, genossen Dinos Pita und Minipirogen und hörten uns seine Handballanekdoten an. Dino hat eine einzigartige Fähigkeit, sich an Spielsequenzen zu erinnern, die vor zehn Jahren stattgefunden haben, während mir vor allem die Ereignisse außerhalb der Halle im Gedächtnis geblieben sind. Ein Bus, bei dem auf halber Strecke durch Jütland plötzlich Benzin aus dem Tank leckte, ein Trainer aus Skövde, der sich begeistert über den Nationalsozialismus äußerte, oder die Geschichte, als wir uns in Litauen aussperrten und die halbe Nacht unter freiem Himmel verbringen mussten.
Das Handballgerede langweilte Alexandra bald.
»Habt ihr schon von dem Mord gehört?«
Das war eine effektive Methode, um das Gesprächsthema zu wechseln.
»Mord?«
»Ausgerechnet hier bei der Polhemskolan. Sie haben heute früh eine Leiche gefunden.«
»Ach«, sagte Ulrika. »Daher also die Polizei …«
Sie wurde vom Quietschen der Balkontür unterbrochen. Amina blickte mit glasigen Augen durch den Türspalt zu uns heraus, sie war blass, ein Schatten ihrer selbst.
»Du siehst ja furchtbar aus«, sagte Ulrika ohne die geringste Feinfühligkeit.
»Ich weiß«, krächzte Amina, die sich an der Balkontür festzuhalten schien, um nicht zusammenzubrechen.
»Geh und leg dich wieder hin.«
»Dann ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Stella auch krank wird«, kommentierte ich. »Ihr habt euch doch gestern Abend getroffen, oder?«
Aminas Blick erstarrte. Eine halbe Sekunde, vielleicht nur eine Zehntelsekunde, aber ihr Blick erstarrte, und ich begriff sofort, was das bedeutete.
»Stimmt«, sagte sie und hustete. »Hoffe, ich habe sie nicht angesteckt.«
»Geh und leg dich wieder hin«, wiederholte Ulrika.
Amina zog die Balkontür hinter sich zu und schleppte sich durchs Wohnzimmer zurück in ihr Zimmer.
Die Lüge ist eine Kunst, die nur wenige vollkommen beherrschen.
Wenn unsere Töchter nicht gewesen wären, hätten wir uns wahrscheinlich nie mit Alexandra und Dino angefreundet.
Amina und Stella waren sechs, als sie in dieselbe Handballmannschaft kamen. Die meisten anderen Mädchen in ihrer Mannschaft waren älter, aber das machte nichts. Amina und Stella zeigten beide großen Ehrgeiz. Sie waren stark, beharrlich und unaufhaltbar. Im Gegensatz zu Stella war Amina darüber hinaus mit einem außergewöhnlichen Ballgefühl gesegnet.
Die ersten Trainingsstunden verbrachten Ulrika und ich auf den Bänken in der verschwitzten Turnhalle und sahen zu, wie unser kleines Mädchen sich beim Laufen austobte. So frei und glücklich wie in der Handballhalle hatten wir sie selten erlebt. Dino trainierte die Mädchenmannschaft ganz allein. Er tat es mit Leidenschaft und Herzblut und zeigte den kleinen Handballerinnen seine Begeisterung. Doch es gab ein Problem: seine Körpersprache. Genauso explosiv, wie er mit Gesten und Formulierungen seine Freude ausdrückte, wenn eines der Mädchen auf dem Spielfeld Erfolg hatte, genauso explosiv brachte er seine Enttäuschung zum Ausdruck, wenn es nicht ganz so gut geklappt hatte. Ulrika und mir fiel das unangenehm auf, und wir sprachen bei jedem Training darüber. Ich plädierte dafür, uns bei den anderen Eltern umzuhören oder uns vielleicht an den Vereinsvorstand zu wenden. Wir schätzten Dino sehr als Trainer. Vielleicht war ihm gar nicht bewusst, wie seine Körpersprache auf die Mädchen wirkte.
»Es ist besser, wenn wir persönlich mit ihm reden«, meinte Ulrika und ging nach dem nächsten Training zu Dino, von dem es hieß, dass er früher selbst auf hohem Niveau Handball gespielt habe.
Ich hielt mich im Hintergrund, während Dino Ulrika zuhörte. Dann sagte er:
»Du scheinst dich gut auszukennen. Willst du mich unterstützen?«
Ulrika war so erstaunt, dass ihr die Worte fehlten. Schließlich zeigte sie in meine Richtung und sagte, dass ich eigentlich derjenige sei, der sich mit Handball auskenne, und dass ich bestimmt ein ausgezeichneter Co-Trainer werden würde.
»Okay«, sagte Dino und sah mich an. »Du kriegst den Job.«
Der Rest ist Geschichte, wie es so schön heißt. Wir führten die Mannschaft von Erfolg zu Erfolg, fuhren durch halb Europa und brachten so viele Pokale und Medaillen nach Hause, dass sie am Ende nicht mehr in Stellas Bücherregal passten.
