Die Lutherverschwörung - Christoph Born - E-Book

Die Lutherverschwörung E-Book

Christoph Born

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Beschreibung

Wittenberg, im Frühjahr 1521. Aufmerksam beobachtet Jost, ein Söldner, die geladenen Gäste im Cranachhof. Es ist ein Abschiedsfest für Martin Luther, den Reformator, der bald nach Worms aufbricht. Kaiser Karl V. hat ihn vor den Reichstag geladen, um sich vor Kaiser und Reich zu verantworten. Wird man von ihm fordern, seine Lehre zu widerrufen? Oder ihn gar als Ketzer verurteilen? Jost soll das Leben des Reformators schützen; Kurfürst Friedrich hat ihn zu Luthers Leibwächter ernannt. Eine heikle Aufgabe, denn Luther hat nicht nur Freunde ...

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Christoph Born

Die Lutherverschwörung

Historischer Roman

© 2009 Brunnen Verlag Gießenwww.brunnen-verlag.deLektorat: Eva-Maria BuschUmschlagmotiv: akg-images, BerlinUmschlaggestaltung: Ralf SimonSatz: Die Feder GmbH, WetzlarISBN 978-3-7655-1703-7eISBN 978-3-7655-7097-1

Inhalt

PROLOG

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

ZWEITER TEIL

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

DRITTER TEIL

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

EPILOG

ZU DIESEM BUCH

PROLOG

Rom, im Mai 1510

Wulf schaute über die Dächer Roms, legte die Armbrust an und wartete auf sein Opfer.

Vor dem Pantheon spielten Kinder. Sie verfolgten einander, versteckten sich hinter den mächtigen Säulen des Portikus, riefen sich Worte zu, deren Sinn er nicht verstand, erfüllten die Luft mit ihrem Geschrei, balgten sich und bildeten Knäuel, dann stoben sie wieder auseinander. Flatternde, flüchtige Wesen, Mädchen in bunten Röcken und Jungen in kurzen Hosen mit blutigen Knien. Von irgendwoher wehte aus einem offenen Fenster der fremdartige, verlockende Geruch einer mediterranen Mahlzeit.

Wulf dachte zurück an den gestrigen Abend, als ihm die Schwarze Jungfrau im Traum erschienen war und die Stimmen in seinem Kopf sich verwirrt hatten. Von diesem Moment an wusste er, dass es an der Zeit war, seinen Auftrag auszuführen.

Eines der Mädchen breitete nun seine schmalen, zerbrechlichen Arme aus und drehte sich im Kreis – so schnell, dass die Schöße seines roten Rockes durch die Luft wirbelten.

Wulf war ein exzellenter Schütze, aber er hatte noch nie einen Menschen getötet. Brangenberg und seine Pilgergruppe würden bald erscheinen. Höchste Zeit, dass die Kinder sich endlich davonmachten! Allein der Gedanke, versehentlich eines von ihnen zu treffen, ließ ihn schaudern.

Die Kuppel des Pantheons, hinter der sich zartes Abendrot abzeichnete, überragte die umliegenden Gebäude und warf einen Schatten auf die Fassaden. Mauersegler kreischten über dem Gewölbe; Haken und Bogen schlagend, verfolgten sie sich durch die engen Gassen. Auf dem Vorplatz herrschte am Brunnen noch reger Betrieb, Frauen schöpften Wasser in Krüge, und Wasserträger füllten ihre Eimer.

Wulfs Geduld wurde strapaziert. Der Himmel färbte sich schon tiefrot, und die Menschen auf dem Vorplatz zerstreuten sich, bis nur noch einige wenige zurückblieben; auch die Kinder verschwanden endlich. Längst hatte er die Armbrust gegen die Wand gelehnt – aus Angst vor Entdeckung. Dass er die kleine Kammer im fünften Stock eines Wohnhauses gegenüber dem Pantheon mieten konnte, war ein Glücksfall gewesen. Ebenso der Hinterausgang des Gebäudes, der ihm gute Fluchtmöglichkeiten bot. Gleich nach dem Schuss würde er die Läden schließen, und man würde rätseln, woher der tödliche Pfeil gekommen war. Bis die Verwirrung sich legt, dachte er, bin ich längst über alle Berge.

Was aber, wenn die Pilgergruppe ihre Pläne geändert hatte und Brangenberg nicht erschien? Ach was, er musste auf Gott vertrauen; manche Dinge ließen sich einfach nicht planen. Stand er nicht auf der Seite der Gerechten? Der Tod dieses Ketzers musste doch ein Werk sein, das Gott gefiel – und folglich durfte er auf seine Unterstützung rechnen.

Brangenberg lästerte über die Heiligen. Er zog deren Taten und die für die Gläubigen gesammelten guten Werke ebenso in den Schmutz wie die kirchlichen Sakramente! Hatte nicht Brangenbergs eigener Sohn von schrecklichen Ketzereien berichtet? Der musste es schließlich wissen! Geld allein hätte Wulf nie bewogen, den Auftrag anzunehmen (obwohl es sich zugegebenermaßen um einen schönen Batzen handelte, mit dem er eine Werkstatt gründen wollte). Nein, letztlich hatte sein Entsetzen über die Verwerflichkeit dieses Mannes den Ausschlag gegeben. Sie spottete jeder Beschreibung.

Bis nach Italien hatte Wulf die Pilgergruppe verfolgt, weil sein Auftraggeber darauf bestand, die Tat so fern wie möglich der Heimat auszuführen. Immerhin waren Italien und besonders Rom dafür berüchtigt, dass es dort von Plünderern und Wegelagerern nur so wimmelte! Der junge Brangenberg würde sich zur Tatzeit im Norden aufhalten und sich, was den Tod seines Vaters betraf, die Hände in Unschuld waschen. Der Armbrustschütze aber würde für immer von einem Geheimnis umgeben bleiben, und das war Wulf recht. Bei dem Gedanken fühlte er sich mächtig und stark.

Eine abenteuerliche und zugleich wunderbare Reise lag hinter Wulf. Die Alpen waren ihm wie ein Wunder erschienen, und der Anblick des Meeres überwältigte ihn dann so sehr, dass er fast weinen musste. Einmal, bei einer Pilgerherberge in den Bergen, war er nur knapp mit dem Leben davongekommen. Zwei Männer hatten ihm aufgelauert, wohl in der Hoffnung, sein großer Reisesack enthalte Kostbarkeiten – dabei war es nur die Armbrust gewesen, die ihn so prall gefüllt aussehen ließ.

Er dachte an die weite, fruchtbare Po-Ebene, den Fluss, in dessen Wellen die Sonne glitzerte, an die ockerfarbenen Hügel der Toskana, von der tief stehenden, dunkle Schatten werfenden Sonne weich modelliert – und an das erhabene Gefühl, als Rom, die Ewige Stadt, endlich in der Ferne auftauchte.

Er streifte durch die Gassen und erkundete den Palatin, zu dessen Füßen das Forum Romanum lag; den Kapitolinischen Hügel mit Blick über das Zentrum der Stadt; den nicht weit vom Kolosseum gelegenen Esquilin. Jenseits des Tibers besuchte er St. Peter, eine Kirche von unvorstellbaren Ausmaßen, an der immer noch gebaut wurde. Der Lärm machte jegliche Andacht unmöglich. In dem von Handwerkern und Arbeitern bewohnten Trastevere konnte er sich an den goldenen Fresken von Santa Maria gar nicht sattsehen. Die Pracht der römischen Kirchen, ob es sich um die Lateransbasilika handelte, um Santa Maria Maggiore oder San Pietro in Vincoli – sie sprengte sein Vorstellungsvermögen und öffnete ihm die Augen dafür, wozu der Mensch mit Gottes Hilfe fähig war. Zwei Tage lang vergaß er seinen Auftrag und suchte all die heiligen Stätten auf, warf sich der Länge nach auf den Boden und legte die letzten Meter bis zum Portal oder bis zum Altar im Staub zurück. Erst dann durchforstete er die Pilgerherbergen. Er wurde auch bald fündig, denn er hatte gehört, dass die Deutschen meistens eine Herberge bevorzugten, die nahe bei der für deutsche Pilger bestimmten Kirche lag. Und wirklich: Dort saßen Brangenberg und seine Begleiter an einer langen Tafel, in lebhafte Gespräche verwickelt mit Augustinermönchen, die als Pilger nach Rom kamen. Bierkrüge standen auf den Tischen; der Wirt brachte Brot.

