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Wittenberg, im Frühjahr 1521. Aufmerksam beobachtet Jost, ein Söldner, die geladenen Gäste im Cranachhof. Es ist ein Abschiedsfest für Martin Luther, den Reformator, der bald nach Worms aufbricht. Kaiser Karl V. hat ihn vor den Reichstag geladen, um sich vor Kaiser und Reich zu verantworten. Wird man von ihm fordern, seine Lehre zu widerrufen? Oder ihn gar als Ketzer verurteilen? Jost soll das Leben des Reformators schützen; Kurfürst Friedrich hat ihn zu Luthers Leibwächter ernannt. Eine heikle Aufgabe, denn Luther hat nicht nur Freunde ...
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Seitenzahl: 414
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Christoph Born
Historischer Roman
2. Auflage 2006
© 2006 Brunnen Verlag Gießenwww.brunnen-verlag.deLektorat: Eva-Maria BuschUmschlagmotiv: Rogier van der Weyden,St. Ivo; visipix.comUmschlaggestaltung: Ralf SimonSatz: Die Feder GmbH, WetzlarDruck: GGP Media GmbH, PößneckISBN 978-3-7655-1933-8eISBN 978-3-7655-7060-5
Druckerei zur Zeit Gutenbergs
Rom, im April 1453
Er kannte den Mann nicht, den er töten sollte.
Sebastiano saß an der Schmalseite des Tisches, seine Frau Emilia ihm gegenüber und die beiden Kinder an den Längsseiten. Enzo stopfte lustlos das Essen in sich hinein, Beata zog die Nudeln in die Länge und ließ sie auf den Teller spritzen. Sebastiano gab ihr einen Stups und drohte mit dem Zeigefinger.
»Wann kommst du zurück?«, fragte Emilia.
»Ziemlich früh.« Er musste den Auftrag erledigt haben, bevor es dunkel wurde; das war ihm recht, denn er war Frühaufsteher. Einmal hatte er nachts töten müssen, und er hatte sich nicht sicher gefühlt. Es war wichtig, dass er das Geschehen kontrollierte. »Das ist schön«, sagte sie, »wir könnten mit den Kindern zum Fluss gehen.«
»Sehr gern, Emilia, vielleicht ist der Alte da – du weißt schon, der die Fische brät!« Die Kinder freuten sich.
Vor etwa einem Monat hatte Emilia ihm gesagt, dass sie schwanger sei, und die Wohnung wurde zu klein für sechs Leute. Seine alte Mutter gehörte noch zur Familie, sie lag nebenan und wollte nicht essen. Enzo besuchte die Lateinschule, und falls das dritte Kind ein Junge würde, sollte auch er die Schule besuchen. Für Beata brauchte er eine Mitgift, wenn sie ins Heiratsalter kam, denn sie sollte eine gute Partie machen. Das hatte zwar noch viele Jahre Zeit, aber er plante weit im Voraus.
»Wo musst du heute hin?«
»Zur Herberge an der Piazza del Popolo, neben Santa Maria. Ich werde den Pilgern das Pantheon zeigen, den Lateran, Sankt Peter … Es ist noch nicht viel los, weil die Alpenpässe schlecht passierbar sind, aber ab Mai wird es besser.«
Er konnte von dem, was er als Fremdenführer verdiente, die Familie nicht ernähren. Er leerte seinen Teller und stand auf. »Ich muss los!«
Emilia begleitete ihn zur Tür. »Bis später«, sagte sie und küsste ihn.
Das Treppenhaus war alt und baufällig, die Stufen steil, und er stützte sich mit der rechten Hand an der Wand ab. Wenn alles klappte, würden sie sich eine neue Wohnung leisten können, nahe beim Tiber. Im südlichen Teil der Stadt hatte er sich letztens eine angesehen, er hatte Emilia nichts davon erzählt, es sollte eine Überraschung werden. Bis zum Sommer würde er noch warten, dann konnte er sagen, dass dieses Jahr mehr Pilger kamen, dass das Geschäft fantastisch lief und dass er heimlich Geld zur Seite gelegt habe. Sein Einkommen wuchs tatsächlich von Jahr zu Jahr, wenn auch bescheiden; denn seit Nikolaus V. Papst war, kamen mehr Pilger, angelockt von den ehrgeizigen Bauprojekten und vom Ablass, für den seine Legaten überall in Europa warben. Nikolaus hatte viel in Bewegung gebracht, aber mittlerweile war er krank und gebrechlich. Ob Sebastiano jemals als Fremdenführer genug verdienen würde, um seine Familie durchzubringen?
Es war sein größter und bisher schwierigster Auftrag.
Er trat auf die Straße und schaute gewohnheitsmäßig zum tiefblauen Himmel, über den zerrissene, weißgraue Wolken jagten. Vielleicht würde es ein paar Schauer geben, nicht der Rede wert; die Luft war angenehm mild und frühlingshaft. Seit er fünfzehn war und sein Vater starb, trug er Verantwortung. Seine Kinder wussten nicht, wie gut sie es hatten! Aber sie waren noch jung, Enzo sieben und Beata erst fünf. Seit er fünfzehn war, versorgte er seine Mutter und auch seine fünf Geschwister, bis sie alt genug waren, um auf eigenen Füßen zu stehen. Sein Vater hätte ihm das nie zugetraut, der Junge ist zu weich, sagte er, schaut euch nur seine zarten Finger an, das sind die Hände einer Frau. Klein und zierlich war er, zugegeben, aber er besaß Energie und konnte sich durchsetzen. Jetzt hatte er seine eigene Familie.
Hatte er trotzdem alles falsch gemacht?
Es war nicht der Zeitpunkt, solche Fragen zu stellen, das lag am Frühling und an der Luft, die wehmütig machte. Heute durfte nichts schief gehen. In Gedanken hatte er jeden Schritt mehrfach durchgespielt, bis er sogar davon träumte.
Ich tue es für meine Familie, sagte er sich, für meine Frau und meine Kinder.
Er grüßte die Nachbarin, die mit einem Korb voll Gemüse vom Markt kam; die drei Alten, die wie immer auf einer wackligen Bank vor der Haustür saßen, schon Wein tranken und gestikulierten; den Bäcker, der ihm aus seinem Laden zuwinkte; die Mutter, die ihre Tochter an der Hand führte; den Wasserträger; den Karmeliterpater …
Sebastiano ging die Straßen entlang Richtung Pantheon, seine Stadt gefiel ihm zu dieser Jahreszeit am besten, wenn es alle in die Gassen zog, wenn man aus jeder Ecke Baulärm hörte und die Flüche und Schreie der Fuhrwerker. Als er die Kuppel des Pantheons sah, bog er ab in eine Seitengasse, die menschenleer war. Er öffnete die Tür eines zweistöckigen Gebäudes und warf einen kurzen Blick auf die hölzerne Marienfigur, die in einer Nische neben dem Eingang stand, das Jesuskind auf dem Arm.
Er ging eine Treppe hinauf und öffnete eine Tür, die ebenfalls nicht verschlossen war. Sebastiano schaute sich im Raum um und war zufrieden, er fand alles so vor, wie es mit Guido Bologna abgesprochen war. Auf einem Bett lagen das Kleid und die Jacke, auf einem Tisch stand der Korb mit den Süßigkeiten, daneben das Kopftuch, und auf einem kleinen Wandschrank sah er, an die Wand gelehnt, den Metallspiegel.
