Dunkelkaltes Schweigen - Mattias Edvardsson - E-Book

Dunkelkaltes Schweigen E-Book

Mattias Edvardsson

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Beschreibung

Zwei schemenhafte Umrisse vor dem schwarzen Ozean. Ein Schuss. Und dann, Stille … Der neue packende Roman von SPIEGEL-Bestsellerautor Mattias Edvardsson

Trelleborg, Südschweden. Zwei Paare, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: Jari und Maria sind beruflich erfolgreich und gesellschaftlich etabliert, Sasho und Linda arbeiten im Supermarkt und führen ein bescheidenes Leben. Als sich ihre Kinder Amanda und Niko ineinander verlieben, prallen ihre Welten aufeinander. Gegen den Willen ihrer Eltern werden die beiden ein Paar. Doch dann endet ein nächtliches Treffen der beiden tödlich. Und schon bald wird klar, dass diese Tragödie ein noch viel dunkleres Geheimnis verbirgt …

Sie lieben meisterhaft erzählte skandinavische Spannung? Dann lesen Sie auch die anderen Romane von Mattias Edvardsson.

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Seitenzahl: 440

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BUCH

Trelleborg, Südschweden. Zwei Paare, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Jari und Maria sind beruflich erfolgreich und gesellschaftlich etabliert, Sasho und Linda arbeiten im Supermarkt und führen ein eher bescheidenes Leben. Als sich ihre Kinder Amanda und Niko ineinander verlieben und ein Paar werden, prallen zwei Welten aufeinander. Doch dann endet ein nächtliches Treffen der beiden tödlich. Und schon bald wird klar, dass diese Tragödie ein noch viel dunkleres Geheimnis verbirgt …

AUTOR

Mattias Edvardsson lebt mit seiner Frau und den beiden gemeinsamen Töchtern außerhalb von Lund in Skåne, Schweden. Nachdem er lange als Gymnasiallehrer für Schwedisch und Psychologie gearbeitet hat, konzentriert er sich inzwischen ganz auf das Schreiben. Mit seinen Romanen eroberte er auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde nicht nur von den Leser*innen gefeiert, sondern auch von der Presse hochgelobt. Edvardssons Handwerk ist der Grusel im Alltäglichen. Mit Dunkelkaltes Schweigen erscheint jetzt der fünfte Roman des Bestsellerautors bei Limes.

Mattias Edvardsson

Dunkelkaltes Schweigen

Roman

Deutsch von Annika Krummacher

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Lova mig tystnad« bei Bökförlaget Forum, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2023 by Mattias Edvardsson

Published by agreement with Ahlander Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung- und motiv: www.buerosued.de

JaB · Herstellung: DiMo

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31633-4V001

www.limes-verlag.de

Erziehung ist ein Talent, das nur sehr wenigen gegeben ist.

Bjørnstjerne Bjørnson

Die Mordnacht

Die Finsternis war dort am zerbrechlichsten, wo der Himmel und das Meer aufeinandertrafen und eine schwache Linie die Schwärze zerteilte. Das Wasser lag vollkommen still da. Wie ein Pfeil schoss der lange Badesteg durch die Dunkelheit.

Der Mann hielt die junge Frau an der Hand. Ehe sie in den Sand hinabstiegen, blieb er stehen und sah sich um. Die Frau schien zu zögern. Sie stemmte die Fersen in den Boden und verharrte, während der Mann schon den nächsten Schritt machte. Die Arme der beiden waren vollkommen ausgestreckt.

Die ungewohnte Stille hatte beinahe etwas Sakrales an sich. Sogar das Meer schwieg. Der Mann und die Frau bewegten sich ruckhaft durch den Sand auf den Steg zu, der im nachtfarbenen Licht badete.

Die kleine Stadt schlummerte in der Wiege der Septembernacht. Man kam der Ruhe wegen hierher. Es war das Gefühl von Geborgenheit, das die Menschen zum Bleiben veranlasste. Wenn jemand wegging, dann oft, weil nie irgendetwas passierte.

In dieser Nacht passierte alles auf einmal.

Das Schweigen wurde durch einen gewaltigen Knall zerrissen. Der Schuss hallte zwischen Himmel und Meer wider und blieb wie ein Echo in der Nacht hängen.

Ein Tag vor dem Mord

»Vorteil für uns. Matchball.«

Jari Kekkonen betrachtete seine älteste Tochter auf der anderen Seite des Netzes und ließ den Ball vor dem Aufschlag zweimal auftippen.

Es war eine Familientradition geworden: jeden Donnerstagabend anderthalb Stunden in der Padeltennishalle. Die Sportart hatte Jari gepackt, er liebte den Wettkampf und seine eigenen Fortschritte auf dem Feld, aber er schätzte auch die Qualitätszeit mit den beiden Teenagertöchtern Isabella und Amanda.

Isabella retournierte den Aufschlag mit einer leichten Rückhand. Der Ball flog zu Maria, der Mutter der beiden Mädchen, und in einem schwachen Moment erwog Jari, sich dazwischenzuwerfen und ihnen mit einem Smash den Ballgewinn zu sichern – Spiel, Satz und Sieg –, aber es gelang ihm in der letzten Sekunde, sich zu beherrschen und Maria stattdessen den Ball zu überlassen.

»Gut!«, rief Jari, als sie mit einem Topspin den Ball zurückspielte, der das Netz berührte und dann genau zwischen den Töchtern auf der anderen Seite aufprallte. Die beiden hatten keine Chance. Sie hoben ihre Schläger und wechselten wütende Blicke.

»Super, Schatz!« Jari tippte Marias Schläger an, ehe er sich den Schweiß von der Stirn wischte.

Isabella und Amanda schlurften mit hängenden Köpfen vom Spielfeld.

»Ihr habt auch gut gespielt.« Lächelnd hielt Jari ihnen den Schläger hin, um sich zu bedanken.

Bei diesen Familienmatches waren die beiden Teams ungefähr gleich stark. Die achtzehnjährige Isabella war eine echte Kämpferin. Ihren durchtrainierten Körper hatte sie vom Fußballspielen, ihren Sisu, den finnischen Kampfgeist, von Jari. Die zwei Jahre jüngere Amanda war eher ein graziler Typ und hatte sich immer schon auf Tanz und Gymnastik konzentriert. Als sie vor einem Jahr mit Padeltennis begonnen hatten, war die Rückhand ihr Schwachpunkt gewesen, und bisweilen musste Jari sich zurückhalten, damit er dies nicht allzu sehr ausnutzte.

Auf dem Parkplatz hakte Maria sich bei ihm unter. »Jetzt geht es dir gut, oder?«

Das ließ sich nicht leugnen. Das Siegergefühl breitete sich angenehm warm im Körper aus. Natürlich war das albern. Schließlich handelte es sich um ein Padelmatch innerhalb der Familie. Aber Jari war es immer wichtig gewesen zu gewinnen – sei es bei einem Ligafinale im Fußball, sei es bei einer Partie Schwarzer Peter mit einem Gegner, der gerade erst seine Milchzähne verloren hatte.

In gewisser Art und Weise war es Jaris Siegermentalität zu verdanken, dass er jetzt neben Maria im Mercedes saß. Als sie sich kennenlernten, war sie zögerlich und abweisend gewesen. Aber Jari hatte nicht aufgegeben. Sein Leben lang hatte ihn der starke Wille angetrieben, es ihnen mal so richtig zu zeigen … wem auch immer. Seinen Eltern? Den früheren Klassenkameraden? Den Mädels, die ihn routiniert in die Schublade guter Freund gesteckt hatten?

»Ich liebe dich«, sagte er zu Maria, während sie an den Schafen vorbeifuhren, die noch immer auf den Hügeln am Maglarpskreisel grasten, dort, wo die E 6 am südlichen Ende der schwedischen Küste immer schmaler wurde.

»Weil ich das Match für uns entschieden habe?«

»Nicht nur deshalb.«

Sie berührte seinen Ellbogen und lächelte. »Was für ein Glück.«

»Du hast außerdem im ersten Satz verdammt gute Aufschläge gespielt.«

Er lachte über seinen eigenen Scherz. Auf der Rückbank seufzten die Töchter, und Jari fing ihre Blicke im Rückspiegel auf, während er wegen einer Reiterin am Straßenrand das Tempo drosselte.

»Ich liebe euch auch«, sagte er. »Obwohl ihr keine Padelprofis seid.«

Die Mädchen verdrehten die Augen.

