Johannes Paul II. - Andreas Englisch - E-Book
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Andreas Englisch

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Beschreibung

Die komplett überarbeitete Bestseller-Biografie über Karol Wojtyla – Papst Johannes Paul II. – von dem Insider der katholischen Kirche: Andreas Englisch, der mit seiner einzigartigen Papst-Biografie durch besonderes Wissen und Einfühlsamkeit über die Geheimnisse des Vatikans besticht. Zunächst ist der Papst nur sein Job. Denn als Andreas Englisch vor über 20 Jahren als Korrespondent nach Rom geschickt wird, hält er den Kirchenstaat für eine pompöse Institution und den Papst für einen rückständigen Moralapostel. Doch mit jedem Tag, den Andreas Englisch in der Nähe des Heiligen Stuhls sowie des obersten Kirchenmannes verbringt, ändert sich seine Wahrnehmung. Er beobachtet Johannes Paul II. bei Privataudienzen, Messen und Seligsprechungen, beim Skifahren ebenso wie im Krankenhaus. Vor allem aber begleitet er den »Marathonmann Gottes« im Papstflugzeug auf dessen Reisen rund um die Welt. Dank dieser Einblicke zeichnet Andreas Englisch ein aufregendes und intimes Porträt eines Menschen voller Widersprüche: Karol Wojtyla ist der Medienpapst der Moderne, der sich wie ein Popstar zu inszenieren weiß. Der Hardliner, der im Zeitalter von Aids gegen Verhütung predigt, der erste Papst, der Juden um Vergebung bittet, der unbequeme Politiker, der die Sowjets bekämpft und den Irak-Krieg ablehnt. Und er ist ein Mystiker, der wartet, bis Gott zu ihm spricht. Nun wird Johannes Paul II selbst heiliggesprochen. Andreas Englisch begleitete als Reporter des Papstes Johannes Paul II. und dessen Gefolge im Vatikan und auf den Reisen rund um den Globus, bis zum Tod des Papstes. Humorvoll und unterhaltsam schildert er, was sich wirklich hinter den Kulissen des Kirchenstaates abspielte und wie dieser Papst die Herzen der Menschen bis heute zu erobern vermag. Am 27. April 2014, dem Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit, wird Johannes Paul II. heiliggesprochen. Die Biografie über Papst Johannes Paul II. stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurde unter anderem in die Niederlande, nach Frankreich, Polen, Korea, Ungarn, Litauen und Kroatien verkauft. Dies ist die von Andreas Englisch überarbeitete und erweiterte Neuauflage des Bestsellers »Johannes Paul II. Das Geheimnis des Karol Wojtyla«.

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Andreas Englisch

Johannes Paul II.

Das Geheimnis des Karol Wojtyla

Biografie

Für Leonardo

Einleitung

Petersplatz, Frühjahr 2014.

Ich hätte nie für möglich gehalten, dass mich diese Frage so aus der Fassung bringen würde. Der junge Fernsehproduzent sah mich im Übertragungswagen am Rande des Petersplatzes in Rom verwundert an, dann blickte er meinen alten Kollegen Francesco an, der auf der anderen Seite des schmalen Tisches saß.

„Sie schweigen beide?“, fragte ungläubig der Produzent. „Ich hätte nicht gedacht, dass eine so schlichte Frage Sie verstummen lässt. Vielleicht habe ich mich nicht genau ausgedrückt? Lassen Sie es mich so fragen: Sie haben beide Papst Johannes Paul II. jahrzehntelang gekannt und begleitet, Sie haben ihn auch persönlich kennengelernt, er hat Sie eingeladen, mit ihm seine 100. Auslandsreise zu feiern. Jetzt wird er in wenigen Tagen heiliggesprochen. Was mich interessiert, ist doch nur, ob Sie damals, als Sie mit Papst Johannes Paul II. unterwegs waren, gedacht haben: Ist dieser Papst Johannes Paul II. möglicherweise ein Heiliger, haben Sie sich gefragt: Erleben wir einen Heiligen hautnah?“

Ich schwieg und schaute zu Francesco. Vor langer Zeit, im Sommer 1999, waren wir beide im Gefolge Karol Wojtylas in Polen in einem alten russischen Armee-Helikopter in ein schweres Unwetter geflogen, der Hubschrauber wurde von einem Blitz getroffen, und wir fürchteten damals abzustürzen. Die Piloten hatten die Kontrolle über die Maschine verloren, sie schrien und beteten laut im Cockpit. Seit diesem Tag verstehen Francesco und ich uns blind. Ich sah jetzt unschlüssig zu ihm. Auch er schwieg.

„Wieso antworten Sie nicht?“, fragte der Produzent. „Wir würden Ihnen während der Sendung gern genau diese Frage stellen: Hatten Sie das Gefühl, in Karol Wojtyla einen Heiligen zu erleben?“

„Können wir eine Pause machen?“, fragte Francesco. Der Produzent nickte ein wenig irritiert. Francesco stand auf und ging aus dem Wagen, ich folgte ihm. Wir gingen die wenigen Schritte zum Säulengang des Bernini am Petersplatz, setzten uns auf eine der Stufen und schauten auf den von der Sonne beschienen Platz.

„Warum hast du nicht geantwortet?“, fragte Francesco. 

„Und warum du nicht?“, fragte ich zurück.

Er antwortete: „Ich habe mir die ganze Zeit vorgestellt, was passiert wäre, wenn man zu Lebzeiten zu Johannes Paul II. gesagt hätte: Hey Heiligkeit, wir würden Sie gern heiligsprechen. Wie wäre es, wenn Sie sich mal einen Augenblick hinsetzen könnten, damit wir Sie in Ruhe anbeten können. Weißt du, was passiert wäre? Er wäre geflohen. Nichts hat er mehr gehasst, als wenn irgendwer ihn loben wollte. Als Heiliger muss er sich das jetzt gefallen lassen, aber als er noch lebte, hätte man ihn aus einem ganz einfachen Grund nicht anbeten können.“

  „Ich weiß“, sagte ich, „er wäre viel zu schnell weg gewesen, er konnte nicht stillsitzen, wenn es nicht unbedingt nötig war.“ Wir mussten beide lachen. Wie hatten wir ihn genannt? Den eiligen Vater, den Marathonmann Gottes. Er schien nie schlafen zu müssen und nie müde zu werden, wie ein religiöser Tornado raste er über die Welt und wir, die wir meist nicht einmal halb so alt waren wie er, versuchten, mit ihm Schritt zu halten. Die Generation von Vatikan-Berichterstattern, die Papst Johannes Paul II. begleiteten, musste eine Fähigkeit entwickeln, die keiner ihrer Vorgänger je gebraucht hatte: Zu lernen, in Flugzeugen, an Schreibtischen, in Pressezentren, in überhitzten Bussen oder alten Helikoptern im Sitzen zu schlafen. Im Gefolge Karol Wojtylas begannen die Tage um 5.00 Uhr mit der Frühmesse und endeten selten vor 22.30 Uhr. Nichts war für Papst Johannes Paul II. unwichtig, kein Kindergarten in Afrika zu klein, kein Altenheim in Brasilien zu abgelegen, dass er es nicht besuchen musste. Nie war ein Termin zu früh oder zu spät, nie war er zu krank, wie damals in Tiflis in Georgien, als er unter so starkem Fieber litt, dass ihn der Schüttelfrost erzittern ließ wie Espenlaub, er aber trotzdem eine Andacht in den Bergen Georgiens hielt.

Wenn es eines gab, das überhaupt nicht zu dem Mann passte, dann war es, dass er still hielt, um sich verehren zu lassen. Aber genau das wollten die Millionen Gläubigen auf dem Petersplatz jetzt mit ihm tun.

 Francesco sagte plötzlich: „Weißt du noch, dass er eine Geschichte erzählt hat, von den Tagen, an denen er wirklich absolut still halten musste?“ Natürlich wusste ich das noch – Karol Wojtyla hatte manchmal die Geschichte erzählt, wie sein älterer Bruder Edmund ihn in ihrem Heimatdorf Wadowice zum Fußball mitnahm, aber nicht, weil er mitspielen durfte, sondern weil auf dem Fußballplatz einer der Torpfosten fehlte, und den musste Karol Wojtyla, Spitzname Lolek, ersetzen. Er musste einfach während des Spieles regungslos stehen bleiben.

Wir schwiegen uns eine Weile an, dann sagte Francesco: „Sie werden während der Heiligsprechung darüber reden, dass er Wunder gewirkt hat. Das wäre ihm peinlich.“

 „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sagen würde, dass ihm nicht einmal das Fotografen-Wunder gelungen war.“ Wieder mussten wir lachen. Einer der Fotografen des Papstes hatte einmal in einem Arbeitszimmer im päpstlichen Palast auf den Papst warten müssen und dabei geraucht. Als der Papst plötzlich hereinkam, warf der Fotograf vor Schreck die Zigarette aus dem Fenster in den Hof des apostolischen Palastes.

Johannes Paul II. tadelte den Fotografen: „Du rauchst? Das schadet doch der Gesundheit“, mahnte ihn der Papst. Der Fotograf entschuldigte sich und versicherte, jetzt das Rauchen nach diesem päpstlichen Tadel aufzugeben. Papst Johannes Paul II. erzählte fortan, dass sein Appell an den Fotografen dazu geführt habe, dass der gänzlich das Rauchen aufgegeben und nie wieder eine Zigarette angerührt habe. Wir ließen alle den Papst lange in dem Glauben, dass er recht habe. Dabei wusste der ganze Vatikan, dass das nicht stimmte. Der Fotograf rauchte weiter, nur nicht, wenn der Papst in der Nähe war. Das Wunder, dass der Papst einen Kettenraucher von seiner Sucht abgebracht hatte, war ausgeblieben.

„Weißt du, was das Problem ist?“, fragte ich.