Der Raum lag im Halbdunkel, die Läden waren nur einen Spalt breit geöffnet, aber die Sonne stand so, dass ein heller Lichtstreifen einfiel, in dem Staubkörner tanzten; vom Hof drang Kindergeschrei herein. Er zog sich aus und legte seine Hose, ordentlich zusammen gefaltet, auf das Bett, darauf sein Hemd, dann nahm er das Kleid und ging zum Spiegel. Er hielt es sich vor den Körper und betrachtete sich. Sein Vater hatte Recht, seinem Körperbau nach hätte man ihn leicht für eine Frau halten können, nicht nur der dünnen Arme und Beine und der feingliedrigen Finger wegen, auch seine Gesichtszüge waren feminin, sein Haar weich. Den väterlichen Pelz hatte er nicht geerbt, und seine Haut war glatt, als habe er sie mit Bimsstein abgerieben wie die adligen Frauen. Das rotbraune Kleid wirkte abgetragen und unscheinbar; man sah unzählige, die ihm ähnelten, in den Straßen.
Er trat näher zum Spiegel und betrachtete seine gründlich rasierte Gesichtshaut. Nein, er brauchte sich keine Sorgen zu machen, nicht der Schatten eines Barts war zu erkennen, beim besten Willen nicht, selbst wenn er sich so stellte, dass das Licht auf seine Wange fiel. Er hatte blonde Haare, wie sein Urgroßvater, den er nur vom Erzählen kannte. Sebastiano übte ein Lächeln, obwohl er sich unwohl fühlte. Er hatte bereits zwei Menschen getötet, aber was heute anstand, war ungleich schwieriger.
Als Kind musste er häufig wie ein Mädchen herumlaufen, erinnerte er sich, während er sich ein Brustband umlegte und es ausstopfte, sie waren arm, und er bekam die Sachen seiner um ein Jahr älteren Schwester. Das war nicht ungewöhnlich, dort wo sie lebten, und der Spott hielt sich in Grenzen.
Er streifte sich das Kleid über den Kopf. Die Sandalen passten gut, Bologna hatte an alles gedacht, und Sebastiano griff zum Kopftuch. Als er sich wieder im Spiegel betrachtete, verblüffte ihn die Wirkung, und seine Bedenken schwanden; die Wachen würden seine Verkleidung nicht durchschauen.
Er dachte an die Zehn Gebote, die man ihm und seinen Kameraden mit dem Stock eingebläut hatte. Wie lautet das erste Gebot? Du sollst keine anderen Götter haben … Und wenn man es nicht wusste, sauste die Rute durch die Luft, und im nächsten Moment jagte ein stechender Schmerz durch die Finger. Immer auf die Finger! Das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten! – Eine Begründung dafür hatte er nie geliefert, der dicke, grausame Priester. Aber die Welt war nun mal grausam, und wenn man nicht untergehen wollte, dann musste man sich anpassen. Bestand nicht die Kunst des Überlebens darin, sich zu verwandeln? Eine ewige Metamorphose …
Sebastiano glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod. Mit dem Tod war alles vorbei! Und deshalb spielte es auch keine Rolle, ob man tötete oder nicht. Man durfte sich nur nicht dabei erwischen lassen, das war in Wahrheit das erste und wichtigste Gebot. – Nur seine Familie war ihm heilig, nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, seine Frau zu schlagen, wie er das bei anderen Männern beobachtet hatte, die er deswegen verachtete.
Er war mit seiner Maskerade zufrieden, und es blieb Zeit, den Gang zu üben. Das war wichtig, denn wenn er sich in den Kleidern natürlich und selbstbewusst bewegte, dann zweifelte niemand an seiner Echtheit. Er hatte in den letzten Tagen seine Frau und ihre Art, sich zu bewegen, aufmerksam beobachtet. Ich muss mir einfach vorstellen, ich sei Emilia, sagte er sich, das ist ein guter Trick, es gibt keinen Menschen, den ich so gut kenne wie sie, und ich werde einfach für ein paar Stunden in ihre Haut schlüpfen wie ein Schauspieler. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass auf der Bühne Frauen Männerrollen übernahmen und umgekehrt.
Er ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab, betrachtete sich dabei im Metallspiegel, fand das Ergebnis nicht übel und wagte Tanzschritte, weil er fand, dass es ihm noch an Leichtigkeit fehle. Spielerisch lernt man am schnellsten, das hatten ihn seine Kinder gelehrt. Er schnitt Grimassen und probte sein Mienenspiel. Dann war es genug – Zeit zu gehen. Er packte den Korb unter den Arm, verließ das Zimmer und das Haus.
Als er aus der Sackgasse und unter Menschen kam, fürchtete er jedes Augenpaar und dass alle Köpfe sich ihm zuwenden, dass man ihn verlachen würde. Bestimmt wirkte sein Gang hölzern und kantig. Aber nichts geschah! Man beachtete ihn kaum. Bei einer Taverne standen fünf Männer, und einer pfiff ihm hinterher, worauf die andern lachten. Er trieb die Sache auf die Spitze, indem er eine passende Antwort gab und die Wirkung seiner Stimme erprobte; sein Versuch kam ihm ziemlich misslungen vor, aber den Männern fiel nichts auf. Seine Schritte gewannen an Sicherheit.
Er machte ein paar Umwege, plauderte mit einem Fleischer und stellte sich vor, er sei Emilia, bis er schließlich wirklich das Gefühl hatte, in ihre Haut geschlüpft zu sein. Dann ging er zum Tiber, sang leise vor sich hin, wie sie es oft tat, und überquerte die Brücke. Hier musste er aufpassen, nicht unter die Räder zu kommen. Fuhrwerke rollten zum Vatikan, beladen mit Steinen, Balken, Fässern und Säcken, gezogen von Pferden und Ochsen, die sich gegen das Gewicht stemmten, und leere Wagen kehrten von dort zurück, mit Zugtieren, deren Schritte leicht waren.
Männer mit Hellebarden bewachten den Eingang zum Vatikan, und Sebastiano reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Seit dem misslungenen Attentat auf den Papst hatte man die Bewachung verschärft. Er schaute auf seinen Korb mit den Süßigkeiten und dachte an Porcari.
Stefano Porcari, der dem niederen Adel entstammte, hatte im Januar eine Verschwörung gegen den Papst angezettelt. Er war ein Populist, Sebastiano hatte ihn vor zwei Jahren reden hören, als er das Volk aufwiegelte, daraufhin schickte ihn der Papst in die Verbannung. Aber Porcari kehrte zurück, verhielt sich zunächst ruhig und warb im Untergrund für seine Sache. Er war Republikaner, wollte Rom von der »Knechtschaft der Päpste« befreien, den Vatikan in Brand setzen, den Papst entmachten, wahrscheinlich sogar töten und sich selbst zum Tribun erheben. Pech für Porcari, dass Nikolaus von der Sache Wind bekam, er wurde zusammen mit seinem Sohn, seinem Schwager und weiteren Komplizen hingerichtet. In der Engelsburg baumelten sie am Galgen, als abschreckendes Beispiel. Hoffentlich würde es Sebastiano nicht genauso ergehen!
Eine Mauer umgab den Vatikan. Über die Schultern seines Vordermannes, durch das offene Tor, sah Sebastiano die Baugerüste an Sankt Peter, ein Steinblock bewegte sich an einer Seilwinde nach oben, angetrieben von zwei Männern, die ein riesenhaftes Rad in Gang hielten, in dem sie eingesperrt waren wie in einem Käfig. Es hatte Gerüchte gegeben, Sankt Peter solle ganz abgerissen und eine neue Kirche an derselben Stelle errichtet werden, aber dazu war es nicht gekommen.
Nicht nur der Vatikan, die ganze Stadt war eine Baustelle, und vielleicht würde Rom wieder aufblühen – hoffentlich! Was war nur aus dem einstigen caput mundi, der Welthauptstadt geworden! Auf dem Forum Romanum weideten Ziegen, zu Sebastianos großem Ärger. Weite Teile der Stadt lagen in Trümmern, und die Aurelianische Stadtmauer wirkte wie ein Mantel, der früher einmal gepasst hatte, aber für einen abgemagerten Körper zu weit geworden war und an den Gliedern schlotterte. Aber es ging wieder aufwärts, seit die Päpste aus dem Exil in Avignon zurückgekehrt waren, seit das Konzil von Konstanz die Einheit der Christenheit notdürftig wiederhergestellt hatte. Vor allem seit Nikolaus im Vatikan regierte, machte sich die Hoffnung breit, Rom werde seinen alten Glanz zurückgewinnen.
