Die Magie der Weisheit - Manuel Rotter - E-Book

Die Magie der Weisheit E-Book

Manuel Rotter

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Beschreibung

Sonaht ist in die Welt der Lebenden zurückgekehrt und versammelt seine dunkle Armee für einen letzten vernichtenden Schlag gegen die Helden von Alba. Da sein Plan zum Sieg über das Leben noch im Verborgenen liegt, kehrt William Cornbreak zur Kathedrale des Glaubens zurück, um das Geheimnis um den Gott der Unterwelt zu lüften. Während seine Gefährten versuchen, die Völker Albas im Amazonenreich in Sicherheit zu bringen, erfährt William vom Schöpfer die Wahrheit über die Magie der Weisheit und wird von ihm in die geheimen Pläne Sonahts eingeweiht. Gemeinsam reisen sie durch die Zeit, um Sonahts sicherscheinenden Sieg im Krieg der Götter aufzuhalten.

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Inhalt

EINS: PROLOG

ZWEI: DIE STILLE DER GRÄBER

DREI: ANGRIFF DER DUNKELHEIT

VIER: RÜCKKEHR ZUR KATHEDRALE DES GLAUBENS

FÜNF: VERLORENE REICHE

SECHS: SICHERER HAFEN

SIEBEN: IM WALD DER GÖTTER

ACHT: DÄMMERUNG

NEUN: IN DEN BARACKEN

ZEHN: DIE LIEBE DER FAMILIE

ELF: BEGEGNUNG

ZWÖLF: CORNBREAK!

DREIZEHN: AUF DER MAUER

VIERZEHN: WENDE UM WENDE

FÜNFZEHN: FEUER UND EIS

SECHSZEHN: TROLLE, CHIMÄREN UND DER KAMPF AUF LEBEN UND TOD

SIEBZEHN: LASS SIE GEHEN!

ACHTZEHN: DER SPEER DER WEISHEIT

NEUNZEHN: ZWEI HÄLFTEN EINES HERZENS

ZWANZIG: DIE TAGE DER ZUKUNFT

EINUNDZWANZIG: EIN LETZTES VERSPRECHEN

ZWEIUNDZWANZIG: EPILOG

Danksagung

Über den Autor

Lina

EINS:

PROLOG

Über Alba herrschte eine bedrückende Dunkelheit, die sich schleichend ausbreitete. Düster lagen die Straßen der östlichen Hauptstadt danieder. Der Osten war gefallen, der Westen von den Menschen verlassen. Sonaht stand am Balkon des Amtssitzes und genoss mit geschlossenen Augen seinen Triumph. In der ganzen Stadt war kein Mucks zu hören. Die Menschen, deren Seelen er nun sein Eigen nannte, hatten sich in die Häuser zurückgezogen, wo sie sich auf die letzte Schlacht Albas vorbereiteten. Am nächsten Morgen würden sie aufbrechen, um die Armee der Dunkelheit zu verstärken, welche in Edulan auf ihren Einsatz wartete.

Thorne hatte gute Arbeit geleistet. Als Sonaht sich dem Zauberer vor fünf Jahren offenbarte, hatte sich dieser ihm aus freien Stücken angeschlossen – nicht aus Furcht, nicht aus Machtgier. Thorne war von der Macht der Dunkelheit überzeugt gewesen. Und so hatte ihm Sonaht die Weisheit der alten Tage verliehen. Unter seiner Führung hatte der Zauberer eine gigantische Armee aufgebaut, die Weisen in die Irre geführt und Alba für die Dunkelheit erobert.

Die Menschheit war besiegt. Die wenigen, die überlebt hatten, befanden sich auf dem Rückzug, angeführt von ihrem schwachen König, der noch ein Kind war. Das Reich der Waldvölker war bereits gefallen und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die restlichen Reiche Albas fielen. Die Macht der Feen war geschwächt, die Kobolde so gut wie ausgelöscht. Somit blieb nur noch das Reich der Amazonen auf der anderen Seite der Insel.

Die Menschen hofften, sich in der uneingenommenen Stadt verschanzen zu können. Doch in Wahrheit saßen sie dort auf dem Präsentierteller. Die Stadt der Amazonen war einst auf dem Ausläufer des Berges Alba errichtet worden. Aus festem Granit geschlagen, erstreckte sie sich bis zum Meer hinab und lediglich zwei massive Tore gewährten Reisenden Einlass. Waren die Tore verschlossen, saß man in der Stadt fest. Der Angriff würde von beiden Seiten erfolgen und sie zermalmen.