Amina und Stella fanden sich schon bald auf dem Spielfeld. Mit Finesse und Schlauheit spielte Amina die Bälle an Stella, die sich frei lief und nicht aufgab, bevor der Ball im Tor war. Aber der Siegerinstinkt hatte auch seine Kehrseite. Stella war erst acht Jahre, als es zum ersten Mal eskalierte. Während eines Spiels in der Fäladshallen stand sie nach einem Traumpass von Amina ganz allein mit der Torhüterin da, vergab aber die Torchance. Ohne mit der Wimper zu zucken, nahm sie den Ball beim Abprallen auf und warf ihn mit voller Kraft und aus drei Metern Entfernung der Torhüterin mitten ins Gesicht.
Natürlich stürmten der Trainer der gegnerischen Mannschaft und die Eltern aufs Spielfeld und stellten Stella und mich zur Rede.
Es war ganz bestimmt keine böse Absicht gewesen. Stella richtete ihre Wut nie gegen jemand anderen als sich selbst. In der Wut über die verpasste Chance hatte sie impulsiv reagiert. Sie war reumütig, ja regelrecht niedergeschmettert.
»Tut mir total leid, ich hab einfach nicht nachgedacht.«
Das wurde zu einer wiederkehrenden Phrase, einer Art Mantra.
Immer wieder sagte Dino zu mir, dass Stellas schlimmste Gegnerin sie selbst sei. Wenn es ihr nur gelänge, sich selbst zu besiegen, könne sie richtig weit kommen.
Es fiel ihr nur so verflixt schwer, ihre Gefühle zu kontrollieren.
Ansonsten machte Stella es einem leicht, sie zu mögen. Sie war umsichtig und gerechtigkeitsliebend, ein energisches und extrovertiertes Mädchen.
Bald lebten Amina und Stella auch außerhalb des Spielfelds in einer engen Symbiose. Sie gingen in dieselbe Klasse, kauften die gleichen Kleider und mochten dieselbe Musik. Und Amina hatte einen guten Einfluss auf Stella. Sie war charmant und aufgeweckt, fürsorglich und ehrgeizig. Als Stella auf Abwege geriet, war Amina da, um sie aufzufangen.
Ich wünschte nur, dass Ulrika und ich Stellas Problem ernster genommen und früher reagiert hätten. Ich schäme mich, wenn ich daran zurückdenke, aber das große Hindernis war vermutlich unser Stolz. Für Ulrika und mich bedeutete es, dass man komplett gescheitert war, wenn man sich professionelle Hilfe holen musste. Das mag egoistisch klingen, aber es ist zugleich sehr menschlich und trotz allem vielleicht kein völlig falscher Gedanke. Wir hatten den Anspruch, die bestmöglichen Eltern für unser Kind zu sein, aber wir waren unserem Anspruch nicht gerecht geworden.
Vielleicht hätte es nie so weit kommen müssen, wie es letztlich kam.
Als wir von Alexandra und Dino nach Hause radelten, standen die Streifenwagen immer noch vor der Schule. Es fühlte sich unheimlich an, viel zu nah. Offenbar hatte eine Mutter, die schon morgens mit ihren Kindern auf dem Spielplatz unterwegs gewesen war, die Leiche gefunden. Ich schauderte bei der Vorstellung.
Ulrika sprang schon in der Einfahrt vom Fahrrad und lief zur Haustür.
»Willst du es denn gar nicht abschließen?«, rief ich ihr nach.
»Muss aufs Klo«, murmelte sie und wühlte in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln.
Ich schob ihr Fahrrad über den gepflasterten Weg zum Haus und stellte es neben meines unter das Blechdach. Dabei stellte ich fest, dass ich vergessen hatte, den Grill abzudecken, und holte die Schutzhülle aus dem Schuppen.
Als ich ins Haus kam, stand Ulrika auf der Treppe.
»Stella ist noch immer nicht zu Hause. Ich habe es bei ihr probiert, aber sie geht nicht ran.«
»Sie macht bestimmt Überstunden«, meinte ich. »Du weißt, dass sie bei der Arbeit keine Handys benutzen dürfen.«
»Aber heute ist Samstag. Der Laden hat längst geschlossen.«
Daran hatte ich gar nicht gedacht.
»Vielleicht ist sie mit zu einer Kollegin gefahren. Wir müssen heute Abend noch mal mit ihr reden. Sie muss einfach lernen, sich bei uns zu melden.«
Ich legte den Arm um Ulrika.
»Ich hatte plötzlich so ein unheimliches Gefühl«, sagte sie. »Als wir die ganzen Polizisten gesehen haben. Ein Mord? Hier in unserer Stadt?«
»Ich verstehe dich gut. Mir ist auch unbehaglich zumute.«
Wir setzten uns aufs Sofa. Ich suchte auf dem Handy nach den aktuellen Nachrichten und las sie ihr vor. Der ermordete Mann war um die dreißig gewesen und stammte aus Lund. Die Polizei war sehr zurückhaltend, was die Umstände der Tat betraf, aber in einer Boulevardzeitung erzählte eine Frau, die in der Nähe des Tatorts wohnte, dass sie in der vergangenen Nacht vor ihrem Fenster Lärm und Geschrei gehört habe.
»So was trifft wirklich nicht jeden«, sagte ich, als wäre ich Experte auf diesem Gebiet und nicht Ulrika. »Vermutlich war es ein Streit unter Alkoholikern oder Drogenabhängigen. Oder ein Fall von Bandenkriminalität.«
Ulrika atmete ruhig an meiner Schulter.