Wulf setzte sich in die Ecke, an einen winzigen freien Tisch. Während er seine dünne Suppe schlürfte und von dem warmen, dampfenden Brot aß, das so wunderbar schmeckte, hörte er einfach nur zu. Die Sonne war bereits untergegangen, und der größte Teil des Raums lag im Dunkeln. Nur auf zwei Tischen und bei der Theke brannten armselige Öllampen, deren Kraft kaum ausreichte, die Gesichter aus der Finsternis hervorzuheben. Die Wangen der Gäste waren mit Bartstoppeln übersät, die Augen wirkten matt und trüb. Alle hatten eine lange Reise und einen anstrengenden Tag hinter sich.

Von Zeit zu Zeit hob Wulf den Kopf und beobachtete die Augustiner, ehe sein Blick weiter nach links wanderte, wo Brangenberg und seine Begleiter saßen. Er war seinem Opfer so nah wie nie zuvor. Allerdings ahnte Brangenberg nichts von der Gefahr, und so scherzte er mit einem Mönch, der gerade in einem Buch las. Der Mann neben Brangenberg war von Beruf Söldner und zusammen mit drei Kameraden – das wusste Wulf – für dessen Sicherheit verantwortlich.

Eine junge Frau mit schweren Decken auf den Armen durchquerte den Raum. Ihr Gesicht erinnerte Wulf an seine verstorbene Mutter. Er bemerkte, dass fast alle Männer der Wirtstochter nachschauten – auch die Augustinermönche. Sie blieb einige Zeit im Nebenraum, wo der Schlafsaal lag, und als sie zurückkam, ging sie nahe an Brangenbergs Tisch vorbei. Einer der Söldner, ein Mann mit wuchtigem Schädel und grobem Körperbau, griff ihr an den Hintern; sie schrie vor Schreck auf und alle lachten – auch die Augustiner. Nur der Mönch mit dem Buch blieb ernst und schmunzelte nicht einmal.

Die Wirtstochter – dunkelhaarig und temperamentvoll wie die meisten Frauen in diesem Land – erholte sich rasch von ihrem Schreck. Sie packte den Krug, der vor dem Söldner stand, holte aus und schüttete ihm mit einem Ruck das Bier ins Gesicht. Wie eine dunkle Welle mit weißer Gischt schlug dem Söldner das Gebräu in den Bart. Er versuchte noch auszuweichen, was ihm aber nicht gelang; fast wäre er in seiner Rückwärtsbewegung von der Bank gekippt. Alle brüllten vor Lachen, und selbst der lesende Mönch schaute kurz hoch und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wulfs nussbraune, tief liegende Augen wanderten hellwach und unruhig hin und her. Der Söldner sprang auf. Nun, da man über ihn lachte, fand er die Situation nicht länger lustig. Er holte aus und spreizte die Finger der rechten Hand, während ihn die Wirtstochter mit ängstlich geweiteten Augen anstarrte.

In diesem Moment packte der Söldner neben ihm, den sie vorhin Jost genannt hatten und der nach Wulfs Eindruck der Hauptmann sein musste, den Raufbold am Kragen. Er riss ihn auf die Bank zurück und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr, so leise, dass Wulf sie nicht verstand. Die Worte zeigten Wirkung, denn der Mann nahm sich nun zusammen, fuhr sich mehrmals mit dem Ärmel über sein Gesicht – und blieb sitzen. Die junge Frau nutzte die Gelegenheit, um schleunigst zu verschwinden, und die Gespräche kamen wieder in Gang.

»Bruder Martin, steck das Buch weg und trink«, sagte Brangenberg zu dem lesenden Mönch. »Du verdirbst dir noch die Augen.«

Der Angesprochene klappte das Buch zu. »Manchmal fällt es mir schwer, das alles zu glauben.«

»Was zu glauben? Was hast du gelesen?«

»Eine Heiligenvita.«

»Lieber Bruder, muss ich fürchten, dass du zum Ketzer wirst?« Der Mönch mit dem Buch lächelte, dann wanderte sein Blick ins Leere.

Brangenberg und seine Begleiter sprachen nun über das Programm für den nächsten Tag. Währenddessen merkte sich Wulf genau die Namen der Kirchen und heiligen Stätten, die sie aufsuchen wollten. Eine Wallfahrt zum Kolosseum war für den Nachmittag geplant, im Andenken an die Märtyrer, die dort für ihren Glauben starben; dann, vor Einbruch der Dunkelheit, würden sie zum Pantheon pilgern – der alte Tempel diente heute als Kirche und demonstrierte den Sieg des Christentums über die römischen Götter.

Als Wulf kurz davor stand, seinen Platz am Fenster zu verlassen und aufzugeben (die Stimmen in seinem Kopf wollten nicht schweigen, er glaubte die Jungfrau Maria zu hören), erschienen die Pilger doch noch. Vorneweg schritt der alte Brangenberg.

Er hatte nie zuvor einen Menschen getötet. Plötzlich kamen ihm Zweifel, ob er überhaupt dazu fähig wäre. Er rief sich ins Gedächtnis, dass niemand ein Ziel mit der Armbrust so sicher traf wie er … dass er stets alle Wettbewerbe im Schützenverein gewann. Nach seinem Geheimrezept gefragt, lächelte er immer nur, denn er wusste die Antwort selbst nicht! Wie soll man eine Gabe erklären? Man hat sie, oder man hat sie nicht. Sie war da, wie ein Geschenk, er musste sie nur trainieren und vervollkommnen. Bestimmt hatte es damit zu tun, dass Wulf die Waffen selbst herstellte. Es gab einige Kniffe, die seine Geräte präziser machten als die der anderen. Jeder Arbeitsschritt erforderte Konzentration und Hingabe. Sein Lehrer war selbst kein guter Schütze gewesen, aber durch hartnäckiges Üben hatte Wulf erreicht, dass er auch auf diesem Gebiet der Beste war.

Nun nahm er die Armbrust und legte sie auf das Fensterbrett. Brangenbergs Gruppe und die Augustinermönche hatten sich zusammengeschlossen; jener Mönch, der gestern in einem Buch gelesen hatte, lief neben dem Adligen, und die beiden unterhielten sich. Wulf wollte noch ein wenig warten, bis Brangenberg näher herankam, sodass er ihn nicht seitlich, sondern frontal vor sich hatte. Seine Hände waren nun ganz ruhig.

Er konnte hier oben sogar verstehen, worüber die beiden sprachen. Der Mönch sagte: »Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist oft schwierig und von Missverständnissen geprägt.«

»Das weiß ich«, erwiderte Brangenberg, »aber wovon ich spreche, das geht über die normalen Reibereien zwischen den Generationen hinaus.«

»Inwiefern?«, fragte der Mönch.

»Josef ist ein missratener Sohn. Ich habe ihm die beste Ausbildung zukommen lassen, und mit ein wenig Geduld könnte er es weit bringen. Glaubt mir, Bruder Martin, ich habe mich ein Leben lang gequält, um meiner Familie den Wohlstand zu erarbeiten, den wir heute besitzen. Aber er denkt, ihm müsse alles in den Schoß fallen …«

Jetzt gleich, dachte Wulf.

Hinter Brangenberg folgten einige Mönche und die Söldner. Er musste jetzt so genau treffen wie bei den Wettbewerben, allerdings zielte er nicht auf eine ruhende Scheibe, sondern auf ein Ziel, das sich bewegte. Ein lebendes Ziel.