»Padel ist sowieso kein richtiger Sport«, meinte Isabella und ihre kleine Schwester nickte. »Eine alberne Tennisvariante für die privilegierte Mittelklasse.«

Wieder lachte Jari, dann bog er nach Stavstensudde ab. Als er in den Achtzigern und Neunzigern in Trelleborg aufwuchs, war das alles hier draußen eine einzige Wüste gewesen. Windgepeitschte Felder, schwarze Äcker und viele Möwen. Die Stadt hatte an der Müllkippe und dem Wäldchen geendet, das Albäcksskogen genannt wurde. Doch im Zusammenhang mit einer Immobilienmesse kurz nach der Jahrtausendwende war ein neues Wohngebiet zwischen der Autobahn und dem Meer entstanden, von wo aus es sich gut nach Malmö pendeln ließ, und das, was früher Kurland geheißen hatte, wurde in Stavstensudde umbenannt. Jari vermutete, dass dieser Name attraktiver klang.

Während er das Auto vor dem Haus parkte, schnallte sich Amanda auf der Rückbank ab. »Ich wollte morgen bei Millan übernachten.«

Ohne nachzudenken, antwortete er: »Das wirst du nicht tun.«

Als er den Motor ausschaltete, starrte Maria ihn an, und er wusste genau, was dieser Blick bedeutete.

Der Mordtag

Jari verließ das Büro am Freitag schon vor vier Uhr, kaufte noch etwas Wein und hatte bereits gekocht, als Maria etliche Stunden später zu Hause eintraf.

»Das duftet wunderbar.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sah mindestens so angestrengt aus wie nach dem Padelspiel am Vortag. »Schaffe ich es noch zu duschen?«

»Na klar.«

Als sie eine Weile später mit nassem Haar zurückkam, wirkten ihre Schultern nicht mehr so verkrampft. Mit einem entspannten Lächeln erhob sie ihr Weinglas. »Ich muss nächstes Wochenende nach Brüssel. Die inkompetenten Belgier haben es wieder vermasselt.«

»Nächstes Wochenende?«

»Verdammt.« Es war ihr offenbar wieder eingefallen. »Ist es das Wochenende, an dem du nach Västergötland fährst?«

Er nickte kurz. In den letzten Jahren war er jeden Herbst mit ein paar Freunden zur Jagd gefahren. Ursprünglich hatte er den Jagdschein wegen des sozialen Miteinanders gemacht, aber bald war er der Herausforderung erlegen, dem Wettkampfaspekt, und mittlerweile hatte er sich der jährlichen Jagd mit Haut und Haaren verschrieben.

»Die Mädchen kommen doch allein klar«, sagte Maria. »Sie sind ja keine Kleinkinder mehr.«

Jari schluckte und zählte bis drei. Genau das beunruhigte ihn: dass sie keine Kleinkinder mehr waren. Vor zehn Jahren hatten er und Maria vollkommen unbesorgt in der ganzen Welt geschäftlich herumreisen können, aber zwei junge Mädchen im Alter von Isabella und Amanda konnte man nicht mehr bei der Oma, einer Tante oder einer anderen Babysitterin abgeben. Man erwartete von ihnen, dass sie auf eigenen Beinen standen und allein zu Hause bleiben konnten, doch das bezweifelte Jari, wenn er an sein eigenes Urteilsvermögen in diesem Alter zurückdachte. Oder besser gesagt, an sein mangelndes Urteilsvermögen.

»Soll ich auch für Sixten decken?«, fragte er, ehe er die Teller zum Esstisch trug.

»Ich glaube nicht«, sagte Maria. »Er wollte heute zu Hause schlafen. Die haben morgen ein wichtiges Auswärtsspiel mit der U 21.«

Isabellas Freund war in den letzten Jahren zu einer Art Familienmitglied geworden. Er wohnte nur zwei Straßen weiter, verbrachte aber mehr Zeit bei ihnen als zu Hause.

»Für mich brauchst du auch nicht zu decken!«, rief Isabella aus dem Flur, wo sie mit ihren Chucks in der Hand auf der Bank saß. »Ich bekomme bei Sixten was zu essen.«

Kaum war sie aus der Haustür, kam auch schon Amanda die Treppe heruntergelaufen. »Ich esse auch nicht hier.«

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Jari.

Maria warf ihm wieder diesen Blick zu. »Das ist doch nicht so wichtig.«

»Nein, nein.« Aber schließlich hatte sie auch nicht eine ganze Stunde investiert, um das Gemüse im Airfryer zu garen und eine Soße zuzubereiten.

Jari war schon seit über zehn Jahren Mannschaftskapitän auf dem Fußballplatz. Die Rolle als Projektleiter lag ihm und die Trainer nannten ihn den geborenen Anführer. Auch in der Familie hatte er mehr oder weniger unbewusst diese Rolle übernommen. Er machte den Wocheneinkauf und kochte, bezahlte die Rechnungen, buchte Reisen, lud Freunde ein und organisierte gesellige Abende und Feiern.

»Ich schlafe bei Millan«, erklärte Amanda und stopfte einen dicken Pullover in ihre Tasche. »Mama hat gesagt, ich darf.«

»Jaja.« Wie meistens hatte Jari die Auseinandersetzung mit Maria nach dem Padel gestern verloren.

Eigentlich verstand er nicht, warum Amanda bei Freundinnen übernachten musste, wenn sie ohnehin die halbe Nacht wegbleiben durfte. Maria fand ihn paranoid, aber Jari hielt sich für einen Realisten: Alle Teenager verbargen etwas vor ihren Eltern.

»Ruf an, wenn was ist.« Maria umarmte Amanda im Flur.

»Du.« Jari sah seine Jüngste versöhnlich an. »Eine Umarmung?«

Amanda lächelte und stellte sich auf die Zehenspitzen. Ihre weiche Wange berührte seine.

»Hab dich lieb«, sagte Jari. Er würde versuchen, sich nicht zu viele Sorgen zu machen.

»Ich dich auch, Papa.«

Nichts war so magisch wie der Blick in die Augen seines eigenen Kindes, auch wenn ihn der Gedanke quälte, dass mit jedem Blick die gemeinsame Zeit kürzer wurde. Sein Kind aufwachsen zu sehen, war ein Abschied auf Raten.

Amandas Duft hing ihm noch in der Nase, als die dunklen Haare davonflatterten und sie die Tür hinter sich zuzog. Eine bleierne Leere überfiel ihn. Das Mädchen, das einmal als kleines Bündel auf seinen Knien geruht hatte, das auf dem Sofa Purzelbäume geschlagen und den Garten zu einem Steckenpferdparcours umgebaut hatte, dieses Mädchen gab es nicht mehr.

Während er hinter der geschlossenen Haustür stand, verspürte er ein dumpfes Gefühl im Bauch. Er dachte an die Geschichte, die Amanda ihm erzählt hatte, als er sich bei ihr erkundigt hatte, ob mit Niko Palevski Schluss sei. Von dem Mädchen, das sich das Leben genommen hatte. Er hatte nicht gewusst, wie er reagieren, was er sagen sollte. Jetzt bereute er, nicht nachgefragt zu haben.

Um Viertel nach zehn beendeten Sasho und Linda ihre Abendschicht im Ica-Supermarkt.

»Jetzt mach schon«, sagte Linda und schloss ihr Fahrrad auf. »Ich habe Niko vor einer Weile eine Nachricht geschickt, aber er hat noch nicht zurückgeschrieben.«

Ihr Sohn hatte einen Gamingabend mit einem Freund geplant, und die Eltern hatten es ihm erlaubt unter den üblichen Bedingungen: weder Snus noch E-Zigaretten, auf gar keinen Fall Alkohol und nur leise Musik.

»Warum antwortet er nicht?« Linda trat in die Pedale, während sie die Küstenstraße entlangfuhren.

»Sie gamen doch«, sagte Sasho. »Merkst du das?« Er ließ den Lenker los und streckte die Hand aus. »Es weht gar nicht.«

Seit bald zwanzig Jahren radelten sie zusammen zur Arbeit bei Ica Maxi und wieder nach Hause. Die Strecke führte am westlichen Küstenstreifen von Trelleborg entlang und bot ihnen kostenlose Bewegung und frische Luft. Das Auto war richtigem Schietwetter vorbehalten und das hieß mit Trelleborger Maß gemessen Sturm mit Windstärke neun oder seitlich fallender Regen mit käfergroßen Tropfen.

»Es sind doch nur Niko und Teo zu Hause, oder?«, fragte Sasho. »Was sollte schon passieren?«

Wie üblich hatte Linda alles organisiert. Sie hatte Mittagessen vorbereitet, Pizza bestellt und die gesamte Kommunikation in Sachen Gamingabend übernommen.