„Wir haben Karol Wojtyla gemocht, aber den Menschen Wojtyla. Kein Heiligenbild.“

„Weißt du noch, die Flugzeug-Party?“, fragte ich.

„Klar“, sagte er. Wir waren im Juni des Jahres 1999 zusammen mit dem Papst zwei Wochen lang kreuz und quer durch Polen gerast, wir hatten uns dem totalen Alkoholverbot gebeugt. Als wir völlig erschöpft, am Ende der Reise, endlich im Flugzeug saßen, das uns am späten Abend nach Rom zurückbringen sollte, verabschiedete sich der Papst draußen von den Massen. Uns war heiß, wir waren kaputt und sehr durstig, wir wollten nur noch endlich ein Bier, ein Glas Sekt, einen Wein. Doch die Fluggesellschaft antwortete, dass das totale Alkoholverbot erst dann aufgehoben sei, wenn die Maschine gestartet wäre. Solange sollten wir weiter warten. Wir warteten und schwitzten. Um die Zeremonie draußen nicht zu stören, konnte der Pilot die Motoren nicht anlassen, deswegen lief auch keine Klimaanlage. Das Flugzeug entwickelte sich zu einem Backofen, in dem es zu wenig Luft gab, so dass erste Kollegen unter Atemnot litten. Wir zogen alles aus, was man schicklicherweise ausziehen konnte. Als der Papst endlich an Bord kam, verlangten wir etwas zu trinken, doch die Fluggesellschaft lehnte wieder ab. Da bereiteten wir dem Papst einen Empfang, den nie zuvor ein Papst erlebt hatte: Wir drückten alle gleichzeitig an unseren Plätzen auf die Klingeln, die dazu dienen, die Stewardessen herbeizurufen. Die Papstmaschine klang auf einmal wie eine wild gewordene Straßenbahn. Karol Wojtyla fragte im vorderen, nur für ihn und die Kardinäle reservierten Teil des Flugzeugs, was denn eigentlich los sei. Die Vatikan-Funktionäre erklärten erbost, dass die wild gewordene Journalisten-Horde außer Rand und Band geraten sei. Mittlerweile sangen wir die selbst komponierte Hymne „Es ist Feierabend“, also „Take off the cross, boss“ (Nimm das Kreuz ab, Boss). Die Funktionäre waren derart empört, dass der Vorfall später im offiziellen Protokoll der Reise Niederschlag fand. Der Papst fragte nach, wieso die Meute denn so einen Krach machte. Als er zur Antwort bekam, dass wir einfach durstig seien, lachte er und sorgte dafür, dass eine bis heute legendäre Party in der Papstmaschine mit kühlem Bier und gutem Wein begann.

Karol Wojtyla war unser Idol geworden, so etwas wie der alte weise Gemeindepfarrer, der mit ein paar undisziplinierten Journalisten durch die Welt reiste und sie nachhaltig veränderte, und zwar zum Besseren. Das konnten wir mit unseren eigenen Augen sehen. Er bereiste als erster Papst ein orthodoxes Land, bat als erster Papst das Volk der Juden an der Klagemauer in Jerusalem um Vergebung für das, was Christen ihnen angetan hatten. Er hatte die Welt-Jugendtage erfunden und dem Vatikan ein völlig neues Gesicht gegeben. Wir wussten, dass die Sowjets in Moskau diesen Mann gefürchtet hatten und dass sie gegen ihn verloren hatten, obwohl er ihren Atomwaffen und Armeen nur seine leeren Hände und seinen Glauben entgegensetzen konnte.

„Er hat uns verändert. Deswegen sprechen wir so ungern über die Frage, ob wir wussten, dass er ein Heiliger war. Das glaube ich.“

„Du hast recht“, sagte er. „Ja, das ist es. Ich glaube, wir haben die ganze Zeit gewusst, dass Wojtyla ein Heiliger war, aber das wollten wir für uns behalten, sonst hätten wir zugeben müssen, wie sehr er uns verändert hat.“

Wir schauten beide auf den Petersplatz, auf die Arena des Karol Wojtyla, in der wir ihn so oft gesehen hatten, dass er zumindest für uns für immer zu diesem Platz gehörte, auf dem er um Haaresbreite am 13. Mai 1981 während des Attentats des Mehmet Ali Agca beinahe sein Leben verloren hätte.

Als ich vor über zehn Jahren begann, an der ersten Fassung dieses Buches zu schreiben, fragte ich mich, ob es eigentlich richtig sei, die Geschichte des Karol Wojtyla aus meinen Augen zu erzählen, damit mein Sohn einmal nachlesen könnte, wo ich eigentlich gewesen war, während er, noch ganz klein, mit seiner Mutter in unserer Wohnung in Rom oft auf mich gewartet hatte. Ich wusste nicht, ob ich die Geschichte dieses Karol Wojtyla erzählen sollte. Heute weiß ich es, ich musste sie erzählen, denn es ist meine Geschichte auf dem Weg zu Gott.

Der Papst war mein Job

Als ich nach Rom kam, war ich ein sehr junger Mann und hegte einen Groll gegen Johannes Paul II. Ich hielt ihn für einen Verräter an der Sache Jesu. Meiner Meinung nach unternahm der Mann so ziemlich das Gegenteil von dem, was Jesus von Nazareth gewollt hätte. Ich bin in einer katholischen Familie aufgewachsen und war ein frommer Junge. Vom Kerzenträger bis zum Gruppenleiter hatte ich alle Karrierestufen des Messdieners hinter mich gebracht, bevor ich als Abiturient und Student das wahre Wesen der katholischen Kirche und ihres Oberhaupts zu enthüllen glaubte: Johannes Paul II., fand ich, sei mitverantwortlich am Hungertod von Millionen Menschen in der Dritten Welt, weil die Kirche empfängnisverhütende Mittel verbietet. Es gab für mich nicht den geringsten Zweifel daran, dass der energische und verhältnismäßig junge Papst, der im Vatikan regierte, sehr weit weg von Gott war. Damals dachte ich genau so, wie es in dem römischen Witz über das Autokennzeichen des Vatikans zum Ausdruck kommt. In Rom übersetzt man scherzhaft das „SCV“, das für „Stato della Città del Vaticano“ (Vatikanstadt) steht, mit „Se Cristo vedesse“: Wenn Jesus das sähe! Wie konnte ein Papst, der sich darauf berief, der Nachfolger eines Fischers zu sein, in Goldbrokat-Gewändern in einem Pracht-Palast residieren, wenn der Gründer der Religion sein Leben lang barfuß gegangen war?

Als ich meinen Dienst als Auslandskorrespondent in Rom antrat, interessierte mich der Papst nur deshalb, weil er mich interessieren musste: Er wurde ein Teil meines Jobs. Nichts weiter.

Durch Zufall erhielt ich gleich zu Beginn meines Rom-Aufenthaltes einen Schlüssel zum Vatikan: Ein Freund verschaffte mir auf bizarre und abenteuerliche Weise einen direkten Zugang zur Welt im Inneren des Kirchenstaates. Was ich dort sah, bestätigte meine Vorurteile. Das Zölibat und die strenge Hierarchie innerhalb der katholischen Kirche trieben Priester zur Verzweiflung. Etwas anderes wollte ich zunächst nicht sehen.

Mein Job ist ungewöhnlich, aber nicht einzigartig. Es gibt Kollegen, die kümmern sich um einen Rennfahrer, einen Politiker oder einen Show-Star. Diese Reporter müssen sich dafür interessieren, wie sich der Rennfahrer nach dem Test eines neuen Motors fühlt, was ein Politiker über den jüngsten Vorschlag seines Gegners denkt und wann der Popstar seine Freundin zu schwängern gedenkt. So musste ich mich eben dafür interessieren, wie sich das Verhältnis des Papstes zum Patriarchen in Konstantinopel entwickelt. Während andere Reporter beim Abendessen darüber philosophieren, ob der Mann, den sie beobachteten, Weltmeister werden kann, versuche ich, Interesse dafür zu erwecken, ob es dem Papst gelingen könnte, jemals eine heilige Messe auf dem Roten Platz in Moskau zu feiern.

Zweifellos beschäftige ich mich mit einem langlebigen Thema. Päpste werden auf Lebenszeit gewählt und müssen sich nicht wie Rennfahrer bei Wettbewerben oder Politiker bei Wahlen immer neu beweisen. Johannes Paul II. überlebte praktisch sämtliche Gegner aus der Zeit des Kalten Krieges. Heute scheint die Ära Breschnew unendlich weit zurückzuliegen, ebenso wie das Wettrüsten zwischen der NATO und den Staaten des Warschauer Paktes. Die Politik Ronald Reagans ist für die meisten längst Geschichte. Aber für Johannes Paul II. geschah das alles erst gestern. Er blieb als Zeitzeuge und Hauptdarsteller auf der Weltbühne, von Fidel Castro abgesehen, allein zurück.