Ein Wagen mit Getreide passierte das Tor, nach ihm einige Cluniazenser in Ordenstracht – und dann stand Sebastiano vor einem stämmigen Wachmann mit silbrig glänzendem Helm. Er hielt gleich seinen Korb vor: »Orientalische Leckerbissen«, sagte er, »Kuchen und anderes. Ich möchte das an die Küche verkaufen.«
Der Wachmann nickte. »Der Küchenmeister war bei mir, ich weiß Bescheid. Dort hinten links.«
Sebastiano ging vorbei, und das war leichter gewesen als erwartet, denn er hatte nicht gewusst, dass man die Wachen informieren würde; wäre er darüber unterrichtet gewesen, hätte er sich die quälendsten Sorgen sparen können.
Er folgte dem Getreidelieferanten. Bauhütten lehnten an Sankt Peter, Steinmetze klopften und hämmerten, und auf dem Gerüst und dem Dach sah man Arbeiter. Sebastiano hörte Messgesang, und Geistliche strömten zum Portal. Er sah nur wenige Frauen, aber niemand schenkte ihm Beachtung, während er zum Palast ging.
Obwohl die Päpste im Ernstfall in die Engelsburg flüchteten, zeugten die hohen steinernen Mauern des Palastes von dessen wehrhaftem Charakter. Zu häufig waren Päpste überfallen, entführt und abgesetzt worden; nicht nur von auswärtigen Mächten, wie früher den Normannen oder den deutschen Königen, drohte Gefahr, auch den Römern durfte die Kurie nicht trauen, wie die Aufstände eines Cola di Rienzo und eines Porcari bewiesen.
Der Küchentrakt gehörte zum Palast und wurde täglich mit frischer Ware beliefert. Sebastiano fragte sich, wie viele Mäuler der Küchenmeister täglich zu stopfen hatte. Sicher nicht wenige – und vor allem solche mit einem gesegneten Appetit. Soweit er wusste, wurden die Waren zu ebener Erde gelagert, hinter den dicken Mauern der Südseite des Gebäudes, ungefähr dort, wo die Fuhrwerke standen, an denen sich Lastträger zu schaffen machten. Ein Mann mit einer Wachstafel verzeichnete den Wareneingang, gab Anweisungen und strahlte Autorität aus: der Küchenmeister.
Er hob die Brauen, als er Sebastiano mit seinem Korb sah. »Das Naschwerk! Endlich!«, rief er und drückte seinem Gehilfen die Tafel und den Metallgriffel in die Hand. »Mach weiter!« Und Sebastiano bedeutete er mit dem Zeigefinger, ihm zu folgen.
Durch die offen stehende Tür und drei Treppenstufen kamen sie ins Warenlager. Ein kleiner Mann mit schwarzem Lockenkopf, dem der Schweiß über die Stirn lief, warf fluchend einen Sack zu Boden, und der Küchenmeister brüllte ihn an. Steinsäulen stützten die niedrigen Decken. Sie erreichten einen Raum, in dem keine Arbeiter waren. Der Küchenmeister holte einen Schlüsselbund hervor und öffnete eine Tür. Sie kamen in den Weinkeller, hier lagerten mächtige, beschriftete Eichenfässer. »Die Kerle saufen wie die Löcher«, sagte der Küchenmeister, während er die Tür von innen verriegelte. Aber seine eigene rote Nase und die poröse Gesichtshaut deuteten an, dass auch er einem guten Tropfen nicht abgeneigt war. Er leuchtete mit einer Fackel den Weg, hier gab es kein Tageslicht.
»Ich bin über alles unterrichtet. Ich bringe dich jetzt zu einem Gang, der direkt zum geheimen Archiv und zur Bibliothek führt. Wenn du alles erledigt hast, gehst du denselben Weg zurück. Ich erwarte dich und begleite dich zurück zum Ausgang.«
Das Weinlager verteilte sich über mehrere Kellerräume, anschließend folgten sie einem Gangsystem, das zu einem anderen Teil des Palastes führen musste. Dann standen sie vor einer Tür, die der Küchenmeister entriegelte; er schob einen Wandteppich zur Seite, der den Eingang verdeckte, und drückte Sebastiano einen Schlüssel in die Hand. »Der ist für die Tür am Ende des Gangs. Vergiss auf keinen Fall, ihn mir zurückzugeben. Ich warte hier auf dich. Viel Glück!«
Sebastiano zog den Wandteppich glatt, der Diana und Actaeon zeigte, folgte dem Gang bis zum Ende und öffnete die Tür, von der der Küchenmeister gesprochen hatte. Er betrat einen Raum mit hohen Glasfenstern und verschloss die Tür wieder hinter sich. In der Mitte des Raums standen Pulte, an denen Bücher festgekettet waren. An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand lagerten auf Holzgestellen Bücher und Schriftrollen.
Sehr wahrscheinlich würde er noch eine Weile warten müssen, so lange nämlich, bis Sonnenlicht in den Raum fiel. Der Mann, den er töten sollte, hatte schlechte Augen, und man hatte ihm gesagt, dass er die Vatikanische Bibliothek erst betrat, wenn sich die Sonne ihrem Zenit näherte.
Sebastiano konnte lesen, darauf war er stolz; er konnte sogar Latein. Ein befreundeter Mönch hatte ihm Schreiben und Lesen beigebracht, und beides war hilfreich, wenn er die Pilger durch die Stadt führte. Er trat an ein Pult und betrachtete den aufgeschlagenen, dickleibigen Band. Die Pergamentseiten waren von oben bis unten mit einer winzigen Schrift bedeckt, und am Rand fanden sich Anmerkungen zum Text – es war ein Evangeliar. Sebastiano wusste, dass Nikolaus viel für den Ausbau der alten päpstlichen Büchersammlung getan hatte, indem er Boten in alle Teile der Welt schickte, um die wichtigsten Schriften in den Vatikan zu holen. Die Gelehrten, die er um sich versammelt hatte, fanden optimale Arbeitsbedingungen vor.
Sebastiano sah den Bücherschrank, von dem Bologna gesprochen hatte, und klappte die Flügeltüren auf. Der Schrank war geräumig und leer, er trat ein und zog die Türen von innen wieder zu.
Er kannte den Mann nicht, den er töten sollte, und er wusste auch nicht, warum er sterben musste. Er wusste nur, dass der Unbekannte jeden Tag in die Bibliothek kam, um an einem Buch zu schreiben. Sebastiano hatte keine unnötigen Fragen gestellt, und er glaubte, dass es vor allem diese Eigenschaft war, die Bologna an ihm schätzte. Er konnte schweigen, er war zuverlässig.
Die Schranktür bestand unten aus einer geschlossenen Holzfläche, aber etwa auf Augenhöhe befand sich Schnitzwerk, seltsame, verschlungene Ranken, und so konnte Sebastiano sehen, was im Raum geschah, während er von außen, wie ihm Bologna versichert hatte, vom Opfer nicht entdeckt werden konnte. Er wusste nichts über den Mann, der an einem Buch schrieb; er wusste nur, dass er schlecht sah und schlecht hörte.
Sebastiano wollte nicht an seine Familie denken, weil es ihn ablenkte, aber Emilia kam ihm in den Sinn und die Kinder. Sie würden heute Abend an den Tiber gehen und Fisch essen. Er freute sich darauf. Morgen Vormittag musste er eine Gruppe französischer Pilger durch die Stadt führen, aber nachmittags hatte er Zeit, und er konnte Ausschau halten nach einer neuen Wohnung. Bald würde es ihnen besser gehen. Bologna zahlte pünktlich, da musste er sich keine Sorgen machen; ansonsten ein eigenartiger Mensch, irgendwie undurchschaubar. Sebastiano handelte in seinem Auftrag, aber er glaubte, dass in Wahrheit ein anderer dahintersteckte, jemand, der noch höher stand. Nein, er stellte keine Fragen. Es war egal. Die Geschäfte dieser Menschen interessierten ihn nicht, das war eine andere Sphäre, da ging es um Ehrgeiz, Ansehen, Macht; abstrakte Begriffe für einen Mann wie ihn, der Geld brauchte für seine Familie.