»Ich bin so froh, dass ihm Teo geblieben ist«, sagte sie.

Sasho konnte ihr nur zustimmen. Etliche Monate lang hatte Niko für niemand anderen Zeit gehabt als für seine Freundin Amanda und seit dem Ende ihrer Beziehung im Frühling hatten sie kaum je irgendwelche Freunde von ihm gesehen.

Sie fuhren an ein paar Lkw-Fahrern vorbei, die rauchend am Straßenrand standen und lachten. Das Meer rollte langsam gegen die Steine am Strand. In dem säuerlichen Tanggeruch lag etwas Erfrischendes. Einige fanden ihn furchtbar, einen Schandfleck für die Stadt. Seit Sashos Kindheit hatte man verschiedene Eliminierungsmethoden diskutiert. Gewisse Versuche waren unternommen worden, aber der Mief hatte sich in der Seele der Stadt festgesetzt und fiel Sasho kaum noch auf. Ein Geruch war nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Assoziationen, die er weckte, und für Sasho war es der Geruch nach Heimat.

Allmählich wurden die Beine schwer. Trelleborg war eine längliche Stadt. Sie erstreckte sich entlang der Küste ganz im Süden Schwedens von Stavstensudde und dem Golfclub im Westen bis zum Dalabad und Gislövs Strandmark im Osten. Irgendwo durchs Stadtzentrum verlief eine unsichtbare, aber darum nicht weniger wichtige Scheidelinie zwischen West und Ost.

Linda war im Osten geboren und aufgewachsen, wie schon ihre Eltern und Großeltern. Als sie und Sasho zu Beginn des neuen Jahrtausends sich nach einem Haus umgeschaut hatten, war es für Linda undenkbar gewesen, in einen anderen Teil der Stadt zu ziehen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Sasho, als Linda sich zum tausendsten Mal geweigert hatte, ein Haus zu besichtigen, nur weil es im Westteil der Stadt lag. »Wir wohnen doch nicht in Los Angeles. Man fährt mit dem Rad in einer Viertelstunde von der einen Seite der Stadt zur anderen.«

»Jetzt übertreibst du aber. Wie kannst du das nur so auf die leichte Schulter nehmen? Ich würde eher nach Stockholm ziehen, als im Westen von Trelleborg zu wohnen. Einmal Osten, immer Osten«, entgegnete Linda und zuckte mit den Schultern.

Manche fanden den Osten der Stadt schäbiger, ein bisschen dreckiger, eher Arbeiterklasse. Dort hatte man in den Siebzigern die einzigen Hochhäuser in Trelleborg gebaut. Man sprach im Osten mehr Sprachen und die Menschen schlossen nachts die Türen ab. Aber im Osten gab es auch Kopfsteinpflaster und schöne alte Häuser mit Wasserpumpe auf dem Innenhof und Milchkannen aus Zink. Das Meer in der einen Richtung und Rapsfelder in der anderen.

Sasho begriff trotzdem nicht, warum man das kleine Trelleborg in Ost und West teilen sollte. Am liebsten hätte er ein Haus in Malmö oder Helsingborg gekauft, aber es war für Linda unvorstellbar, die Stadt ihrer Kindheit zu verlassen.

Am Ende landeten sie in der Färgaregatan im Osten Trelleborgs in einem unterkellerten Bungalow, der so nah an der Gummifabrik lag, dass man im Garten einen schwachen Duft von Petroleum und Schwefel wahrnehmen konnte, wenn der Wind aus der entsprechenden Richtung kam. Noch ein Geruch, den Sasho nicht nur ertrug, sondern sogar angenehm fand.

Ohne die Gummifabrik hätte es ihn nämlich gar nicht gegeben.

Seine Eltern waren auf zwei unterschiedlichen Seiten des Baba-Gebirges im südlichen Teil dessen aufgewachsen, was damals Jugoslawien hieß und später zu Mazedonien und schließlich zu Nordmazedonien geworden war. In der Mitte der Sechzigerjahre waren die Eltern, ohne von der Existenz des jeweils anderen etwas zu ahnen, als Industriearbeiter für eine Gummifabrik zweitausend Kilometer weiter nördlich angeheuert worden, in einem Land, von dem sie nichts wussten. Sie waren nicht einmal zwanzig Jahre alt gewesen. Ursprünglich hatten sie nur ein Jahr bleiben wollen. Sashos Vater war bis zu seinem Tod in Schweden geblieben und seine Mutter Vaska lebte noch immer hier.

Als Sasho an ihrer Wohnung in Borggården vorbeifuhr, hob er wie immer die Hand und winkte, obwohl das Rollo im Schlafzimmer heruntergezogen war und die Mutter vermutlich längst schlief.

Vor dem Haus in der Färgaregatan sprang er vom Fahrrad und schob es über den Bordsteinrand. Die Kellerfenster waren erleuchtet.

»Glaubst du, Teo ist noch da?«, fragte Sasho.

Sein E-Scooter stand nicht auf der Einfahrt.

»Scheint nicht so.«

Sasho sah auf die Uhr. Bald halb elf. Niko war definitiv keine Nachteule. Er hing nicht mit Gleichaltrigen draußen herum, ging nicht auf Partys oder in Clubs. Seit zwei Wochen besuchte er die zehnte Klasse am einzigen Gymnasium der Stadt, wo er den naturwissenschaftlichen Zweig belegte. Er war ehrgeizig und leistungsstark, investierte unendlich viel Zeit in die Schule. Manchmal fragte sich Sasho, ob sie überhaupt miteinander verwandt waren.

Nachdem er die Fahrräder in den Schuppen gestellt hatte, schloss Linda die Haustür auf. Aus dem Keller perlten Klaviertöne in eleganten Bögen herauf.

»Chopin«, sagte Linda.

Sasho zuckte mit den Schultern. Er stand eher auf Metallica als auf klassische Klaviermusik.

Zusammen gingen sie die Kellertreppe hinunter. Seit einigen Jahren schlief Niko hier unten und der ehemalige Partykeller hatte sich in eine Teenagerhöhle mit Ledersofa, 52-Zoll-Fernseher, Rechner und Spielekonsole verwandelt.

Jetzt saß ihr halbwüchsiger Sohn mit geradem Rücken auf dem Klavierhocker, während die Finger federleicht über die Tastatur flogen. Linda blieb auf der untersten Treppenstufe stehen, drehte sich um und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. Da hörte Niko mitten im Stück auf.

»Wie schön«, sagte Linda, als er sich erhob.

Niko war klein und kompakt mit kräftigen Oberschenkeln und Waden, breiten Schultern und muskulösen Oberarmen. Wenn Sasho seinen Sohn betrachtete, kam es ihm so vor, als stünde er vor einem Spiegel mit einer Direktverbindung in die Neunziger.

»Ist alles gut gelaufen?«, fragte Linda.

»Hm.«

»Wie lange ist Teo geblieben?«

Sie durchquerte den Partykeller und blieb abrupt vor dem Schlafzimmer stehen. Sasho stellte sich neben sie.

»Hallo.« Auf Nikos Bettkante saß Amanda.

Sasho traute kaum seinen Augen, aber hatte sich bald gefasst. »Wie nett, dich wiederzusehen.«

Linda fiel es schwerer, ihr Erstaunen zu verbergen. »Aha?«

Auf der Treppe nach oben schob Sasho seine geballte Faust in die Hosentasche. Er schämte sich, denn eigentlich sollte es sich nicht so anfühlen. Er sollte sich für Niko freuen.

Ein Jahr vor dem Mord

Auf dem Jahrmarkt roch es nach Popcorn und Schweiß, die Fahrgeschäfte quietschten, und der Bass dröhnte. Amanda musste ihrer Freundin Millan ins Ohr brüllen, um sich verständlich zu machen. »Guck mal da!«

Er stand in der Schlange am Tornado und trug eine coole graue Stoffhose und braune Wildlederschuhe, komplett anders als die langweiligen Typen an der Schule.

»Hab ihn noch nie gesehen«, sagte Millan. »Er kann nicht von hier sein.«

Trelleborg war trotz allem so klein, dass man einen Überblick über alle hatte, bei denen es sich lohnte.

»Komm«, sagte Amanda und schleifte Millan mit zum Tornado.

Am Wagen, wo Krapfen verkauft wurden, stand Kevin mit der Clique der Jungen, die im Sommer die Neunte abgeschlossen hatten. Amanda wandte sich ab und versuchte, unauffällig vorbeizuhuschen, doch es war zu spät.

»Na, wann poppen wir beiden mal, Amanda?«, rief Kevin.