Sonaht öffnete die Augen und lächelte den Mond über der Stadt an. Düstere Wolken hatten ihn für viele Stunden verborgen. Doch nun gaben sie ihn frei und Sonaht spürte die Anwesenheit seiner verlorenen Gefährtin. Ekin blickte auf ihn herab. Er konnte den Schmerz spüren, der ihr Herz in Ketten legte. Auch sein Herz war gefesselt. Doch ihre Gegenwart ließ es wieder wilder schlagen.

Jeden Tag sehnte er sich nach Ekin, dem Licht in der Symbiose der Magie der Worte. Zu Anbeginn der Zeit hatte die Allmutter Licht und Dunkelheit erschaffen, auf dass sie Wunder vollbringen sollten, eine Welt erschaffen, in der Frieden herrschte. Für viele Jahrhunderte hatten sie diese Aufgabe zur vollen Zufriedenheit der Allmutter erfüllt. Erst als Sonaht und Ekin sich ineinander verliebten, zogen sie den Groll der Allmutter auf sich. Beide – Licht und Dunkelheit – wussten, dass es nur einen Weg gab, für immer zusammen zu bleiben. Sie mussten die Allmutter stürzen und die Macht übernehmen.

Doch die Allmutter erkannte ihren Plan und trennte sie für die Ewigkeit. Sie nahm ihnen ihre einzigartige Gestalt und verbannte Sonaht in die Unterwelt. Er sollte über den Tod gebieten, während Ekin als das Licht über das Leben wachte. Sie waren dazu verdammt, die gegenseitige Nähe zu empfinden, doch niemals sollten sie einander nahe sein können. Es war ein trauriges Schicksal. Doch nun war der Fluch gebrochen.

Es hatte lange gedauert. Viele Male war Sonaht in die Welten zurückgekehrt, in verschiedenen Gestalten. Und jedes Mal war er von den Kriegern des Lichts besiegt und wieder verbannt worden. Diesmal jedoch hatte Thorne ihm geholfen. Der Zauberer hatte Sonaht eine neue, starke und mächtige Gestalt verliehen. Die Dunkelheit war erneut gebannt. Ekin wusste das. Deshalb kam sie auch zu ihm, um mit Sonaht zu sprechen.

»Ich kann dich spüren, Liebste«, flüsterte er in die Nacht hinaus. Das strahlende Mondlicht strich über seine nackte, pechschwarze Haut. Es fühlte sich gut an, wie das Streicheln des Menschen, den man am meisten begehrte. »Du kehrst zu mir zurück.«

Weshalb tust du das, Sonaht?

»Einst schwor ich, zu dir zurückzukehren, Liebste«, Sonaht erbebte, als er Ekin direkt neben sich spürte. Sie war der Windhauch der aufziehenden Brise. »Die Allmutter verfluchte uns. In ihrer Gier nach Macht zerschlug sie unsere Liebe. Wie oft versuchten wir bereits, wieder zu einander zu finden, Ekin?«

Zu oft!

»Diesmal wird es uns gelingen!«

Ich habe uns bereits aufgegeben, Sonaht. Der Preis ist zu hoch. Siehst du es denn nicht? Bist du nicht imstande, zu erkennen, was es uns kosten würde? Sie sind unsere Kinder!

»Kein Vater sollte seine Kinder zu Grabe tragen«, hauchte er, »doch es gibt keinen anderen Weg. Ich war blind, Ekin, als ich glaubte, den Fluch brechen zu können, indem ich die Symbiose zerschlage. Nun aber habe ich die Wahrheit erkannt. Das Leben auszulöschen hat keinen Sinn. Auch uns würde ich dadurch zerstören. Die Allmutter ist zu mächtig. Sie kann ich nicht besiegen. Aber ich kann sie verbannen, wie auch sie uns einst verbannte.«

Du willst sie fortsperren?

»Nur so kann ich dich vor ihr schützen. Es ist der einzige Weg, wie wir zusammen sein und unsere Schöpfung retten können.«

In den Welten herrscht Krieg, Sonaht. Du rettest unsere Schöpfung nicht, du zerstörst sie!