So nahm für mich die Berichterstattung über den Vatikan, zunächst nur ein Nebenaspekt meiner Arbeit als Italienkorrespondent, im Laufe der Jahre eine immer größere Bedeutung ein. Seit beinahe zwei Jahrzehnten kümmere ich mich nun als Reporter um den Papst und kam ihm deshalb zwangsläufig immer näher. Ich stand jedes Mal auf dem trostlosen Betonplatz vor dem vatikaneigenen Krankenhaus „Gemelli“, wenn er operiert werden musste, versuchte aus Tausenden seiner Predigten Nachrichten zu destillieren und genoss das Privileg, in seinem Dienstflugzeug alle Kontinente der Welt zu bereisen. Dafür werde ich glühend beneidet von Freunden und Bekannten, die nicht wissen, dass man als Begleiter des Papstes beim Welt-Jugendtag in Kanada nicht die Niagarafälle zu sehen bekommt, sondern eine Menschenmasse, die eine Messe feiert, und dass man beim Papstbesuch auf Kuba nicht im Karibischen Meer baden gehen kann. Ich habe nie einen Blick auf die Pyramiden der Azteken in Mexiko City werfen können, obwohl ich viermal dort war. Stattdessen habe ich viele Stunden meines Lebens in dem modernen Betonbau am Stadtrand von Mexiko City verbracht, in dem die Madonna von Guadalupe verehrt wird. Das weltberühmte Rote Fort in Neu-Delhi habe ich nicht besichtigt, kann mich jedoch gut an das einschläfernde Geräusch der Ventilatoren unter der Decke der Basilika in der indischen Hauptstadt erinnern. Ich habe auch nie das Glück gehabt, die Sphinx am Fuße der Cheops-Pyramide zu bewundern, aber ich kenne die Kirche in Kairo, in der der Flucht Marias und Josefs nach Ägypten gedacht wird. Im Grunde bestand mein Job vor allem darin, zu warten. Ich wartete überall auf der Welt: in der Kälte des Kaukasus, in einer Favela am Zuckerhut in Rio de Janeiro und auf einem staubigen Feld in Abuja in Nigeria. Das Warten hatte immer den gleichen Grund: Wenn der Papst kommt, bilden sich die größten Menschenansammlungen, die es je auf diesem Globus gegeben hat. Wir Journalisten aus dem Papstgefolge müssen uns viele Stunden vor Beginn der Messen von Sicherheitsleuten an den Altar schleusen lassen, sonst haben wir keine Chance mehr, dem Hauptdarsteller des Geschehens nahe zu kommen. Im Januar 1995 pilgerten mehr als 3,2 Millionen Menschen zu seiner Messe in Manila. Niemand kommt bei solchen Ansammlungen noch irgendwo durch. Die Menschenmasse blockiert sich von allein. Wer jemals auf einer Massenveranstaltung, einem Popkonzert oder einer Großdemonstration war, weiß, dass es unmöglich ist, kurz vor Beginn des Ereignisses in das Zentrum des Geschehens zu gelangen. So wurde ich also stets drei bis vier Stunden, bevor der Papst am Altar eintraf, von irgendeinem Polizisten oder Protokollchef auf eine Holzbank verfrachtet oder unter ein Zeltdach geschoben, damit ich von dort aus meinen Job verrichten konnte: den Einzug und den Auftritt Seiner Heiligkeit zu beobachten. Ich habe im Regen gewartet und im gleißenden Sonnenlicht; morgens, mittags, abends und nachts. Wenn mir das Warten wieder einmal zu lang wurde, rief ich meine Frau an, die diese Gespräche hasste, weil es außerordentlich unangenehm ist, sich von einem Ehemann ins Ohr brüllen zu lassen, der versucht, Hunderttausende zu überschreien, die „Cristus hodie, Cristus semper“  singen und außer Rand und Band geraten, weil sie das Oberhaupt von einer Milliarde Katholiken live erwarten.

An all diesen Orten habe ich den Papst lachen sehen und weinen. Ich habe beobachtet, wie er verzweifelte, ich war dabei, wenn er Fehler beging, und auch, wenn er versuchte, sie wiedergutzumachen, und ich habe mit ihm darüber sprechen dürfen. Ich habe erfahren, was Johannes Paul II. ärgert und was ihn langweilt. Ich wusste, was er gegessen hatte, was er gern getan hätte und man ihn nicht tun ließ, und manchmal glaubte ich zu ahnen, wovon er träumte. Der Papst war mein Job, für lange Zeit, nichts weiter, bis er ganz plötzlich aufhörte, nur ein Job zu sein.

Ich weiß noch genau, wann das war: im Sommer 1999, während dieser unglaublichen siebten Polenreise, der längsten Reise überhaupt in Europa. Es passierte an einem Abend, an dem der Papst noch einen späten Termin hatte, in einer Stadt irgendwo im Süden des Landes. Ich bat darum, ihn auch an diesem Abend begleiten zu dürfen. Aus professioneller Sicht war diese Schicht überflüssig. Die Zeitungen, für die ich berichtete, hatten längst Redaktionsschluss. Es war sinnlos, mit dem Papst in eine abgelegene Kirche zu fahren, um zu sehen, wie er betete. Warum also tat ich mir das an? Warum ruhte ich mich nicht aus? Auf einmal wurde mir klar, welche Frage ich mir seit Jahren des Wartens in Kirchen und auf staubigen Plätzen in Afrika und Amerika, in Asien oder in Rom immer wieder unbewusst gestellt hatte: Ist dieser Mann vielleicht tatsächlich von Gott gesandt worden? Redet sich Karol Wojtyla einen direkten Kontakt zu Gott ein, oder besitzt er ihn wirklich? Es war nicht mehr der Reporter, der diese Frage stellte. Ich persönlich wollte das wissen. Ich hatte den Journalisten hinter mir gelassen, der sich dafür interessieren muss, was das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche auf seinen Reisen erlebt, weil man ihn dafür bezahlt. Ich wollte für mich selbst eine grundsätzliche Frage klären.

Manchmal ist Johannes Paul II. in der Lage, eine überzeugende Antwort auf diese Frage zu geben. Ich hatte diese unglaublichen Augenblicke schon erlebt, in denen es schien, als ob Gott sich Karol Wojtyla mitteilte, ihn gleichsam berührte. Der Gott dieses Papstes ist kein verborgener, versteckter Gott, sondern ein tätiger Schöpfer, der sich mitteilen will, der den Dialog sucht. Ich kenne eine Menge frommer Menschen, und ich kenne einen Mönch namens Pater Pietro, den ich für einen echten Heiligen halte. Pater Pietro hat 40 Jahre lang ganz allein ein großes Kloster in den Bergen von Ascoli Piceno gebaut, ohne jemals einen Pfennig Geld zu besitzen. Er lebt von Pilzen, Hühnereiern, Gemüse und verschimmeltem Brot und sammelt geeignete Bausteine im Wald. Aber es ist eine Sache, als Einsiedler auf einem abgelegenen Gipfel seinem Schöpfer näher zu kommen, und es ist eine andere Sache, als Vikar Jesu Christi den Willen Gottes zu erkennen und in einer modernen Welt umzusetzen.

Genau das versucht Karol Wojtyla. Er fragt immer wieder seinen Herrn: „Was soll ich als Nächstes tun? Was ist dein Wille?“ Manchmal bekommt er eine Antwort und manchmal nicht. Er ist ständig auf der Suche nach seinem Gott, und oft schien es mir, als könne er ihn einfach nicht finden, wie er damals in der dramatischen Rede am 11. Dezember 2002 zugab, als er sagte: „Die größte Tragödie ist das Schweigen Gottes, der sich nicht mehr offenbart, der sich im Himmel zu verbergen scheint, als sei er angewidert vom Handeln der Menschheit.“ Keinen dieser Momente, in denen Karol Wojtyla seinen Herrn sucht, wollte ich mir fortan entgehen lassen, und deshalb hatte der Papst aufgehört, mein Job zu sein. Ich hatte die Distanz zu Johannes Paul II. verloren, und ich wusste, wie gefährlich das ist.

Der Vatikan ist keine Demokratie, sondern ein Machtapparat; ein Fürstenhof mit den Regeln eines Renaissance-Herrscherhauses. Es ist unvermeidlich, dass sich Menschen der Macht des Palastes anbiedern, von dem sie sich magisch angezogen fühlen. Es kommt vor, dass sich Kollegen, die zunächst eine vorgefertigte negative Meinung über die katholische Kirche hatten, in glühende Bewunderer des Vatikans verwandeln, nachdem sie vom Palast hofiert wurden. Fürstenhöfe machen aus Menschen, die unabhängige Beobachter sein sollten, leicht Untertanen. Und es ist schwierig, von Johannes Paul II. nicht fasziniert zu sein: Der 263. Nachfolger des heiligen Petrus, der erste slawische Papst der Geschichte und der erste Nicht-Italiener auf dem Thron Petri seit 455 Jahren, gehört zu den wichtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Vermutlich hat keiner seiner Vorgänger das Amt des Papstes so stark verändert wie er. Es wird in der modernen Geschichte der Päpste zwei Epochen geben: die Zeit vor Karol Wojtyla und die Zeit nach seiner Regentschaft.

Natürlich war auch ich von dem Mann zunehmend fasziniert.

Aber ich hatte mir jahrelang eingeredet, Distanz bewahrt zu haben. Stimmte das noch? Mir war plötzlich klar, dass ich von nun an vorsichtiger sein und meine Berichterstattung kritischer als bisher überprüfen musste. Aber es gab keinen Rückweg mehr: Ich hatte damit begonnen, Johannes Paul II. als einen Mann zu betrachten, von dem ich glaubte, dass er mir helfen würde, eine Antwort auf die Frage zu finden: Existiert Gott?