»Mein Sohn will Bischof werden«, fuhr der alte Brangenberg fort, »und er will sich das Amt erkaufen.«

»Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte der Mönch. »Das Bischofsamt wird fast immer von reichen Adelsfamilien erkauft … nicht, dass ich das gutheiße!«

»Ich wäre auch bereit, ihn zu gegebener Zeit zu unterstützen, aber er ist noch jung. Er muss warten lernen, und ich weiß nicht, wie ich ihm das klarmachen kann. Manchmal glaube ich, er hasst mich.«

Plötzlich spürte Wulf wieder das Zittern in seinen Händen. Es war wie eine Attacke, diese plötzliche Angst so kurz vor dem Ziel. Ein Schweißtropfen lief ihm über die Stirn und kitzelte unangenehm im Augenwinkel, aber er konnte ihn nicht wegwischen – gleich hatte er die Chance verpasst. Er ist ein Ketzer, redete er sich ein, er leugnet die Heiligen und damit auch die Schwarze Jungfrau, die mir nachts im Traum erscheint … Er muss sterben, damit das Böse aus der Welt verschwindet …

Er brachte seinen Körper wieder unter Kontrolle und zielte. Der Pfeil löste sich. Wulf schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, steckte der Pfeil in Brangenbergs Hals. Er hatte ihn in die Brust treffen wollen. Der Mönch drehte sich erschrocken zu Brangenberg um, doch ehe er ihn stützten konnte, war der alte Mann schon zu Boden gestürzt.

Schnell! Er musste das Fenster schließen, ehe ihn jemand entdeckte! Aber Wulf konnte sich von dem Anblick nicht losreißen, es war wie ein Zwang. Er starrte auf den am Boden liegenden Brangenberg, hörte die entsetzten Schreie der Umstehenden. Er genoss den Augenblick, denn er hatte sein Werk vollbracht; genoss ihn ein wenig zu lang, denn als er endlich eilig die Läden zuklappte, schien es ihm, als ob jener Söldner, den sie Jost nannten, den Kopf hob und zu ihm hochschaute.

Es mochte nur Einbildung gewesen sein, aber Wulf wusste, dass er nun keine Zeit mehr verlieren durfte. Er rannte los – ohne seine Armbrust –, rannte um sein Leben die Treppe hinunter, polterte und lärmte, aber das war unwichtig. Er nahm mehrere steile Stufen auf einmal und fürchtete schon, sich den Hals zu brechen. Endlich kam das Erdgeschoss.

Den Fluchtweg hatte er zuvor genau geplant. Dort war die Tür, die zum Innenhof führte, durch die er das Haus auf der Rückseite verlassen wollte. Diese Tür besaß nicht nur einen Riegel von innen, sondern auch einen von der Hofseite her – ein ideales Mittel, um mögliche Verfolger abzuschütteln. In dem Moment, als er den Türknauf ergriff, öffnete sich jedoch die Haupttür des Hauses. Dort erschien – wie eine Figur aus einem Alptraum – der Söldner. Wulf hatte sich also nicht getäuscht! Jener vermaledeite Jost hatte ihn tatsächlich gesehen, während er den Laden schloss.

Einen Moment lang erstarrten beide, erschrocken und überrascht, dem andern so nahe zu sein; aber dann erwachten sie fast zeitgleich aus ihrer Reglosigkeit. Während Jost sein Schwert zog, um auf Wulf loszugehen, hatte dieser schon die Tür zum Hof geöffnet, schlüpfte hindurch und verriegelte sie von außen. Der Söldner bekam nur noch den Türknauf zu fassen, an dem er vergebens rüttelte.

Wulf lachte, während er durch den Hof rannte, vorbei an zwei Mädchen, die dort Seilhüpfen spielten und ängstlich vor ihm zurückwichen. Während er durch einen schmalen Torbogen lief und um die Ecke in eine Gasse bog, hörte er hinter sich Holz bersten und lautes Fluchen. Selbst wenn Jost ihm auf den Fersen blieb, besaß er einen entscheidenden Vorteil, denn der Söldner hatte nicht sehen können, in welche Richtung er floh.

Wulf kannte die Stadt zwar kaum, doch er war geschickt darin, sich in fremden Orten zurechtzufinden. Sicherheitshalber wechselte er mehrmals die Richtung. Die Schöße seines alten Pilgermantels, an dem eine Jakobsmuschel klebte, wehten hinter ihm her, während er atemlos durch die Gassen hastete. Passanten blickten sich verständnislos nach ihm um, doch er bemerkte sie kaum, die Frauen hinter offenen Fenstern, die in ihren Küchen hantierten, die Handwerker und Kaufleute in den kleinen Läden, die Alten, die sich mit einem Würfelspiel die Zeit vertrieben. Mehrmals schaute er sich um, ob der Söldner ihm folgte, und einmal glaubte er ihn auch zu entdecken – aber da konnte er sich auch getäuscht haben.

Endlich entkam er dem Gewirr der engen Gassen und lief zwischen den Säulen und Trümmern des ehemaligen Forum Romanum entlang, wo Schafe und Ziegen weideten. So schnell vergeht Glanz und Ruhm, hatte er noch vorgestern gedacht, als er hierher gepilgert war. In der Ferne tauchten die Mauern des Kolosseums auf – jetzt, in der anbrechenden Dunkelheit, noch beeindruckender als bei Tag. Ein Ungeheuer, das sich aus der Erde emporhob, wuchtig und von einer Größe, die er sich vor einem Jahr nicht hätte erträumen können. Dort hatte er in einem Gebüsch sein Pferd versteckt.

Seine Schritte wurden langsamer, die Beine drohten ihm den Dienst zu versagen – da sah er hinter sich, dass der Söldner ihn immer noch verfolgte. Wie war es Jost bloß gelungen, seiner Spur zu folgen – trotz aller Haken, die er geschlagen hatte? Der Mann war viel größer als er selbst, vielleicht lag es daran … Wulf verfluchte wieder einmal seinen kleinen Wuchs. So sehr er sich auch danach sehnte, stehen zu bleiben und aufzugeben: Eine rettende innere Stimme forderte ihn stets auf, noch ein Stück weiter zu laufen. Und noch ein Stück, und noch eins …

Endlich erreichte er das Tier, band mit zittrigen Fingern die Zügel los, schwang sich in den Sattel und trat dem Pferd in die Flanken. Als er lospreschte, warf er einen letzten Blick über die Schulter und erkannte den Söldner, nur wenige Schritte entfernt. Jost stand da, nach Atem ringend, die Faust geballt. Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich rasch.

Wulf war zu aufgewühlt, um seinen Triumph zu genießen. Noch war er nicht in Sicherheit, das wusste er, aber das nächste Stadttor lag nicht weit weg. Von dort kannte er den Weg nach Ostia, sodass er die Nacht durchreiten konnte. Am nächsten Morgen würde er, mit ein wenig Glück, in der Hafenstadt ein Schiff finden, das ihn ein Stück Richtung Norden mitnahm.

ERSTER TEIL

KAPITEL 1

Wittenberg, im Februar 1521

Als Anna vom Tod ihres Mannes Berthold erfuhr, war sie zuerst wie betäubt gewesen. Sie hatte eine Starre verspürt, die sich in Schmerz verwandelte, in Trauer – und schließlich in Wut. Wenn sie nachts wach lag, wenn die Erinnerungen sie quälten, die Bilder sie nicht losließen, dann haderte sie mit Gott und ihrem Schicksal.

Wie sollte es mit ihr und der kleinen Martha jetzt weitergehen? Ihre Tochter war erst sieben Jahre alt. Wovon sollten sie beide leben? Mussten sie nun betteln gehen? Würden sie aus dem Cranachhof fortgeschickt werden? Anna hatte diesen Gedanken immer wieder beiseitegeschoben. Aber auch eine gut situierte Familie wie die Cranachs konnte auf Dauer sicher nicht zwei Menschen beherbergen, die Kosten verursachten und nichts einbrachten.

Und jetzt hatte der Meister sie rufen lassen, um mit ihr das Gespräch zu führen, vor dem sie sich seit Tagen ängstigte. Ein Gespräch, dessen Ausgang sie schon zu kennen glaubte. Dabei galt Lucas Cranach in Wittenberg als reicher Mann, auch wenn er sich selbst nie so bezeichnen würde. Er sagte manchmal schmunzelnd, er sei »derzeit nicht vom Hunger bedroht«. Manche hielten solche Aussagen für eine Form von Hochmut – aber er meinte es ernst.