»Dies ist erst der Anfang. Die Allmutter ist Teil unserer Schöpfung. Sie nutzt sie, um gegen uns vorzugehen. Du hast recht, Ekin, sie sind unsere Kinder. Doch sie trachten danach, uns zu vernichten. Ich muss sie zerstören.

Wir werden eine neue Welt erschaffen, eine bessere Welt. Eine Welt des Friedens und der Glückseligkeit! Wir werden in den Hallen der Götter speisen und sie betrachten. Wir werden eins sein.«

Wie? Auf welche Art gedenkst du, etwas Neues zu erschaffen, indem du Altes zerstörst?

»Nur so kann es getan werden. Die Welt ist erkrankt. Die Allmutter ist ein Virus. Sie hält unsere Schöpfung gefangen. Wir müssen sie befreien, wir müssen uns befreien. Aber dazu muss ich uns zerstören. Nur so kann ich die Allmutter aus unserem Blut entfernen.«

Wenn du uns zerstörst, wie willst du uns dann retten?

»Die Magie der Weisheit ist der Schlüssel. Vertraue mir, Ekin. Ich werde dich nicht enttäuschen. Nicht erneut!«

Ich kann dir nicht folgen, Sonaht.

»Hast du Angst vor Mutter?« Wissend blickte Sonaht zum Mond auf. »Das musst du nicht. Sie ist ebenfalls nur ein Teil der Schöpfung. Auch sie ist vergänglich! Wirst du mir also folgen? Wirst du an meiner Seite stehen?«

Düster schoben sich die Wolken vor den Mond und das strahlend weiße Licht, welches Sonaht in sich eingehüllt hatte, schwand. Erneut schloss er die Augen und flüsterte: »Vertraue auf unsere Liebe!«

ZWEI:

DIE STILLE DER GRÄBER

Der letzte Stein wog unangenehm schwer in Williams Hand. Auf einem Bein kniend, das Haupt gesenkt und die Augen geschlossen, hielt er ihn fest in der Hand. Die Neolithgräber lagen abseits der restlichen Insel in einem sanften Tal, welches umgeben von Wäldern war. Über die gesamte Ebene waren sie verteilt. Die größten von ihnen waren die Ruhestätten der ersten Königin von Alba und ihres geliebten Gemahls. William war früher schon an diesem Ort gewesen. Seit Edwards Krönung waren die Gräberwiesen auch für den Adel und Personen aus dem einfachen Volk geöffnet. So befanden sich mittlerweile über zwei Dutzend Grabstätten an diesem Ort. William hatte heute Nacht zwei weitere hinzugefügt.

Schweren Herzens und gegen die Tränen ankämpfend, legte er den letzten Stein auf die anderen und erhob sich. Das Grab war winzig, wie auch das Wesen, welches es nun für immer beherbergte.

Sonaht hatte ihn in die Falle gelockt und William vor eine grässliche Wahl gestellt – Lina oder das Kind. Die Entscheidung war ihm nicht leicht gefallen. Doch lieber blieb er kinderlos, als ohne Lina in dieser Welt zu sein. Auf eine gewisse Art und Weise bereute er daher nicht, diese Entscheidung getroffen zu haben, und dennoch schnürte das Schuldgefühl ihm die Luft zum Atmen ab und legte sein Herz, welches er nur noch schwach in der Brust schlagen spürte, in Ketten.

Seit er sich erinnern konnte, sehnte er sich nach einem gemeinsamen Kind mit Lina. Sie wollte keines, doch war sie gewillt gewesen, William seinen Wunsch zu erfüllen. Zu spät hatte er von ihrer Schwangerschaft erfahren. Und nun, so kurz vor der Geburt, hatte Sonaht ihm das Kind geraubt. Er selbst, William, hatte sich dazu entschieden, die Seele des Kindes im Austausch gegen Linas Seele zu opfern, weil er glaubte, wenigstens im Tod mit dem Kind vereint zu sein, während Lina im Leben weilte. Denn sie tot zu wissen, war der schrecklichste Gedanke, den er zu hegen imstande war.