Zimmer frei

Meine Annäherung an den Vatikan wäre völlig anders verlaufen, wenn ich nach meiner Ankunft in Rom nicht bei der Zimmersuche gescheitert wäre. Denn dann wären mir die Menschen, die mir den ersten Blick hinter die Kulissen des Kirchenstaates öffneten, nie begegnet. Ich trat meinen Job als Auslandskorrespondent an, war jung und noch unverheiratet, kannte keinen Menschen in der Stadt und wollte nicht allein wohnen. Mir war klar, dass ich Land und Leute besser begreifen würde, wenn ich italienische Mitbewohner hätte. Deshalb suchte ich ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft und erfuhr, dass es Mitte der 80er-Jahre in Rom noch keine Wohngemeinschaften gab. Studenten wohnten bei den Eltern, bei einem Verwandten oder in einem Wohnheim der katholischen Kirche. Ich musste mir deshalb eine eigene Wohnung mieten und fand einen Traum: ein viel zu großes, komplett möbliertes Apartment mit einer Dachterrasse direkt am Kolosseum. Die Behausung war alles andere als chic und überhaupt nicht praktisch. Sie erinnerte an die Kulisse eines italienischen Stummfilms. Fingerdicke dunkelrote Samtvorhänge schirmten jeden Lichtstrahl ab, im Schlafzimmer stand neben dem goldenen Messingbett eine verschnörkelte Anrichte voller bizarrer Kristallgläser. Ich stellte mir nachts manchmal die Tischgesellschaften vor, die hier getafelt haben mussten, und meinte noch das Rauschen prächtiger Roben zu hören. Wie ein Gespenst schlich ich durch die Zimmer, in denen es prächtige Goldlack-Spiegel gab, goldfarbene Sofas und gewaltige, verstaubte Schränke, in denen ich Uniformen aus dem Ersten Weltkrieg entdeckte. In der Küche fand ich ein Paket Salz, das ein Geschenk der US-Armee an die italienische Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg gewesen war. Der Unterhalt der Wohnung drohte mich allerdings zu ruinieren. Also hängte ich überall in der Umgebung Zettel mit der Aufschrift „Zimmer frei“ auf. Ich ahnte damals nicht, dass ich mich für den Geschmack der damaligen römischen Gesellschaft außerordentlich ungewöhnlich verhielt. Unverheiratete Männer lebten nicht allein oder mit Bekannten zusammen. Wenn sie gezwungen waren, ihre Stadt zu verlassen, dann wählte die Familie aus, wohin sie zu gehen hatten, und zwar nach einem einzigen Kriterium: ob in den in Frage kommenden Städten Verwandte wohnten, bei denen die jungen Herren unterkommen konnten. Dass junge Frauen allein Apartments anmieten könnten, war nicht vorgesehen. Junge Damen, die in eine andere Stadt zogen, um zu studieren, lebten in der Regel ebenfalls bei Verwandten oder in einem Wohnheim, meist in einem Wohnheim der katholischen Kirche.

Ich ahnte nicht, was mein schlichter Aushang an einem bürgerlichen Wohnhaus, der besagte, dass ein Zimmer zu vermieten sei, auslösen würde. Ich wusste nicht, dass ich mit der Zimmersuche eine nicht mehr zu stoppende Entwicklung in Bewegung gesetzt hatte.

Als mögliche Untermieter stellte sich in den kommenden Monaten eine Vielzahl von Menschen vor. Ich erinnere mich an einen Gitarristen aus Jamaika, eine Frau aus Perugia, die mit ihrem Liebhaber durchgebrannt war und dringend Unterschlupf suchte, und auch an eine Reihe von Mitbewohnern, die zeitweilig in meiner Wohnung lebten. All diese Menschen signalisierten nach außen vor allem eines: Da gibt es eine Wohnung, in der die Gesetze des bürgerlichen Roms außer Kraft gesetzt worden sind. Es ist eine Wohnung, in die man keinen Kuchen mitbringen muss und keinen Blumenstrauß, wenn man einfach mal vorbeikommen will, sie ist verschwiegen, aber sie steht nicht in dem Ruf, dass in ihr skandalöse Dinge geschehen. Da ich damals keine Freundin hatte und Frauen nie aus dem Apartment kamen, gab es in dem Haus seltsamerweise keinen Streit mit den durch und durch bürgerlichen Nachbarn. Es war, als würde die Wohnung, in der ich lebte, gar nicht existieren, als wäre dort nur eine Wand, als gäbe es die etwa 140 Quadratmeter Wohnfläche nur in einer Phantasiewelt. Weil die Mitbewohner des Hauses mich nicht einschätzen konnten, ignorierte man mich. Es muss eine automatische Anziehungskraft entstanden sein zwischen dieser Insel und derjenigen Gruppe in Rom, die dringender als irgendwer ein neutrales Territorium brauchte und mich und meine seltsame Wohngemeinschaft entdeckte: homosexuelle geweihte Priester.

Ich lernte polnische, italienische, argentinische und US-amerikanische katholische Priester kennen, die an meinem Küchentisch saßen und mir nach und nach ihre Liebesgeschichten erzählten. Sie litten darunter, Priester zu sein und trotzdem einen Mann zu lieben, wie ich selten Menschen habe leiden sehen. Ich erinnere mich an Abende, an denen einige von ihnen zusammen beteten und sich wieder und wieder ihre Sünden vorwarfen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, worum es überhaupt ging. Nach Meinung der katholischen Kirche war Homosexualität eine Verirrung des Menschen, etwas Unnatürliches. Diese Haltung hatte mit dem Stifter der christlichen Religion, Jesus, nichts zu tun. Der Mann aus Nazareth hat sich nie zu dem Thema Homosexualität geäußert. Ich lernte damals, dass diese Ablehnung der Kirche auf einer Stelle bei Paulus beruht. Im Römerbrief schreibt Paulus über Gottes Zorn angesichts der Ungerechtigkeit des Menschen. Die Vergehen der Menschen bestraft Gott. Im Römerbrief des Apostels heißt es im ersten Kapitel, Vers 26 bis 28: „Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen, ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrungen.“

Es war schrecklich zu sehen, was diese Worte noch fast 2000 Jahre später auslösten. Die Priester, die ich kennenlernte, fürchteten sich vor der Einsamkeit, vor einem Leben ohne Zärtlichkeit und auch vor der Strafe Gottes. Ich fuhr oft mit einem von ihnen mit meiner alten Vespa zum Petersplatz, weil er den Papst während des Angelus-Gebets sehen wollte. Wir hörten dann auf dem Petersplatz beide dem Papst zu: der Priester auf Knien, ich im Stehen. Ich verlor in dieser Zeit meine Achtung vor dem Papst. In meinen Augen hatte die katholische Kirche nicht die Kraft, sich zu reformieren oder auch nur die schlimmsten Fehler zu korrigieren.

1Im Pool des Papstes

Es war ein seltsames Gefühl, als ich zum ersten Mal den vatikanischen Pressesaal am Petersdom betrat, um mich als Reporter im Gefolge des Papstes akkreditieren zu lassen. Die Presseabteilung des Kirchenstaates sah wie eine Behörde aus. Ich hatte den Eindruck, Gott wäre unter den Papierbergen des Büros begraben worden. Während der ersten Mittwochs-Audienzen, zu denen ich nach meiner Aufnahme in den Presseclub Zugang hatte, sah ich das, was ich erwartet hatte: einen schlanken, athletischen, energischen Papst, der mit fester Stimme sprach und von einer unkritischen Masse bejubelt wurde. Da war er also, der Mann, der den antiken römischen Titel für religiöse Führer tragen durfte: „Pontifex“, also „Brückenmacher“, zwischen zwei Welten. Offiziell trägt ein Papst neun Titel: Bischof von Rom, Vikar Jesu Christi, Nachfolger des Apostelfürsten, Pontifex (Papst) der Universalen Kirche, Patriarch des Westens, Primas Italiens, Erzbischof und Metropolit der Provinz Rom, Oberhaupt des Staats der Vatikanstadt, Diener der Diener Gottes. Ich fand, das waren ein paar Titel zu viel. Die Menschen hielten ihre Rosenkränze hoch, damit der Papst sie segnen konnte. Mir kam das Ganze lächerlich vor. Ich verstand auch nicht, wie es so vielen Polen gelingen konnte, durch den Eisernen Vorhang zu schlüpfen und an den Audienzen teilzunehmen. Damals wusste ich noch nicht, dass die Stadt mit der größten polnischstämmigen Bevölkerung nicht Warschau, sondern Chicago ist.

Erst Monate nach der ersten Generalaudienz wurde ich zum ersten sogenannten Bibliothekspool meines Lebens eingeteilt. Irgendein deutscher Ministerpräsident durfte Johannes Paul II. treffen, und ich sollte darüber berichten. Damals stand die Tür zu den päpstlichen Gemächern noch weit auf: Sportler und Künstler, Parlamentarier und Vereinspräsidenten wurden von Johannes Paul II. empfangen. Erst seit dem Jahr 2000 gewährt der Papst nur noch hohen Volksvertretern Privataudienzen.

Mehr als 100 internationale Journalisten sind am Vatikan akkreditiert und haben ein Recht darauf, hautnah an Ereignissen teilzunehmen. Sinn einer Privataudienz ist hingegen die private Atmosphäre des Treffens. Da man nicht hundert Reporter vor die Bibliothek stellen kann, in der die Vier-Augen-Gespräche stattfinden, wählen die Journalisten für die Audienztermine in der Bibliothek zwei Repräsentanten als „Pool“ aus, die tatsächlich am Ereignis teilnehmen und sich verpflichten, den Kollegen hinterher detailliert das Geschehen zu schildern.

Es war ein Gefühl, wie in eine andere, geheimnisvolle Welt zu tauchen, als ich zum ersten Mal den vatikanischen Palast betrat, vorbei an den salutierenden Schweizergardisten durch die Bronzepforte „Portone di bronzo“ schritt und über die blank gewienerten Böden spazierte. Eine Ordensschwester, die für den Pressesaal arbeitet, begleitete uns. Es gehört zu ihren Aufgaben, Journalisten durch den vatikanischen Palast zu schleusen. Im Jargon heißt die Nonne deshalb „Pool-Pilot“. Erstmals stieg ich die Treppe zur Bibliothek hinauf. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich später diesen Weg gegangen bin, aber beim ersten Mal schritt ich staunend durch die bunt ausgemalten Säle, vorbei an den Kammerherren, die den hohen Gast erwarteten, zum Vorzimmer der Bibliothek. Dort steht der Thron des Papstes, und andere Päpste haben ihn tatsächlich benutzt: Es ist ein mit Goldlack verzierter, pompöser Sessel. Wir Pool-Journalisten mussten hinter einem roten Seil warten. Dann ging irgendwann die Tür auf, und Papst Johannes Paul II. kam heraus.

