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Der Wahl des neuen Papstes ist eine Revolution, eine Umwälzung von gewaltiger Bedeutung, im Vatikan vorausgegangen, die ihren Schatten auf alle folgenden Ereignisse geworfen hat. Was hat Benedikt XVI. tatsächlich zum Rücktritt, zum ersten Rücktritt eines Papstes seit über 700 Jahren, bewogen? Andreas Englisch deckt die wirklichen Hintergründe auf und beschreibt, was hinter den Kulissen des Vatikans geschehen ist, wie sich im Konklave die Machtverhältnisse zugunsten des neuen Papstes verschoben haben, welche Fraktionen um welche Papabili zunächst noch zur Diskussion standen und was letztlich den Ausschlag gab. Er stellt den neuen Papst eingehend vor und gibt einen Ausblick darauf, ob und wie es ihm gelingen wird, die drängendsten Probleme der katholischen Kirche zu lösen und im Kirchenstaat Ordnung zu schaffen.
Erweiterte Ausgabe von 2014
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Seitenzahl: 495
Andreas Englisch
FRANZISKUS
ZEICHEN DER HOFFNUNG
Vom Erbe Benedikts XVI. zur Revolution im Vatikan
C. Bertelsmann
10., erweiterte Auflage© 2013, 2014 by C. Bertelsmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: buxdesign MünchenBildredaktion: Dietlinde OrendiSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-11909-6www.cbertelsmann.de
Für meine Frau Kerstin und meinen Sohn Leonardo und voller Dank für Seine Exzellenz Bischof Marcelo Sánchez Sorondo, ohne dessen Hilfe dieses Buch nicht entstanden wäre
Inhalt
Die Sensation Franziskus
Der verhängnisvolle Schreibtisch
Korruption und Geldwäsche in Vatikan und Kirche
Der Fall Gabriele und die Folgen
Starker Papst – schwacher Papst
Der Vatikan und die Vereinigten Staaten von Amerika
Der Rücktritt
Warum dankt der Papst ab?
Das Gefängnis des Joseph Ratzinger
Schatten über dem Konklave
Exkurs: Kirche und Sex
Wenn Kardinäle den Papst nichtwählen wollen
Gespenster im Konklave
Das Hotel der Kardinäle
Stiller Abschied vom Pontifikat
Castel Gandolfo
Im Vorfeld des Konklaves
Kandidaten 1: Die Italiener
Kandidaten 2: Die Amerikaner
Kandidaten 3: Die Deutschen
Kandidaten 4: Die Afrikaner
Kandidaten 5: Die Lateinamerikaner
Hoffen und Bangen in der Kurie
Das Konklave beginnt
Der argentinische Jesuit
Bergoglio und die Theologie der Befreiung
Das Prinzip Bergoglio
Begegnung in Brasilien
Sohn des peronistischen Argentiniens
Berufung zum Dienst an Gott
Exkurs: Die Probleme Deutschland und Israel
Das Kreuz des Franziskus – irgendwas bleibt immer hängen
Die letzte große Schlacht: Bergoglio gegen Kirchner
Begegnung zweier Päpste
Ostern 2013: Neue Töne im Vatikan
Der Papst packt an
Wenn der Papst die Tür zuschlägt
Der Sturm in der Bank Gottes
Der Nervenkrieg der beiden Päpste
Das Geheimnis von Papst Franziskus
Der Weltjugendtag in Rio de Janeiro 2013
Ein unerwarteter Abstecher
Ein Papst für die Armen
Gott in der Brandung
33 Jahre zuvor
»Homosexuelle sind Brüder«
Bergoglio gegen Ratzinger
Mit dem Rücken zur Wand
Der politische Papst
Der Fall Tebartz-van Elst
Ärger mit dem Sex
Ökumene: Was uns eint, nicht, was uns trennt
Päpstliche Feinde?
Neue Männer der Kirche
Ein Papst, der kämpft
BILDTEIL
Bildnachweis
Die Sensation Franziskus
Mittwoch, 13. März 2013. Sixtinische Kapelle. Vatikanstadt. Es ist 16.30 Uhr, als die Kardinäle nach der Mittagspause unter den weltberühmten Fresken von Michelangelo Buonarroti in die Kapelle zum vierten Wahlgang einziehen. Trotz der Stille in der Kapelle ist deutlich zu spüren, dass etwa 30 von ihnen von nackter Angst gepackt werden – so werden das später mehrere Kardinäle beschreiben. Es sind die etwa 30 Kurienkardinäle, die ständig in Rom wohnen und die Kirchenregierung, die Kurie, stellen. Sie wissen, dass sie jetzt vor allem eines unbedingt verhindern müssen: in Panik zu geraten. Was sie fürchten, darf auf keinen Fall eintreten: dass der Mann, der bereits im Jahr 2005 etwa 40 Stimmen bekam, der nächste Papst wird. Was sie auf Teufel komm raus verhindern müssen, ist die Wahl des Jorge Mario Bergoglio.
Die Kurienkardinäle erinnern sich gut an Bergoglio. Viel zu gut. Der Argentinier kam immer ungern nach Rom, aber wenn er kam, dann immer aus dem gleichen Grund: weil die Kurie ihm das Leben in Buenos Aires wieder einmal unmöglich gemacht hatte. Und sie hatten es ihm oft unmöglich gemacht! Bergoglio hatte die unangenehme Eigenschaft, dass er nicht einfach mit sich machen ließ, was die Kurie vorhatte. Wenn sie ihm wieder Ärger bereitet hatte, dann reiste er an, scheute nicht den Streit und besorgte sich einen Termin beim Papst. Zum Unglück der Kurie erfreute sich Bergoglio großer Wertschätzung sowohl von Johannes Paul II. als auch von Benedikt XVI. Streit war also vorprogrammiert, sobald Bergoglio in Rom war, und der Kardinal aus Buenos Aires hielt ihn aus.