Sie drehte sich um und streckte den Mittelfinger hoch. »Wenn dein Schwanz länger ist als mein Finger.«

Millan lachte hysterisch und die Jungs klopften Kevin auf den Rücken. Amanda machte gute Miene zum bösen Spiel, aber innerlich zerbrach sie.

Das Palmenfestival war das letzte Aufbäumen des Sommers. Die Schule hatte schon angefangen, aber es waren noch immer fünfundzwanzig Grad. Amanda und Millan hatten beschlossen, aus dem Wochenende etwas ganz Legendäres zu machen.

Sie kamen in dem Moment am Tornado an, als die Letzten in der Schlange die Stahltreppe hinaufstürmten, um sich eine Gondel zu sichern.

»Wir wollen mitfahren«, sagte Amanda zum bärtigen Schausteller, der direkt vor ihrer Nase die Absperrkette befestigte.

»Zu spät.« Der Mann würdigte sie keines Blickes.

»Please.« Amanda beugte sich so weit vor, dass dem Barttypen ihr Ausschnitt unmöglich entgehen konnte. Sie zeigte auf die rosa schimmernde Gondel, wo der Typ mit der Stoffhose neben seinem Kumpel saß. »Da sind doch noch zwei Plätze frei.«

Ohne zu zögern, packte sie das kalte Metall und machte die Kette wieder los. Als der Karussellmitarbeiter sich wehrte, klimperte sie mit den Augenwimpern und ließ ihre Fingerspitzen über seine verschwitzte T-Shirt-Brust gleiten. »Please, please, please.«

Fünf Sekunden später klemmte sie sich neben den gut aussehenden Typen in die rosa Gondel.

Jari und Maria waren ebenfalls auf dem Festival, auch wenn Jari – wie die meisten seiner Generation – es noch immer den Mikaelimarkt nannte. Sie hatten an einem Stand in der Fußgängerzone Brathering gegessen und sich eine Weile zwischen den fliegenden Händlern herumgetrieben, die Pullover mit Wolfsmotiv, Lakritzschnüre und Elchwurst verkauften. Jetzt saßen sie in dem vollgestopften Bierzelt mit je einem übervollen Plastikbecher in der Hand, während die örtliche Coverband auf tiefer gestimmten Gitarren eine schwedische Version von Sarà perché ti amo spielte.

»Sag es mir noch mal: Warum gehen wir eigentlich hierher?«, brüllte Jari über den Tisch hinweg. Er meinte sich zu erinnern, dass er ihr schon letztes Jahr dieselbe Frage gestellt hatte.

Maria sah ihn nicht an. Systematisch, einen nach dem anderen, scannte sie die Tische ab, nickte, lächelte und winkte.

»Weil es Spaß macht, sich Leute anzuschauen«, sagte sie.

Jari verstand nicht, warum das Spaß machen sollte. Ein Pils zu kippen und Hering zu essen mochte ja okay sein, aber dazusitzen und Leute anzuglotzen? Sicher war es für Maria anders, weil sie nicht hier aufgewachsen war. Sie brauchte sich nie Sorgen zu machen, plötzlich einem Gespenst von früher in die Augen starren zu müssen.

Es war ein Nachteil, wenn man in einer Kleinstadt aufwuchs und sein Leben lang dort wohnen blieb, denn schließlich taten andere Menschen dasselbe. Und in einer Stadt wie Trelleborg mit ihren etwa dreißigtausend Einwohnern bestand ein hohes Risiko, dass man Menschen mehr als einmal begegnete. Irgendjemand, den man in der Grundschule geärgert, dem man eins aufs Maul gegeben oder mit dem man später mal im Bett gelandet war.

Jari kippte das restliche Bier hinunter und wischte sich den Schaum vom Mund, während der Schlagzeuger die Drumsticks erhob und mit dem Intro von Nichts hält uns jetzt auf loslegte. Die Tanzfläche füllte sich, die Zapfhähne liefen heiß, und das Atmen im stickigen Zelt fiel immer schwerer.

»Wollen wir eine Runde auf dem Jahrmarkt drehen, bevor wir nach Hause radeln?«, schlug Jari vor.

Maria warf ihm den üblichen Blick zu.

»Was ist?« Er zuckte beleidigt mit den Schultern. »Ich habe nicht gemeint, dass wir spionieren sollen.«

»Ach?«, gab Maria skeptisch zurück. »Du willst dir also nur die Fahrgeschäfte ansehen?«

»So was in der Art, ja.«

Es war albern von Maria, ihm immer wieder vorzuhalten, dass er Amanda nicht vertraute. Denn sie steckte mitten in der Pubertät, war eher wild als zahm und verfügte über ein ähnliches Verständnis für die Konsequenzen ihres Handelns wie ein Jack Russell auf Speed.

Mit Isabella war alles so einfach gewesen. Sie war verantwortungsbewusst und vernünftig. Sie hatte ihren Fußball und Sixten und lebte mehr oder weniger ein Rentnerleben, während andere Gleichaltrige die Grenzen austesteten, Drogen ausprobierten und ein ausschweifendes Sexualleben führten. Ihretwegen hatte sich Jari nie Sorgen gemacht. Mit Amanda war es etwas ganz anderes.

Jari erhob sich etwas steif von der unbequemen Bank, Maria hängte sich die Tasche über die Schulter, und dann navigierten sie im Slalom durchs Zelt zwischen schweißnassen Körpern, aufgeknöpften Hemden und Händen, die schäumendes Bier balancierten. Draußen im Park senkten sich die Schatten der Dämmerung zwischen den Bäumen herab. Der Jahrmarkt blinkte und jaulte.

Jari legte den Arm um Maria. Sie blieben stehen und blickten über den Platz, wo die Gondeln des Riesenrades knarzten, langsamer wurden und ein paar Male hin und her schaukelten, ehe sie reglos in der Luft hingen.

Ganz oben im Riesenrad beugte sich Amanda über den Rand und pfiff auf zwei Fingern. Unten drehten sich ein paar Nerds aus der Parallelklasse um.

»Dürft ihr so spätabends überhaupt noch draußen sein?«, rief sie. »Sesamstraße ist gleich vorbei!«

»Setz dich mal hin«, sagte Millan, die ganz weiß im Gesicht war. Sie litt unter Höhenangst, hatte sich aber nicht getraut zu protestieren, nachdem die beiden Jungs vom Tornado mitgekommen waren.

»Es müsste eigentlich Chicagorad heißen«, sagte der Typ mit der Anzughose, der sich als Niko vorgestellt hatte.

»Ich dachte, es kommt aus Paris?«, meinte Amanda.

»Nope. Chicago.« Niko schien zu wissen, wovon er sprach. »Der Typ, der das Riesenrad erfunden hat, hieß Ferris. Deshalb heißt es auf Englisch auch Ferris wheel.«

»Das heißt, die Schweden haben es falsch verstanden und nennen es deshalb Pariser Rad?« Amanda lachte. »Wie cringe ist das denn?«

Sie rutschte so nah an ihn heran, dass ihre Knie sich berührten. Die Gondel ruckelte, dann setzte sich das Riesenrad wieder in Bewegung. Es zog im Bauch und zwischen den Beinen. Langsam sanken sie in Richtung Erde.

»Warum hab ich euch noch nie irgendwo gesehen?« Amanda starrte Niko an, der heftig auf seinem Kaugummi herumkaute.

»Du hast vermutlich an den falschen Orten geschaut.«

Er klang total arrogant. Dann sah er ihr direkt in die Augen, bis die überhebliche Selbstsicherheit in sich zusammenfiel und ein Lachen heraussprudelte.

Wieder so ein Amandatyp. Exakt die Sorte, auf die sie nie wieder reinfallen wollte. Das hatte sie sich geschworen.

»Shit, Amanda!« Millan stellte sich hin und zeigte mit dem Finger. »Deine Eltern!«

»Soll das ein Witz sein?« Doch da unten umrundeten tatsächlich ihre Eltern gerade den großen Seeschlangenbrunnen Hand in Hand. »Typisch Papa.«

Ihre Mama war immer ziemlich gechillt gewesen. Während ihren Klassenkameraden jede Menge Regeln aufgezwungen worden waren, hatte Amanda gespürt, dass Mama ihr voll vertraute. Doch Jari war immer schon ein Gluckenpapa gewesen.

»Die waren vermutlich einfach nur im Bierzelt«, sagte Niko.