Er war kleiner, als ich erwartet hatte, und sah nicht so schmal aus wie auf Entfernung oder im Fernsehen. Ich kann ihn damals kaum mehr als eine Viertelstunde gesehen haben, aber es kam mir viel länger vor. Ich weiß noch ganz genau, was ich damals dachte: Ich hatte erwartet, eine Majestät anzutreffen. Aber Karol Wojtyla hatte nichts Majestätisches, keine Spur von herablassender Güte an sich. Im Gegenteil. Er wirkte auf mich, als wäre es ihm ein wenig peinlich, dass er der Papst ist. Damals wandte sich Johannes Paul II. plötzlich von seinem Sekretär Don Stanislaw Dziwisz ab und sprach mich an. Wahrscheinlich hatte Don Dziwisz ihm zugeflüstert, dass ich neu war im vatikanischen Pressesaal.

„Sie sind aus Deutschland? Woher kommen Sie genau?“, fragte Johannes Paul II. „Diözese Paderborn, interessant. Sie sind gerade in Rom angekommen? Herzlich willkommen!“, sagte er und gab mir die Hand. Ich kam nicht darauf, das zu tun, was gläubige Katholiken in so einem Augenblick zu tun pflegen: Auf die Knie zu fallen und seinen Ring zu küssen. Nicht nur, weil mir diese Geste der Unterwürfigkeit zuwider gewesen wäre. Es gab noch einen anderen Grund: Johannes Paul II. begrüßte mich so zurückhaltend, als käme gleich noch ein anderer, der richtige Papst, und als sei er nur Karol Wojtyla aus Wadowice. Aber sein Händedruck war kräftig und passte zu seinen ausgeprägt breiten Schultern. Ich erinnere mich noch daran, dass ich damals dachte, dieser Mann sähe im Gewand des Papstes wie ein verkleideter Holzfäller aus. Der Weg durch die Flure des gewaltigen vatikanischen Palastes bereitet Besucher darauf vor, einen Herrscher zu treffen. Papst Johannes Paul II. wirkte dagegen wie ein Gemeindepfarrer, der lieber unter freiem Himmel zeltet und Rucksäcke mit Proviant schleppt, als in einem Palast einem Kammerorchester zu lauschen. Noch etwas fiel mir gleich an diesem Tag meiner ersten Begegnung auf: Der Papst war in Eile. Als der Gast damals endlich kam, sah ich zum ersten Mal das Ritual des „handshaking“ für die Fotografen. Der Papst gab dem Gast im Blitzgewitter die Hand, und ich erkannte, dass ihm die Sache lästig war. Aber nicht, weil die Fotografen dabei waren. Er wollte ganz offensichtlich keine Zeit verschwenden. Er wollte zur Sache kommen. Ich sah, was ich später bei Hunderten anderer Gelegenheiten beobachtete: Der Papst rieb sich nervös die Hände, weil er endlich anfangen wollte, weil das Gespräch endlich beginnen sollte. Er ist damals noch ein Mann gewesen, der bei allem, was er tat, schon an die nächste Aufgabe dachte.

Johannes Paul II. sprach fließend Deutsch mit seinem Gast aus Deutschland. Ich weiß noch genau, wie sehr ich mich wunderte. Denn er sprach es nicht wie andere Menschen, die zeigen wollen, wie gut sie Fremdsprachen beherrschen. Er sprach es auf eine einfache, bescheidene Weise, so als wolle er es seinem Gast leichter machen, sich wohl zu fühlen. Dann schloss sich die Tür hinter den beiden. Mein Kollege und ich mussten mit dem Sekretär draußen bleiben. Immerhin hatte ich zum ersten Mal mit eigenen Augen den Schreibtisch der Päpste erblicken können, auf dem in einem Glasröhrchen ein Knochensplitter des heiligen Petrus liegt, der auf diese Weise symbolisch bei allen wichtigen Entscheidungen präsent ist.

Die Ordensschwester erklärte uns, dass wir nun in einem kleinen Kämmerchen nebenan warten mussten. Die Anwesenheit von Journalisten während des Vier-Augen-Gesprächs ist nicht erlaubt, aber wenn der Gast sich verabschiedet und Geschenke ausgetauscht werden, sollen die Reporter an der Zeremonie teilnehmen. Damals, während jenes ersten Pools, rauchte ich noch, und ich erinnere mich, wie überrascht ich war, als der persönliche Fotograf des Papstes, Arturo Mari, ein Fenster öffnete und mir eine Zigarette anbot. Ich hatte nicht erwartet, dass es so ungezwungen zugehen würde. Mit uns wartete auch ein freundlicher alter Herr darauf, dass das Gespräch zu Ende ging: Angelo Gugel, der Kammerdiener des Papstes. Er hielt ein silbernes Tablett mit den weißen Schächtelchen in der Hand, in denen die Medaillen stecken, die jeder Besucher als Andenken an die Papstaudienz mit nach Hause nehmen darf. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich später den Austausch von Geschenken beobachtet habe. Moslemische Gäste brachten vorzugsweise Schwerter und Dolche mit, Besucher aus Polen am liebsten Bilder der Schwarzen Madonna von Tschenstochau, amerikanische Gläubige fast immer Mosaiken. Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi kam mit einem Karabiner, der einmal der Schweizergarde gehört hatte. Dieser erste Austausch der Geschenke war für mich hochinteressant, aber meine grundsätzliche Meinung über den Papst hatte sich nicht geändert: Ich hielt ihn noch immer für einen Mann, der die Botschaft Jesus von Nazareth nicht umsetzte. Mein Urteil hatte sich nur in einem Punkt gewandelt: Johannes Paul II. war kein übermächtiges Gespenst mehr im weit entfernten Vatikan. Er war ein Mensch und erstaunlicherweise einer, der sich klein machte.

Die bewegte Jugend des Karol Wojtyla

Bis zu dem Tag, an dem ich zum ersten Mal Karol Wojtyla begegnete, hatte sich nie irgendjemand sonderlich für meinen Beruf als Auslandskorrespondent interessiert. Bei italienischen Bekannten stieß ich eher auf Ablehnung, wenn ich Erlebnisse aus dem Parlament oder aus dem Amt des Ministerpräsidenten erzählen wollte. Politiker genossen einen schlechten Ruf. Sie galten als korrupt und verlogen. Lediglich die seltenen Interviews mit Fußballspielern fanden einen gewissen Anklang in meinem Bekanntenkreis. Das änderte sich schlagartig, nachdem ich zum ersten Mal den Papst gesehen hatte.

Sobald ich erzählte: „Ich musste heute in den Vatikan, ich musste zu einem Treffen eines Politikers mit dem Papst“, reagierten alle Bekannten auf gleiche Weise.

„Wie?“, fragten sie ungläubig. „Du hast mit dem Papst gesprochen? So richtig mit ihm geredet? Was hast du denn gesagt?“

Ich antwortete dann: „Na, Guten Tag eben, auf Deutsch, er spricht sehr gut Deutsch. Was sollte ich denn sagen? Er ist schließlich nur das Oberhaupt eines Ministaates, Chef einer Gruppe, die überall auf der Welt ihre Meinung durchsetzen will.“ Die meisten meiner Bekannten waren über mich entsetzt.

„Wie?“, sagten sie. „Du hast den Heiligen Vater gegrüßt wie einen Tankwart? Sag mal, spinnst du?“

Fast alle Bekannten, mit denen ich sprach, hielten Johannes Paul II. für einen der mächtigsten Männer der Welt und gleichzeitig für unerreichbar. In Rom rankten sich zahllose Legenden über die Sicherheitsmaßnahmen rund um den Papst. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass alle Schweizergardisten in ihrer Renaissance-Uniform, die Michelangelo Buonarroti entworfen haben soll, kleine Maschinenpistolen versteckt hätten. Ich wusste, dass das Unsinn war. Der Papst bewegte sich im Vatikan ohne jeden Schutz. Menschen, die in seine Nähe kamen, wie ich auch, wurden nie nach Waffen durchsucht. Besucher, die in die päpstliche Bibliothek eingeladen waren, mussten nicht einmal einen Metalldetektor passieren. Vielleicht lag es daran, dass Johannes Paul II. so wenig majestätisch und so menschlich wirkte. Der Papst hatte mich zweifellos beeindruckt. Ich meinte zu wissen, warum: Im Gegensatz zu den meisten seiner Vorgänger wurde er nicht als Fürst geboren. Er stammt aus einer einfachen Familie und versucht auch als geistliches Oberhaupt von einer Milliarde Katholiken nicht, seine kleinbürgerliche Herkunft zu verleugnen.

Karol Wojtyla war am 18. Mai 1920 als zweiter Sohn des Offiziers Karol Wojtyla und seiner Frau Emilia Kaczorowska in eine bescheidene Familie hineingeboren worden. Die Wojtylas lebten in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, Mutter Emilia nähte für Nachbarinnen, um den mageren Sold des Gatten aufzubessern. Sohn Lolek, wie sie den Jüngsten nannte, hatte auf einem holprigen Acker Fußball gespielt und als Torwart Elfmeter pariert, statt Klavierstunden zu nehmen, und er hatte sich mit gleichaltrigen Jungen geprügelt, statt bei einem Fechtmeister Touchieren zu lernen. Wahren Fürsten war der junge Karol Wojtyla durchaus voller Ehrfurcht begegnet, wie etwa seinem Schutzherrn Fürst Adam Sapieha, ehemaliger Erzbischof von Krakau, der ihn in seinem Palast versteckt und dadurch vor der Verhaftung durch die Gestapo gerettet hatte. Karol Wojtyla sprach mit großer Bewunderung und Dankbarkeit von Sapieha, seinem „Bischofs-Fürsten“, weil ihm immer klar gewesen ist, dass die Welt der Adligen niemals seine eigene Welt sein kann.