Der entscheidende Konflikt war erst einige Monate her. Monsignore Ettore Balestrero, Zweiter Sekretär in der Abteilung des Staatssekretariats, das zuständig war für die Beziehung zu den Staaten, hatte Bergoglio attackiert. Dazu muss man wissen, dass Balestrero nichts anderes war als der verlängerte Arm des großen Bosses, des Kardinalstaatssekretärs Tarcisio Bertone. Wenn also Balestrero auf einen Kardinal losging, dann steckte Bertone dahinter – alle wussten das. Balestrero hatte Bergoglio wieder einmal vorgeworfen, dass dieser die besten Priester immer in die Slums schickte statt in die teuren Eliteschulen der katholischen Kirche für die Oberschicht oder in die Pfarreien der eleganten Stadtviertel von Buenos Aires oder gar nach Rom, wo wegen des Priestermangels dringend Nachwuchs gebraucht wurde. Wegen dieses Punktes gab es Ärger seit der Ernennung Bergoglios zum Erzbischof von Buenos Aires, also seit 1998. Bergoglio persönlich ging mit den Priestern in die Slums, jahrzehntelang, selbst dahin, wohin sich nicht einmal die Polizei traute. Bergoglio lehnte immer alle Eskorten ab, er nahm seine Priester mit und stellte sie den armen Leuten vor. Nie war Bergoglio ein Haar gekrümmt worden. Er hatte mit den Ärmsten Mate getrunken, den typischen Aufguss aus den Blättern des Matestrauchs, über viele Jahre hinweg. Die Ärmsten wussten, dass Bergoglio ihr Bischof war, und deswegen schützten sie seine Priester und nahmen sie auf. Selbst dort, wo sich Drogenbanden Feuergefechte lieferten, wo es um viel Geld ging, konnten Bergoglio und seine Priester nach Belieben kommen und gehen. Sie waren Männer Gottes, und selbst die schlimmsten Verbrecher akzeptierten das.
Aber die Kurie sieht das anders. Weil Bergoglio sich um die Armen kümmert, gilt er als Versager, als Mann, der keine Ahnung hat, wie man eine Diözese lenkt. Balestrero lässt durchblicken, dass Bergoglios Tage gezählt sind. Angesichts seiner Haltung werde sein Rücktritt vom Amt des Erzbischofs von Buenos Aires, der kurz bevorstehe, auf jeden Fall angenommen werden. Jorge Mario Bergoglio wurde am 17. Dezember 1936 geboren, mit Vollendung des 75. Lebensjahres im Dezember 2011 muss er also, wie jeder andere Kardinal oder Bischof auch, seinen Rücktritt anbieten. In der Regel geschieht dies erst mit einigen Monaten Verzögerung. Balestrero lässt wissen, dass Bergoglios Amtszeit auf keinen Fall verlängert wird, wie das bei anderen Bischöfen oft der Fall ist. So ist etwa der Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner drei Jahre älter als Bergoglio, aber immer noch im Amt. Für Bergoglio aber sei noch vor Beginn des Sommers 2013 Schluss. Er habe nur noch ein paar Monate Amtszeit vor sich, das immerhin garantiert Balestrero im Namen von Tarcisio Bertone.
Der Hass auf Bergoglio hängt nicht nur mit seinem Kampf für die Armen zusammen. Es gibt einen zweiten Grund, der noch schwerer wiegt, auch wenn das lächerlich erscheint. Jorge Mario Bergoglio ist die lebende Anklage gegen die Kurie und gegen fast alle Kardinäle und 5000 Bischöfe der Welt. Im Vatikan weiß jeder, was Bergoglio darüber denkt, dass die Kurienkardinäle im Besonderen, aber auch fast alle anderen Kardinäle und Bischöfe sich von Ordensfrauen bedienen lassen, von einer mehr als 10000 Frauen umfassenden Armee von Haushälterinnen, die fast alle Nonnen sind. Papst Benedikt konnte sich über die Dienste von gleich vier Ordensfrauen von Comunione e Liberazione (CL) freuen. Bergoglio hat keine einzige Nonne als Haushälterin. Das allein wäre nicht so schlimm, wenn er wenigstens die Klappe halten würde, aber das tut er nicht. Er sagt bei Treffen im Vatikan ganz offen, dass die Ordensfrauen, die in den Küchen der Kardinäle kochen, Wäsche waschen, Betten beziehen, Geschirr abwaschen und Kaffee für den Fahrer des Bischofs aufbrühen, das tun sollten, wofür sie eigentlich Nonnen geworden sind: das Evangelium verkünden, Kinder beschützen, Alten beistehen, Gottes Liebe zeigen. Diese Kritik, so simpel sie auch erscheinen mag, sorgt für blankes Entsetzen im Staat des Papstes. Kein Kardinal braucht echten Ärger zu fürchten, wenn er seine Geldgeschäfte über die wegen mutmaßlicher Geldwäsche in Verruf geratene Vatikanbank IOR abwickelt, aber über die Abschaffung der Gratis-Dienstboten aus den Frauenorden zu räsonnieren ist eine unverzeihliche Todsünde – und Bergoglio begeht sie immer wieder.