Dabei hatte ich es gar nicht gesagt, um sie zu beruhigen. Ich war überzeugt von meiner Äußerung.
»Ich werde uns Spaghetti Carbonara machen.« Ich erhob mich und küsste sie auf die Wange.
»Jetzt schon? Ich glaube, ich kriege im Moment kein einziges Rucolablatt herunter.«
»Slow food«, entgegnete ich lächelnd. »Richtiges Essen braucht seine Zeit, Liebling.«
Während der Speck in dem erlesenen Olivenöl aus Kampanien brutzelte, kam Ulrika die Treppe heruntergedonnert.
»Stella hat ihr Handy vergessen.«
»Was?«
Rastlos ging sie zwischen der Kücheninsel und dem Fenster hin und her.
»Es lag auf ihrem Schreibtisch.«
»Oh.« Die Spaghetti Carbonara befanden sich in einer so kritischen Phase, dass ich sie nicht aus den Augen lassen konnte. »Hat sie es vergessen?«
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Es lag auf dem Schreibtisch!«
Ulrika schrie beinahe.
Es war zwar seltsam, dass Stella ihr Telefon vergessen hatte, aber doch kein Grund für eine so übertriebene Reaktion. Ich rührte heftig in den Spaghetti, während ich die Herdplatte runterdrehte.
»Scheiß auf die Pasta!«, rief Ulrika und packte mich am Arm. »Ich mache mir ernsthaft Sorgen. Ich habe eben bei Amina angerufen, aber sie geht auch nicht ran.«
»Sie ist doch auch krank«, sagte ich und wusste im selben Moment, dass die Spaghetti Carbonara misslingen würden.
Ich schlug den Holzlöffel auf die Arbeitsplatte und riss die Bratpfanne von der Herdplatte.
»Vielleicht hat sie das Handy absichtlich zu Hause gelassen«, sagte ich und kämpfte gegen das ungute Gefühl an, das in mir aufstieg. »Du weißt doch, dass ihre Chefin sich bei ihr beschwert hat.«
Ulrika schüttelte den Kopf.
»Ihre Chefin hat sich nicht bei ihr beschwert. Sie hatte nur eine allgemeine Belehrung über die Benutzung von Handys während der Arbeitszeit. Du glaubst doch wohl nicht, dass Stella ihr Handy freiwillig zu Hause lassen würde?«
Das war in der Tat eher unwahrscheinlich.
»Sie muss es vergessen haben. Bestimmt hatte sie es heute früh eilig.«
»Ich höre mich mal bei ihren Freundinnen um«, sagte Ulrika. »Das sieht ihr gar nicht ähnlich.«
»Willst du nicht lieber noch etwas abwarten?«
Ich murmelte etwas von wegen, dass die moderne Technik und die ständige Verfügbarkeit uns verwöhnt hätten, weil wir damit rechneten, ständig über den aktuellen Aufenthaltsort unserer Tochter informiert zu sein. Eigentlich gebe es doch keinen Anlass für Aufregung.
»Sie kommt bestimmt gleich zur Tür hereingestürmt.«
Zugleich wuchs das Grummeln in meinem Bauch. Als Eltern kann man sich nie richtig entspannen.
Als Ulrika die knarrende Treppe hinaufschlich, nutzte ich die Gelegenheit zur Flucht in die Waschküche. Normalerweise ist Ulrika für die Wäsche zuständig, was vielleicht nach einer überholten Aufteilung der Aufgaben im Haushalt klingt, aber das war nichts, was wir je so beschlossen oder näher diskutiert hätten – nein, es hatte sich einfach so ergeben. Die Küche war meine Domäne und die Waschküche Ulrikas.
Trotzdem ging ich jetzt dorthin. War das Zufall? Ich öffnete die Waschmaschine und zog die feuchte Kleidung heraus. Eine dunkle Jeans, die ich erst auf rechts drehen musste, um mit Sicherheit feststellen zu können, dass sie Stella gehört. Ein schwarzes Top, auch von Stella. Und dann die weiße Bluse mit Blümchen auf der Brusttasche. Ihre Lieblingskleidung in diesem Sommer. Ich hielt die Bluse in der einen Hand und suchte mit der anderen nach einem Kleiderbügel. In diesem Moment sah ich es.
Stellas Lieblingsbluse. Der rechte Ärmel und die Brust waren voller dunkler Flecken.
Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Dabei wusste ich, dass Gott mit alledem nicht das Geringste zu tun hatte.
Im Lauf der Jahre musste ich mich immer wieder mit dem Missverständnis auseinandersetzen, dass mein Glaube gleichbedeutend mit einer Art Determinismus sei, dass mein freier Wille quasi durch Gott begrenzt würde. Dabei ist das ganz und gar nicht der Fall. Ich glaube an den Menschen als Abbild Gottes. Ich glaube an den Menschen.
Manchmal, wenn ich Leuten begegne, die sagen, sie glaubten nicht an Gott, dann frage ich sie, an welchen Gott sie nicht glauben. Häufig beschreiben sie mir dann einen Gott, an den ich ebenfalls nicht glaube.
Auch Stella gegenüber musste ich meinen Glauben erklären. Einmal fragte sie mich, ob ich wirklich daran glaube, dass Ulrika und ich füreinander bestimmt seien. Jemand in der Schule hatte behauptet, dass die Bibel verbiete, sich scheiden zu lassen.