Er hörte Schritte im Gang und verdrängte alle Gedanken bis auf den einen. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, jemand öffnete die Tür. Sebastiano presste sein Gesicht gegen das Holz und spähte durch die Ranken. Der Mann, der die Bibliothek betrat, war alt, hatte einen grauen Bart und ging gebeugt. Das gefiel ihm nicht. Aber was machte es für einen Unterschied? Er tötete für Geld. Durfte man da wählerisch sein? Der Mann trug Purpur, ein Kardinal, davon war nicht die Rede gewesen; deshalb also hatte Bologna sich nicht lumpen lassen. Wahrscheinlich hätte Sebastiano noch mehr verlangen können!
Jetzt erinnerte er sich daran, dass es in beiden vorherigen Fällen einen ähnlichen Moment gegeben hatte, als er seine Opfer zum ersten Mal sah. Wahrscheinlich war das ganz normal, und nur jemand ohne Gefühl konnte davon frei sein. Aber es war für Emilia, für die Kinder und für seine alte Mutter; es spielte keine Rolle, ob er den Mord beging oder ein anderer. Denn das war der springende Punkt: Der alte Mann da, der auf ein Pult zuging und Papiere ausbreitete, musste sowieso sterben – und Sebastianos Familie brauchte das Geld dringender als irgendein Kerl, der es versoff und mit Huren durchbrachte.
Der alte Mann hatte ein Tintenhorn mitgebracht, das er am Pult befestigte. Dann blätterte er in dem Band, der dort angekettet war. Sebastiano beobachtete ihn eine Weile, wie er den Kopf nach vorn beugte und mit seinen kurzsichtigen Augen einen Text las, während seine Finger dem Verlauf der Zeilen folgten. Warum sollte er die Angelegenheit länger hinauszögern? Es war besser, es hinter sich zu bringen. Er schob die Schranktür auf und ging mit seinem Korb, der die ganze Zeit neben ihm gestanden hatte, auf den Alten zu. Die Tür quietschte in den Angeln, aber das konnte ihm egal sein. Er war sich seiner Sache mittlerweile so sicher, dass er kaum darauf achtete. Was sollte schief gehen? Der Mann war wehrlos.
Der Alte hob den Kopf, runzelte die Stirn und blickte ungläubig. Sebastiano konnte sich vorstellen, was gerade in ihm vorging. Er glaubte sich allein in der Vatikanbibliothek, und plötzlich kam ihm eine Gestalt entgegen, eine Frau … an einem Ort, wo Frauen nichts zu suchen hatten, der wahrscheinlich noch nie von einer Frau betreten worden war, und sie trug einen Korb bei sich. Das musste ihm völlig absurd vorkommen und unwirklich, wie eine Vision vielleicht …
Die Verkleidung war seine Idee gewesen, und Guido Bologna hatte zugestimmt. Das sei so ausgefallen, sagte Bologna, darauf komme niemand. Die grauen, trüben Augen des alten Mannes weiteten sich. »Wer bist du?«, fragte er. »Was ist in dem Korb?«
»Süßigkeiten aus dem Morgenland!« Sebastiano hielt ihm den Korb hin und der Kardinal betrachtete verwirrt die mit Honig voll gesogenen, mit Mandelsplittern bedeckten Kuchen, die auf einem Tuch lagen. Sebastiano griff unter das Tuch, zog sein Messer hervor und stieß es dem Alten in die Brust. Er gab fast keinen Laut von sich, und nach einem Moment sackte er in sich zusammen. Sebastiano griff ihm unter die Arme und ließ ihn sachte zu Boden gleiten. Der Kardinal lag auf dem Rücken und das Purpur seines Mantels färbte sich an der Brust dunkel. Er atmete nicht mehr.
Sebastiano trat zum Pult, auf dem die Papiere des Alten verstreut lagen. Er hob sie auf, und dabei fiel die Feder zu Boden. Auf dem obersten Blatt stand in großen Buchstaben: DE SUPERBIA
San Giovanni in Laterano, zwei Stunden später
Noch immer betrat Guido Bologna die Lateransbasilika mit Ehrfurcht, was von seinem ersten Besuch vor vielen Jahren herrührte. Dieser Ort zählte zu den heiligen Stätten der Christenheit; hier hatten Päpste residiert, ehe das Exil sie nach Avignon zwang. Nach der Rückkehr aus Südfrankreich wechselte der päpstliche Palast in den Vatikan, auf die andere Tiberseite – aber San Giovanni in Laterano blieb in Bolognas Augen die eigentliche Kirche der Stadt, die Kirche des Papstes als Bischof von Rom.
Der Tag war grell und fast schon sommerlich warm, aber sobald Bologna das Portal durchschritt, schwand die Hektik und Betriebsamkeit des römischen Alltags. Der dunkle Stein dämpfte das durch hohe Fenster schräg einfallende Licht, und außer vereinzelt widerhallenden Schritten und dunklem Gemurmel, das von überall und nirgendwo zu kommen schien, hörte man nichts. Sein Herzschlag beschleunigte sich, während er an leeren Bänken vorbei eine verlassene Seitenkapelle ansteuerte. Hier zeigte ein Altargemälde den heiligen Johannes auf Patmos, der – eine Schreibfeder in der Hand, den Kopf schief gelegt, als lausche er – seine Offenbarung empfing: die Apokalypse. Bologna kannte viele Textpassagen auswendig.
Er zögerte einen Moment, ehe er zum Beichtstuhl ging, dessen Holz fast schwarz war vom Alter und vom Ruß der Kerzen, die ewig in seiner Nähe brannten. Schließlich betrat er den Beichtstuhl, kniete nieder und zog den Vorhang zu. Er wartete. Bald hörte er Schritte. Jemand kam zum Beichtstuhl, trat ein und zog auf der anderen, durch Holzgitter abgetrennten Seite ebenfalls den Vorhang zu.
Bologna und sein Gegenüber sprachen leise, im Flüsterton. Nach einer kurzen, formellen Begrüßung bekannte Bologna dem Beichtvater, dass eine schlimme, eine schreckliche Tat sein Gewissen belaste.
»Berichte!«, sagte der Beichtvater, und in seiner Stimme schien unruhige Erwartung mitzuschwingen. Es war die vertraute Stimme Kardinal Angelinis. Bologna hatte den Kopf gesenkt und sah vom Beichtvater nicht einmal einen Umriss oder undeutlichen Schatten, aber er erkannte ihn auch am Geruch, einem dezenten Parfüm: Rosenwasser.
»Heute Mittag starb im Vatikan ein Mann. Erst vor wenigen Augenblicken entdeckte man seinen Leichnam«, sagte Bologna.
»Wer ist dieser Mann?«
»Kardinal Martini.«
»Er ist tot?«, fragte Angelini.
»Ja.«
»Daran besteht kein Zweifel?«
»Nicht der geringste!«
»Er war alt und sein Tod absehbar. Weiß man, woran er starb?«
»Er wurde erstochen.«
»Hast du ihn getötet, Bologna? Kommst du deshalb zur Beichte?« Kardinal Angelinis Stimme klang streng und abweisend und verunsicherte Bologna.