Amanda funkelte ihn genervt an. »Du kennst meinen Papa nicht.« Sie sackte ein Stück zusammen, damit sie sie nicht entdeckten. »Das würde er bei Isabella nie machen.«

»Ihre Schwester«, erklärte Millan den Jungen. »Sie hat in allen Fächern eine Eins.«

»Außer in Mathe«, korrigierte Amanda sie.

Am Autoscooter blieben ihre Eltern stehen. Papa sah sich bei den blinkenden Maschinen um, wo man Basketbälle in einen Korb werfen oder mit der geballten Faust auf einen Boxball einschlagen konnte. Sein besorgter Gesichtsausdruck war nicht zu übersehen. Warum konnte er sich nicht einfach entspannen?

Als sie aus der Gondel stiegen, waren die Eltern verschwunden. Amanda spürte Nikos Atem im Nacken und eine diskrete Berührung am unteren Ende des Rückens. Das Kribbeln auf der Haut kam ihr nur zu bekannt vor. Die Musik verwandelte sich in ihren Ohren in ein entferntes Summen, der schwere Bass vermischte sich mit ihrem Herzschlag.

Sie pressten sich hinter einen Wagen mit einem tickenden Schokoglücksrad, stiegen über dicke Elektrokabel und standen sich schließlich in dem engen Spalt direkt gegenüber. Nikos Blick war zielsicher, seine Hände tasteten suchend unter ihren Pullover.

Amanda hatte sich geschworen, dass so etwas nicht passieren sollte.

Als er seine Lippen auf ihren Mund drückte, wusste sie, dass solche Versprechen dazu da waren, um gebrochen zu werden.

Jari parkte das Auto vor der Söderslättshalle und atmete den Duft von Gras ein. Auf diesen Fußballplätzen hatte er in seinem gestreiften Trikot seine ersten Cruyff-Finten probiert. Damals gab es in der Stadt zwei große Vereine: IFK und TFF. Auf dem Schulhof entschied man sich für eine Seite: Mods oder Hardrocker, IFK-Anhänger oder TFF-Fan. Trotz der vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, bestand Jaris Bekanntenkreis hauptsächlich aus alten IFK-Anhängern. Und Hardrockern.

Inzwischen dribbelten neue Generationen auf den Rasenplätzen, eifrig angefeuert von Trainern und Eltern. Ein Ball auf Abwegen prallte auf den Asphalt und rollte Maria vor die Füße, die ihn mit einem einfachen Innenseitstoß zurückkickte. Als sie sich kennenlernten, war sie eine vielversprechende Innenverteidigerin im Verein Husie IF gewesen – einer der besten Frauenmannschaften Malmös. Viele hatten geglaubt, dass sie in der Damallsvenskan weiterspielen würde, der höchsten Klasse im schwedischen Frauenfußball, aber wie so viele andere Fußballspielerinnen hatte sie kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag abrupt aufgehört.

Auf der Zuschauertribüne der A-Halle war es eng. Hier herrschte eine abgestandene Wärme und die pikante Mischung aus süßlichem Parfüm und salzigem Schweiß erschwerte das Atmen. Jari und Maria setzten sich ganz nach oben auf die Tribüne.

Die letzten zehn Jahre hatten sie am Wochenende unzählige Stunden in stickigen Sporthallen oder unter dem Regenschirm an der Seitenlinie eines Fußballplatzes verbracht. Obwohl Jari sich kein bisschen für Turnen interessierte, war es für ihn eine Selbstverständlichkeit, für Amanda da zu sein, genauso wie er Isabella beim Fußball unterstützte.

»Ich musste Amanda heute mehr oder weniger hierher zwingen«, meinte Maria. »Wenn Millan nicht so von ihr abhängig wäre, hätte ich ihr erlaubt, heute zu fehlen.«

Natürlich hatte Jari gemerkt, dass heute früh irgendwas nicht stimmte, aber er war zu müde gewesen und hatte sich nicht eingemischt. Amanda hatte einen Hang zum Drama, mit dem Jari nichts anfangen konnte.

»Was war diesmal das Problem?«

Maria wand sich. »Schwer zu sagen. Die Pubertät ist für Mädchen schwierig. Da gibt es immer irgendeinen Körperteil, der einem nicht gefällt, irgendein Ideal, dem man nicht entspricht.« Sie machte eine Geste zu dem Hallenboden unter ihnen. »In diesen Anzügen lässt sich ja auch kaum etwas verbergen.«

Auf der anderen Seite der Halle hatte Amanda das Bein gehoben und dehnte sich. Das braune Haar war zu einem strengen Dutt zusammengefasst und ihr bunter Turnanzug klebte hauteng am Körper.

Ehrlich gesagt begriff Jari nicht ganz, was Amanda sich für Sorgen machte. Solange er zurückdenken konnte, war sie immer mit Komplimenten für ihr Aussehen überhäuft worden.

»Außerdem geht es um die Punktebewertung«, sagte Maria. »Das mag sie nicht.«

»Das kann ich verstehen«, sagte Jari. »Das ist ja auch die reinste Lotterie.«

Er war ohnehin ein Gegner von Bewertungssportarten und liebte nicht nur Fußball, sondern war auch ein großer Fan von Handball, Hockey und Skifahren. Ehe Amanda mit Aerobicturnen angefangen hatte, war er glücklich unwissend gewesen, dass diese Sportart überhaupt existierte. Es war eine Art Mischung aus Tanz und Gymnastik, wobei die Choreografie ebenso wichtig war wie die Koordination. Im Grunde genommen fiel es Jari schwer, einen gelungenen Beitrag von einer verpatzten Nummer zu unterscheiden.

»Jetzt sind sie dran.« Maria drückte beide Daumen.

Amanda und Millan standen reglos da. Ihre junge Trainerin flüsterte ihnen noch ein paar letzte ermutigende Worte zu. Als die Musik begann, drückte Maria Jaris Arm, die ganze Zuschauertribüne hielt den Atem an, und Amanda glitt perfekt synchron mit Millan und voller Geschmeidigkeit und Anmut über den Boden. Bald erklang prasselnder Beifall und die Mädchen strahlten mit ihrem aufgeklebten Lippenstiftlächeln.

Die Punkte reichten für einen zweiten Platz und Amanda bekam eine Silbermedaille um den Hals gehängt. Gleich nach der Siegerehrung eilten Jari und Maria nach unten.

Etwa zehn Meter von Amanda entfernt blieb Jari so abrupt stehen, dass Maria gegen seinen Rücken prallte.

»Wer ist das?«

Ein schwarzer Haarschopf war alles, was er von dem fremden Jungen sah, der ihre Tochter in einer festen Umarmung gefangen hatte.

»Keine Ahnung«, sagte Maria. »Aber die beiden scheinen sich gut zu kennen.«

Jari setzte sich wieder in Bewegung und stand in dem Moment vor den beiden, als der Junge Amanda gerade losließ und ihr einen Kuss auf die Lippen drückte.

»Ups«, machte Maria.

Jari spürte, wie sich seine Brust zusammenzog.

»Sag jetzt nichts Falsches«, flüsterte seine Frau.

Vor etwa einem Jahr hatte sich herausgestellt, dass Amanda es bewusst vermied, Jungen mit nach Hause zu nehmen. Nicht nur, weil Jari einfach nur nervig war und peinliche Papawitze brachte. Es war weitaus schlimmer. Amanda hatte geweint und behauptet, dass Jari sie blamieren und alle ihre Chancen bei potenziellen Beziehungskandidaten zerstören würde.

Bislang hatte sie keinen festen Freund gehabt. Zumindest keinen, von dem Jari wusste. Jede Menge guter Freunde so nebenbei, aber nichts Ernsthaftes. Ganz anders als bei Isabella, die gerade mal in die Fünfte ging, als sie mit Sixten zusammenkam.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Maria und nahm Amanda kurz in den Arm.

Jari tat es ihr gleich. Dann wanderten alle Blicke zum dunkelhaarigen Fremden mit der pickligen Stirn und Flaum am Kinn.

»Hallo!« Er streckte die Hand aus. »Niko.«

Jari drückte ordentlich zu. »Ich bin Amandas Papa.«

Der Junge war gut angezogen und trug einen weißen Rollkragenpullover und ein Jackett. Er lächelte anbiedernd.

»Wie cool sie das gemacht hat«, sagte er und berührte vorsichtig Amandas Arm. »Ihr müsst so stolz auf sie sein.«

Jari starrte seine breite Nase und die braunen Augen an. In diesem Moment wurde ihm klar, wer Niko war.

»Sehr stolz sogar«, sagte Maria.

Erneut berührte Niko Amanda, und Jari biss sich auf die Unterlippe, damit ihm nichts rausrutschte.

»Wir wollten noch was essen«, sagte Amanda.