»Gibt es wirklich nur einen einzigen Menschen, der zu einem passt, Papa?«
Wir saßen auf der Bettkante in ihrem Zimmer. Sie trug einen Schlafanzug mit einer aufgedruckten Barbiepuppe, den sie eine Zeit lang über alles liebte.
»Nein, und das wäre ja auch furchtbar. Dann würde man sein ganzes Leben damit verbringen, nach diesem einzigen Menschen zu suchen.«
Stella schluckte. Nachdenklich zog sie die Augenbrauen zusammen.
»Das heißt, Mama könnte auch irgendwer anders sein?«
»Natürlich nicht. Nur ganz wenige Dinge im Leben sind schwarz oder weiß. Die meisten sind grau, und da müssen wir suchen.«
»Das klingt ganz schön langweilig mit dem ganzen Grau.«
»Das ist aber nicht so. Grau ist etwas Wunderbares.«
Stella sah mich mit ihren großen hellen Augen an, legte sich hin und zog die nach Sommerwiese duftende Bettdecke bis ans Kinn hoch.
»Gute Nacht, Papa«, flüsterte sie.
Es ist schwindelerregend, wenn man einen Menschen findet, der zu einem passt. Für mich gibt es keinen deutlicheren Hinweis auf Gottes Existenz. Aber das muss nicht ausschließen, dass es andere Menschen gibt, die ebenfalls zu einem passen könnten.
Ulrika und ich waren jung, als wir uns kennenlernten, und seitdem gab es für uns keine Alternative. Wir waren beide erst vor Kurzem nach Lund gezogen. Da ich den naiven Traum hegte, Schauspieler zu werden, hatte ich mich der Theatergruppe eines Studentenclubs angeschlossen, in deren Wohnheim Ulrika bald darauf einzog. Sie war einer der Menschen, die sichtbar sind, ohne zu viel Raum einzunehmen, die strahlen, ohne zu blenden.
Während ich damit kämpfte, meinen Blekinge-Dialekt und meine Pickel loszuwerden, meisterte Ulrika jede Hürde des Studentenlebens mit Bravour. Ich tapezierte die Stadt mit Plakaten, auf denen »Nein zur EG – nein zur Öresundbrücke« stand, während Ulrika Finanzvorsitzende des Studentenclubs wurde und alle Klausuren mit Auszeichnung absolvierte.
Auf einem Wohnheimfest im Herbst jenes Jahres fasste ich endlich Mut. Zu meinem Erstaunen schien Ulrika sich in meiner Gesellschaft wohlzufühlen. Schon bald sahen wir uns ständig und redeten Stunde um Stunde. Wir waren in jeder Hinsicht unterschiedlicher Meinung, egal ob es um Bücher und Musik oder um internationale Politik ging, aber wir gingen nur allzu gern miteinander in den Clinch und diskutierten, bis wir uns am Ende fast immer darauf einigten, dass wir uns zwar nicht einig waren, dass das aber völlig in Ordnung sei.
»Ich fasse es nicht, dass du Pfarrer werden willst«, sagte sie an jenem ersten Abend. »Du könntest Psychologe werden oder Politikwissenschaftler oder …«
»Oder Pfarrer.«
»Aber warum?« Ulrika starrte mich an, als hätte ich aus freien Stücken darum gebeten, einen gesunden Körperteil amputiert zu bekommen. »Stammst du nicht aus Småland? Bestimmt vom schwedischen Bible-Belt, oder? Da ist es dir natürlich in die Wiege gelegt.«
»Ich komme aus Blekinge«, antwortete ich lachend. »Und meine Eltern haben damit herzlich wenig zu tun. Außer dass sie mich in den Kindergottesdienst geschickt haben, aber das war vermutlich eher eine Art der Kinderbetreuung.«
Das einzige Mal, dass ich meine Mutter zu Gott habe beten hören, war, als mein Vater krank wurde. Meine Familie war weder gläubig noch atheistisch. Sie hatten ein Nicht-Verhältnis zur Religion, wie es für unsere säkulare Gegenwart so kennzeichnend ist. Man erinnert sich erst dann an Gott, wenn man ihn braucht.
»Ich war knallharter Atheist, bis ich in die Oberstufe kam. Eine Weile war ich sogar bei der kommunistischen Jugend, habe Marx zitiert und wollte jegliche Religion abschaffen. Aber diesem Dogmatismus entwächst man wieder. Mit der Zeit wurde ich immer neugieriger auf andere Weltanschauungen.«
Ich mochte es, wie Ulrika mich ansah – als wäre ich ein Rätsel, das sie unbedingt lösen wollte.
»Dann ist etwas passiert«, sagte ich. »Im letzten Jahr vor dem Abi.«
»Was denn?«
»Ich war auf dem Heimweg von der Bibliothek, als ich eine Frau schreien hörte. Sie stand direkt am Hafenkai, sprang auf und ab, fuchtelte mit den Armen herum. Ich bin sofort hingerannt.«
Ulrika beugte sich vor. Ich sah alles vor mir, als wäre es erst gestern gewesen.
»Ihre Tochter war ins kalte Wasser gefallen. Am Kai standen noch zwei Kinder und schrien. Ich dachte nicht weiter nach. Ich stürzte mich einfach ins Wasser.«
Ulrika schnappte nach Luft, aber ich schüttelte den Kopf. Ich wollte mich nicht als Held darstellen.