Balestrero lässt keinen Zweifel daran: Bergoglios Kirchenkarriere ist aus und vorbei. Die Kurie steht also kurz davor, Bergoglio endlich loszuwerden – und jetzt das: Im dritten Wahlgang hat er über 50 Stimmen auf sich versammelt. Ausgerechnet der Mann, der schon abgeschoben ist, kann jetzt doch nicht etwa der nächste Papst werden! Lächerlich, wiegelt Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone ab. Die Wahl Bergoglios ist ausgeschlossen. Alles hatten Bertone und sein Freund Angelo Kardinal Amato, Chef der päpstlichen Kongregation für Selig- und Heiligsprechungen, in den vergangenen Jahren getan, um Bergoglio zu verhindern. Bertone und Amato lernten sich in der Glaubenskongregation kennen, sie sind beide Salesianerpater. Sie haben mit sanftem Druck auf den Papst ein Kardinalskollegium zusammengestellt, das eine Wahl Bergoglios unmöglich machen soll. Sie haben sehr gut und sehr gründlich gearbeitet. Zumindest glauben sie das. Sind nicht alle erklärten Gegner Bergoglios Kardinal geworden, wie der Kanadier Marc Ouellet, der Chef der Kongregation für die Bischöfe, der angesehene Fachmann der von Joseph Ratzinger gegründeten Zeitschrift Communio? War es nicht Ouellet, der Bergoglios Ansichten, seine aktive Umsetzung einiger Ideen der Theologie der Befreiung mit aller Macht bekämpft hat? War es nicht ein Hauptanliegen Joseph Ratzingers gewesen, die Protagonisten der Theologie der Befreiung, wie den Franziskaner Leonardo Boff, zu bekämpfen? So hatte im Jahr 1985 Ratzinger den Theologen Boff dazu gezwungen, wegen seines Buches Kirche – Charisma und Macht ein Jahr lang zu schweigen. Was der Kurie Kopfschmerzen bereitet, ist der Umstand, dass Ratzinger zwar die Theologie der Befreiung hart bekämpft, aber ein Bewunderer Bergoglios ist. Er versäumte es nie, über Bergoglio zu sagen, dass er ihn für einen Heiligen hält.
Aber Joseph Ratzinger ist nicht im Konklave, und da ist nicht nur Ouellet, der helfen kann, ein Bollwerk gegen Bergoglio zu errichten, da sind vor allem die 28 Kardinäle aus Italien. Das war Bertones Meisterstück: Männer, die gemessen an einem Genie wie dem Philosophieprofessor Bergoglio kaum bis drei zählen können, zum Kardinal machen zu lassen. Es sind Bischöfe, die nur deshalb Kardinäle wurden, weil der Vatikan eben in Italien liegt und die Macht der Kurie zahlreiche italienische Kardinäle durchsetzen kann. Es ist in ihrem Interesse, dass kein Papst aus Lateinamerika gewählt wird, sondern ein Mann der Kurie, sodass alles beim Alten bleibt, vor allem die Italiener im Staatssekretariat wollen die Macht behalten. Hilfe gegen die Lateinamerikaner erwarten die Kurienkardinäle auch von dem ergebenen Ratzinger-Anhänger, dem US-Amerikaner William Levada, den Ratzinger als Nachfolger auf dem Chefsessel der Glaubenskongregation wollte. Levada soll die ganze US-amerikanische Gruppe von immerhin elf Kardinälen gegen Bergoglio in Stellung bringen.
Tarcisio Bertone lässt kurz vor dem vierten Wahlgang seinen Blick noch einmal durch die Sixtinische Kapelle wandern, um den Kardinälen eindringlich in die Augen zu schauen und sie an eine simple Tatsache zu erinnern: Die Hälfte von ihnen sitzt nur deswegen hier, weil Bertone es so wollte. Jetzt ist die Stunde gekommen, in der die Rechnung präsentiert wird. Sie müssen ihm einfach den Rücken stärken und Bergoglio verhindern. Seit Beginn seiner Amtszeit vor sieben Jahren hat Tarcisio Bertone maßgeblich entschieden, wer Kardinal werden darf und wer nicht. Er will ein Kardinalskollegium, das dasteht wie eine Burg, um Jorge Mario Bergoglio zu verhindern.
In der Kurie kennen alle Bergoglios Spitznamen, sie nennen ihn den »alten Jesuiten«. Das tun sie, weil er im Unterschied zu den neuen Jesuiten kein Mann ist, der seine Zeit am liebsten mit den Wissenschaften verbringt, sondern einer der Jesuiten vom alten Schlag, die Lateinamerika mit aufgebaut und nicht vergessen haben, dass der Gründer des Ordens, Ignatius von Loyola, vor allem eines war: ein Soldat Gottes. Und genau so verhält er sich. Trotz aller Freundlichkeit und Demut, trotz seiner eindrucksvollen Bescheidenheit und Einfachheit ist er ein Krieger, ein Krieger, der einstecken kann, wenn er einstecken muss, der aber auch austeilen kann, wenn er es für nötig hält.