Cranachs Lebensgeschichte hatte Anna oft genug von ihm selbst gehört. Er war vor mehr als fünfzehn Jahren vom sächsischen Kurfürsten Friedrich zum Hofmaler ernannt worden, doch sein Ruf hatte sich weit über die Grenzen der kleinen Residenzstadt hinaus verbreitet. Es entsprach seinem Rang und seinem Ansehen, dass er, sieben Jahre im Amt, die Tochter eines Bürgermeisters heiratete: Seine Frau Barbara, eine geborene Brengebier, stammte aus Gotha. Vor kurzem hatte Lucas für sich, seine Frau und seine Kinder einen großen, nahe beim Wittenberger Schloss gelegenen Hof erworben, in dem sich auch die Malerwerkstatt befand. Die Zahl seiner Gesellen schwankte. Wenn er gerade viele Aufträge hatte, waren es neun, in mageren Zeiten beschäftigte er nur drei.

Zu Cranachs weitläufigem Hof gehörten auch eine Apotheke und eine Druckerei. Er war als Künstler und Geschäftsmann gleichermaßen erfolgreich. Die Gesellen und ihre Familien wohnten mit im Hof; und so hatten sich auch Berthold, Anna und Martha eine Kammer geteilt.

Es war ein kalter Februarvormittag. Der Rauch aus den Wittenberger Schornsteinen wurde vom schräg einfallenden Wind durch die Gassen getrieben; in der Ferne durchbrachen schrille, lachende Kinderstimmen die Stille. Anna fröstelte, als sie die Werkstatt betrat, aus der ihr der vertraute Geruch von Ölfarbe entgegenschlug. Die Hälfte des Raums lag im Dunkeln, die andere fing durch große Fenster aus einem fast wolkenlosen Himmel kaltes Licht ein. Außer Cranach waren noch vier Gesellen anwesend; zwei von ihnen mischten kostbare Farben, Ultramarinblau und Zinnoberrot, wie Anna im Vorbeigehen sah, und unterhielten sich leise. Die beiden anderen trugen den Hintergrund zu einem großformatigen Gemälde auf, das dem Sonnenlicht zugekehrt war: Das Urteil des Paris. Drei nackte Frauenfiguren zeichneten sich andeutungsweise darauf ab. Der Meister selbst würde, wie Anna wusste, später das Gesicht, die Augen und die zarten, hauchdünnen Schleier malen, die die Nacktheit mehr betonten als verdeckten.

Cranach fasste Anna am Arm und zog sie ein wenig abseits in den Teil des Raums, der im Halbdunkel lag. Seine Stimme klang, als habe er einen Kloß im Hals. Wie Anna wisse, habe er Berthold sehr geschätzt. Es sei auch für ihn ein furchtbarer Schlag, dass er nicht mehr unter ihnen sei.

Anna betrachtete seine trockenen Lippen, die sich im mächtigen Bart bewegten, und es schien ihr, als hätten sie mit den Worten, die sie formten, nichts zu tun. Sie wusste genau, was ihr bevorstand, und sie merkte auch, wie unangenehm dem Meister dieses Gespräch war. Hatte seine Frau ihn dazu gedrängt, endlich Klarheit zu schaffen?

»Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie es weitergehen soll«, fuhr Cranach fort. »Die Leute halten mich zwar für reich, und Gott sei Dank kann ich meine Familie und meine Gesellen mit ihrem Anhang ernähren, aber niemand weiß besser als ich, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen. Der Hof hat mich 2000 Gulden gekostet, und obwohl ich die beiden Häuser am Markt günstig losgeworden bin, haben sie nur zu zwei Dritteln die Summe gedeckt. Ich stehe finanziell unter Druck. Und auch meine Frau …«

Er beendete den Satz nicht, aber Anna verstand sehr gut. »Und wenn es eine Aufgabe für mich gäbe?«, fragte sie leise. »Wenn ich mich nützlich machen könnte?«

»Darüber zerbreche ich mir schon die ganze Zeit den Kopf«, antwortete er. »Aber wie? Mir fällt nichts ein.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch. Anna hatte das Geräusch kaum bemerkt, weil sie so angespannt war.

Ein Mann trat in den Raum. Jeder in der Stadt kannte ihn, denn er hatte sich als Professor an der neu gegründeten Universität einen Namen gemacht; außerdem galt er als glänzender Prediger. Nach Art der Augustinermönche trug er eine dunkle, aus grobem Stoff gefertigte Kutte mit Kapuze. Cranach ging auf den Mönch zu, und sie umarmten sich.

»Schön, dass du kommst, Martin. Ich wollte mit dir sprechen.« Cranach warf Anna einen flüchtigen Blick zu. »Allerdings habe ich erst am Nachmittag mit dir gerechnet.«

Die Unterbrechung kam Anna gelegen. Lucas Cranach und Martin Luther waren gute Freunde. Anna hatte – wie alle Einwohner Wittenbergs – mitbekommen, dass es wegen des Theologieprofessors Ärger im Reich gegeben hatte. Da ging es um theologische Fragen, über die sie sich kein Urteil erlauben wollte. Luther hatte vor einigen Jahren Thesen gegen den Ablass veröffentlicht und sich damit Feinde gemacht. Vor allem die römische Kirche zählte zu seinen Gegnern; es war kaum zwei Monate her, da hatte Luther öffentlich und demonstrativ eine Bulle des Papstes verbrannt, die ihm den Bann androhte. Daraufhin hatte der Papst über Luther den Kirchenbann verhängt.

Anna fragte, ob sie die beiden allein lassen solle.

»Nein«, wehrte Cranach ab, »bleib nur. Es dauert nicht lange.« Offenbar betrachtete er sie immer noch als Familienmitglied, vor dem er keine Geheimnisse haben musste – kein schlechtes Zeichen immerhin.

Cranach fragte Luther, welche Neuigkeiten es gebe. Aber das war mehr eine Floskel, Anna spürte, dass Lucas mit seinen Gedanken woanders war. Offenbar ging es auch bei diesem Gespräch um etwas Unangenehmes. Wahrscheinlich, dachte Anna, hatte er beide Unterredungen auf einen Tag gelegt, um sie bald hinter sich zu bringen.

»Die Arbeit wächst mir über den Kopf. Ich möchte meine neue Schrift bald druckfertig haben«, sagte Luther.

»Wieder eine Streitschrift?«

»Es geht mir nicht um Streit. Es geht mir um die Wahrheit.«

»Lucas!« Einer der Malergesellen winkte dem Meister. »Schau mal! Der Hintergrund – ist das in Ordnung so?«

Cranach trat näher an das Bild heran. »Noch etwas heller«, meinte er. »Hier an den rechten Rand soll ein Gebirge mit einer Burg darauf. Und ich möchte einen starken Kontrast zwischen dem Himmel und der Landschaft. – Michael!« Cranach wandte sich an einen anderen Gesellen, der in einem Farbtopf rührte.

»Noch etwas mehr Weiß!«

Der Geselle nickte.

Cranach wandte sich zu Luther und Anna. Luther kam ihm zuvor: »Worauf willst du hinaus? Du hast etwas auf dem Herzen, das merke ich.«

»Man hat mich gebeten, mit dir zu sprechen …«

»Wer hat dich gebeten?«

»Der Kurfürst«, sagte Cranach.

»Friedrich?«

»Schau nicht so betroffen. Er will dein Bestes.«

»Das klingt nicht gut«, sagte Luther. Er schaute zu Anna und schien zu überlegen, ob es nicht besser sei, sie wegzuschicken. Aber Cranach machte keine Anstalten.

»Keine Angst«, sagte Lucas. »Du weißt doch, wie sehr dem Alten seine Universität am Herzen liegt. Er hat sie schließlich selbst gegründet. Er ist stolz auf dich und deine Kollegen, das hat er mir selbst gesagt. Er fühlt sich euch gegenüber wie ein Vater und möchte euch beschützen.«

»Komm zur Sache, Lucas!«

»Nun, Martin … Der Alte macht sich Sorgen. Die Geschichte mit der Bulle – das fand er doch etwas stark von dir … sie einfach zu verbrennen! Und das Kirchengesetzbuch gleich mit dazu. Du weißt doch, wie sehr Friedrich auf Ausgleich bedacht ist.«

Luther runzelte die Stirn. »Er ist nicht Fisch und nicht Fleisch. Bei ihm weißt du nie, woran du bist.«

Cranach schob das Kinn nach vorn und kratzte mit drei Fingern im gekräuselten Bart. »Nun, ich finde es nicht ganz gerecht von dir, so zu urteilen. Die Freiheit, die ihr Professoren und Theologen hier in Wittenberg genießt, verdankt ihr ihm. Er will sich in eure theologischen Streitereien nicht einmischen. Vielmehr ist er um dein persönliches Wohl besorgt.«

Der Augustiner zog die Brauen zusammen. Das Volk liebte Luther, aber Anna hielt ihn für einen Dickkopf. Ihrer Ansicht nach hatte Cranach die Wahrheit gesagt. Der Kurfürst war ein gütiger Mann. Zweimal war sie dabei gewesen, als er die Werkstatt seines Malers besuchte, um sich persönlich zu überzeugen, dass er sich in seinem neuen Hof wohlfühlte und dass es ihm an nichts fehlte.