»In dem Moment, als ich die Wasseroberfläche durchbrach, ist etwas passiert. Damals begriff ich nicht ganz, was es war, aber jetzt weiß ich es. Es war Gott. Ich spürte Ihn.«
Ulrika nickte nachdenklich. Weder verurteilte sie mich, noch schluckte sie meine Erzählung komplett. Sie war grau, aber auf eine gute Art.
»Mir kam es so vor, als würde in dem dunklen Wasser eine helle Lampe angeschaltet. Ich sah das kleine Mädchen und bekam es zu fassen. Eine ganz besondere Kraft erfüllte meinen Körper, ich habe mich noch nie so stark gefühlt, so entschlossen. Nichts konnte mich davon abhalten, dieses Kind zu retten. Ich musste mich kaum anstrengen. Irgendetwas Außerirdisches zog die Kleine über die Kaikante und brachte mich dazu, sie wiederzubeleben. Die Mutter und die beiden jüngeren Schwestern standen daneben und schrien, während dem Mädchen das Wasser aus dem Mund lief und es schließlich wieder zu sich kam. Im selben Moment verließ Gott meinen Körper, und ich verwandelte mich wieder in mein normales Ich.«
Ulrika blinzelte mehrmals mit offenem Mund.
»Sie hat also überlebt?«
»Alles ist gut gegangen.«
»Toll«, sagte sie und lächelte ihr wunderbares Lächeln. »Und seitdem weißt du es?«
»Ich weiß gar nichts«, sagte ich entschlossen. »Aber ich glaube.«
An jenem Samstagabend, an dem sich unser Leben bald vollkommen verändern sollte, wandte ich mich an Gott. Ich machte mir Sorgen wegen der fleckigen Bluse in der Waschmaschine und beschloss, sie Ulrika gegenüber nicht zu erwähnen. Diese Flecken konnten sonst woher kommen, sie mussten gar nichts zu bedeuten haben, und es gab keinen Grund, Ulrika weiter zu beunruhigen. Also schloss ich die Augen und betete zu Gott, dass Er gut für mein kleines Mädchen sorgen möge.
Ich lehnte an der Kücheninsel und drehte ein Glas bernsteinfarbenen Whisky in der Hand, als Ulrika die Treppe heruntergelaufen kam.
»Ich habe eben mit Alexandra gesprochen«, sagte sie atemlos. »Sie hat Amina geweckt. Die war offenbar ganz schockiert, als sie hörte, dass Stella noch nicht nach Hause gekommen ist.«
»Was hat sie gesagt?«
»Sie scheint gar nichts zu wissen.«
Ich leerte das Glas in einem Zug.
»Sollen wir ihre Kolleginnen von H&M anrufen?«
Ulrika legte Stellas Handy auf die Arbeitsplatte.
»Ich habe es schon probiert. Sie hat nur Benitas Nummer abgespeichert, und die wusste nicht, wer heute Schicht hat.«
Ich seufzte und brummte vor mich hin. Meine Sorge mischte sich mit Ärger. Begriff Stella denn gar nicht, was sie uns antat? Was für Sorgen wir uns machten?
Als das Telefon auf der Arbeitsplatte zu vibrieren begann, stürzten Ulrika und ich uns darauf. Ich war schneller und drückte den grünen Telefonhörer.
»Ja?«
Am anderen Ende meldete sich eine tiefe Stimme, die etwas abwartend klang.
»Ich rufe wegen der Vespa an.«
»Wegen der Vespa?«
In meinem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander.
»Wegen der Vespa, die zum Verkauf steht«, erklärte der Mann.
»Hier gibt es keine Vespa zu kaufen. Sie müssen sich verwählt haben.«
Er entschuldigte sich, beharrte aber darauf, dass er sich keineswegs verwählt habe. Im Internet gebe es eine Anzeige mit dieser Nummer, in der eine Vespa zum Kauf angeboten werde. Eine rosa Piaggio.
Ich murmelte etwas von einem Versehen und beendete das Gespräch.
»Wer war das?«
Ulrika klang aufgewühlt.
»Sie will die Vespa verkaufen.«
»Wie bitte?«
»Stella hat die Vespa ins Internet gestellt.«
Wir setzten uns aufs Sofa. Ulrika verschickte eine Sammel-SMS, in der sie alle, die etwas über Stellas Aufenthaltsort wussten, um Rückmeldung bat. Ich schenkte uns einen weiteren Whisky ein, und Ulrika legte Stellas iPhone vor uns auf den Tisch. Wir saßen da, starrten es an und sprangen jedes Mal auf, wenn es summte. Die Zeit stand still, während Ulrika auf dem Gerät herumwischte.
Ein paar Freunde von Stella meldeten sich, einige zeigten sich etwas beunruhigt, aber die meisten begnügten sich mit der Information, dass sie nichts wüssten.
Ich googelte Stellas Telefonnummer und stieß sofort auf die Anzeige. Sie hatte tatsächlich eine Verkaufsanzeige für die Vespa geschaltet. Ihr Geburtstagsgeschenk. Warum machte sie das?