Der Streit der Kurienkardinäle mit Bergoglio war im Laufe der Jahre so heftig geworden, dass sie schließlich die extreme Entscheidung trafen, die sie immer treffen, wenn es mit einem Kardinal beim besten Willen nicht geht: Sie boten ihm einen Posten in der Kurie an, einen guten Posten, er sollte einer von ihnen werden. Er sollte den Chefsessel der Kongregation für den Klerus bekommen. Dann konnte er sich weltweit mit rebellischen Priestern herumschlagen, wie er aus Sicht der Kurie selber einer war. Doch dann geschah etwas, das eigentlich gar nicht hätte passieren dürfen: Er lehnte ab. Die Kurie konnte es nicht fassen. Normalerweise kann es Kardinälen aus weit entfernten Weltgegenden wie Argentinien gar nicht schnell genug gehen, nach Rom zu kommen. Doch Bergoglio wollte partout nicht. Er durchschaute das Spiel, dass die Kurie immer wieder versuchte, unliebsame Kandidaten nach Rom zu locken. So war es mit dem einst brillanten Bischof Emmanuel Milingo geschehen, dem Erzbischof von Lusaka, der sich nach Rom auf den Posten des Päpstlichen Rats für die Seelsorge der Migranten hatte abschieben lassen und daran zerbrochen war. Bergoglio ließ sich nicht verführen, er wollte einfach in Argentinien bleiben, und die Kurienkardinäle fragten sich die ganze Zeit, warum er sich das eigentlich antat. Statt im Zentrum der kirchlichen Macht in Rom bequem dem Ruhestand entgegenzusehen, musste er in Buenos Aires eine Schlacht nach der anderen schlagen, gegen die eigenen Leute, vor allem gegen die Brüder aus dem eigenen Orden, aber auch gegen die Regierung und gegen eine ganze Armee von Kritikern. Wenn es für die Kurienkardinäle einen Albtraum gibt, dann heißt der Bergoglio.
Vor dem vierten Wahlgang erklärt Bertone die Marschrichtung. Angelo Kardinal Scola soll der nächste Papst werden, das scheint die beste Lösung zu sein. Die Kardinäle wissen, dass sie schlicht und einfach weitermachen können, indem sie den Erzbischof von Mailand oder den Patriarchen von Venedig zum Papst wählen. Das hatte man über viele Jahrhunderte immer wieder getan, und es hatte gut geklappt. Der Zufall will, dass der derzeitige Mailänder Erzbischof Angelo Scola auch schon Patriarch von Venedig gewesen war. Im ersten Wahlgang sollte Angelo Scola etwa ein Viertel der Stimmen bekommen. Bertone ist enttäuscht und fragt sich: Warum so wenige?
Scola hat einen Fehler gemacht, einen schweren Fehler. Seit seiner Ankunft in Rom hatte sich Scola nicht wie ein normaler Kandidat aufgeführt, sondern so, als wäre er bereits der nächste Papst. Die übrigen Kardinäle hatten mit Befremden mit angesehen, wie Scola sich wie eine Majestät verkaufte. Er bemühte sich sogar, einen wichtigen gegen ihn erhobenen Vorwurf zu entkräften: Scola predigt oft so kompliziert, dass ihn keiner mehr versteht. Sobald er jedoch in Rom angekommen war, hielt er extrem volksnahe Predigten. Zu seiner Siegesgewissheit hatte er auch allen Grund; Tarcisio Bertone hatte ihm schließlich versprochen, dass er gewählt werden würde. Dass Bertone einen Ersatzkandidaten in petto hat, den langjährigen brasilianischen Kurienkardinal Odilo Pedro Scherer, verschweigt er Angelo Scola. Keinen Zweifel aber hat Bertone daran, dass er die Kontrolle über die absolute Mehrheit der Kardinäle hat. Sie müssen einfach den wählen, den er ausgesucht hat. Schließlich hat er die Mehrheit der 115 Kardinäle in ihr Amt gehievt. Es sei denn … Aber diesen Gedanken wagt Tarcisio Bertone wohl kaum zu Ende zu denken. Es sei denn, sie kehrten ihm ausgerechnet jetzt den Rücken und verrieten ihn, wie Judas das einst mit Jesus gemacht hatte. Aber das werden sie nicht, lässt Bertone seine Sympathisanten wissen. Sie werden Bergoglio verhindern.
Doch die Kardinäle spüren, dass es noch ein anderes Problem gibt als Scolas Arroganz. Nicht einmal die Italiener stehen einmütig hinter Angelo Scola. Die italienischen Kardinäle, immerhin 28 an der Zahl, treten im Konklave keineswegs als geschlossener Block auf, sondern scheinen vollkommen zerstritten zu sein. Viele von ihnen fürchten, dass Scola dem ehemaligen Landesvater der Lombardei, Roberto Formigoni, viel zu nahe gekommen ist. Am 16. März 2012 hatte der unter Korruptionsverdacht stehende Formigoni, damals noch Präsident der Lombardei, die Unterstützung von Angelo Scola eingeklagt und verlangt, dass Scola seine Integrität unter Beweis stelle, nach allem, was er für ihn getan habe. Kurz vor dem Konklave, am 12. Februar 2013, war Formigoni von der Staatsanwaltschaft sogar des organisierten Verbrechens beschuldigt worden. Kann man einen Mann zum Papst wählen, der ein Freund eines mutmaßlich korrupten Politikers ist? Die Mehrheit der Kardinäle ist wohl der Meinung, dass das nicht geht.
Doch der vierte Wahlgang bringt eine Sensation. Angelo Scola hat keine Chancen mehr. Bei der Auszählung der Stimmen schallt immer wieder derselbe Name durch die Sixtinische Kapelle: »Bergoglio«, »Bergoglio«, »Bergoglio« … Bergoglio erreicht über 70 Stimmen. Die Mehrheit ist zum Greifen nahe. Jetzt bricht bei Bertone die blanke Panik aus, Schweiß steht auf seiner Stirn. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Wozu hat er denn die Kardinäle so sorgfältig ausgewählt? Doch nicht deshalb, damit so was hier geschieht!