Anna hatte eine Abneigung gegen Mönche, seit einer versucht hatte, sie in einer Kapelle zu verführen. Selbst als sie ihn zurückgewiesen hatte, war der Kerl hartnäckig geblieben und sogar handgreiflich geworden, aber Anna hatte sich zu wehren gewusst.

»Der Kurfürst ist um mein Wohl besorgt? Was soll das denn heißen? – Will er mich wegschicken?«, fragte Luther.

»Nein, Martin, du bist auf dem Holzweg. Aber du hast dir mächtige Feinde gemacht. Es ist keine Kleinigkeit, den Papst und die Kurie gegen sich zu haben. Wenn ihre Privilegien auf dem Spiel stehen, können diese Leute sehr unangenehm werden. Vor allem, wenn man ihnen ins Geschäft pfuscht … Mit dem Ablasshandel will der Papst doch den Bau der Peterskirche finanzieren. Und Albrecht von Mainz braucht das Geld, um seine Schulden bei den Fuggern zu bezahlen, ohne deren Hilfe er nie Erzbischof geworden wäre. Du hast ihnen mit deinen Thesen also in die Suppe gespuckt. Ablasshändler machen verdammt schlechte Geschäfte heutzutage.«

»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht fluchen sollst – jedenfalls nicht so laut!«

»Entschuldige! Aber mit diesen Menschen ist nicht zu spaßen, Martin. Da ist schon mancher auf dem Scheiterhaufen gelandet. Friedrich befürchtet allerdings etwas anderes – und wie mir scheint, aus gutem Grund. Er ist lange im Geschäft und kennt die Intrigen und geheimen Händel der hohen Politik.«

»Du redest immer noch um den heißen Brei herum, Lucas. Ich kenne dich doch. Komm auf den Punkt!«

»Der Alte glaubt, dass man versuchen könnte, dich umzubringen!«

Anna beobachtete Luthers Gesicht. Seine Augen weiteten sich, er biss die Lippen aufeinander, sodass die Kieferknochen hervortraten.

»Wer sollte das versuchen?«

»Friedrich hat keine Namen genannt. Tatsache ist, dass du nicht nur in Rom, sondern auch im Reich Feinde hast.«

»Was bedeutet das?«, fragte Luther. »Was hat er vor?«

Es war plötzlich vollkommen still im Raum. Einer der vier Gesellen rührte immer noch sachte im Farbtopf, machte aber kein Geräusch, die beiden am Gemälde hielten zwar ihre Pinsel in der Luft, bewegten sie aber nicht.

»Er will für deine Sicherheit sorgen, du brauchst Hilfe! Du bewegst dich hier in der Stadt völlig ungeschützt, bist mit deinen theologischen Aufgaben überlastet und kannst dich nicht darum kümmern, was in deiner Umgebung passiert.«

»Du redest von mir wie von einem kleinen Kind«, sagte Luther. »Als bräuchte ich eine Amme, die mich bei der Hand nimmt und über die Straße führt.«

»Himmel, Herrgott, Martin …«

Luther hob den Zeigefinger.

»Verzeih!« Cranach senkte seine Stimme und sprach ruhiger. »Nun sei doch nicht gleich so bockig. Wir wollen dir helfen.«

»Das höre ich ständig. Jeder überhäuft mich mit klugen Ratschlägen.«

»Kurz und gut, Martin …« Cranach räusperte sich. »Du bekommst ein paar Leibwächter.«

»Ich? Leibwächter?!« Luther fasste sich mit beiden Händen an die Brust. »Das ist wohl ein Scherz?«

»Keineswegs!«

»Das lehne ich kategorisch ab!« Luther ballte die rechte Hand zur Faust und schlug sie in die flache linke. »Mein Leben ist in Gottes Hand! Ich lasse mir nicht meine Freiheit rauben.«

Cranach hob beschwichtigend beide Arme. »Du weißt, dass wir in Kursachsen keine richtige Armee haben, weil das zu kostspielig ist für unser kleines Land. Aber Friedrich hat eine Schutztruppe für besondere Aufgaben. Es gibt einen Mann, der sein besonderes Vertrauen genießt. Der Fürst möchte, dass ihr euch kennenlernt, ein paar Worte miteinander wechselt.«

»Worte wechseln? – Das ist doch alles schon beschlossene Sache. Ich soll nur Ja dazu sagen!«

»Der Mann, von dem ich spreche, heißt Jost Gessner. Ein exzellenter Soldat, vernünftig, umgänglich. Ich bin sicher, dass ihr euch gut versteht. Er kennt einige deiner Schriften und verehrt dich. Gessner ist normalerweise in Torgau stationiert, wird aber mit einigen Begleitern nach Wittenberg kommen.«

Luther verschränkte die Arme vor der Brust und verzog den Mund. Seine dunklen Augen blickten starr und trotzig. Er schob sein breites Kinn ein wenig nach vorn. Anna betrachtete ihn mit den Augen einer Malerin, denn sie war geschickt darin, mit dem Kohlestift die Gesichtszüge eines Menschen mit wenigen, klaren Strichen einzufangen. Sie fand sein Gesicht grob und knochig, die Lippen zu fleischig – ein typischer Mönch eben.

»Er kann gern nach Wittenberg kommen, dein Jost Kessler oder wie er heißt«, sagte Luther. »Aber empfangen werde ich ihn nicht.«

Cranachs Stimme klang nun erstmals gereizt. »Und ich sage dir, dass du ihn doch empfangen wirst!«

Luther hob überrascht den Kopf. »Ich werde ihn nicht empfangen!«

»Doch, wirst du!«

»Nein.«

Anna fragte sich, ob sie zwei Kindern zuschaute, die sich um ein Spielzeug stritten. Cranach ging einen Schritt auf den Augustiner zu und packte ihn mit beiden Händen an seiner Kutte. »Ich weiß, dass du ein Dickkopf bist, Martin, und ich habe manches Mal darüber gestaunt, mit welcher Konsequenz du deinen Weg gehst. Deine Halsstarrigkeit ist sogar oft ein Segen gewesen, davon bin ich überzeugt. Aber jetzt muss ich dir als dein bester Freund ein paar deutliche Worte sagen.«

»Lass mich los!«

Cranach zog ihn, im Gegenteil, noch ein Stück näher zu sich heran. »Es geht um dein Leben, Martin. Ich bin mir nicht sicher, ob du das begriffen hast. Ich will jetzt gar nicht davon reden, dass du alles, wofür du gekämpft hast, leichtfertig aufs Spiel setzt … Ich rede als Freund.« Er ließ ihn los und sprach nun sehr leise. »Ich möchte nicht an deinem Grab stehen.«

Luther rieb sich die Wangen. Schließlich blinzelte er einige Male, und als er antwortete, war auch seine Stimme leise. »Gut«, sagte er. »Ich werde mit diesem Söldner reden. Ich werde mir anhören, was er zu sagen hat und wie er sich das vorstellt. Danach treffe ich eine Entscheidung.«

»Er wird heute oder morgen hier eintreffen. Ich gebe dir Bescheid.«

»Einverstanden, Lucas.«

Die beiden gaben sich die Hand, und Luther verließ den Raum. Anna bemerkte, dass Cranach in sich versunken dastand. Dies war bestimmt kein guter Zeitpunkt, mit ihm über ihre Zukunft zu reden. Sie musste versuchen, die Aussprache zu verschieben.