Im Fernsehen kam eine Talkshow, und ich hielt Ulrikas Hand. Neben uns auf der Sofakante saß die Ungewissheit wie ein stummes Gespenst.
»Soll ich mal mit dem Rad herumfahren und sie suchen?«
Ulrika verzog das Gesicht.
»Ist es nicht besser, wenn wir hierbleiben?«
Ich drückte ihre Hand.
»Das darf nie wieder passieren. Ist ihr denn gar nicht klar, was für Sorgen wir uns machen?«
Ulrika war den Tränen nahe.
»Sollen wir die Polizei rufen?«
»Die Polizei?«
Das kam mir nun etwas übertrieben vor. So schlimm konnte es doch wohl nicht sein?
»Ich habe ein paar Kontakte bei der Polizei«, erklärte Ulrika. »Die könnten immerhin die Augen offen halten.«
»Das kann doch wohl nicht wahr sein!« Ich erhob mich. »Dass wir bei der Polizei anrufen müssen. Ich bin so …«
»Sch«, sagte Ulrika mit einem Finger in der Luft. »Hörst du?«
»Was denn?«
»Es klingelt.«
Ich saß ganz still da und sah sie an. Wir waren beide krank vor Sorge. Jetzt hörte auch ich den langen Klingelton.
»Das Festnetztelefon?« Ulrika stand auf.
Es ruft uns nie jemand auf dem Festnetz an.
Stella war nicht geplant. Sie war erwünscht und willkommen, ersehnt und geliebt, lange bevor sie selbst atmen konnte. Aber sie war nicht geplant.
Ulrika hatte eben ihr Juraexamen gemacht und stand kurz vor dem Referendariat, als sie sich eines Abends vor mich hinsetzte, ihre Hände über meine legte und mir tief in die Augen sah. Ihr Lächeln war beherrscht, als sie mir die großartige, aber auch erschütternde Nachricht überbrachte.
Ich hatte noch ein Jahr Theologiestudium vor mir und ein weiteres Jahr als Vikar. Wir wohnten in einer Einzimmerwohnung in Norra Fäladen und lebten vom Studiendarlehen. Die Voraussetzungen, um ein Kind in die Welt zu setzen, waren also nicht gerade optimal. Ich konnte Ulrikas Zweifel durchaus nachvollziehen. Hinter der ersten prickelnden Freude war schon bald ein ängstliches Zögern zu erahnen, aber es dauerte eine ganze Woche, ehe das Wort Abtreibung fiel.
Ulrika machte sich mit gutem Recht Sorgen um die praktischen Dinge. Finanzen, Wohnung, Ausbildung und Karriere. Wir konnten noch ein paar Jahre mit der Familiengründung warten, es hatte wirklich keine Eile.
»Mit Liebe schafft man alles«, sagte ich und führte meine Lippen zu ihrem Bauch.
Ulrika überschlug unsere Finanzen, während ich winzige Strümpfe mit der Aufschrift My dad rocks kaufte.
»Du bist doch nicht etwa gegen Abtreibung?«, hatte sie mich schon in diesen ersten verliebten Tagen fünf Jahre zuvor gefragt, als wir das Wohnheimzimmer nur selten verlassen hatten.
»Du hast eine sehr seltsame Vorstellung davon, was es heißt, christlich zu sein«, hatte ich geantwortet.
Inzwischen weiß ich, dass sie keinen Witz gemacht hatte. Mein Gottesglaube erfüllte sie mit Zweifeln und Angst. Er war die einzige Bedrohung unserer neugeborenen, sehr zerbrechlichen Beziehung.
»Ich habe nie von einem Pfarrer geträumt«, sagte sie manchmal. Damit wollte sie mich keineswegs verletzen. Es war nur ein ironischer Kommentar zu den unergründlichen Wegen des Herrn.
»Du kannst ganz beruhigt sein«, sagte ich dann. »Ich habe auch nie von einer Rechtsanwältin geträumt.«
Kein einziges Mal erwog ich ernsthaft, das Kind nicht zu bekommen. Dennoch verhielt ich mich in meinen Gesprächen mit Ulrika abwartend. Ich wollte offen für alle Möglichkeiten sein. Doch schon bald hatten wir eine gemeinsame Entscheidung getroffen.
Wir machten einen Geburtsvorbereitungskurs und übten, gemeinsam die Wehen wegzuatmen. Ulrika war morgens übel, und ich massierte ihr die geschwollenen Füße.
Eine Woche vor dem berechneten Geburtstermin weckte Ulrika mich schon um vier Uhr morgens. Sie stand am Fußende des Bettes, eingehüllt in ihre Decke.
»Adam, Adam, die Fruchtblase ist geplatzt!«
Wir nahmen ein Taxi in die Frauenklinik, doch erst als Ulrika vor mir auf dem Geburtsbett lag und sich vor Schmerzen wand, während sich die Hebamme die langen Handschuhe überstreifte, erst da wurde mir bewusst, was in diesem Moment passierte, wie viel auf dem Spiel stand und was alles schiefgehen konnte. Mir kam es so vor, als hätte ich die ganze Angst und Nervosität in meinem Inneren verborgen gehalten, bis nun alles auf einmal aus mir herausbrach.
»Sie müssen etwas unternehmen!«
»Der Papa darf sich jetzt erst mal hinsetzen«, sagte eine Schwester und zeigte auf einen Stuhl neben Ulrika. Ich hatte mich gerade auf die Sitzfläche fallen lassen, als ich schon wieder aufsprang.