Noch einmal versucht Bertone zu beschwichtigen, es gibt einen Hoffnungsschimmer. Hat Bergoglio nicht schon einmal gekniffen, damals im Jahr 2005 während der Papstwahl? Er hatte knapp 40 Stimmen auf sich versammelt, gegen den großen Favoriten Joseph Ratzinger. Und dann hatte er plötzlich die Kardinäle gebeten, ihn nicht mehr zu wählen, und aufgegeben. Bis heute weiß niemand, warum er das getan hatte. Fürchtete er damals, dass alte Vorwürfe ihn einholen könnten, wonach er die beiden Jesuitenpater Franz Jalics und Orlando Yorio, also eigene Leute, 1976 während der Zeit der Militärdiktatur in Argentinien an die Behörden ausgeliefert haben soll? Jalics und Yorio waren daraufhin fünf Monate lang inhaftiert und gefoltert worden. Wollte er der Kirche diesen Skandal ersparen? Oder hatte es einen anderen Grund gegeben? Schreckte er davor zurück, sich dem weit bekannteren Joseph Ratzinger in den Weg zu stellen?
Die Mehrheit der Kurienkardinäle um Tarcisio Bertone weiß, dass dieser sich in Wirklichkeit nur an einen Strohhalm klammert. Bergoglio hat dieses Mal ganz klar gesagt, dass er die Wahl zum Papst annehmen wird. Während der Kardinalskongregationen sprach er über die Erfüllung von Pflichten und erklärte, dass das auch für ihn gilt, wenn Gott es von ihm verlangt. Auch wenn Bertone es einfach nicht wahrhaben will: Es scheint der für ihn schlimmste Fall einzutreten – Bergoglio sträubt sich nicht, er will tatsächlich Papst werden.
Aber noch ist es nicht zu Ende. Der fünfte Wahlgang allerdings könnte Bergoglio zum Papst machen. Jetzt kommt es darauf an, das um jeden Preis zu verhindern. In aller Eile versuchen die Kurienkardinäle einen Kompromisskandidaten aus dem Hut zu zaubern, irgendeinen, der möglichst rasch möglichst viele Stimmen auf sich vereinigen kann. Die Gruppe um Bertone versucht trotzdem Ruhe zu bewahren. Die Kurienkardinäle sagen sich: Wir werden Bergoglio schon noch aufhalten, so schlimm war das, was wir unter Benedikt XVI. angerichtet haben, nun auch wieder nicht. Wir haben genug Unterstützung in den eigenen Reihen, allzu groß wird der Hass auf uns schon nicht sein. Doch da irren die frommen Herren. Vor allem die elf Kardinäle aus den USA, darunter auch William Levada, den Bertone für einen Freund hielt, und die Kardinäle aus Deutschland machen kein Geheimnis daraus, dass sie Bergoglio durchsetzen wollen. Bertone wird immer flauer im Magen.
Jorge Mario Bergoglio hatte viel Ärger mit ihm, vor allem wegen seines Dauerstreits mit der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Im Staatssekretariat gibt es reihenweise Männer, die bei dem Gedanken an Bergoglio Schweißausbrüche bekommen. Der Argentinier machte keinen Hehl daraus, was er davon hielt, dass Benedikt XVI. mit dem Kriegsherrn George W. Bush im Weißen Haus ausgerechnet seinen Geburtstag gefeiert und diesen wenige Monate später noch einmal mit allem Pomp im Vatikan empfangen hatte. Denselben Bush, den Johannes Paul II. mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft hatte, um die Kriege im Irak und in Afghanistan zu verhindern. Wie konnte Benedikt XVI. das nur tun? Im Vatikan lässt sich nicht mehr geheim halten, was viele Kardinäle wissen, auch Jorge Bergoglio: dass mehrere Priester die Kirche verlassen haben wegen einer fröhlichen Geburtstagsfeier des Papstes im Weißen Haus mit George W. Bush, die Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone arrangiert hatte.
Als die Stimmen des fünften Wahlgangs ausgezählt werden, sinkt die Hoffnung der Kurienkardinäle zusehends. »Bergoglio«, »Bergoglio«, »Bergoglio«, klingt es immer wieder durch die Sixtinische Kapelle. Jetzt können die Kurienkardinäle ihr Entsetzen kaum mehr verbergen. Tarcisio Bertone kann es einfach nicht fassen. Ausgerechnet Jorge Mario Bergoglio, der schon ein für alle Mal erledigt schien, in Lateinamerika, in seinem Jesuitenorden, im Kirchenapparat – dieser Mann sollte sich tatsächlich gegen den Willen des erfolgreichen Kardinalstaatssekretärs durchsetzen? Ein Mann, den der eigene Orden von seinem Leitungsposten als Provinzial und Chef der Jesuiten Argentiniens abgesetzt hatte, der vor seiner Ernennung zum Erzbischof nichts war als der Verwalter eines schäbigen kleinen Exerzitienhauses. Ausgerechnet dieser Mann sollte jemanden wie ihn, Tarcisio Bertone, hinwegfegen, der glaubte, zusammen mit der Kurie Weltgeschichte geschrieben zu haben? Er tat es.
Das Ergebnis des fünften Wahlgangs ist eine einzige Katastrophe für die Kurie. Bergoglio bekommt sogar mehr Stimmen als Ratzinger 2005. Es werden letztendlich 88 sein, nur knapp 30 Kardinäle stimmen nicht für ihn. Den Kurienkardinälen hat niemand geholfen, keiner erbarmte sich ihrer.