Aber das war gar nicht nötig, denn Cranach selbst schaute auf und sagte: »Anna, lass uns später weiterreden. Ich bin zu abgelenkt. – Dieser Bursche macht es einem wahrlich nicht leicht, ihn zu mögen.«

Sie nickte und verließ die Werkstatt. Im Innenhof begegnete ihr Lydia, eine der Mägde, die gerade Küchenabfälle in eine Grube leerte. Anna betrat ein Gebäude auf der anderen Seite des Hofes und ging eine Treppe hinauf in ihre Kammer. Martha war nicht da; sie hatte ihre Tochter zu einer Nachbarsfamilie geschickt.

Anna setzte sich auf das Bett, das ihr nun groß und leer vorkam. Fast augenblicklich begann wieder das Hadern mit Gott. Sie zweifelte nicht an seiner Existenz, aber sie zweifelte an seiner Güte. Wie hatte er Bertholds Tod zulassen können? Sie und Martha hatten es nicht verdient, schutzlos zurückgelassen zu werden. War sie nicht zuvor ein Glückskind gewesen? Sie dachte an ihre Kindheit im Elsass, an die Stadt Hagenau, wo ihr Vater als Stadtschreiber arbeitete; wie glücklich war sie gewesen, als sie mit sechzehn Berthold kennenlernte – und bald darauf heiratete. Dann der Umzug nach Wittenberg und Marthas Geburt. Sicher, sie waren nicht reich, aber sie hatten, was sie zum Leben brauchten. Sie waren, das wurde Anna erst im Nachhinein bewusst, glücklich gewesen. Glück ist etwas so einfaches, dachte sie, das ist ein Kuss, eine Umarmung, das Lächeln eines Kindes. Aber es ist auch leicht und flüchtig, und von einem Moment auf den andern kann es dir genommen werden. Das alles hatte sie immer gewusst, aber erst in den letzten Tagen wirklich verstanden, was es bedeutete.

Und nun hatte Gott ihr alles genommen. Wer sonst? Gott war schuld an ihrem Leid! Hatte er Freude daran, sie zu quälen? Er war ein rächender, bösartiger Gott – der Gott des Alten Testaments, der ohne ersichtlichen Grund Hiob gequält und gedemütigt hatte. Angeblich, um ihn zu prüfen. Aber was für eine verdammte Prüfung war das, einem Menschen, der gerecht lebte, alles zu rauben – den Besitz, die Familie, die Gesundheit –, nur um zu sehen, ob er standhaft blieb in seinem Glauben?! Auf so eine Prüfung, ja auf so einen Gott konnte sie verzichten!

Ihre Mutter hatte sie gelehrt, zu beten und zu glauben, und der Vater hatte ihr Geschichten aus der Bibel vorgelesen. Sicher war es kein Zufall, dass sie gerade jetzt an die Vertreibung aus dem Paradies denken musste, an jenen drohenden Engel mit dem mächtigen Schwert, der Adam und Eva, die gesündigt hatten, aus dem Garten Eden wies. Auch sie und Martha waren nun aus dem Paradies vertrieben. Aber weshalb? Hatte sie eine besonders schlimme Sünde begangen? Ihr war nichts bewusst. Und ein Kind von sechs oder sieben Jahren … Das alles machte keinen Sinn.

Diese Gedanken ängstigten sie. Sie entdeckte Abgründe in ihrer Seele, von denen sie bislang nichts ahnte. Aber jammern nutzte nichts und Bitterkeit auch nicht. Schließlich, so dachte sie, kann er mir eins nicht nehmen, nämlich die Erinnerung an die schönen Stunden. Die lebten in ihr weiter. Sie dachte an die letzte Nacht mit Berthold. Als ob sie vorausgeahnt hätten, was geschehen würde, hatten sie sich in dieser Nacht so zärtlich, so leidenschaftlich geliebt wie vielleicht nie zuvor.

Schritte auf der Treppe rissen sie aus ihrem Wachtraum. Martha kam ins Zimmer.

»Du bist früh zurück«, sagte Anna.

Martha wollte wissen, worüber sie mit Onkel Lucas geredet habe. Sie wusste also von dem Gespräch, obwohl Anna ihr nichts gesagt hatte, um sie nicht zu ängstigen. Aber Martha spürte genau, was vor sich ging.

Anna sagte, sie seien unterbrochen worden. Sie werde später noch einmal mit ihm reden. »Weißt du, Martha, es geht um unsere Zukunft. Vielleicht müssen wir weg von hier.«

»Ich will aber nicht weg!«

»Ich auch nicht.«

Es musste doch einen Weg geben, Lucas zu überzeugen. Es gab immer einen Weg, wenn man wirklich danach suchte – oder nicht? Da kam ihr ein Gedanke. Was gab es schon zu verlieren? Sie musste es nur richtig anpacken …

KAPITEL 2

Man nannte die Einrichtung beschönigend »Badehaus«. Jost Gessner betrat das windschiefe Fachwerkgebäude wie ein alter Freund der Familie. In einem Raum mit einem mächtigen Kachelofen saßen fünf Frauen, die ihre Stühle um einen niedrigen Tisch geschoben hatten und Karten spielten.

»Und das … und das … und das!«, rief eine der Frauen, die auffallend mager war, begeistert und warf mit jedem Ausruf eine Karte auf den Tisch.

»Das gibt es doch nicht«, erwiderte eine gut genährte Rothaarige und legte entmutigt das Blatt, das sie in der Hand hielt, auf die Holzplatte. Die anderen Frauen folgten ihrem Beispiel. »Kann das denn mit rechten Dingen zugehen? Das ist das vierte Spiel hintereinander, das sie gewinnt.«

Die Angesprochene verzog das Gesicht. »Du bist ja nur neidisch, blöde Kuh. Du kannst ja selbst mit vier Buben auf der Hand nichts anfangen.«

»Mit vier Buben könnte ich eine ganze Menge anfangen«, widersprach die Rothaarige selbstbewusst.

Jost räusperte sich und sie schauten überrascht in seine Richtung. »Na, ihr Hübschen«, sagte er (und auch das mochte beschönigend sein). »Wo habt ihr denn die Mutter der Kompanie gelassen?«

»Die bedient gerade einen Kunden.«

Jost zog überrascht die Brauen hoch. Dann wolle er auf sie warten. Er setzte sich auf einen Hocker und betrachtete seine Stiefel.

Was mit ihm los sei, fragte die Magere, die ein blassgelbes, fleckiges Kleid trug, die Schnüre über der Brust gewohnheitsmäßig gelöst.

»Was soll los sein?« Er schaute nicht auf. »Will nur kurz guten Tag sagen.«

»So nennt man das also neuerdings.«

Jost fragte, wie die Geschäfte so liefen.

»Sehr schleppend«, seufzte die Rothaarige. »Die Kerle halten Winterschlaf.«

Sie wechselten noch ein paar Worte, dann war es still im Raum, abgesehen vom Ofen, in dem es knackte und knisterte. Jost starrte noch immer auf seine Stiefelspitzen, und die Mädchen blickten sich fragend an.

Er war mit seinen Gedanken weit weg bei einem Gespräch, das noch nicht lange zurücklag. Wie lange arbeitete er mittlerweile für den Kurfürsten? Zum ersten Mal hatte er mit ihm unter vier Augen gesprochen. Das war eine Ehre, es zeigte, wie sehr Friedrich ihn schätzte. Er hatte gerade ihn ausgewählt und die Männer, die ihm direkt unterstanden. Auf der anderen Seite und ohne es zu wollen, hatte Friedrich ihn in einen unerträglichen Zwiespalt gestürzt.