»Immer mit der Ruhe«, sagte die Hebamme.
Ulrika hyperventilierte und fluchte. Sobald eine neue Wehe einsetzte, drückte sie sich hoch, schrie und schlug um sich. Ich packte ihre Handgelenke und flüsterte durch die zusammengebissenen Zähne eindringliche Gebete. Die Hebamme und die Schwestern blieben seelenruhig und behaupteten, es gebe keinen Anlass zur Besorgnis. Doch ihre Augen verrieten, dass sich irgendetwas verändert hatte. Ihre Bewegungen wurden schneller, die Instruktionen der Hebamme barscher, und bald hatte ich das Gefühl, als würde der Luftdruck im Zimmer steigen. Ein Arzt wurde herbeigerufen, der gestresstes Finnlandschwedisch sprach, und ich vernahm den Begriff Notkaiserschnitt.
»Was ist los?«, fragte ich immer wieder.
Sie hörten mich nicht mehr. Die Hebamme beugte sich zu Ulrika hinunter, ihre Stimme war sachlich und schonungslos.
»Das Kind steckt mit den Schultern fest. Bei der nächsten Wehe pressen Sie so fest Sie können. Das Kind muss jetzt raus.«
Ich drückte Ulrikas Hand. Ihr ganzer Körper bebte.
»Du schaffst es, Liebling.«
Sie erstarrte und spannte den Körper an. Es wurde vollkommen still im Zimmer, und ich konnte förmlich die Welle von Schmerz spüren, die durch ihren Körper zog, während sie ihr Becken nach oben drückte.
»Hilf mir jetzt, guter Gott!«
Die Hebamme zog und zerrte, und Ulrika brüllte, wie ich noch nie einen Menschen hatte brüllen hören. Ich hielt sie ganz fest und drohte Gott, Ihm nie zu verzeihen, wenn diese Sache nicht gut ausginge.
Die Stille fiel wie eine Decke über uns. Man hätte in diesem Moment Gott mit den Fingern schnipsen hören können. Die längste Sekunde meines Lebens. Alles, was von Bedeutung war, stand auf dem Spiel. Ich dachte an nichts, wusste aber, dass sich in diesem Moment alles entschied. In der Stille.
Als ich hinsah, entdeckte ich ihn – den bläulichen, blutigen Klumpen auf einem Handtuch. Erst begriff ich nicht, was es war. Im nächsten Augenblick wurde das Zimmer vom schönsten Kinderschrei erfüllt, den ich je gehört hatte.
Stellas Gesicht glitt an meinem inneren Auge vorbei, während ich Ulrika rasch in die Küche folgte. Obwohl unsere Tochter jetzt neunzehn war, sah ich noch immer ein Kindergesicht vor mir. Die neugierigen Augen, die Sommersprossen und die Zöpfe mit ihren bunten Haargummis.
Ulrika griff zum Festnetztelefon, das wie ein Relikt aus früheren Zeiten an der Wand hing. Kein einziges Mal ließ ich sie während des Gesprächs aus den Augen.
»Das war Michael Blomberg«, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte.
»Wer? Der Rechtsanwalt?«
»Er wurde Stella gerade als Verteidiger beigeordnet. Sie ist bei der Polizei.«
Mein erster Gedanke war, dass Stella einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Hoffentlich war es nichts Ernstes. Es wäre sogar in Ordnung gewesen, wenn jemand sie ausgeraubt oder geschlagen hätte. Alles außer Vergewaltigung.
Ich habe mit anderen Vätern über das Thema gesprochen und festgestellt, dass ich keineswegs der Einzige bin, der so schlimme Angst davor hat, dass die eigene Tochter vergewaltigt werden könnte. Vielleicht liegt es daran, dass es für uns Männer keine schlimmere Gewalttat einem anderen Menschen gegenüber gibt. Dabei können wir uns letztlich nicht ansatzweise vorstellen, wie es sein muss, ständig mit dem Risiko zu leben, einem solch schrecklichen Übergriff ausgesetzt zu werden.
»Wir müssen gleich hinfahren«, sagte Ulrika.
»Was ist denn passiert?« Ich dachte an das seltsame Telefonat und an die Anzeige im Internet. »Hat es mit der Vespa zu tun?«
Ulrika sah mich an, als hätte ich eine Schraube locker.
»Scheiß auf die verdammte Vespa!«
Auf dem Weg in den Flur stieß sie mit meiner Schulter zusammen.
»Was hat Blomberg gesagt?«, fragte ich, doch ich bekam keine Antwort.
Menschen reagieren in Schockzuständen völlig unterschiedlich, und niemand kann vorhersehen, wie er denken und agieren wird, wenn es tatsächlich ernst wird. Ich habe eine Ausbildung für Krisenintervention, ich weiß alles über die einzelnen Reaktionsphasen und habe mit einer Unzahl von Menschen gearbeitet, die sich in einer Krise befanden oder traumatisiert waren. In dieser Situation half mir nichts davon.
Ulrika nahm ihren Mantel von der Garderobe und war schon auf dem Weg zur Tür, als sie abrupt kehrtmachte.
»Ich muss nur schnell etwas erledigen«, erklärte sie und ging zurück ins Haus.