»Ein Fremder hat ihn getötet. Ein Mann, der nie zuvor im Vatikan war. Ein Mann, der über seine Tat schweigen wird.«
»Weshalb beging er die Tat?«
»Er wurde dafür bezahlt.«
»Hast du ihn bezahlt, Bologna?«
»Ich habe ihn bezahlt.«
Was bezweckte Angelini mit seinen Fragen? Wollte sein Mentor ihn im Regen stehen lassen? Zuzutrauen war es dem Fuchs, denn bei ihm durfte man sich seiner Sache nie sicher sein. Bologna kam sich vor wie bei einem Examen. Letztlich stammte die Idee zum Mord von Angelini selbst, aber er hatte die Sache so geschickt eingefädelt, dass er nicht zu belangen war. Er hatte nie direkt gesagt: Bologna, bring ihn um! So plump war Angelini nicht; er äußerte sich statt dessen in allgemeinen Sätzen über das Papsttum; er erwähnte die eigenen Chancen, gewählt zu werden, wenn da nicht die Gegner wären, wenn da nicht besonders Kardinal Martini wäre, dessen Streitschrift DE SUPERBIA im Grunde nichts anderes sei als Wahlkampf. Er deutete vage an, welche Aufstiegsmöglichkeiten sich für Bologna (den er schätze und jeder Förderung würdig erachte) ergeben könnten, wenn er selbst an die Macht komme; traumhafte, Schwindel erregende Möglichkeiten – kam dann aber wieder auf Martini zu sprechen, der das bestimmt alles zu verhindern wisse … und schloss mit einem Wunsch, mit ein paar Worten, mehr zu sich selbst gesprochen … Im Zweifelsfall hatte Kardinal Angelini nichts gesagt und konnte alles ableugnen.
»Wie ich hörte, arbeitete der Kardinal an einer Streitschrift«, sagte Angelini.
Bolognas Verwirrung wuchs. Warum stellte Angelini sich dumm? Niemand war besser als er über die Schrift informiert; alles, was Bologna darüber wusste, stammte vom Kardinal. Er sah keine andere Möglichkeit, als auf das seltsame Spiel seines Beichtvaters einzugehen. »Das ist richtig, Vater. Sie sollte vom Hochmut handeln. Das war jedenfalls der Titel. Der Mord geschah in der Bibliothek, und die Aufzeichnungen des Kardinals sind verschwunden.«
»Befinden sie sich in deinem Besitz, Bologna?«
»Ich trage sie bei mir.«
»Wie rechtfertigst du dein Handeln?«
Bologna fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, auf der sich Schweißperlen bildeten, sich in den Brauen verfingen, als Tropfen den Nasenrücken entlangliefen und in Bächen über die Wangen rannen. »Ich wollte Schaden abwenden vom Heiligen Stuhl«, sagte er und fühlte sich wie ein Stück Wild, das man bei der Jagd in die Enge treibt. »Die Kirche hat viele Feinde. Sie hat äußere Feinde wie den Revolutionär Porcari, der seine gerechte Strafe fand. Und sie hat Feinde im Inneren, von denen noch größere Gefahr ausgeht. Diese gefährden die Existenz der Ecclesia. Wir müssen gegen sie vorgehen.«
»Wir? Sprechen wir zunächst von dir, Guido Bologna! Was wirfst du Kardinal Martini vor?«
Bologna bemerkte, dass sein Augenlid unkontrollierbar zu zucken begann. »Er wollte das Papsttum schwächen und arbeitete auf ein neues Schisma hin. Er war alt und verknöchert, ein Mann, der Traditionen …«
»Traditionen müssen nichts Schlechtes sein.«
Angelini war im Begriff, ihn fallen zu lassen, Bologna zweifelte nicht länger daran. Er musste seine Haut retten und wusste nicht, wie er es anstellen sollte. Es kam ihm vor, als rede er sich um Kopf und Kragen, als verstricke er sich immer tiefer in der Falle. Aber es gab kein Zurück mehr. »Ich weiß, Vater, aber er war rückwärts gewandt und konnte nicht akzeptieren, dass eine neue Zeit anbricht. Mit Nikolaus begann eine neue Epoche. Er hat Gelehrte an den Hof geholt und fördert die Künste und die Wissenschaften. Die Antike wird wiederentdeckt, wir lernen von den Alten. Rom soll wieder aufblühen und seinen Glanz und seine Macht zurückgewinnen. Nikolaus aber wird bald sterben, wer weiß, ob er den nächsten Winter überlebt? Und er hat Feinde innerhalb der Kurie, die seine Politik ablehnen. Sie wollen das Rad der Zeit anhalten. Sie verachten die Schriften der Griechen und Römer als heidnische Machwerke. Den Ausbau der Peterskirche halten sie für Hochmut. Sie lassen nur die Kirchenväter gelten und den Status quo. Vieles spricht dafür, dass bald ein neuer Papst gewählt wird. Was geschieht, wenn die Ewiggestrigen wieder ans Ruder kommen? Es hätte fürchterliche Folgen für den Heiligen Stuhl und die Stadt Rom, aber auch für Italien und das ganze Abendland. Der Mann, der heute starb, war das Sprachrohr einer mächtigen Gruppe, die Fortschritt und Neuerung ablehnt. Man hätte ihn vielleicht zum Papst gewählt – und wenn nicht ihn selbst, dann einen seiner Trabanten. Ich habe Schuld auf mich geladen, Vater, aber es geschah in bester Absicht und um das Schlimmste zu verhüten. Deine Gegner sind geschwächt.«
»Du sprichst von Papstwahl. Wer sollte nach deiner Meinung auf dem Stuhl Petri sitzen?«
»Ich habe den Weg geebnet, Vater Angelini, und ich hoffe, dass du bald Papst sein wirst.«
Nach einer langen Pause sagte Angelini: »Wenn es so ist, Bologna, spreche ich dich im Namen Gottes von allen Sünden frei.«
Bologna atmete durch, aber seine Befürchtungen wollten sich noch nicht verflüchtigen.
»Du hast mir einen guten Dienst erwiesen«, fuhr Angelini fort, »und ich werde das nicht vergessen. Ich schätze deine Ergebenheit, deine Zuverlässigkeit und deinen Verstand.«
Weshalb hatte er ihn dann so in die Enge getrieben? Was wollte Angelini mit diesem Spiel bezwecken? Bolognas Augenlid zuckte immer noch, und er fuhr sich mit beiden Händen über das schweißnasse Gesicht. Eines hatten ihn die Jahre in Rom gelehrt: Sei dir einer Sache nie sicher! Vertraue niemandem!
Aber Bologna war noch nicht fertig, das Wichtigste kam erst noch. Es fiel ihm allerdings schwer, sich auf sein Anliegen zu konzentrieren, denn das unerwartete Verhör hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Er besaß seit einiger Zeit einen Trumpf (so nannte er das für sich), und er hielt den richtigen Augenblick für gekommen, ihn auszuspielen. Er wusste, dass er nicht der Einzige war, der mit Hilfe von Angelini sein Glück machen wollte. Die Traditionalisten standen seit heute ohne ihren wichtigsten Repräsentanten da. Der Mörder war unerkannt entkommen, und man würde ihn auch nicht fassen, zu gut war die Verkleidung, da hatte Bologna keine Bedenken. Die Gruppe der Fortschrittlichen wurde von Angelini angeführt. Viele hofierten ihn, denn er konnte der nächste Papst sein. Bologna musste Angelini deutlich machen, wie wichtig und nützlich er langfristig sein konnte. Er wollte nicht als Mann gelten, der gut war für zweifelhafte Aufträge, der aber übersehen wurde, wenn es um die Vergabe wichtiger Ämter ging. Er wollte ein Band zwischen sich und Angelini knüpfen, das ihm eine bevorzugte Stellung verschaffte.
Er kannte Angelinis Intelligenz, und manchmal fürchtete er sie. Man brauchte sehr gute Argumente, um den immer skeptischen und misstrauischen Kardinal zu überzeugen. Bologna hatte manches Mal die Blitzartigkeit bewundert, mit der Angelini erkannte, ob eine Sache für ihn vorteilhaft war oder nicht. Denn das war bei ihm der entscheidende, der alleinige Punkt, auf den es ankam. Selbst komplexe Zusammenhänge durchschaute er sofort und durchleuchtete sie auf den Nutzen hin, den sie brachten oder nicht brachten. Aber Bologna vertraute darauf, dass der Kardinal ein Mann war, der über den Tag hinaus dachte. Was er ihm zu bieten hatte, war Macht, große Macht, und hoffentlich war Angelini auch in diesem Fall intelligent genug, die große Chance zu erkennen, die sich ihm auftat.