Johannes Paul II. hatte früh die Härten des Lebens kennen gelernt. Er war noch nicht einmal neun Jahre alt, als seine Mutter am 13. April 1929 an einem Nierenleiden starb. Als Zwölfjähriger, am 5. Dezember 1932, verlor er seinen 14 Jahre älteren Bruder Edmund, den er geliebt und bewundert hatte. Am 18. Februar 1941 starb Karol Wojtylas Vater an einem Herzinfarkt. Der spätere Papst war erst 20 Jahre alt und hatte keinen einzigen nahen Angehörigen mehr auf der Welt. Von 1941 an schuftete er als Zwangsarbeiter im Steinbruch Zakrzowek, um nicht nach Deutschland deportiert zu werden. Er hatte 1939 nach der Besatzung Polens an verbotenen Theateraufführungen teilgenommen: Wenn die Gestapo ihn erwischt hätte, wäre er ins KZ gekommen. Er besuchte trotz aller Bedrohungen vom November 1942 an heimlich ein Priesterseminar und entging mehrfach den Hetzjagden der Gestapo, die junge Polen aufgriffen und in Arbeitslager brachten. Am 29. Februar 1944 wurde er, noch immer auf Baustellen tätig, von einem Lkw der Wehrmacht überfahren und so stark verletzt, dass er sechs Wochen im Krankenhaus bleiben musste.

Auf den Fotos, die ihn als jungen Pfarrer zeigen, sieht Karol Wojtyla so aus, als hätte er seinen Platz in der Welt gefunden. Viele Bilder aus seinen ersten Jahren als Priester in Polen gleichen den Fotos seiner ersten Besuche der römischen Gemeinden, als er gerade Papst geworden war. Er spielte mit Kindern und nahm an Pfarrgemeindefesten teil. Oft war er mit Schülern, Studenten und Gläubigen seiner Gemeinde in die Berge gezogen. Als er 1958 erfuhr, dass er zum Bischof geweiht werden sollte, war seine erste Sorge, ob er trotz des Amtes noch Gelegenheit zum Wandern finden würde.

Andererseits muss er einen ungeheuren Antrieb in sich gespürt haben: Karol Wojtyla, der bodenständige Gemeindepfarrer, machte in rasender Geschwindigkeit Karriere. Nur wenige Monate nach Kriegsende und kurz nachdem er noch im Steinbruch gearbeitet hatte, wurde Karol Wojtyla am 1. November 1946 zum Priester geweiht. Sofort danach schickte ihn sein Erzbischof zum Studium nach Rom. Nur zwei Jahre später kam er als Doktor der Theologie zurück nach Krakau, um seine erste Gemeinde in Niegowic zu übernehmen.

Dieses Kaff Niegowic ging in die Geschichte ein, denn an einem Tag, an dem fast niemand zusah, erfand Wojtyla ein Ritual, das Jahrzehnte später Milliarden Menschen sehen sollten. Zum ersten Mal küsste er den Boden, wie er es später als Papst in 120 Ländern tun sollte. Der Gemeindepfarrer Karol Wojtyla nahm sofort ein gewaltiges Werk in Angriff: Um das 50-jährige Bestehen der Gemeinde zu feiern, trotzte er den kommunistischen Machthabern und organisierte den Bau einer neuen Kirche. Sie steht noch heute. Adam Sapieha, der Erzbischof von Krakau, wunderte sich über diesen umtriebigen jungen Priester, holte ihn nach wenigen Monaten zurück in die Stadt und gab ihm eine der wichtigsten Gemeinden: Sankt Florian. Von nun an ging es Schlag auf Schlag. Karol Wojtyla wurde zum Dozenten für Ethik der Universität Lublin berufen. Das Amt behielt er bis zu seiner Wahl zum Papst inne. Am 28. September 1958 wurde er zum jüngsten Bischof Polens geweiht. Damals schon wählte er sein Motto, das er auch als Papst beibehielt und das heute an Tausenden katholischer Kirchen der Welt hängt: „Totus tuus“ (Ganz dein), ein Versprechen an Maria. Am 18. Januar 1964 stieg er zum jüngsten Erzbischof Polens auf, und nur drei Jahre später, am 28. Juni 1967, war er Kardinal. Elf Jahre später, am 16. Oktober 1978, wählten die Kardinäle den erst 58-Jährigen zum ersten slawischen Papst der Geschichte.

Er ist einer der konservativsten Moralapostel, die je als Päpste regiert haben, dachte ich. „Die Kirche begibt sich wieder auf den Weg zurück in ihre dunkle Vergangenheit“, war damals einer meiner Lieblingssätze.

Unfehlbare Sünder: Exkurs in die Geschichte

Meine Vorurteile gegenüber der katholischen Kirche wurden nie auf so nachhaltige Weise bestätigt wie an dem Tag, als ich zum ersten Mal ganz allein durch die vatikanischen Museen spazierte, durch den apostolischen Palast neben dem Petersdom, in dem früher die Gemächer der Päpste lagen. Ich wusste seit meiner Kindheit, dass die wenigen Erwachsenen in meiner Umgebung, die die Päpste regelrecht verabscheuten, alle das gleiche Argument gegen die Kirche vorbrachten. Nämlich dass die Kirche steinreich sei. Wahrscheinlich gibt es keinen auffälligeren Unterschied zwischen dem Mann aus Nazareth, der barfuß durch Galiläa zieht und von Almosen und der Gastfreundschaft der Menschen lebt, und einem in prächtige Gewänder gekleideten Papst, der in einem Palast residiert. Ich kannte Priester, die unter Gewissensbissen litten, weil sie im Gegensatz zu Jesus von Nazareth einen ziemlich hohen Lebensstandard genossen. In meiner Kindheit hatte mir ein Priester gestanden: „Manchmal denke ich, jetzt gehst du raus auf die Straße und suchst dir den ärmsten Bettler, den du finden kannst und nimmst ihn mit zu dir nach Hause.“ Soweit ich weiß, tat der Priester das nie. Dass ohne die vermeintlich so reichen Päpste einige der wichtigsten Kunstwerke der Welt nie entstanden wären, dass die Päpste zahllose Kunstgegenstände vor dem Untergang bewahrt hatten, ließen die Menschen, die gern auf den Papst schimpften, nicht gelten. Und ich ließ das an diesem Tag, als ich zum ersten Mal in den Vatikan kam, auch nicht gelten.

Ich wusste damals noch nicht, dass es möglich ist, einen Teil des Kirchenstaats zu mieten. Große Unternehmen, die es sich leisten können, geben Cocktail-Partys im Vatikan. In der Residenz der Päpste geht es dann überaus weltlich zu. Manager flirten mit Sekretärinnen, ein Kammerorchester spielt auf, Nachwuchstenöre singen dazu, hübsche Kellnerinnen servieren Häppchen.

Ich erlebte zum ersten Mal so eine Feier im „Cortile del Belvedere“. Im milden Abendlicht amüsierten sich in dem Hof zwei Dutzend Spitzenmanager eines französischen Unternehmens, während ich Zeit hatte, mir den Teil des Palastes, in dem die Päpste früher gewohnt hatten, in aller Ruhe und ganz allein anzuschauen.

Je länger ich durch die vatikanischen Museen spazierte, desto weniger konnte ich mir vorstellen, dass Jesus Christus einen Vatikan gewollt hatte. Das hier war ein Königspalast. Die Nachfolger des Fischers Petrus hatten sich mit maßlosem Prunk umgeben. Aber nicht nur das: Einige waren regelrechte Verbrecher gewesen. Ich spazierte zu den alten Gemächern der Päpste, dorthin, wo Papst Alexander VI. mit seiner Geliebten, der Gräfin Farnese, gewohnt hatte. In dieser Wohnung im vatikanischen Palast hatte sein Sohn Cesare Borgia den Schwiegersohn des Papstes Alfonso, Herzog von Bisceglie, den Ehemann der päpstlichen Tochter Lucrezia Borgia, in Stücke gehauen. Woher nahmen die Nachfolger eines solchen Papstes das Recht, sich noch Vikare Jesu Christi zu nennen und den Anspruch zu erheben, unfehlbar zu sein?

Dieser Punkt störte mich damals am meisten: Waren die Menschen, die in diesem Palast gelebt hatten, unfehlbar gewesen? Nicht nur Alexander VI., sondern auch unzählige seiner Nachfolger waren ohne Zweifel große Sünder. Sie hatten ungerechte Kriege geführt und die Guillotine auf dem Petersplatz aufbauen lassen. Ich hatte den Tübinger Theologen Hans Küng bei „Kirchentag[en] von unten“ gehört. Ihm war 1979 von Johannes Paul II. die Lehrerlaubnis entzogen worden, nur weil er die Frage gestellt hatte, ob Päpste wirklich unfehlbar sein können. Wer je durch den Vatikan wandert, wird keinen Zweifel daran haben, dass Päpste Fehler machen, und zwar große Fehler. Während ich mir ein paar Häppchen vor der Statue des „Laokoon“ geben ließ, fragte ich mich, wie die modernen Päpste an dem Anspruch der Unfehlbarkeit festhalten konnten. Erst später lernte ich, dass dieses Dogma erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit gilt und nur entstand, weil die Päpste nicht einsehen wollten, dass ihre Zeiten als allmächtige Könige eines Kirchenstaates auf der Erde vorbei waren. Als Napoleon I. in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 1809 Papst Pius VII. verhaften und nach Fontainebleau verschleppen ließ, war der Tiefpunkt des Papsttums erreicht. Am 19. Januar 1813 zwang Napoleon seinen Gefangenen, ein neues Konkordat zu unterzeichnen, das den Imperator und Kirchenfeind vor dem Volk rehabilitieren sollte. Fortan verkümmerte der Kirchenstaat zum Spielball der europäischen Könige und Fürstenhäuser. Selbst im Konklave, wo die Kardinäle abgeschirmt von der Welt den neuen Papst wählen sollten, waren sie Befehlsempfänger. Da saßen nicht mehr die Nachfolger der Apostel, die auf die Stimme des Heiligen Geistes hörten, sondern Vasallen der europäischen Könige. Während der Wahl von Papst Klemens XIV. kam es zu einem unerhörten Vorfall. Die Kardinäle brachen die wichtigste Regel des Konklaves, die besagt, dass niemand in die Kardinalsversammlung hineindarf. Der Erzherzog Josef, der erstgeborene Sohn der österreichischen Kaiserin Maria Theresa, verlangte, die Kardinäle im Konklave sprechen zu dürfen, und wurde eingelassen. 179-mal mussten die Wahlgänge wiederholt werden. Die Wahlen von Pius VII., Leo XII., Pius VIII. und Gregor XVI. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen allesamt unter dem Einfluss des österreichischen Imperiums. Ihre Nachfolger wollten nicht einsehen, dass die Zeiten eines großen Kirchenstaats, der ganz Mittelitalien umfasste, vorbei waren. Je stärker der Kirchenstaat in Bedrängnis geriet, desto eher waren die Päpste bereit, ihre Untertanen zu tyrannisieren. Am 24. November und am 10. Dezember 1868 ließ Papst Pius IX. vier Männer köpfen, die verdächtigt wurden, einen revolutionären Aufstand im Kirchenstaat geplant zu haben.

Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt, als die Handlungen des Papstes überaus umstritten waren, erließ das Erste Vatikanische Konzil am 18. Juli 1870 die Apostolische Konstitution „Pastor aeternus“ mit dem Dogma der Unfehlbarkeit. Erst seitdem kann der Papst in Fragen des Glaubens und der Moral nicht irren, wenn er kraft seines Amtes spricht. Am 20. September 1870 kam trotzdem das Ende. Der italienischen Artillerie gelang es, an der „Porta Pia“ eine Lücke in die Stadtmauer von Rom zu reißen. Papst Pius IX. befahl: „Feuer frei!“ Während der Gefechte starben 49 italienische Soldaten und 19 Soldaten der Schweizergarde, dann unterzeichnete der Kommandant der Schweizergarde, Hermann Kanzler, die Kapitulation. Der Papst zog sich in den Vatikan zurück und schrieb an der Enzyklika „Respicientes“, in der er die Besetzung des Kirchenstaats durch italienische Truppen als ungeheuren und ungerechten Akt verurteilte. Der Papst erklärte sich zum Gefangenen und exkommunizierte den italienischen König und alle, die es wagten, in den Kirchenstaat einzudringen. Als acht Jahre später die Leiche von Pius IX. in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zum Friedhof „Verano“ transportiert wurde, warfen die Römer Steine und Abfall auf den Sarg. Papst Leo XIII. (1878 bis 1903) setzte zunächst die totale Konfrontation mit dem italienischen Staat fort. Allen Katholiken war die direkte oder indirekte Beteiligung am politischen Leben verboten. Das Ergebnis dieser Politik bewundern entspannte Rom-Besucher seit Jahrhunderten auf einem der charakteristischsten Plätze der Stadt von den zahlreichen Caféhaus-Tischen aus. Am 9. Juni 1889 weihten die Römer auf dem „Campo dei Fiori“ das Denkmal Giordano Brunos ein, genau an der Stelle, an welcher der Mönch und Wissenschaftler im Jahr 1600 verbrannt worden war. Die Masse schrie dazu „Tod dem Papst!“ Erst 1922 bestieg wieder ein großer Mann den Thron: Pius XI. machte sofort klar, dass die Zeiten sich geändert hatten. Er spendete nach seiner Wahl den Italienern den „Urbi-et-Orbi“-Segen, was seit dem Angriff an der „Porta Pia“ nicht mehr geschehen war. Am 11. Februar 1929 unterschrieb der Papst die „Lateranverträge“ mit Benito Mussolini. Erst seitdem herrscht Rechtssicherheit im Verhältnis zwischen dem Reich der Päpste und dem italienischen Staat. Der Kirchenstaat wurde auf den 0,44 Quadratkilometer kleinen Vatikan beschränkt.

Mit Ruhm bedeckt hatte sich das Papsttum also wirklich nicht. Jeder, der die vergangenen 2000 Jahre betrachtet, muss einsehen, dass die Geschichte der Päpste eine Geschichte voller menschlicher Irrtümer und Verfehlungen ist. Wie man am Fall Küng sah, schien auch Karol Wojtyla nicht geneigt, das Dogma der Unfehlbarkeit zu überdenken. „Gleichzeitig“, dachte ich damals, als die angeheiterten französischen Manager sich langsam aufmachten, um anderorts weiterzufeiern, „versucht der Papst noch ein paar Mark nebenbei einzustecken. Peinlich!“

Der Herausforderer

In den ersten Jahren im Vatikan empfand ich nichts als so unangenehm wie den maßlosen Personenkult um den Papst. In seiner Nähe erlebte ich Hysterie in jeder denkbaren Form. Menschen warfen sich auf den Boden, schmissen sich auf andere Pilger, nur um die vage Chance zu haben, den Papst zu berühren. Ich sah Leute in der aufgeheizten Menge vor Aufregung das Bewusstsein verlieren.

Doch katholische Christen aus dem Ostblock überboten alles. Ich lernte Katholiken aus Polen, der DDR und Ungarn kennen, für die der Papst mehr war als ein Mensch. Er war ein strahlender Held, eine Lichtgestalt, eine Figur, die schon in die Geschichte eingegangen war. Viele dieser Katholiken aus dem Ostblock, mit denen ich sprach, empfanden Johannes Paul II. gewissermaßen als das Gegenteil von Pius XII. (Papst zwischen 1939 und 1958).

Pius XII. hat sich während des Zweiten Weltkriegs, aus welchen Gründen auch immer, nie mit einer unmissverständlichen Geste gegen Nazi-Deutschland gestellt. Er hat Hitlers katholische Helfershelfer nie exkommuniziert und zur Shoa geschwiegen. Johannes Paul II. war das Gegenteil: Er hat das Sowjetimperium herausgefordert. In diesem sensationellen Juni des Jahres 1979, als Wojtyla zum ersten Mal als Papst in sein Heimatland zurückkam, schien die zweitausend Jahre alte katholische Kirche plötzlich wieder vor Energie, Überzeugungskraft und Kampfgeist zu strotzen. Der Papst sagte dem übermächtigen Sowjetreich den Kampf an: „Es ist unmöglich, diese polnische Nation ohne Christus zu verstehen“, rief Johannes Paul II. in Warschau. Die Machthaber sollten wissen, dass die Polen ihren Glauben an Gott nicht verraten würden, dass der Atheismus keine Chance hätte, dass der Papst ein ernster Gegner sein würde. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten schien die katholische Kirche wieder auf der richtigen Seite zu stehen, auf der Seite der Schwächeren, Machtlosen und Ausgelieferten, auf der Seite derer, die unterdrückt und eingesperrt wurden, die keine Waffen hatten.

Den Mythos des Papstes als Herausforderer der Sowjets hatte ein berühmtes Telefonat begründet. Im Frühjahr 1979 hatte im Kreml das Telefon geklingelt, das für Anrufer aus den Warschauer-Pakt-Staaten reserviert war. Staatschef Leonid Breschnew nahm ab. Es meldete sich der polnische Regierungschef Edward Gierek: Er machte sich Sorgen wegen der überraschenden Karriere eines ehemaligen Bergarbeiters und Laienschauspielers, der noch unter der Nazi-Herrschaft begonnen hatte, Theologie zu studieren, und der jetzt zum ersten slawischen Papst der Geschichte gewählt worden war. Gierek hatte auf Grund der schlechten wirtschaftlichen Lage in Polen versucht, erste Reformen durchzusetzen, und war in den Augen der KPdSU schon deshalb suspekt. Jetzt hoffte Gierek auf einen großen Coup: Er wollte den polnischen Papst in seine Heimat einladen, um durch diese Geste die Sympathie der Bevölkerung zu gewinnen. Aber er wollte den Segen Moskaus für seine Idee. Gegenüber Breschnew versuchte Gierek, die Einladung als eine Geste der Stärke des Kommunismus in Polen erscheinen zu lassen. Polen, so sagte er, bräuchte einen Papst nicht zu fürchten. „Es wird nur Ärger geben“, antwortete Breschnew.