Es kam ihm so vor, als läge der Kampf gegen den letzten Jünger der Dunkelheit in den Hallen des Todes bereits Jahre zurück. Dabei war es erst gestern gewesen. Nachdem er ins Leben zurückgekehrt war, mithilfe einer magischen Träne, die er um sein totes Kind geweint hatte, hatte er sich Sonaht entgegengestellt. Zwar war es ihm mit Pans Hilfe gelungen, den Feind zu besiegen, doch gelang diesem die Flucht. Sonaht würde sich schon bald erholen und erneut zuschlagen.

Am darauffolgenden Tag hatte der Rat der Helden beschlossen, getrennte Wege zu gehen. Während Edward sein Volk in Sicherheit brachte, machte Zac sich auf den Weg in das verlassene Reich der Zwerge, um dort neues Gold für die kommende Schlacht zu beschaffen, und Tiny war aufgebrochen, in den Archiven der Feen nach einem Hinweis zu suchen, der ihnen Sonahts Plan offenbaren sollte.

Pan und William waren aufgebrochen, den Leichnam des kleinen, ungeborenen Kindes und Lavis Leichnam, die ihr Leben im Kampf gegen Sonaht gelassen hatte, zu den Neolithgräbern zu bringen, wo William die beiden eben bestattet hatte. Anschließend wollten sie sich erneut zur Kathedrale des Glaubens begeben, um mit dem Schöpfer über das weitere Vorgehen zu sprechen.

Pan hatte sich zurückgezogen, um nach möglichen Feinden Ausschau zu halten. So stand William nun allein vor dem winzigen Grab seiner Tochter, die niemals würde das Licht der Welt erblicken. Da niemand ihn in der Dunkelheit der Nacht sehen konnte, ließ er seinen Tränen freien Lauf. Es war nicht länger von Bedeutung, Stärke zu demonstrieren. An diesem Ort war er vollkommen für sich allein. Das erste Mal seit langer Zeit fand er zur Ruhe, obwohl sein Herz heftig in der Brust schlug.

Der Boden war von feinstem Nebel bedeckt und alles um ihn herum wirkte seltsam düster. Zeitgleich jedoch war es der friedlichste Ort auf der Welt. Hier, zwischen all den Toten, fühlte er sich nicht fremd. So viele Male war er bereits gestorben. Die Gräber fühlten sich wie Heimat an.

»Es tut mir so leid, Will«, hörte er die Stimme seines Bruders, George, in seinem Rücken. William wirbelte herum und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»George, wie …?«

»Dies ist ein Ort des Todes. Hier kann ich dir begegnen«, er hielt vor William an, »und ich bin gekommen, um dir Trost zu spenden, Bruder.«

»Dann bist du wirklich hier? Ist dies nicht nur ein Traum?«

George zog William in seine Arme und drückte ihn fest an sich. Tatsächlich, George war real. William wollte es kaum glauben. In den letzten Jahren waren sie sich oft in seinen Träumen begegnet. So viele Male waren sie sich nah gewesen und zeitglich so weit von einander entfernt. Nie hatten sie sich wirklich berühren können. Doch nun hielten sie einander im Arm und William spürte die Wärme seines Bruders. Sein Herz begann ruhiger zu schlagen.

»Ich habe alles verloren, George.«

»Nicht alles, William, noch hast du Lina und deine Freunde«, George hielt William an den Schultern und blickte ihm tief in die Augen.

»Sonaht hat mich dazu gezwungen, eine Entscheidung zu fällen.«

»Und das war grausam von ihm. Aber an diesem Ort wird deine Tochter Frieden finden, inmitten all jener, die bereits Frieden gefunden haben. Auch ich liege hier begraben. Ich werde über sie wachen, Bruder, das verspreche ich dir.«

»Ich war bereits oft hier«, meinte William, »weshalb hast du dich mir nicht früher gezeigt?«

»Weil es mir nicht gestattet war«, erklärte George. »Doch nun darf ich bei dir sein, für kurze Zeit.«

»Wer hat es dir ermöglicht? Ekin?«

»Ekin mag ein mächtiges Wesen sein, doch es existieren noch weitaus größere Mächte im Multiversum.«

»Die Allmutter!« William blickte gen Himmel.