Jost war normalerweise in Torgau stationiert, doch seit etwa einem Monat war Friedrich in Wittenberg, und er hatte Jost dorthin beordert. Jost mochte die kleine Stadt und besonders das Panorama, das sich dem Reisenden von weitem, noch von der anderen Elbseite aus, öffnete. Von dort schaute man auf die Holzbrücke mit ihren mächtigen Pfählen, um die das Wasser wirbelte. Eine stille, weite Landschaft voller Felder, Wiesen und Obstgärten. Hinter der Brücke kamen erste Behausungen und vereinzelte Vororte, die die Nähe der niedrigen, nicht sonderlich wehrhaften Stadtmauer suchten. Innerhalb des Mauerrings dann kleine, spitzgieblige Fachwerkhäuser mit roten und schwarzen Dächern, überragt von den markanten Gebäuden der Stadt, von dem Schloss mit der Schlosskirche linker Hand, der Stadtkirche in der Mitte und weiter rechts den Universitätsgebäuden und dem Augustinerkloster. Jost mochte den Wittenberger Marktplatz, den mehrstöckige Fachwerkhäuser mit geschwungenen Giebeln säumten, mit einem Brunnen in der Mitte. Und besonders gefiel ihm das gemütliche, von seiner Freundin Hanna geleitete Badehaus. Doch auf der Reise war er voller Unruhe gewesen, weil er nicht wusste, weshalb der Fürst ihn hatte rufen lassen. Friedrich war nicht nur der Begründer der Universität, auch den Bau von Schloss und Schlosskirche verdankte die Stadt ihm. Kaum angekommen, war Jost zu ihm geeilt. Der Fürst hatte ihn in seinem Arbeitszimmer empfangen. Immer wieder musste Jost an das Gespräch denken …

Friedrich saß hinter einem massiven Holztisch, auf dem wohlgeordnet Papiere lagen, die kleine Stapel bildeten. Er hatte sich einen Pelz über die Schulter geworfen, die Lippen waren in seinem imposanten Bart versteckt. Friedrichs Reliquiensammlung war weithin berühmt, und einige Stücke bemerkte Jost auch in diesem Raum. Eine aus Lindenholz geschnitzte, mit Blattgold verzierte Madonna glänzte im Licht der Wintersonne. Friedrich winkte ab, als Jost niederknien wollte, und wies ihm einen Stuhl gegenüber an.

Ohne Zweifel habe Jost von dem Augustinermönch Luther gehört, begann er. Dabei fixierte er eines der Schriftstücke auf seinem Tisch, las aber nicht darin, sondern suchte, wie es Jost vorkam, nach der rechten Formulierung. Überhaupt sprach er langsam und gedehnt, als müsse er jedes Wort aus einem Sack herauskramen und an die richtige Stelle setzen. Schließlich nannte er den Grund des Treffens: Luthers Leben sei in Gefahr – und er, Jost, solle ihn schützen.

Jost erwiderte zunächst nichts. Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Ob der Fürst einen konkreten Verdacht habe, fragte er schließlich. Wer denn versuchen könne, Luther zu töten?

Friedrich zögerte wieder mit seiner Antwort. Schließlich sagte er: »Ich glaube, dass von vielen Seiten Gefahr droht. Und das macht die Aufgabe, mit der ich dich betraue, so schwierig. Du darfst niemandem vertrauen. Kurz und gut: Du bist mir ab sofort für Luthers Leben verantwortlich!«

Und dann hatte der Fürst ihm klargemacht, wie wichtig es sei, Diskretion zu wahren. Er als Kurfürst müsse in der Luthersache politisch neutral bleiben, das sei für sein Sachsen überlebenswichtig. Ein so kleiner Staat sei immer bedroht und nur geschickte Diplomatie, ein Lavieren zwischen den Großmächten, sichere seine Existenz. Er als Fürst trage große Verantwortung, und es sei für ihn oberstes Ziel, sein Land aus kriegerischen Verwicklungen herauszuhalten.

»Krieg ist immer ein Fehler«, fuhr Friedrich fort, »und das Wohl meiner Untertanen ist mir wichtiger als Ruhm und Schlachtengetümmel. Die Luthersache ist heikel, da steht so viel auf dem Spiel – vielleicht das Schicksal des ganzen Landes. Der Streit um Luther ist im Moment noch ein religiöser, aber jeder, der über seinen Tellerrand hinausblickt, weiß, dass daraus in Windeseile ein politischer werden kann … Außerdem berührt er die Kernfragen unseres Menschseins. Es geht letztlich darum, wie der Mensch vor sich selbst und vor Gott bestehen kann …«

Am Ende der Unterredung hatte der Fürst ihm eine hohe Belohnung versprochen, wenn er seine Arbeit gut mache.

Jost hob den Kopf, weil er Schritte auf der Treppe und bald darauf Hannas Stimme hörte. Sie begleitete einen Kunden zur Tür. Dann trat sie ins Zimmer, entdeckte Jost, rief überrascht seinen Namen. Hanna war klein gewachsen, hatte blondes, mit den Jahren etwas verblasstes Haar. Trotz einiger Falten gefiel ihm ihr Gesicht unverändert, er fand sogar, dass die Jahre sie noch schöner gemacht und ihre grünlich schimmernden Augen an Wärme gewonnen hatten. Sie umarmten sich.

»Ich wusste gar nicht, dass du dich noch selbst um Kunden kümmerst.«

Sie lächelte. »Bist du etwa eifersüchtig?«

»Schon möglich.«

»Lass uns nach oben gehen, Jost, und in Ruhe ein wenig plaudern. Wir haben uns lange nicht gesehen.«

Die Holztreppe knarrte, als sie hinaufgingen in Hannas Stube, die beheizt war. Hanna setzte sich auf ihr Bett, das zerwühlt aussah, und deutete auf einen Stuhl. Jost setzte sich ihr gegenüber. Auf einem Tisch standen ein Krug mit Wasser und eine Waschschüssel; Tropfen fielen vom Tisch auf staubige Dielen. Es war noch zu früh, um Kerzen anzuzünden, und deshalb ein wenig düster im Raum.

Hanna musterte ihn aufmerksam. »Was sind das für Schatten unter deinen Augen? Und in die Haare hat sich etwas Grau geschlichen!« Sie strich mit dem Daumen liebevoll über seine kurze Nase, die etwas krumm war von einem Schlag, der ihm einst das Nasenbein gebrochen hatte. Ihr fiel immer auf, wenn sich in seinem Gesicht etwas verändert hatte.

»Wie lange kennen wir uns, Hanna?«

»Viele Jahre – oder soll ich sagen: Jahrzehnte?«

»Ich muss dir mein Herz ausschütten … eigentlich bin ich nur deshalb gekommen. Ich habe nämlich eine neue Aufgabe, die mir Angst macht: Ich soll Luther beschützen.«

Sie legte die Hand an den Mund. »Das ist ein heikles Geschäft.« Ihm fiel auf, dass sie fast die gleichen Worte benutzte wie der Kurfürst.

Häufig rätselte Jost, wie sie zueinander standen. Ihre Lebenswege hatten sich auf geheimnisvolle Weise immer wieder gekreuzt. Sie verfügte über ähnliche Erfahrungen wie er. War sie nicht ebenso eine Söldnerin? War er nicht auch jemand, der seinen Körper für Geld verkaufte? Als sie später nebeneinanderlagen, er auf dem Rücken und sie seitlich neben ihm mit ihrem Kopf auf seiner Schulter, fühlte er sich geborgen. Aber die Gedanken an die Realität kamen bald zurück.

»Der Auftrag macht mir Angst«, wiederholte er.

»Weil es dich an früher erinnert?«

»Weil es mich an mein Versagen erinnert.«

»Du hast nicht versagt.«

»Doch! Die Erinnerung verfolgt mich. Ich sehe den Pfeil in Brangenbergs Hals. Es ist wie ein Alptraum. Und ich sehe ihn, wie er mich anschaut, mit weit geöffneten Augen, in denen Unglauben steht und Erschrecken. Und die mich anklagen! Du warst beauftragt, mich zu schützen, sagen sie, und du hast mein Vertrauen missbraucht!«

»Rede keinen Unsinn!«

»Und jetzt das Gleiche wieder, wenn auch viele Jahre dazwischenliegen.«

»Kennt Friedrich eigentlich die Brangenberg-Geschichte?«, fragte Hanna.