»Ich könnte dir einen Dienst erweisen, Vater, der alles, was ich bisher für dich getan habe, übertrifft.«
»Wie das, lieber Bologna?«
»Entsende mich über die Alpen! Entsende mich an den Rhein, nach Moguntiacum.«
Schweigen zunächst, und Bologna glaubte die Überraschung des Kardinals zu spüren. Er sah im Geist dessen zusammengezogene Augenbrauen vor sich und den für Angelini so typischen, angespannten Gesichtsausdruck. »Ich verstehe nicht. Worauf willst du hinaus?«
»Diese Stadt birgt einen Schatz, mein Vater, den ich für dich bergen will.«
»Soll das ein Scherz sein? Mainz war Hauptstadt einer römischen Provinz und ist heute Erzbistum. Aber die Stadt ist verarmt und heruntergekommen. Was hoffst du dort zu finden?«
»Etwas, das Rom seine alte Macht zurückgeben kann …«, sagte Bologna.
Mainz, im Februar 1454
Bevor der Richter seine neue Stelle antrat, musste er sich beim Mainzer Kurfürsten vorstellen, einem der mächtigsten Männer im Reich. Im Extremfall würde Thomas Berger über Leben und Tod entscheiden. Die Stelle verdankte er Steininger, einem Freund seines Vaters. Wichtige Posten wurden fast immer aufgrund von Beziehungen vergeben. Er war jung und die Chance einmalig.
In der Vorhalle zum Audienzsaal warteten bewaffnete Ritter, Geistliche in Ordenstracht, Kaufleute und zwei Frauen in kostbaren Gewändern; die Stimmen klangen gedämpft. Gegen die Fenster prasselte heftiger Regen. Obwohl es noch nicht Mittag war, schien Dämmerung zu herrschen, denn die Wintersonne fand keinen Weg durch die Wolkendecke. Ein Mann ging auf und ab, und seine Schritte hallten von den Wänden wider.
Steininger, der wichtigste Mitarbeiter des Kurfürsten, hatte Thomas zum Palast begleitet. »Vielleicht hätten wir besser einen anderen Zeitpunkt gewählt«, sagte er, während sie warteten. Thomas warf einen unruhigen Blick auf Steininger, der alt geworden war; sie hatten sich lange nicht gesehen. Thomas kam der Gedanke, dass die Audienz möglicherweise keine reine Formsache sei, wie sein Begleiter behauptete.
Schon öffnete sich die eiserne Flügeltür zum Saal, und fünf Männer traten heraus: Zunftherren, Mitglieder des Stadtrats. Ihre Gesichter wirkten blass. Sie sprachen kein Wort, während sie die Treppe hinuntergingen.
Der Türsteher in seiner blauen und roten Uniform kam mit eiligen Schritten auf Steininger zu. »Er erwartet euch«, sagte er und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »Vorsicht! Das Gespräch war unerfreulich. Er ist gereizt.«
Als sie auf den glatten, schlammbedeckten Steinplatten fast die Tür erreicht hatten, neigte Steininger den Kopf zu Thomas: »Antworte nur, wenn er dich anspricht. Ansonsten überlass das Reden mir!«
Sie betraten den großen, eher niedrigen Saal, der von drei Säulen getragen wurde. Die Wände waren mit Teppichen geschmückt, auf denen Jagdszenen und Wappen zu sehen waren. An einer Seite des Raums befanden sich fünf Fenster mit bunten Scheiben. Eines zeigte das Mainzer Wappen, zwei weiße Räder vor rotem Hintergrund; andere bildeten Bischöfe ab. Aber weil es draußen dunkel war, wollten die Farben nicht leuchten; Regenbäche liefen über das Glas. Nahe bei einem gelb und rötlich flackernden Kamin, die linke Gesichtshälfte vom Feuer beschienen, saß auf einem Thron Dietrich von Erbach. Er war Erzbischof von Mainz und oberster Kurfürst im Heiligen Römischen Reich. An einem Tisch neben Erbach rollte ein älterer Mann eine Pergamenturkunde zusammen, an der rote Siegel hingen; er führte bei wichtigen Verhandlungen Protokoll. Zwei Geistliche standen beim Bischof und diskutierten mit ihm. Steininger und Thomas blieben in gebührendem Abstand stehen, denn der Bischof schien sie nicht zu bemerken.
Erbach hatte einen Wutanfall gehabt, sie hatten sein Geschrei vorhin trotz der geschlossenen Tür gehört, und sein Kopf sah aus, als habe er ein halbes Fass Wein geleert. Thomas hörte Wortfetzen wie »Zünfte«, »Verbrecherbande« und »an den Galgen«. Endlich blickte der Bischof herüber und winkte Steininger zu sich, ohne Thomas zu beachten.
»Steininger! Hast du gehört, was der Stadtrat ausgebrütet hat?«
Der Kurfürst war ein kleiner, feister Mann. Er trug über einem weißen Gewand einen prächtigen Mantel mit Goldbesatz und einen Bischofshut, der viel zu groß für seinen fast kahlen Kopf wirkte. Sein Bischofsstab, der am oberen Ende zu einem P geformt und mit Edelsteinen geschmückt war, lehnte seitlich am Thron. Der Kurfürst rutschte unruhig hin und her. Ohne Steiningers Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Wir sollen Weinsteuer zahlen!«
»Eine bodenlose Frechheit!« Steininger schüttelte den Kopf. »Erst haben sie die Stadt ruiniert – und jetzt sollen wir für die Schulden aufkommen …«
Thomas kannte die Hintergründe nicht, aber offenbar gab es für Erbach und Steininger keine schlimmere Vorstellung, als Weinsteuer zu zahlen. Der Untergang der Welt hätte kaum größeres Entsetzen ausgelöst.
»Was wollen die noch alles?!«, rief Dietrich von Erbach. »Die Stadträte überschätzen ihre Macht. Sie wollen sich an den König wenden. Sie behaupten, Mainz habe den Status einer freien Reichsstadt, die nur ihm untersteht …« Er lachte gekünstelt. »Sie übersehen nur eins: Der König will von ihnen nichts wissen. Sie stehen nämlich bis zum Hals bei den Frankfurtern in der Kreide.« Der Fürst legte seinen Kopf schief und hob die Brauen. »Wen hast du da mitgebracht, Steininger?«
»Das ist unser neuer Richter!«
Erbach wandte sich Thomas zu, der abseits stand. Keiner sprach. Thomas sah, wie die hellen, sehr wachen Augen seines neuen Arbeitgebers ihn musterten. Thomas war groß gewachsen, hatte schwarze, lockige Haare, die ein rötliches Barett bedeckte, und dunkle Haut.
»Unser Richter …« Dietrich von Erbach streckte die Hand aus. Thomas kniete nieder und küsste den bischöflichen Ring.
»Steininger hat Euch eingestellt …« Dietrich zog die Stirn in Falten. »Wie war gleich Euer Name?«
»Thomas Berger.«
Der Bischof kniff die Lippen zusammen. »Ihr verdankt Eure Stelle Steininger. Er war mein Stellvertreter während meiner Romreise. Ich habe ihn beauftragt, wichtige Entscheidungen zu treffen, auch Personalentscheidungen. Das Richteramt ist außerordentlich wichtig.« Der Bischof schaute Thomas herausfordernd an. »Steininger sagte, Ihr stammt aus Italien.«
»Ich bin in Palermo geboren.«
»Eure Eltern sind Italiener?«
»Nur meine Mutter.«
»Was macht Euer Vater?«
»Er ist Kaufmann.«
»Und sein Sohn wollte nicht in seine Fußstapfen treten?!«
»Ich möchte meinen eigenen Weg gehen«, sagte Thomas.