»Etwas ist im Gange, Will, das alles verändern könnte.«

»Was meinst du damit? Hat die Allmutter dir das gesagt?«

»Sie schickt mich, um es dir zu sagen. Ich bin ihr Bote.«

»Was meint sie damit – es könnte alles verändern?«

»Das weiß ich nicht. Doch es hat mit Ekin und Sonaht zu tun. Ekin ist nicht die, die sie zu sein vorgibt. Die Allmutter vertraut ihr nicht länger.«

»Der Schöpfer ebenso wenig. Er hat mir geraten, nicht länger auf Ekin zu hören. Anstelle dessen sollte ich meinem Herzen vertrauen und meine eigenen Entscheidungen treffen. Der Schöpfer und ich haben einen Plan.«

»Es war ein riskanter Plan. Und er hat uns viel abverlangt, Will. Der Schöpfer mag das Multiversum geschaffen haben, aber sein Schicksal liegt nicht länger in seinen Händen. Auch Gabriel darfst du nicht blind vertrauen.«

»Er war ehrlich zu mir. Als Einziger von den Göttern!«

»Ja, das mag sein. Womöglich, weil er keine andere Wahl hatte. Du hast den Gedächtniszauber gebrochen und ihn in eine heikle Situation gebracht. Denkst du, er hätte euch das Wasser der Erinnerung gegeben, wenn er eine Wahl gehabt hätte?«

»Dann soll ich nicht zur Kathedrale des Glaubens zurückkehren?« William blickte verwirrt drein.

»Das sagte ich nicht«, meinte George, »aber du solltest auf der Hut sein. Auch der Allmutter darfst du nicht vertrauen, und mir, als ihrem Boten, ebenfalls nicht. Du musst damit anfangen, eigene Entscheidungen zu treffen. Werfe einen Blick in das Buch der Worte, bevor du zu Pan zurückkehrst. Du wirst sehen, das Schicksal der Welten ist zum ersten Mal nicht in Stein gemeißelt. Es gibt kein Ende im Buch der Worte. Nicht einmal die Allmutter weiß, wie all das ausgehen wird.

Du befindest dich nicht länger im Griff der Magie der Worte. Du kannst nun eigene Entscheidungen treffen. Das wolltest du doch immer. Du besitzt die Macht und die Fähigkeiten, Alba und unsere Freunde zu retten. Du kannst sie alle retten, Will!«

»Und wenn ich mich dazu entscheide, Sonaht siegen zu lassen?«, wollte William erfahren.

»Dann wird es so sein. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, dass die Magie der Worte durch seinen Sieg enden wird. Niemand weiß, was er vorhat, nicht einmal die Allmutter. Wir wissen nur, dass es mit der Magie der Weisheit zu tun hat.«

»Ja, das weiß der Rat bereits.«

»Wie gesagt, Will, es liegt nun an dir. Du wurdest vor langer Zeit dazu bestimmt, das Schicksal des Multiversums zu entscheiden. Alles liegt nun in deinen Händen. Wie du dich auch entscheidest, tue es aus freien Stücken heraus.«

Mit diesen Worten löste sich George im Nebel auf und William war wieder allein inmitten der Stille der Gräber. Wie George es sagte, zog er das Buch der Worte aus der Jackentasche und schlug die letzte Seite auf. Sie war leer.

Nachdem der Schöpfer das Multiversum neu erschaffen hatte, hatte er auch die Magie der Worte vom Buch der Worte getrennt. Fortan war nicht länger ein Schreiber zum Erhalt der Geschichte notwendig. Die Geschichte schrieb sich selbst. Doch nach dem letzten Punkt auf der aufgeschlagenen Seite tauchten keine weiteren Worte mehr auf. Die Geschichte war zum Stillstand gekommen. George hatte recht, sie waren nicht länger an das Schicksal gebunden. Das veränderte alles.

William schlug das Buch zu und steckte es wieder in die Jackentasche. Anschließend machte er sich auf den Weg zu Pan. Der Morgenanbruch stand kurz bevor und William fühlte, dass sie nicht zu viel Zeit verlieren sollten. Sonahts Angriff würde schon bald beginnen. Obwohl er es nicht musste, entschied sich William dazu, zur Kathedrale des Glaubens zurückzukehren. Wenn er nicht länger an das Schicksal gebunden war, so könnte er wohl endlich die volle Wahrheit über die Magie der Worte erfahren.