»Es war ein Bumerang für die Kurie«, sagte mir nach der Wahl einer der engsten Vertrauten Bergoglios in Rom. »Die Kurie hat alles getan, um ihn zu verhindern, sogar das Kardinalskollegium so umbesetzt, dass seine Wahl unmöglich werden sollte, aber dabei haben sie es so übertrieben, dass selbst die, die Bergoglios Wahl verhindern sollten, sich von der Kurie abgewendet haben und Bergoglio schließlich gewann. Nur die etwa 30 Kurienkardinäle haben ihn nicht gewählt.«
Dann kommt es noch schlimmer für die Kurie an diesem Mittwoch. Das Oberhaupt der Kardinäle, Kardinal Giovanni Battista Re, fragt Bergolio, ob er die Wahl annehme. Das tut er und gibt dann eine überraschende Antwort auf die Frage, wie er sich nennen wolle: »Franziskus.« Noch nie hieß ein Papst Franziskus. Das ist ein Paukenschlag. Ausgerechnet ein Papst nennt sich nach dem Hungerleider aus Assisi. Was für eine kolossale Ohrfeige das für die Kurie bedeutet, versteht auf Anhieb jeder, der wenigstens zum Kreis der Gäste gehörte, die in der Vergangenheit an den Festivitäten der Kurie teilnehmen durften. Der langjährige Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano, der die Kurie maßgeblich prägte, ließ etwa zur Feier des Beginns seiner Amtszeit ein komplettes Orchester zu einem prächtigen Fest in die vatikanischen Gärten einfliegen. Den Kurienkardinälen, die ihre Mercedes-S-Klasse-Limousinen schätzen, schaudert bei der Vorstellung, was der neue Papst in wenigen Minuten vor den Gläubigen wohl sagen wird.
Zunächst zieht sich Franziskus als erster Papst der Geschichte nach seiner Wahl in die Paulinische Kapelle zum Gebet zurück, erst dann geht es los. Mehr als 200000 Menschen haben sich auf dem Petersplatz versammelt, nachdem sich die Nachricht verbreitet hatte, dass weißer Rauch aufgestiegen war. Der Regen hatte die Menge immer wieder durchnässt. Dennoch waren die Menschen nicht müde geworden, auf den Platz zu strömen. Jetzt klatschen sie erst einmal, als die Musikkapelle des Vatikans und die Carabinieri aufmarschieren. Um 19.07 Uhr war der weiße Rauch aufgestiegen, jetzt ist es fast 20 Uhr. Wenige Minuten vor dem Auftritt des neuen Papstes hört es endlich auf zu regnen. Die Italiener halten ihre Fahnen in der Hand, um einen ihrer Stars, Angelo Scola oder Tarcisio Bertone, feiern zu können. Die Brasilianer schwenken Fahnen, sie rechnen damit, dass Odilo Pedro Scherer, der Kardinal von São Paulo, als neuer Papst auf den Balkon kommen wird.
Dann tritt Kardinal Jean-Louis Tauran auf den Balkon des Petersdoms und verkündet, worauf die Welt gewartet hat: »Annuntio vobis gaudium magnum, habemus Papam!« (»Ich verkünde euch eine große Freude: Wir haben einen Papst!«) Dann sagt Tauran den Satz, der sich erst endlos zu dehnen scheint, bis endlich der Name des neuen Papstes fällt: »Eminentissimum ac Reverendissimum Dominum Georgium Marium …« Das war schon mal der Vorname des neuen Papstes, Georgius Marius. Schweigen auf dem Platz. Wie bitte, Georgius Marius? Wer heißt denn mit Vornamen so? Der Spitzenkandidat der Italiener heißt Angelo, ein anderer aus Kanada Marc. Dann hätte Tauran aber » Angelum« oder »Marcum« sagen müssen. Tauran spricht immer noch, es dauert, bis er zum Nachnamen kommt: Erst muss er noch den Titel nennen, »Santae Romanae Ecclesiae Cardinalem«, und dann endlich: »Bergoglio.« Die Massen von Gläubigen, die auf dem Platz und der dorthin führenden Via della Conciliazione warten, erstarren in Stille. Georgius Marius Bergoglio. Wer ist das denn? Nur ganz vorn schwenkt ein kleines Grüppchen eine Fahne, die Nationalflagge Argentiniens. Dann spricht Kardinal Tauran weiter: »qui sibi nomen imposuit Franciscum« (»der sich den Namen Franziskus gab«). Jetzt brandet Applaus über den Platz. Ein Kollege steht neben mir und schaut mich ungläubig an. Der erste Papst in der Geschichte, der sich den Namen des heiligen Franziskus gibt. Der erste Papst in der Geschichte der Kirche, der aus der Gesellschaft Jesu kommt, der ein Jesuit ist.