»Kommt doch stattdessen mit nach Hause.« Maria wandte sich an Jari. »Papa wollte Pulled Pork machen.«

»Im Fernsehen läuft El Clásico«, sagte Jari. Ihm war es viel lieber, wenn die Jugendlichen mit nach Hause kamen, als dass sie allein in irgendeinem Burgerrestaurant herumhingen.

Amanda und Niko warfen sich verstohlene Blicke zu. Sie kommunizierten schweigend und waren sich schon bald einig.

»Wir essen lieber woanders«, sagte Amanda.

Es war nicht zu übersehen, dass die beiden bereits eine gemeinsame Sprache entwickelt hatten. Wie lange ging das eigentlich schon?

»Bis später«, sagte Maria und versetzte Jari einen leichten Knuff in den Rücken.

Sie hatten kaum die Halle verlassen, als er sie mit einer ganzen Batterie von Fragen attackierte: »Wann ist das passiert? Wusstest du davon? Sind sie ein Paar?«

Maria seufzte. »Ich weiß nicht mehr als du.«

Dabei mied sie den direkten Augenkontakt, und Jari schwankte innerlich, ob sie wirklich ganz ehrlich war. Die Mädchen hatten schon immer eine vertrautere Beziehung zu ihrer Mutter gehabt, nicht zuletzt, wenn es um solche Angelegenheiten ging. Jari erfuhr nie irgendwas.

»Aber du weißt doch, wer Niko ist?«, sagte Maria, als sie sich dem Parkplatz näherten. »Er geht in dieselbe Klasse wie Teo.«

»Na klar, ich habe ihn erkannt.« Jari wusste sehr wohl, dass Sixtens jüngerer Bruder mit Niko befreundet war. Er hatte sogar mit Patrik, dem Vater von Sixten und Teo, darüber gesprochen.

Als sie zum Auto kamen, knöpfte Jari die Jacke zu. Der Wind war frisch und die Luft kalt, ein langer Herbst stand in den Startlöchern. In diesen Breitengraden gab es keinen Winter mehr. Stattdessen sechs Monate windiges und nasses Wetter und ein halbes Jahr Finsternis.

»Ich weiß, wer Nikos Vater ist«, sagte Jari und setzte sich schaudernd auf den Fahrersitz. Nicht nur der Wind war kühl. In seinem Kopf sah er Sasho Palevski vor sich. Die schmalen, hasserfüllten Augen.

»Was ist denn mit ihm?«, fragte Maria, die natürlich gemerkt hatte, dass irgendetwas nicht stimmte.

»Na ja, Sasho ist …« Was sollte er sagen? Wie viel konnte er ihr erzählen, ohne das Bild von sich selbst zu zerstören? »… niemand Besonderes.« Es gab keinen Grund, Maria zu beunruhigen. »Einfach nur ein Trelleborger.«

Nach dem Mord

Es hatte den Anschein, als wisse der Morgen Bescheid. Die nächtliche Dunkelheit dauerte noch an und die Sonne glänzte durch Abwesenheit.

Vor der Polizeiwache half man Jari aus dem Streifenwagen und er schwankte auf tauben Beinen zum Eingang. Er wollte schreien und weinen, treten und um sich schlagen, aber jede Zelle seines Körpers protestierte. Er schaffte es gerade durch die Tür zu einem kleinen, fensterlosen Zimmer, wo er auf einem Stuhl zusammensank.

»Wollen Sie etwas zu trinken haben?«

Die in Zivil gekleidete Polizistin legte ihre Hand auf seinen Arm. Einige Stunden zuvor hatte sie zusammen mit ein paar uniformierten Kollegen an Jaris Haustür geklopft und seiner Familie die Nachricht überbracht, die sein ganzes Leben zerstört hatte.

»Ein bisschen Wasser, bitte.« Jari rutschte auf dem Stuhl herum. Es kribbelte unangenehm im Körper, und er konnte nicht still sitzen, schaffte es aber auch nicht, sich zu erheben. Er sah sich im Zimmer um, schluckte heftig und mobilisierte das, was von seiner Stimme noch geblieben war. »Ich hätte es verhindern können.«

Die Polizistin senkte den Blick. »Versuchen Sie, sich keine Vorwürfe zu machen.«

Wenn Jari die nötige Kraft gehabt hätte, dann wäre er aufgestanden und hätte geschrien. Wie sollte er sich keine Vorwürfe machen, wenn es so vieles gab, was er anders hätte machen können? Er hatte lauter andere Dinge im Kopf gehabt: Geld verdienen, sich die eigenen Träume erfüllen und sich selbst verwirklichen.

»Sie hat uns angelogen.« Er hatte es gespürt, aber Maria hatte davon nichts hören wollen. Wenn er sich Sorgen um die Mädchen gemacht hatte, war Maria immer die Coolness in Person gewesen. Als die Kinder klein waren und an einem Hühnerknochen hätten ersticken oder auf der Straße hinfallen und sich die Zähne ausschlagen können, hatte Maria gesagt, dass das Leben als Eltern unerträglich werde, wenn man die ganze Zeit herumliefe und Panik schiebe.

»Sie können bald alles erzählen«, versprach die Polizistin.

Sie und ihre Kollegen hatten einen Pfarrer nach Stavstensudde mitgebracht. Es war derselbe Typ mit dem Hamstergesicht, der Jari vor dreißig Jahren konfirmiert hatte. Während die Polizisten ihnen mitteilten, dass Amanda tot war, saß der Pfarrer Jari gegenüber und hielt seine Hände. Maria hatte laut aufgeschrien und Isabella war auf dem Fußboden zusammengebrochen.

Jari bekam eine kurze Vorahnung von einer Zukunft ohne Amanda. Ein trauerumflortes Dasein, ein Waten in ständiger Finsternis. Ein routinierter Alltag mit robotergleichen Bewegungen und oberflächlichen Gedanken, frei von jeglichen Emotionen. Menschen hatten die erstaunliche Fähigkeit, über das meiste hinwegzukommen und sich den neuen Bedingungen anzupassen, aber Jari war nicht klar, wie er jemals wieder ein einigermaßen normales Leben führen sollte.

»So.« Die Polizistin stellte ein Glas Wasser vor ihn auf den Tisch.

Die Tür öffnete sich und ein kleiner untersetzter Mann in den Sechzigern begrüßte ihn leise. In seinen leuchtend blauen Augen lag Mitgefühl, aber auch die Einsicht, dass er sich unmöglich in Jaris Lage versetzen konnte. So würden die Leute ihn also künftig betrachten. Er würde nie wieder einfach Jari Kekkonen sein, Marias Mann oder Isabellas Vater. Von jetzt an würde er für immer der Vater des verstorbenen Mädchens sein.

»Ich heiße Bo Brodin und bin Kriminalkommissar«, sagte der Polizeibeamte. »Ich müsste eine kurze Vernehmung mit Ihnen durchführen.« Er zog einen Stuhl hervor und nahm mit gewisser Mühe gegenüber von Jari Platz. »Schaffen Sie es, ein paar Fragen zu beantworten?« Sein Gesicht sah aus wie Granit, aber seine Stimme war mild und einfühlsam. »Es ist wichtig für uns, bei gewissen Dingen bald Klarheit zu bekommen.«

Jari sammelte Kraft. Es gab so vieles, was er dem Polizisten erzählen musste.

»Können Sie zunächst vom gestrigen Tag berichten?«, fragte Bo Brodin und schaltete das Aufnahmegerät ein.

Jari tat sein Bestes, um die Gedanken zu sortieren. Was für ein Wochentag war gestern gewesen? Er hatte die Orientierung in Zeit und Raum verloren. »Gestern?« Er sah Brodin an und blinzelte. »Das war ein Freitag, oder?«

»Genau.« Der Kriminalkommissar sah ein wenig erstaunt aus. »Freitag.«

»Es war ein ganz normaler Tag. Ich war im Büro.« Nach dem Sommerurlaub war Jari rasch wieder in seinem alten Trott gelandet. Ein Tag glich dem anderen: Arbeit, viel Arbeit, Training, Haushalt, ein bisschen Entspannung auf dem Sofa. Mehr bekam er zeitlich nicht hin.

»War Amanda in der Schule?«, fragte Brodin.