»Jetzt erzähl doch endlich. Was hat Blomberg gesagt?«
Ich ging hinter ihr her durch die Küche. An der Treppe drehte sie sich um und hielt mich davon ab, ihr weiter zu folgen.
»Warte hier. Ich komme gleich!«
Verblüfft blieb ich stehen und zählte die Sekunden. Schon bald kam Ulrika wieder herunter und drängte sich an mir vorbei.
»Was hast du gemacht?«
Ich folgte ihr durch den Flur und fragte sie erneut, was passiert sei und was Blomberg gesagt habe.
Wieder sah ich Stellas Gesicht vor mir. Das zahnlose Lächeln, die kleinen Grübchen in den weichen Wangen. Und ich dachte an alles, was ich ihr gewünscht hatte und was nicht in Erfüllung gegangen war.
Die Leute hatten uns vor den ersten Jahren gewarnt. Wir würden keinen Schlaf bekommen, das Kind würde ständig schreien, essen und in die Windeln machen, unser Zusammenleben würde den Bach runtergehen, wir würden uns streiten und hassen. Viele fanden uns viel zu jung, um Eltern zu werden. Manche schienen die Meinung zu vertreten, dass wir unser Leben ruinierten. Bisweilen empfand ich es als das reinste Wunder, dass die Menschen überhaupt noch Kinder in die Welt setzten.
Stella war ein vorbildliches Baby. Es dauerte nicht lange, bis sie durchschlief, sie konnte überall einschlafen, und wenn sie aufwachte, war sie still und ruhig, immer zufrieden, was natürlich viele irritierte. Wartet nur, sagten sie. Eure Zeit wird noch kommen. Freunde und Kollegen, Bekannte und Verwandte – alle äußerten sich zu dem Thema.
Den Herzschlag eines anderen Menschen an seiner Brust zu fühlen heißt Gott zu spüren. Stella lag auf mir, und meine Fingerspitzen konnten von ihrer weichen Haut nicht genug bekommen. Ihr kleiner Körper formte sich wie geschmolzenes Glas unter meinen behutsamen Handflächen. Wir waren uns so nah, dass ich ihre Atemzüge spürte.
Man glaubt nur zu gern, dass das Beste noch auf einen wartet. Ich denke, das ist ein ausgesprochen menschlicher Fehler. Sogar Gott lehrt uns die Sehnsucht.
Warum denkt man nie daran, wie schnell die Zeit vergeht, während sie an einem vorbeizieht?
Stellas erstes Wort war »Abba«. Damit meinte sie mich und Ulrika. Heutzutage verbinden die meisten Schweden dieses Wort mit dem gleichnamigen eingelegten Hering oder mit Popmusik, aber in der Sprache Jesu, dem Aramäischen, bedeutet Abba Vater.
Vier wunderschöne Herbstmonate war ich in Elternzeit und sah, wie sich Stellas Persönlichkeit von Tag zu Tag weiterentwickelte. In der Eltern-Kind-Gruppe der Kirchengemeinde wurde mir gesagt, sie sei ein totales Papakind. Ich glaube, ich habe die Bedeutung davon erst begriffen, als es schon zu spät war. Im Nachhinein empfinde ich es als Ironie des Schicksals, dass es mir nicht gelungen ist, auch nur eine einzige Minute festzuhalten. Der Augenblick ist mir immer entwischt.
Ich bin zur Sehnsucht verurteilt.
Wir standen im Flur. Meine Hand auf der Türklinke. Ulrika zitterte am ganzen Körper.
Warum hatte Michael Blomberg angerufen? Was machte Stella bei der Polizei?
»Bitte erzähl es mir«, sagte ich.
»Ich weiß doch auch nur, was Michael gesagt hat.«
Michael Blomberg. Ich hatte seinen Namen schon länger nicht mehr gehört. Blomberg war nicht nur in juristischen Kreisen ein bekannter Name. Er hatte Karriere als einer der besten Strafverteidiger des Landes gemacht und dabei Mandanten in zahlreichen aufsehenerregenden Prozessen vertreten. Man sah ihn in der Zeitung und als Experten im Fernsehen. Er war es, der einst Ulrika unter seine Fittiche genommen und ihr den Weg zum Erfolg als Verteidigerin geebnet hatte. Ich hatte ihn nie besonders gemocht und hielt ihn für rücksichtslos und überheblich.
Ulrika keuchte. Ihre Augen flatterten wie aufgeschreckte Vögel.
Sie versuchte, sich an mir vorbei durch die Türöffnung zu pressen, aber ich hielt sie auf und umfasste sie mit meinen Armen.
»Man hat Stella vorläufig festgenommen.«
Ich hörte, was sie sagte, die Worte drangen zu mir durch, aber ich verstand sie nicht.
»Das muss ein Missverständnis sein.«
Ulrika schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment sackte sie an meiner Brust zusammen, und ihr Handy fiel auf den Boden.
»Sie steht unter Mordverdacht.«
Ich erstarrte und musste an Stellas fleckige Bluse denken.
Ulrika rief ein Taxi, während wir zur Straße liefen. An der Wertstoffsammelstelle ließ sie meine Hand los.
»Warte mal kurz«, sagte sie und ging zwischen den Tonnen und Behältern hindurch.