Alle Polen, die ich später kennen lernte, waren sich in einem einig: Edward Gierek hätte die Einladung an den Papst nicht ausgesprochen, wenn ihm damals die Konsequenzen klar gewesen wären. Als Johannes Paul II. am 2. Juni 1979 um 10.07 Uhr in Warschau aus der Alitalia-Maschine „Città di Bergamo“ (Stadt Bergamo) kletterte, begann für die Katholiken des Ostblocks so etwas wie ein Wunder. Die meisten, mit denen ich sprach, wählten einen überaus militärischen Vergleich, um zu beschreiben, was der Papst damals ihrer Ansicht nach getan hatte. Er habe Minen an die Fundamente des polnischen Kommunismus gelegt, und ein paar Jahre später habe er die Ladungen dann hochgehen lassen: Der Kommunismus kollabierte. Mehr als 13 Millionen Polen erlebten den Papst aus nächster Nähe, an einer Straße, während einer Messfeier oder auf einem Platz. Alle anderen sahen ihn zumindest im Fernsehen. Johannes Paul II. hatte seine Landsleute nicht vergessen. Es muss damals so etwas wie ein Wir-Gefühl entstanden sein, ein Wiedererwachen des Nationalstolzes, den fünf Jahre Besetzung durch die Nazis und 35 Jahre Unterdrückung durch die Sowjets nicht ganz hatten zerstören können. Während der ersten großen Messe auf dem Siegesplatz in Warschau forderte der polnische Papst das Sowjetimperium heraus. Das war gefährlich, und der Papst wusste damals genau, dass er mit Umsicht handeln musste, um nicht eine gewalttätige Reaktion des Regimes auszulösen, denn die päpstliche Reise entwickelte sich zu einer politischen Massendemonstration. Viele Polen, mit denen ich später sprach, erinnerten sich an einen bestimmten Abend in Krakau. Tausende Arbeiter und Studenten hatten vor der Kirche des heiligen Michael von Skalka auf Johannes Paul II. gewartet. Der Papst war zu einem kurzen Gebet in die Kirche gegangen und dann vor die Menge getreten. Die Menschen riefen „Sto lat! Sto lat!“ (Hundert Jahre sollst du leben!). Es knisterte vor Spannung. Eine Revolte lag in der Luft. Johannes Paul II. spürte genau, wie stark die Atmosphäre aufgeladen war, und beschloss, auf seine Rede zu verzichten. Er scherzte stattdessen mit Studenten, die ihm zuriefen „Bleib hier!“

Er antwortete: „So sind die Polen: Sie schließen den Stall erst, wenn das Vieh weggelaufen ist. Ich bin bis nach Rom gelaufen.“ Es war ein lockerer Dialog, der zwischen Johannes Paul II. und den Studenten entstand, und die Situation entspannte sich. Nach dem Wortgeplänkel bat der Papst seine Anhänger, „geordnet und leise und ohne Ungemach zu verursachen“ nach Hause zu gehen.

Behutsam, aber nachhaltig hatte Johannes Paul II. die Polen während dieser Reise zum Widerstand ermuntert. Nur ein Jahr später wurde die Entwicklung weltweit sichtbar: Am 14. August 1980 beschlossen die 17 000 Angestellten der Lenin-Werft in Danzig, angeführt von Lech Walesa, ihren Arbeitsplatz zu besetzen. Die Streiks dehnten sich auf das ganze Land aus. Innerhalb kurzer Zeit traten mehr als acht Millionen Menschen in die Solidarnosc-Gewerkschaft ein. Sofort nach der Gründung stellten die Streikenden klar, welchen Verbündeten sie an ihrer Seite hatten. Am 17. August 1980 las ein katholischer Priester in der Lenin-Werft eine heilige Messe, an der nahezu alle Arbeiter teilnahmen. Moskau betrachtete die Situation mit Argusaugen. Erich Honecker schrieb an Leonid Breschnew und teilte ihm mit, dass er fürchte, das sozialistische Polen könnte verloren gehen. Am 28. Oktober schloss die Tschechoslowakei die Grenzen zu Polen, um nicht von der sich ausbreitenden Revolte angesteckt zu werden. Im November wurde Verteidigungsminister Jaruzelski von den Warschauer-Pakt-Staaten darüber informiert, dass „Vorbereitungen liefen“. Es drohte eine zweite Besetzung durch die Sowjetarmee wie in der Tschechoslowakei im August 1968. US-Satelliten entdeckten die Vorbereitungen, die NATO wurde alarmiert. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt unterstrich, dass die Bundesrepublik einen Einmarsch in Polen nicht hinnehmen werde. Die NATO versetzte ihre Truppen in höchste Alarmbereitschaft. Am 7. Dezember 1980 klingelte im Staatssekretariat des Vatikans das Telefon. Das Gespräch wurde in die Gemächer des Papstes umgestellt: US-Präsident Jimmy Carter informierte ihn darüber, dass eine Invasion Polens unmittelbar bevorzustehen schien. Am 16. Dezember schrieb Johannes Paul II. an Leonid Breschnew einen sehr harten Brief: Er verglich die Sowjetarmee mit den Nazi-Truppen, die über Polen hergefallen waren, und platzierte das Reizwort „Solidarnosc/Solidarität“ an hervorgehobener Stelle. Die Drohungen kamen an. Breschnew blies die Invasion in Polen in letzter Sekunde ab.

Geschichtswissenschaftler und Kriminalisten werden auch in vielen Jahren noch von der Frage fasziniert sein, was in den Monaten danach im Kreml genau geschah. Irgendjemand bereitete im Winter 1980/81 eines der unglaublichsten Attentate in der Geschichte vor und suchte den perfekten Täter aus: Ali Agca, einen gesuchten Killer, der den Chefredakteur einer türkischen Tageszeitung ermordet hatte. Agca tauchte am Nachmittag des 13. Mai 1981 auf dem Petersplatz auf und schoss um 17.19 Uhr zweimal auf den Papst. Eine Kugel verletzte Johannes Paul II. schwer am Unterleib. Die Polizei nahm den Täter kurz nach dem Attentat fest und bewahrte ihn vor der Lynchjustiz der aufgebrachten Menge. Es ließ sich nie klären, warum der Türke Ali Agca das Attentat ausübte, obwohl er wusste, dass er keine Chance haben würde, zu entkommen. Der für den Fall zuständige Staatsanwalt Ferdinando Imposimato gab am Ende seiner Karriere zu, dass der Mordanschlag auf den Papst nicht zu klären ist. Denn der Täter konnte zwar gefasst werden, und er sagte auch aus. Dennoch bleiben die Hintergründe des Attentats bis heute im Dunkeln.

Ali Agca beschuldigte alle nur denkbaren Hintermänner: den KGB, den Islam und die „Grauen Wölfe“. Er nannte zahlreiche Mord-Motive und versicherte unter anderem, er wäre der wahre Messias. Sicher ist: Der Mann ist kein geistig verwirrter Einzeltäter. Er handelte nicht allein. Irgendjemand hatte ihn angeheuert. Agca war vor seiner Tat kreuz und quer durch Italien gereist. Dabei war er ein mittelloser gesuchter Mörder. Wer finanzierte das? Wer buchte seine Hotels? Wer beschaffte ihm gefälschte Papiere und die nagelneue Pistole, die in Belgien produziert worden war? Staatsanwalt Ferdinando Imposimato konnte die Spur bis zum bulgarischen Geheimdienst verfolgen: Dann verblasste sie. Die Ermittlungen in den Archiven der Stasi ergaben nur, dass die DDR aus Moskau den Auftrag bekam, den Verdacht zu zerstreuen, der KGB sei der Auftraggeber des Attentats gewesen.

Am 27. Dezember 1983 besuchte Johannes Paul II. Ali Agca in seiner Zelle im römischen Hochsicherheitsgefängnis Rebibbia und verzieh ihm. Im Juni des Jahres 2000 wurde Agca auf eigenen Wunsch in ein Gefängnis der Türkei verlegt. Dort wartet er auf seine Freilassung und bewahrt immer noch „alle seine Geheimnisse“, wie die türkische Tageszeitung „Yenibinyil“ im Juni des Jahres 2000 schrieb. Auch wenn die Hintermänner nie enttarnt wurden, so bewirkte der schlichte Verdacht, das Sowjetreich habe einen Mordanschlag auf den polnischen Papst organisiert, überall im Ostblock, vor allem aber in Polen, eine dramatische Eskalation. Das Attentat empfanden viele Polen als ein Signal: Das Sowjetimperium kämpfte offenbar mit allen Mitteln. Nun musste sich jeder entscheiden, für die Kommunisten und ihre Machtmaschine oder für die Sache Gottes, die in der Hand eines angeschossenen, geschwächten Polen lag.

Ein halbes Jahr nach dem Attentat auf dem Petersplatz, am 18. Oktober 1981, setzte die Kommunistische Partei Polens den Staatschef Stanislaw Kania ab. Verteidigungsminister General Wojciech Jaruzelski übernahm die Macht. Die Lebensmittelversorgung war durch die Streiks völlig zusammengebrochen. Jaruzelski fällte einen folgenschweren Entschluss. Um 23.57 Uhr des 12. Dezember 1981 ließ er die 3,4 Millionen Telefone in Polen stilllegen. Das Land war vom eigenen Machthaber besetzt, die komplette Führungsmannschaft von Solidarnosc verhaftet worden. Durch Warschau rollten Panzer. Don Stanislaw weckte den Papst. Der Staatsstreich nahm vielen Polen zunächst jeden Mut. Aber alle standen wieder hinter Lech Walesa. Der Papst verstand, dass er ein Zeichen setzen musste, und reiste am 16. Juni 1983 erneut nach Polen. Vor jedem Auftritt versuchte die Polizei Hunderttausende, die zu den heiligen Messen strömten, durch Absperrungen und willkürliche Sicherheitskontrollen zu stoppen. Die Plätze, auf denen der Papst beten wollte, sollten möglichst leer erscheinen. Doch Jaruzelskis Taktik ging nicht auf: Manchmal gelang es dem Regime, einen Platz, an dem eine päpstliche Messe stattfinden sollte, so gut abzusperren, dass tatsächlich nur einige Tausend Gläubige zum Papst-Altar gelangen konnten. Aber die Menschenmassen, die nicht auf die Plätze gelassen wurden, sangen und jubelten und skandierten immer wieder den Namen des Papstes und den Namen der Gewerkschaft Solidarnosc. So zeigten die TV-Bilder menschenleere Tribünen, aber der Ton bewies: Draußen warteten Hunderttausende darauf, den Papst wenigstens über Lautsprecher hören zu können. Während des Vier-Augen-Gesprächs mit Jaruzelski schlug Johannes Paul II. mit der Faust auf den Tisch: Ohrenzeugen berichteten später, dass der Papst und der Diktator „ziemlich laut geworden waren“. Der Papst forderte die Freilassung der Gefangenen. Jaruzelski gestattete nur „ein privates Treffen“ zwischen dem Häftling Walesa und dem Papst, wobei Johannes Paul II. dem General mitteilte, es gäbe mit einem Papst keine privaten Treffen.