»Ja sicher. Normalerweise nimmt sie morgens den Bus zusammen mit ihrer großen Schwester. Isabella hat einen Führerschein, aber kein Auto.«

»Aha. Die beiden gehen auf das Söderslättsgymnasium hier in der Stadt, oder?«

»Ganz genau.« Kommissar Brodin sprach von Jaris beiden Töchtern im Präsens. Das war von den Fakten her falsch, aber fühlte sich trotzdem richtig an. »Isabella besucht den naturwissenschaftlichen Zweig und Amanda den sozialen.«

Brodin nickte. »Um wie viel Uhr sind Sie gestern von der Arbeit nach Hause gekommen?«

»Gegen halb fünf.« Jari streckte die Hand nach dem Wasserglas aus, überlegte es sich dann aber anders, denn er war sich nicht sicher, ob er es fertigbringen würde, es anzuheben. »Ich habe Amanda nur kurz gesehen, bevor sie das Haus verlassen hat.«

»Wann genau?«

War das wirklich so wichtig? Jari versuchte nachzudenken. Wer merkte sich schon Uhrzeiten, Stunden und Minuten? Die Zeit glich einem riesigen offenen Gewässer und man brauchte Felseninseln, Schären und Sandbänke zur Orientierung. Im Nachhinein wünschte er sich, er hätte einen Blick auf die Wanduhr oder das Handy geworfen und sich die Zahlen gemerkt, aber zu dem Zeitpunkt war es ja nur einer von vielen ganz normalen Tagen gewesen, die einfach so vorbeizogen.

»Ich weiß nicht so genau. Um acht?« Jari machte mit einem übertriebenen Achselzucken deutlich, dass er nur eine Vermutung anstellte.

Er hatte Amanda umarmt, bevor sie gegangen war, und jetzt hielt er sich mit den Fingern die Nase zu, als wollte er ihren Duft für immer einfangen.

»Wo wollte sie hin? Was hat sie zu Ihnen gesagt?«, wollte Brodin wissen.

Jari hatte sich auf diese Frage vorbereitet. »Sie wollte bei einer Freundin übernachten.« Plötzlich streikte das Gehirn. »Ich habe Nein gesagt, aber meine Frau …« Er hörte, wie schlimm das klang. Er wollte die Schuld ja nicht auf Maria abwälzen. »Wir haben uns geeinigt, dass das in Ordnung geht.«

Kommissar Brodin durchschaute ihn vermutlich, sagte aber nichts dazu. »Wann haben Sie das entschieden?«

»Am Donnerstag.«

Brodin nickte. »Standen Sie oder Ihre Frau wegen der Übernachtungspläne vorher in Kontakt zu Millan Söderbloms Eltern?«

»Na ja.« Es war so verdammt blöd. Jari konnte nicht auf den eigentlichen Grund eingehen, warum er nicht mit Millans Mutter gesprochen hatte. »Amanda und Millan kennen sich seit ihrer Kindheit. Millan hat bis zur Trennung ihrer Eltern auch auf Stavstensudde gewohnt. Sie ist ein halbes Familienmitglied.«

»Verstehe«, sagte der Kommissar.

Womöglich tat er das wirklich. Zugleich vermittelte seine Miene, dass er selbst wohl nicht so gutgläubig gewesen wäre.

»Sie haben im Lauf der Jahre unzählige Male beieinander übernachtet«, erklärte Jari. »Es gab nie irgendwelche Probleme.«

Trotzdem war er skeptisch gewesen. Er hatte es gespürt. Warum nur hatte er nicht auf sein Bauchgefühl gehört?

»Wenn ich die Sache richtig verstanden habe«, fuhr Kommissar Brodin fort und kratzte sich am Nacken, »haben Sie gestern Nacht trotzdem bei Millans Vater angerufen?«

»Nein.« Jari hatte nicht angerufen. »Ich habe eine Nachricht geschrieben. Erst an die Mutter, dann an den Vater.«

Kommissar Brodin schien nicht der Meinung zu sein, dass das eine größere Rolle spielte.

»Und warum?«

»Weil ich angefangen habe, mir Sorgen zu machen. Ich hatte im Lauf des Abends mehrmals versucht, Amanda zu kontaktieren, ohne dass sie reagiert hat. Dann lag ich im Bett und habe versucht einzuschlafen … Mir ging so vieles im Kopf herum.«

Jari schämte sich. Als Mann hatte er oft das Gefühl gehabt, stark sein zu müssen und sich nicht so viele Gedanken machen zu dürfen.

»Meine Frau ist immer schon die Ruhige und Besonnene von uns beiden gewesen«, gab er zu. »Sie findet, dass ich es übertreibe mit meinen Befürchtungen.«

Als die Mädchen jünger waren, hatte Jari eine Neigung gehabt, sich große Sorgen zu machen und schnell aufzuregen. Ein Gerücht über rätselhafte weiße Transporter in der Facebook-Gruppe ihrer Nachbarschaft hatte ihn eine Weile geradezu hysterisch gemacht. Einmal hatte er sogar den Waffenschrank aufgeschlossen, als ein besoffener Nachbar sich verirrt und mitten in der Nacht an die Verandatür geklopft hatte.

»Verstehe«, erwiderte Brodin erneut. »Was haben Millans Eltern gesagt?«

Jari spielte an seinem Handy herum, das in seiner Tasche steckte. Millans Vater hatte ihn sofort zurückgerufen, obwohl es schon beinahe Mitternacht gewesen war. »Millan ist den ganzen Abend zu Hause gewesen. Sie hatte keine Ahnung, wo Amanda steckte.«

»Und was haben Sie dann gemacht?«

Jari griff nach dem Wasserglas und leerte es in einem Zug. Er hatte das getan, was jeder beunruhigte Vater tun würde. »Ich bin ins Auto gestiegen und habe mich auf die Suche begeben.«

Es war erschreckend, wie alles sich von einer Sekunde zur anderen verändern konnte. Jeder Mensch wusste, dass es so war. Ein einziger Herzschlag trennte den Alltag von der Katastrophe und das Leben vom Tod, aber vor gewissen Wahrheiten musste man die Augen verschließen, um weiterleben zu können.

»Wie ging es Amanda?« Brodin sah Jari tief in die Augen. »Hatte sie irgendwelche psychischen Probleme?«

»Nein, nein! Nichts davon!«

Jari wusste natürlich, wie oft das unter jungen Mädchen vorkam, aber Amanda hatte keine psychischen Probleme. Sie war eine ganz normale Sechzehnjährige: manche Tage waren großartig, andere beschissen.

»Sie war wohl ein bisschen naiv, was Jungen betrifft.« Jari wünschte, dass Amanda ihrer älteren Schwester in dieser Hinsicht ähnlicher gewesen wäre. »Für Eltern ist es nicht ganz einfach zu entscheiden, wie man sich verhalten soll. Vermutlich müssen Jugendliche eine Reihe von Fehlern begehen, damit sie aus ihnen lernen.«

Letzteres war ein direktes Zitat von Maria. In der Theorie stimmte Jari ihr zu, aber in der Praxis konnte er sich kaum mit dieser Einstellung arrangieren.

»Beziehen Sie sich auf einen bestimmten Jungen?«, fragte Brodin.

»Niko Palevski.« Er war der Erste, an den Jari heute Morgen gedacht hatte. »Amanda war bis irgendwann im Frühling mit ihm zusammen.«

»Erzählen Sie«, sagte der Kommissar. »Wie sah ihre Beziehung aus?«

Jari betrachtete das leere Glas vor sich. Und wünschte, er wüsste mehr. »Niko war anscheinend sehr eifersüchtig. Ich habe das Gefühl, dass sie nicht gerade im Guten auseinandergegangen sind.« Er atmete tief ein. »Sie müssen ihn so bald wie möglich vernehmen.«

Wenn Maria seine Sorge nur ernst genommen hätte. Jetzt war es zu spät. Jari würde Amanda nie wieder in den Arm nehmen können. Nie wieder ihr ansteckendes Lachen hören. Nie wieder ihre Zimmertür einen Spaltbreit öffnen und flüstern, dass er sie lieb hatte, während sie mit ausgebreitetem Haar auf dem Kissen lag.

Isabella war ein Wrack und an Maria kam er kaum noch heran. Jari fühlte sich unbeschreiblich einsam.

»Ich muss Ihnen etwas sagen.« Bo Brodin wechselte seine Sitzposition und streckte den Rücken. »Wir haben im Lauf des Morgens Taucher unter den Steg des Dalabads geschickt.« Seine Stimme war anders, irgendwie schärfer und offizieller. »Sie haben eine Waffe vom Meeresboden hochgeholt. Ein Gewehr.« Er schluckte und Jari tat es ihm nach. »Eine H&R Handi-Rifle im Kaliber .223.«

Jaris Körper verkrampfte sich, ein Schmerz durchzuckte sein Inneres, wo sich ein dunkler Schatten ausbreitete.