Er hatte keine Erfahrung darin, bei Hof zu erscheinen. Zu Hause in Köln waren die Umgangsformen leger. Zum ersten Mal in seinem Leben stand er vor einem Fürsten. Er hatte das Gefühl, dass Erbach ihn nicht mochte.
»Weshalb möchtet Ihr Richter werden?«, fragte Erbach.
»Mein Vater hat den größten Teil seines Lebens auf Reisen verbracht«, sagte Thomas. »Er ist einige Male nur knapp mit dem Leben davongekommen. Ein solcher Beruf liegt mir nicht.«
Erbachs Kopf hatte die Farbe gewechselt. Das ist rosa, dachte Thomas, der in seiner freien Zeit gern malte. Ein ganz eigenartiges Rosa.
»Kein Grund, Jurist zu werden«, sagte Erbach. »Das Amt bringt Verantwortung mit sich und extreme Belastungen!«
Die Aussicht, in Italien zu studieren, war für Thomas’ Berufswahl ausschlaggebend gewesen. Aber das würde den Kurfürsten nicht interessieren. »Ich habe viele Jahre studiert und freue mich darauf, Verantwortung zu übernehmen«, log Thomas.
Der Fürst wandte sich an seinen Schreiber, der ihm wortlos einen Pergamentbogen reichte. Erbach kniff die Augen zusammen und überflog das Dokument. »In Bologna studiert«, murmelte er. »Man sagt, dies sei die bedeutendste Rechtsschule im Abendland. Ich persönlich halte wenig vom römischen Recht. Wir haben unsere eigenen Traditionen, und die wollen wir pflegen.«
Etwas Ähnliches hatte Thomas befürchtet. So langsam kam der Bischof zur Sache.
»Vergesst die graue Theorie«, fuhr Erbach fort, »die man Euch in Italien eingetrichtert hat. Was in Büchern steht und was im tatsächlichen Leben geschieht, sind zwei Paar Schuhe. Im Alltag ist Härte gefragt und Strenge!«
Thomas wurde klar, dass der Bischof selbst ihn nie eingestellt hätte. Thomas schaute zur Seite, wo der Freund seines Vaters stand. Steininger konnte mit dem Verlauf des Gesprächs nicht zufrieden sein. Wenn Thomas scheiterte, würde das auch seinem Ansehen beim Bischof schaden.
»Euer Vorgänger war ein exzellenter Mann«, nahm Dietrich den Faden wieder auf. »Zwischen uns bestand Einigkeit in allen Grundsatzfragen. Ich möchte gern mehr über Euer Rechtsverständnis erfahren. Nach welchen Grundsätzen wollt Ihr das Amt ausüben?«
Nachdem der Kurfürst gesagt hatte, was er vom römischen Recht hielt, war die Frage mehr als heikel. Zwischen Thomas’ Rechtsvorstellungen und denen des Kurfürsten gab es wenig Gemeinsamkeit. Steininger hatte ihn schlecht vorbereitet. Er ist alt geworden, dachte Thomas. Er hat so viele Falten bekommen. Thomas spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Er bemühte sich, die Frage des Kurfürsten diplomatisch zu beantworten. »Wenn die bisherigen Rechtsbräuche vernünftig sind«, sagte er, »werde ich sie fortführen.«
»Die Situation ist angespannt«, erwiderte Erbach, »und erlaubt keine Experimente. Sicher hat Euch Steininger über alles informiert.«
Hatte er nicht! Thomas’ Verärgerung wuchs. Steininger ergriff das Wort, um die Situation zu retten. »Er sollte auch aus Eurem Mund hören, was ihn erwartet!«
Der Schreiber hatte den Kopf gehoben und musterte Thomas kritisch, der sich fragte, in was für eine Geschichte er hineingeraten war. Und woran erinnerte ihn dieses Rosa?
»In Mainz findet zurzeit ein Kampf statt zwischen dem Stadtrat und mir. Er will Rechte an sich reißen, die mir gehören.« Der Bischof sprach jetzt ruhig und überlegt. »Im Stadtrat herrschen die Zunftmeister. In einem blutigen Kampf haben sie das Patriziat besiegt. Aber sie haben durch Arroganz und Misswirtschaft die Finanzen der Stadt ruiniert. Die Zinszahlungen fressen die Steuereinnahmen. Ich habe die Situation genutzt und die bischöfliche Macht gestärkt. Auch Eure Stelle war umkämpft.«
Das klang nach einem schleichenden Krieg zwischen zwei Lagern, die sich nicht versöhnen würden. Thomas wusste aus Köln, dass das Verhältnis zwischen dem Erzbischof und den Bürgern oft problematisch war. Aber was er nun hörte, hatte eine andere Dimension, und er war fremd hier, kannte die Strukturen und Verhältnisse nicht. Lief es darauf hinaus, dass er zwischen die Fronten geriet?
»Das strenge Gericht beziehungsweise die Blutgerichtsbarkeit liegt in meinen Händen«, erklärte Erbach. »Eure Stelle untersteht mir, nicht dem Stadtrat. Die Kompetenzen der städtischen Richter beschränken sich auf Bagatellfälle. Als es galt, Eure Stelle neu zu besetzen, wollte sich der Stadtrat einmischen und die Blutgerichtsbarkeit an sich ziehen. Steininger hat schnell gehandelt, indem er Euch die Stelle gab und damit den Stadtrat düpiert!«
Davon hatte Steininger kein Wort erwähnt. Das flaue Gefühl in Thomas’ Magengrube verwandelte sich zunehmend in ein Stechen. Ihm wurde plötzlich die überstürzte Eile klar, mit der er die Stelle antreten musste, und er verstand nun Steiningers Schweigen. Der Freund seines Vaters hatte ihm einen Bärendienst erwiesen. Nicht nur, dass Konflikte mit dem Bischof absehbar waren: Thomas würde den gesamten Stadtrat gegen sich haben. Das heißt, er hatte ihn schon gegen sich, obwohl sie ihn noch gar nicht kannten.
»Es war bisher üblich«, setzte der Kurfürst seine kleine Rede fort, »dass mich der oberste Gewaltrichter bei allen Fällen, die von Belang sind, konsultiert. Ihr braucht nicht wegen Kleinkram zu kommen. Aber wenn etwas auf dem Spiel steht«, und hierbei schaute er Thomas wieder eindringlich an, »denkt an den obersten Rechtssatz dieser Stadt: Das Gesetz bin ich!« Dabei tippte er sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen die Brust.
Thomas’ spontaner Impuls war, sich auf den Rückweg nach Köln zu machen. Seine Assistentenstelle am dortigen Gericht war noch nicht neu besetzt. Wie sollte er mit einem Mann zusammenarbeiten, der so redete, wie Thomas sich einen selbstherrlichen römischen Imperator vorstellte? Der nächste Gedanke galt seiner Karriere. Wenn er kampflos das Feld räumte, war er erledigt. Nur ein Wahnsinniger konnte eine Mainzer Richterstelle ablehnen. Auch in Köln, bei seinen alten Kollegen, würde er kein Verständnis finden, und noch weniger bei seinem Vater. Aber selbst wenn er die Meinung anderer Leute außer Acht ließ und nur auf sich hörte, wäre es ihm wie Feigheit oder Flucht vorgekommen, den Rückzug anzutreten.