Dann kommt Franziskus auf den Balkon, und die ganze Welt erwartet eine bedeutsame Geste, aber der Mann aus Buenos Aires sagt etwas so Naheliegendes, dass niemand es erwartet hätte: »Buona sera« – »Guten Abend.« Er spricht so bescheiden, als wollte er sich entschuldigen, dass er einen ruhigen Fernsehabend gestört hat. Dann nimmt er sich selber auf die Schippe, wie er es schon in der Sixtinischen Kapelle vor den Kardinälen getan hatte. Da hatte er den Kardinälen gesagt, dass er darauf hoffe, dass »Gott ihnen vergeben möge« dafür, dass sie ihn, Jorge Mario Bergoglio, zum Papst gewählt haben. Auf dem Balkon sagt er nun: »Es scheint, meine Mitbrüder, die Kardinäle sind fast bis ans Ende der Welt gegangen, um ihn zu holen.« Dann entschließt er sich zu einer Geste, die keiner seiner 265 Vorgänger jemals vollzogen hatte: Er spendet nicht der Menge den Segen, sondern er bittet sie darum, den Herrn anzurufen, dass dieser ihn, Bergoglio, segne. Das ist unfassbar, über mehr als ein Jahrtausend hatten Menschen ihr Leben riskiert, um sich in Rom vom Papst den Segen erteilen zu lassen, und jetzt bittet ein Papst die Menge um Fürbitten, dass er gesegnet werde. »In Stille wollen wir euer Gebet für mich halten.« Danach begeht er einen ähnlichen Fauxpas wie der große Karol Wojtyła am Tag seiner Wahl 1978. Wojtyła hatte auf Italienisch sagen wollen: »Wenn ich einen Fehler in der italienischen Sprache mache, werdet ihr mich korrigieren« – und machte in diesem Satz prompt einen Fehler. Jorge Mario Bergoglio betet das Ave-Maria und verwechselt Italienisch mit Spanisch. Statt »con te« – mit dir – sagt er »con ti«, wie es im Spanischen heißt. Am Ende verabschiedet er sich wie ein alter Gemeindepfarrer: »Schlaft gut.«
Rom wird sich jetzt daran gewöhnen müssen, einen Papst zu haben, der um 21 Uhr zu Bett geht, dafür aber um vier Uhr morgens aufsteht. Nach der Zeremonie wartet vor dem Apostolischen Palast der pompöse S-Klasse-Mercedes, den Papst Benedikt XVI. geschenkt bekam, ein Auto, das weit über 100000 Euro kostet. Doch Papst Franziskus weigert sich einzusteigen, er setzt sich in den Bus, zusammen mit den anderen Kardinälen. Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone muss sich allein in die schicke Dienstlimousine setzen. Das ist etwas Unerhörtes: Ein Papst fährt Bus, wer hätte das je für möglich gehalten! Auf dem Petersplatz ruft die Menge »Fran-ces-co« und »Ber-go-glio.«
Auch ich stand an diesem verregneten Tag in der feiernden Menge auf dem Petersplatz und staunte einfach nur über das, was geschehen war. Der Balkon war längst leer, der neue Papst längst im Gästehaus der heiligen Martha. Ich wollte einfach noch einen Moment die Jubelstimmung genießen. Mein Handy klingelte ununterbrochen. Irgendwann beantwortete ich die Anrufe, und eine Unzahl von Kollegen wollten alle das Gleiche wissen: »Sag doch bitte, woher hast du das gewusst? Wie zum Teufel konntest du den Tag und die Uhrzeit vorhersagen, wann der neue Papst gewählt wird?« Ich hatte am Vormittag dieses Tages im Morgenmagazin der ARD gesagt: »Heute Abend haben wir einen neuen Papst.« Alle hatten mich für verrückt erklärt. Niemand glaubte mir, dass bereits am zweiten Wahltag, schon im fünften Wahlgang der neue Papst gewählt werden würde. Ein alter Freund aus den USA meldete sich: »Gib es zu«, schrie er ins Telefon, »irgendein Kardinal hat es dir aus dem Konklave gesteckt, richtig? Niemand konnte damit rechnen, dass es ein so kurzes Konklave geben würde. Du hast einen Tipp bekommen. Sag schon, von wem?« Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Ich wusste, dass es eine Revolution gegen die Kurie geben würde, der Zorn der Kardinäle war gewaltig, ein Anti-Kurie-Mann würde kommen. Ich wusste nicht, wer das sein würde, aber ich wusste, dass der Zorn auf die Kurie und die Empörung unter den Kardinälen so groß war, dass sie sich schnell auf den neuen Mann einigen würden, der einen Erdrutsch auslösen sollte.
Ich hatte keinen Tipp bekommen, ich wusste nur, wie das alles angefangen hatte, was zur Wahl dieses Papstes führte. Und angefangen hatte es mit der Liebe eines Vaters zu seinen Kindern und einem Schreibtisch – aber wie sollte ich das meinen Kollegen erklären?
Der verhängnisvolle Schreibtisch
Aber diese Ereignisse – der Rücktritt von Papst Benedikt XVI. und die überraschende Wahl von Papst Franziskus – nahmen nicht ihren Lauf, wie viele vermuten, aufgrund der kriminellen Energie einiger Verräter in der Kurie. Letzteres sollte erst später hinzukommen. Am 12. Oktober 2012, wenige Monate vor seinem Rücktritt, wird Benedikt XVI. beklagen, dass es »Unkraut« und »faule Fische« in der Kirche gebe. Doch angefangen hat das Unheil, das zum vorzeitigen Ende des Pontifikats von Benedikt XVI. führte, nicht mit krimineller Energie, sondern mit Vaterliebe. Ohne die väterliche Fürsorge des ehemaligen päpstlichen Kammerdieners Angelo Gugel für seine Töchter wäre alles ganz anders gekommen. Gugel ist es, der eine weitreichende Entscheidung herbeiführen wird: die Zahl der Schreibtische im Vorzimmer des Papstes von zwei auf drei zu erhöhen.
Päpstliche Sekretäre, die über so etwas wie das Vorzimmer des Oberhauptes der katholischen Kirche wachen, gibt es bereits im Mittelalter. Die Zahl der Sekretäre variiert jedoch sehr stark. Papst Innozenz VIII. (Pontifikat 1484–1492) verfügte über 24 Apostolische Sekretäre, die unter anderem damit beschäftigt waren, sich mit seinen zahlreichen Kindern (angeblich 16 an der Zahl) herumzuschlagen. Unter all den Sekretären hatte der Papst meist einen echten Vertrauten, der Secretarius Papae oder Secretarius intimus genannt wurde. Es handelte sich meist um einen Prälaten, dem der Papst besonderes Vertrauen schenkte. In der Barockzeit nimmt der Kardinalnepot, eine Art Ministerpräsident des Papstes, die Rolle des wichtigsten Sekretärs ein. Papst Paul II. hatte das Amt während seines Pontifikats von 1534 bis 1549 etabliert. Die Päpste beriefen von nun an einen engen Verwandten, häufig einen Neffen, in dieses Amt. Schon während des Barocks wird diese Praxis stark kritisiert, der noch heute gängige Begriff »Nepotismus« (Vetternwirtschaft) geht auf diese päpstliche Praxis zurück.