»Er weiß nicht, dass ich damals für Brangenbergs Sicherheit zuständig war. Du erinnerst dich, dass ich damals nach Italien ging, damit Gras über die Sache wuchs. Als Friedrich mich in seine Dienste nahm, holte er einen Söldner, der für die Medici gekämpft und sich bewährt hatte … Meine wahre Vergangenheit kennt er nicht.«

Hanna schwieg nachdenklich. Schließlich meinte sie: »Vielleicht hättest du ihm besser die Wahrheit gesagt.«

»Dann hätte ich die Stelle nicht bekommen. Es war eine einmalige Chance.«

KAPITEL 3

Südwestlich von Wittenberg lag eine von Laubwäldern umschlossene Stadt, einst von Mönchen gegründet, nun Sitz eines kleinen Bistums. Die berühmte Kathedrale mit ihren Spitzbögen und den zwei schlanken Türmen ragte aus dem Gewirr niedriger Dächer hervor. Auch das Schloss, in dem Bischof Joseph von Brangenberg residierte, wirkte zu weitläufig und prächtig für die umgebenden Bürgerhäuser, die in einen engen Mauerring gepresst standen. Das Schloss war größer als das des sächsischen Kurfürsten – obwohl Brangenberg vom Rang her weit unter Friedrich stand und seine Diözese eine der unbedeutendsten im Reich war.

Als Wulf Kramer das Privatkabinett des Bischofs betrat, sah er gerade noch eine Frau in einem leichten Gewand, unter dem ihre nackten Beine hervorschauten, aus dem Raum eilen. Das war wahrscheinlich seine Mätresse, dachte Wulf, denn er wusste, dass der Bischof alles andere als ein zölibatäres Leben führte. Man erzählte sich hinter vorgehaltener Hand, der Bischof stürze sich ihretwegen ohne Sinn und Verstand in horrende Unkosten. Außerdem hieß es, sie wisse um ihre Macht und könne ihn nach Belieben um den Finger wickeln.

Wie viel davon der Wahrheit entsprach, konnte Wulf nicht beurteilen, doch ohne Zweifel war Joseph von Brangenberg, dessen Vater er vor mehr als zehn Jahren getötet hatte, ein Genussmensch. Das sah man ihm auch an – nicht zuletzt aufgrund seiner Körperfülle und der ungesunden, rötlichen Gesichtsfarbe.

Der Bischof breitete seine Arme aus, als wolle er den Segen erteilen. »Luther wird zur Bedrohung! Dieser Mann verbreitet Irrlehren, er ist ein Ketzer und der Antichrist!«, sagte er. »Deshalb muss er sterben! Töte ihn – und so erfüllst du den Willen Gottes!«

»Das ist eine schwierige und riskante Aufgabe«, erwiderte Wulf. »Luther ist beim Volk beliebt.«

»Und deshalb muss es wie ein Unfall aussehen. Traust du dir das zu?«

»Es ist machbar.«

Es war das erste Mal seit dem Mord an seinem Vater, dass Brangenberg Wulf zu sich bestellt hatte. Wulf wohnte in einer kleinen Ortschaft nicht weit entfernt, und obwohl sie persönlich keinen Kontakt pflegten, war das Band zwischen ihnen doch nie zerrissen. Als hätten sie geahnt, dass sie sich eines Tages wiedersehen würden …

»Luther ist selten allein anzutreffen«, sagte Wulf. »Er ist gesellig, umgibt sich mit Freunden, zeigt sich häufig in der Öffentlichkeit. Ich gehe ein hohes persönliches Risiko ein.«

Wulf betrachtete Brangenberg, der sich ankleidete, während sie sprachen: Über ein langes, von den Schultern bis fast zu den Füßen reichendes weißes Kleid streifte er nach und nach die zum bischöflichen Ornat gehörenden Gewänder.

»Ich werde den Auftrag nur annehmen«, sagte Wulf, »wenn die Entlohnung stimmt. Sprechen wir von Zahlen!«

Genau das, spürte Wulf, wollte der Bischof vermeiden. Konnte er Brangenberg vertrauen? Damals hatte er sein Geld zwar bekommen, aber diesmal stand mehr auf dem Spiel. Für den Bischof war er nämlich nicht nur ein möglicher Handlanger, sondern zugleich eine Bedrohung. Er musste auf der Hut sein!

»Bedenke, dass du etwas für dein Seelenheil vollbringst … für Gott und die Heiligen ein wohlgefälliges Werk! Dazu biete ich dir dreihundert Gulden.«

Wulf schüttelte den Kopf. »Soll das ein Witz sein?«

»Mehr kann ich nicht aufbringen. Mir fehlen die Einkünfte aus dem Ablasshandel.«

»Fünftausend!«, sagte Wulf.

Der Bischof erblasste. »Fünfhundert! Mein letztes Wort!«

Wulf drehte sich langsam um und ging zur Tür. »Ich vergeude meine Zeit …«

»Moment! Warte!«

Wulf blieb stehen.

»Lass uns verhandeln!«

Er wandte sich wieder dem Bischof zu. »Ich verhandele nicht! Fünftausend – und keinen Gulden weniger. Die Hälfte im Voraus, den Rest, nachdem die Arbeit getan ist.«

Seine Forderung war unverschämt, das wusste Wulf sehr wohl. Aber er hatte sich über Brangenbergs Lage informiert und glaubte, dass dem Bischof keine andere Wahl blieb. Falls er sich in diesem Punkt täuschte, wäre allerdings sein Leben in höchster Gefahr, denn er wusste bereits zu viel. Wulf hatte bemerkt, dass der Diener des Bischofs, ein gewisser Breitinger, sich in der Nähe herumtrieb. Vielleicht stand er just in diesem Moment lauschend hinter einer Tür und wartete nur auf einen Wink seines Herrn. Es war wie ein Spiel um sein Leben, bei dem Wulf alles auf eine Karte setzte. Seine Bereitschaft, das hohe Risiko einzugehen, gründete auf allerlei Nachforschungen.

Er wusste bereits, dass Brangenberg sich in jungen Jahren mit der Erbschaft seines Vaters den Bischofshut erkauft hatte. Seitdem lebte er über seine Verhältnisse. Er hatte das bischöfliche Palais vergrößern lassen und den Umbau der berühmten Kathedrale in Angriff genommen; außerdem verschlangen seine Hofhaltung und die Mätresse Unsummen. Und nun hatte Wulf in Erfahrung gebracht, dass Brangenberg nach Höherem strebte. Sein Vorbild war Albrecht von Mainz, der die Bistümer Magdeburg und Halberstadt in seine Hand gebracht hatte. Wie der Mainzer Kirchenfürst hoffte Joseph auf Ämterkumulation – was nach kanonischem Recht unzulässig war, doch solche Probleme ließen sich mit Geld lösen. Seitdem Luther die wichtigste Einnahmequelle zum Versiegen gebracht hatte, war das Geld jedoch knapper geworden. Josephs Bistum lag nur einen Tagesritt von Wittenberg entfernt, und alles, was in Wittenberg geschah, hatte unmittelbare Auswirkungen.

Beide schauten sich in die Augen. Wulf spürte, dass es bei diesem Wettkampf tatsächlich um alles ging. Hatte er sich zu weit aus dem Fenster gelehnt? Noch immer war er fest davon überzeugt, dass Luther für den Bischof eine tödliche Gefahr darstellte … in mehrfacher Hinsicht.

Dieser Mann hatte Einfluss auf das Volk. Er verbreitete seine Lehren nicht nur von der Kanzel aus, sondern war zugleich ein begabter Schriftsteller. Seine Gedanken verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Dieser Ketzer machte vor nichts halt! Er stellte die Autorität des Papstes in Frage, und auch Konzilien hätten schon geirrt, behauptete er. War es da nicht eine Frage der Zeit, bis er die Kirche selbst angriff – mit allen ihren Repräsentanten? Joseph von Brangenberg musste um seinen Bischofshut und um seine Herrschaft fürchten, für die er einst so teuer bezahlt hatte. Wenn das Feuer, das Luther in seiner unmittelbaren Nachbarschaft gelegt hatte, erst richtig an Kraft gewann, würde es das kleine Bistum wegfegen und den Bischof gleich mit. Brangenberg – und darauf setzte Wulf seine ganze Hoffnung – sah bereits die Flammen auf sich zukommen. Er würde buchstäblich jeden Preis bezahlen, um den Brandstifter zu beseitigen und das Schlimmste zu verhindern.

»Also gut, einverstanden. Aber ich brauche Zeit, um das Geld zu besorgen«, sagte Brangenberg schließlich und blickte zu Boden.