Thomas nahm nur am Rande wahr, wie Steininger väterlich den Arm um seine Schulter legte. »Wenn du seinen Rat befolgst, steht dir eine glänzende Zukunft bevor!«
Thomas traute seinen Ohren nicht: Von was für einer glänzenden Zukunft redete dieser Mann? Er saß auf einem Pulverfass! Es war nur eine Frage der Zeit, wann es in die Luft flog …
Jetzt stellen wir dich dem Kommandanten der Stadtwache vor«, sagte Steininger. »Das ist ein wichtiger Mann, aber kein einfacher Charakter. Du arbeitest häufig mit ihm zusammen.«
Es regnete immer noch in Strömen, als Thomas und Steininger den Bischofssitz verließen. Die roten Sandsteinquader, aus denen er errichtet war, schienen die Feuchtigkeit aufzusaugen wie ein Schwamm. Sie befanden sich im Zentrum von Mainz, nur einen Steinwurf vom Dom entfernt. Das fürstliche Palais und das Gerichtsgebäude, Thomas’ neuer Arbeitsplatz, grenzten an die Kathedrale und lagen vor einem offenen Platz, der im Volksmund das »Höfchen« hieß. Der Wind vom Fluss blies ihnen eisige Kälte ins Gesicht. Thomas schaute zum Himmel, wo sich hinter unzähligen grauen und schwarzen Wolken ein geheimnisvolles Leuchten verbarg. Sie zogen ihre Kapuzen über den Kopf. Bei jedem Schritt sanken Thomas’ Stiefel in den aufgeweichten Boden, und mehrmals glitt er aus.
Sie überquerten den Marktplatz direkt vor dem Dom, wo Handel getrieben wurde. Die Bauern aus der Umgebung und die Mainzer Händler schützten ihre Stände mit Brettern und Planen und rückten dicht zusammen. Das sah von fern aus, als habe der Martinsdom über die Menschen einen Flügel ausgebreitet. Verglichen mit den umliegenden Gebäuden wirkte die Kathedrale gewaltig, als wolle sie in den Himmel ragen. Ihren Turm zum Höfchen hin umgab ein Gerüst; dem Wetter zum Trotz arbeiteten dort zwei Bauleute an einem Wasserspeier. Etwas abseits vom Markt standen Karren, Pferde und Ochsen.
»Das dort drüben«, sagte Steininger und deutete nach links auf die gegenüberliegende Seite, »ist die Münze.« Thomas sah durch die hohen Fenster Männer, die mit Hämmern auf Prägestöcke schlugen. Vielleicht stellten sie gerade Gulden her.
Der Marktplatz verengte sich. In Richtung zum Rhein hin schloss eine weitere Kirche direkt an den Dom an. »Sankt Maria ad gradus«, erläuterte Steininger, »auch Liebfrauenkirche genannt. Und gegenüber: Das ist die Herberge zum Spiegel.« Dort betraten ein Mann und eine Frau gerade die Gaststube, aus der Stimmengewirr schlug. Die Leute saßen an schweren Holztischen beim Essen und tranken Bier.
Sie näherten sich der Stadtmauer, beim Hafen gelegen. Der Wehrturm, auf den sie zusteuerten, hieß laut Steininger die »Fischpforte«. Thomas erinnerte sich an seinen ersten Eindruck von Mainz, den er vom Fluss aus bekommen hatte: die unzähligen Türme. Sie unterbrachen in kurzen Abständen die Stadtmauer; und der Stadtkern wirkte vom Rhein aus wie eine einzige Ansammlung von Kirchen und Klöstern mit Türmen jeder Größe. Sie bogen nach links ab und folgten einer Gasse parallel zur Befestigung.
»Das Heilig-Geist-Spital«, sagte Steininger, auf einen Steinbau mit imposantem Giebel weisend. »Darauf sind wir besonders stolz. Hier werden die Kranken und Siechen gepflegt. Wir überlassen sie nicht ihrem Schicksal, wie das in anderen Städten geschieht.«
Im Schutz der Mauer war der Wind erträglicher und auch der Regen prasselte nicht so ungeschützt auf sie ein. Bald darauf erreichten sie ihr Ziel, den »Eisenturm«, in dem die Wache untergebracht war. Über einem weit geschwungenen Torbogen zählte Thomas fünf Geschosse. Man hatte die Außenwände weiß gestrichen, nur die Umrandungen der Fenster und die Ecken der Wände rot. Steininger öffnete die Tür zur Wache. Der mit einer gewölbten Decke versehene Innenraum war ebenfalls weiß getüncht. An einer Wand sah Thomas einen überlebensgroßen Ritter in voller Rüstung mit Helmbusch, Schwert und Schild abgebildet, neben ihm das Mainzer Wappen.
Sie hatten den Raum kaum betreten, als sich Thomas und seinem Begleiter ein überraschender Anblick bot: Ein Mann in Uniform ging drohend auf einen kleineren Mann zu, den Kopf angriffslustig nach vorne geschoben wie ein Kampfhahn.
»Ihr habt sie laufen lassen. Ich sehe es deinem Gesicht an!«, schrie der Uniformierte. Sein Kopf war so rot wie der des Fürsten vorhin im Audienzsaal.
Der kleine Mann, der offenbar zur Wachmannschaft gehörte, wurde blass und wich zurück. »Wir hatten keine Chance«, stotterte er. »Sie waren längst weg. Jemand muss sie gewarnt haben.«
»Erzähl mir keine Märchen. Wer soll sie gewarnt haben? Wie viele Gelegenheiten wollt ihr euch noch entgehen lassen?«
Der Wachmann schrumpfte weiter zusammen. »Das Feuer war noch nicht kalt. Eine Stunde früher, und wir hätten sie erwischt. Es war Pech!«
»Pech?!« Der Kommandant blickte seinem Untergebenen aus kürzester Entfernung in die Augen. »Dummheit war das!« Nachdem er die letzten Sätze leiser gesprochen hatte, fing er wieder an zu schreien. »Das sind höchstens fünf Leute, die seit Wochen die Gegend terrorisieren, und ich habe euch zu zehnt losgeschickt. Ihr seid unfähig! Selbst mit meinem kaputten Bein wäre ich schneller gewesen!«
Steininger klopfte an die bereits geöffnete Tür, und der Kommandant blickte zur Seite. Er ließ von seinem Wachmann ab, dem die Unterbrechung sehr gelegen kam.
»Steininger«, sagte er. »Ich habe es nur mit Idioten zu tun. Sie haben die Bande laufen lassen. Ich möchte ihnen allen den Hals umdrehen.«
»Der Bischof tobt wegen der Geschichte«, sagte Steininger, »weil sie seine Autorität untergräbt. – Aber ich möchte Euch einen Mann vorstellen, mit dem Ihr in Zukunft viel zu tun haben werdet.« Steininger zeigte auf Thomas. »Das ist unser neuer Richter: Thomas Berger.«
Der Kommandant blickte Thomas mit seinen großen, hellblauen Augen an und sagte eine Weile nichts. Schließlich streckte er zögerlich die Hand aus. »Ich heiße Busch. Busch wie Baum.«
Thomas liebte solche Sprüche. Sie gaben sich die Hand.
»Ist das Eure erste Richterstelle?«, fragte Busch.
»Ich habe längere Zeit in Köln am Gericht gearbeitet …«
»Als oberster Richter?«
Thomas kopierte Buschs Lächeln. »Als sein engster Mitarbeiter.«
Er machte sich keine Illusionen. Es war die gleiche Reaktion wie vorhin beim Kurfürsten. Man traute ihm nichts zu. Es war ungerecht, er spürte Wut in sich aufsteigen. Aber er musste schlau sein, behutsam vorgehen und mit Menschen wie Busch auskommen.
»Busch!«, sagte Steininger und hielt dem Kommandanten seinen Zeigefinger vors Gesicht. »Ich möchte, dass Ihr und Berger gut zusammenarbeitet. Er hat in Bologna studiert. Helft ihm, wo Ihr könnt. Gerade in den ersten Wochen wird Eure Erfahrung für ihn wertvoll sein.«
Thomas hatte sich also nicht getäuscht, und Steininger hatte Buschs Reaktion ganz ähnlich gedeutet wie er selbst.
»In Bologna? Das ist natürlich was Besonderes. Und von Adel, nicht wahr?«