Seine heutige Form nahm das Vorzimmer des Papstes aber erst nach der Abschaffung des Amts des Kardinalnepoten im Jahr 1692 an. Seitdem arbeiten die Sekretäre zusammen mit dem Papst die Unterlagen durch, die das Staatssekretariat und die verschiedenen Kongregationen der Kirche an den Papst senden. Alle wichtigen Unterlagen für den Papst, sowohl die privaten als auch alle offiziellen Dokumente der Kurie, wandern seitdem über die Schreibtische im päpstlichen Vorzimmer im Apostolischen Palast.
Jahrhundertelang standen zwei Schreibtische in diesem Vorzimmer, der des ersten und der des zweiten Sekretärs des Papstes. Doch dann kommt der Kammerdiener Angelo Gugel aus Venetien mit Papst Johannes XXIII. nach Rom. Gugel ist ein Familienmensch und mächtig stolz auf seine drei Töchter Raffaella, Carla und Flaviana. Doch im Rom der 80er-Jahre ist es nicht einfach, einen Job für die gut ausgebildeten Frauen zu bekommen. Aber Angelo Gugel arbeitet immerhin im Vatikan, als Kammerdiener des Mannes, der das Oberhaupt von rund einer Milliarde Katholiken ist. Das größte Problem Gugels ist, dass er zwar viel mit dem Papst allein ist und ihm beim An- und Auskleiden hilft, dessen Koffer für die zahlreichen Auslandsreisen packt und ihn bei Tisch bedient, aber vom Zentrum der Macht, dem Vorzimmer des Papstes, ausgeschlossen ist. Aber in diesem Machtzentrum laufen alle wichtigen Dinge zusammen, auch Informationen über offene Stellen im Vatikan, die für seine Töchter interessant sein könnten.
Angelo Gugel hat Großes vor, er will nicht nur eine, sondern alle drei Töchter im Vatikan unterbringen. Dazu muss er es zunächst einmal in das Vorzimmer des Papstes schaffen. Seinem Drängen, als erster Kammerdiener überhaupt einen eigenen Schreibtisch im Machtzentrum, dem Vorzimmer des Papstes, zu erhalten, kommt Johannes Paul II. schließlich nach.
Kammerdiener Gugel macht sich an die Arbeit. Unermüdlich zieht er Fäden, führt Gespräche, passt auf wie ein Luchs, wenn etwas über seinen Schreibtisch im Vorzimmer des Papstes geht, das für ihn wichtig sein könnte, und das Projekt seines Lebens gelingt am Ende tatsächlich: Raffaella Gugel bekommt einen Job in der Vatikanbank, Carla Gugel in der Verwaltung der Kongregation von Propaganda Fide und Flavia Gugel im statistischen Büro des Vatikans.
Gugel hatte zweifellos Erfolg, doch er hinterlässt ein fatales Erbe, den dritten Schreibtisch im Vorzimmer des Papstes. Auf diesem dritten Schreibtisch des Kammerdieners werden schließlich die Dokumente liegen, die Angelo Gugels Nachfolger Paolo Gabriele gleich kistenweise fortschaffen wird, um zu beweisen, wie korrupt es rund um den Papst zugeht. Auf diesem Schreibtisch wird auch der Brief landen, der die für Papst Benedikt XVI. so katastrophalen Folgen haben wird. Er kommt aus den USA, aus Washington, geschrieben von dem redlichen Bischof Carlo Maria Viganò.
Korruption und Geldwäsche in Vatikan und Kirche
Das Unheil nimmt mit dem letzten Tag des Jahres 2011 seinen Lauf: Am 31. Dezember stirbt Don Luigi Maria Verzé im gesegneten Alter von 91 Jahren. Der charismatische Gründer des Großkrankenhauses San Raffaele in Segrate bei Mailand galt viele Jahre als ein leuchtendes Beispiel für einen aufopferungsvollen Priester. Doch kurz nach dem Tod von Don Verzé brechen alle Dämme: Mitarbeiter und Weggefährten packen aus und verraten, wer der Priester wirklich war. Er soll mit regelrechten Mafiamethoden gearbeitet, Drohungen und Erpressungen eingesetzt haben, um Baugrundstücke zu erhalten, die an die Ländereien des Krankenhauses grenzten und deren Besitzer nicht verkaufen wollten. Im Jahr 1976 war Don Verzé wegen Anstiftung zu Korruption zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden, 1988 wegen Verstoßes gegen das Baugesetz und Missachtung von Baugenehmigungen ein weiteres Mal. Doch damit nicht genug. Der Priester hatte ganz offensichtlich einen fatalen Hang zur Prasserei. Nach seinem Tod tauchten erste Fotos auf, die ihn in Feierlaune im Wellness-Schwimmbad eines Luxusresort in Brasilien zeigen. Er verbrachte dort keineswegs nur seinen Urlaub, die Anlage gehörte zu seinem Krankenhaus-Imperium. Um nicht die Unbequemlichkeiten eines Linienfluges nach Brasilien auf sich nehmen zu müssen, flog der Priester in einem Privatjet, um komfortabel in sein Resort zu gelangen.
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