»Es ist Ihr Gewehr«, sagte Kommissar Brodin.

Ein Jahr vor dem Mord

Als das Laub von den Bäumen fiel, und der Sommer zu Ende ging, änderte Amanda in ihren sozialen Netzwerken den Beziehungsstatus. Es verging kaum eine Minute, in der Niko nicht in ihrem Kopf aufblitzte. In den vergangenen Wochen hatten sie sich nonstop rund um die Uhr geschrieben und Fotos geschickt. Doch sie hatte noch immer nicht seine Eltern kennengelernt.

»Schämt er sich für mich, oder was?«, sagte sie zu Isabella, die mit angezogenen Knien und dem Telefon in der Hand in der Sofaecke saß.

»Hör auf«, antwortete ihre Schwester mit einer Grimasse.

»Dann schau dir das mal an.« Amanda schob den Hosenbund herunter und zeigte ihrer Schwester die Dellen an ihrem Oberschenkel. »Cellulite. Wie widerlich ist das denn? So was kriegen doch nur alte Frauen.«

Isabella warf ihr Handy beiseite und inspizierte Amandas Oberschenkel. »Das da ist keine Cellulite. Das ist eher eine Art … Ausschlag.«

Amanda streckte angeekelt die Zunge heraus. Sollte sie davon bessere Laune kriegen, dass sie irgendeinen rätselhaften Ausschlag hatte?

»Hast du mal darüber nachgedacht, ob es vielleicht umgekehrt ist?«, sagte Isabella.

»Was meinst du?«

»Dass er sich für seine Eltern schämt.«

»Echt jetzt?«

Konnte das sein? Nikos Eltern arbeiteten beide bei Ica Maxi. Amanda kannte keine anderen Erwachsenen, die in einem Supermarkt arbeiteten, nur junge Leute, die studierten oder für eine Weltreise sparten. Sein Vater war auch kein gebürtiger Schwede, aber heutzutage hatte ja jeder Zweite ausländische Wurzeln.

»Ich muss mich wohl selbst einladen«, sagte sie und schickte Niko ein Selfie mit dem Kommentar: Komm gleich zu dir nach Hause.

»Wolltest du nicht lernen?«, fragte Isabella.

Das war mal wieder das Einzige, woran sie dachte. Lernen und Fußball und Sixten.

»Ich bin fertig.«

Es war ihr sowieso egal. Ihr Mentor hatte diese Woche mit ihr einen Termin vereinbart, weil er sich Sorgen wegen ihrer Noten machte. Sie selbst tat das nicht. Ihre Schulnoten fielen immer mittelmäßig aus. Solange sie für den sozialen Zweig am Gymnasium reichten, war es ihr egal.

»Vielleicht kannst du Isabella um ein bisschen Unterstützung bitten?«, hatte ihr Mentor vorgeschlagen.

Sie hätte ihn am liebsten gebeten, zur Hölle zu fahren. Stattdessen hatte sie gelächelt und genickt. Seit beinahe zehn Jahren, seit dem Kindergarten und dann die gesamte Schulzeit hindurch bis jetzt hatte Amanda sich anhören müssen, dass sie ein bisschen mehr wie ihre große Schwester sein solle. Fuck off. In einer einzigen Disziplin war sie Isabella haushoch überlegen, und das musste reichen.

Schon zu Beginn ihrer Grundschulzeit hatte Amanda begriffen, dass sie etwas besaß, was ihrer Schwester fehlte. Isabella war eine großartige Fußballerin, schneller im Denken und beim Laufen, sie war Klassenbeste und hatte eine gute Allgemeinbildung. Kurz gesagt übertraf sie Amanda in allen Disziplinen außer einer: Isabella gelang es nicht, die Aufmerksamkeit der Jungs zu wecken.

Und als einer der beliebtesten Jungen aus Isabellas Klasse Interesse an Amanda bekundet hatte, die damals noch in die Zweite ging, hatte sie sein Interesse natürlich erwidert. Seitdem gab es eine Arena, in der sie als kleine Schwester Oberwasser hatte, und das wussten sie beide. Bis Isabella wider Erwarten mit Sixten Ledin zusammenkam, dem allseits beliebten Superstar des Fußballvereins TFF.

Es fiel Amanda schwer, Niko nicht mit Sixten zu vergleichen. Isabellas Freund fuhr mit Papa zum Angeln. Er hatte einen eigenen Platz am Esstisch und bekam zu Weihnachten Unterhosen von Mama geschenkt, die ihn ihren Schwiegersohn nannte. Wie sollte Niko jemals auch nur annähernd eine solche Stellung in der Familie zuteilwerden?

»Ich bin dann mal weg«, sagte Amanda.

Ihre Eltern arbeiteten wie immer und Sixten würde jeden Augenblick kommen.

Isabella nahm die Füße vom Sofa. »Wo willst du hin?«

»Zu Niko nach Hause, hab ich doch gesagt.«

Ihre Schwester beäugte sie skeptisch. »Nicht in den Klamotten.«

Amanda hatte ihr neues weißes Offshoulderoberteil von Shein an, in dem die Brüste groß und ganz perfekt gerundet wirkten.

»Bitte ein bisschen mehr Klasse«, meinte Isabella und warf ihr eine Seidenbluse zu, die aussah, als würde man sie zur Konfirmation tragen.

Im Bus Richtung Zentrum stieg ihr Schweißgeruch in die Nase. Sie schnupperte an ihren Achselhöhlen, bis sie merkte, dass der Geruch von dem Mädchen stammte, das ihr gegenübersaß. Amanda betrachtete sich im Spiegel, überprüfte ihre Zähne, trug neuen Lidschatten auf. Schon jetzt bereute sie, dass sie sich darauf eingelassen hatte, Isabellas Bluse mit den transparenten, engen Ärmeln auszuleihen, in denen ihr Bizeps grotesk groß aussah.

Sie fuhr Richtung Osten durch Stadtteile, in denen sie nur selten war. Niko wohnte nicht weit entfernt von den Mietshäusern in Fagerängen – dem Stadtteil, der für Trelleborger Verhältnisse einem Ghetto am nächsten kam. Vielleicht hatte er sie deshalb nicht mit zu sich nach Hause nehmen wollen. Hier hingen die Leute draußen herum, in Jogginghose und Basecap, mit Kippe, Fußball und Bauchtasche, auf Gehwegen, Parkplätzen und den kleinen Grünanlagen zwischen den Häusern.

Niko, der an der Bushaltestelle wartete, hob sich mit seiner hochgekrempelten Leinenhose und den weißen Sneakers von den anderen jungen Männern ab.

»Gut siehst du aus«, sagte er.

Der Kommentar weckte in Amanda gemischte Gefühle: Komplimente waren nice, aber sie wünschte sich, dass er auch mal etwas Nettes zu ihr sagte, was nichts mit ihrem Aussehen zu tun hatte. Sie wollte hören, dass sie clever war, cool, witzig, interessant – was auch immer.

Schweigend gingen sie zum Haus seiner Familie.

»Ist nicht grad eine Luxusvilla«, sagte Niko, während er über den Kies schlurfte.

»Zum Glück. Man verläuft sich so schnell in diesen Riesenvillen.«

Es war ein ganz normales Haus, weder fancy noch heruntergekommen. Glaubte er ernsthaft, dass ihr so etwas wichtig war?

Nikos Mutter stand in der Küche. Sie war ungefähr so alt wie Amandas Mama, sah aber bedeutend jünger aus und hatte Grübchen in den Wangen und einen hellwachen Blick.

»Wie schön, dass du herkommst! Ich habe Niko schon öfter gesagt, dass er dich mal zu uns einladen muss.«

Nikos Vater kam dazu. Er war nicht viel größer als sein Sohn. »Ach, hallo.« Er grüßte mit einem kurzen Nicken, ohne größere Begeisterung.

»Nett, euch kennenzulernen«, sagte Amanda.

Ein Vaterschaftstest war nicht nötig. Es war ganz offensichtlich, dass Niko nicht nur die Statur, sondern auch die Gesichtszüge von seinem Papa geerbt hatte: die gerade Nase und die tief liegenden braunen Augen.

»Bist du mit dem Rad hergefahren?«, fragte er. »Niko hat erzählt, dass du in Stavstensudde wohnst.«

Die Leute sprachen den Namen des Stadtteils ganz unterschiedlich aus. Die einen voller Verachtung, die anderen mit einer gewissen Bewunderung in der Stimme. Nikos Vater gehörte definitiv nicht zu den Letzteren.

»Ich hab den Bus genommen«, sagte Amanda.