Auf dem Weg zum oberen Waldrand, wo eine magische Barriere der Dunkelheit den Zugang zu diesem heiligen Ort versperrte, wartete Pan bereits auf ihn. Er konnte die Silhouette des Waldhirten sich deutlich vom dunklen Schatten der Bäume abheben sehen. Auf dem Weg dorthin kam William an den Gräbern von Edwards Eltern vorbei. Sie waren größer als die anderen und verfügten über schmale Eingänge, durch die man kriechend in das Innere der Gräber gelangte. An dieser Stelle des Tals war der Nebel dichter und schmiegte sich sanft um William, dessen Beine im kalten Dunst der kühlen Morgenluft verschwanden.

Für einen kurzen Moment hielt er inne und die Stiefel versanken leicht im matschigen Untergrund. Das Grab zu seiner Linken, Elainas Grab, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er wusste nicht, ob Pan es bemerkte, doch William drehte sich noch einmal um und ging zu dem Grabeingang. Das rostige Gittertor war geschlossen, doch für William war es ein Leichtes, es zu öffnen und auf allen vieren hindurchzukriechen.

Im Inneren des Grabes erhob sich im Zentrum ein monumentaler Sarkophag, dessen Deckel ein steinernes Abbild der Weise des Lichts darstellte. Elaina hatte die Augen geschlossen, als würde sie schlafen, und ihre zarten Hände schlossen sich an der Brust um einen steinernen Zauberstab. Es war jener Zauberstab, der nun Edward gehörte. Er war ihr Nachfahre und so auch der Weise des Lichts, nachdem Elaina im ersten Großen Krieg ihr Leben gelassen hatte, um ihre Kinder, Gabriel und Edward, vor dem Mutzler zu schützen.

Eigentlich war Gabriel der ältere der beiden Brüder. Doch am Ende des letzten Krieges hatte er sich dazu entschieden, als Verfasser der Geschichte der Magie der Worte das Ende im Buch der Worte, welches den Sieg der Dunkelheit verkündete, umzuschreiben, die alte Welt auszulöschen und eine neue Welt zu erschaffen. In dieser Welt lebten sie nun. Edward war der Weise des Lichts und Gabriel der Schöpfer allen Seins.

Am Sarkophag standen mehrere Vasen mit frischen Blumen. Beinahe jeden Tag kamen Menschen an diesen Ort, die um die große Königin trauerten. Sie brachten Blumen und andere Grabbeigaben. Elaina war die erste Königin von Alba gewesen und als solche die gütigste Herrscherin, die man sich vorstellen konnte. William hatte sie oft getroffen, als er noch Soldat in ihrer Armee gewesen war. Auf einem der Bälle in der westlichen Hauptstadt hatte er Lina kennengelernt, die Frau, die er liebte und die er in diesem Moment unsagbar vermisste.

»Danke, William Cornbreak«, hörte er eine heilende Stimme in seinem Rücken, »für alles, das du für meine Söhne getan hast!«

Wie zuvor George erblickte William nun den Geist Elainas, als er herumfuhr und sich beinahe zu Tode erschreckte. Um ihn herum entfachten sich mehrere einen Meter hohe Kerzen und tauchten das Grab in ein warmes Licht. Elaina sah aus wie er sie in Erinnerung hatte. Sie war wunderschön, jung und besaß eine Ausstrahlung, die alles andere auf der Welt in den Schatten stellte. Ihre Augen waren gütig und ihr Lächeln vermochte jeden Menschen die Geste erwidern zu lassen, egal, ob dieser Freude oder aber Trauer im Herzen trug.

»Meine Königin!«, William sank sofort auf ein Knie und senkte das Haupt.

»Ich bin nicht länger deine Königin«, sagte sie sanft und machte eine Geste, die William sich erheben ließ. Weiterhin hielt er seinen Blick gesenkt. Sie war nicht nur Königin gewesen, sondern auch die höchste der Weisen. Sie war eine Göttin.

»Ihr müsst mir nicht danken, Herrin«, sagte William, »ich verdiene Euren Dank nicht.«

»Hast du Edward nicht gerettet? Und hast du Gabriel nicht dabei geholfen, den Mutzler zu besiegen?«

»Und wie viele Albianer schickte ich in den Tod?«

»Ich beobachte dich seit langer Zeit, William Cornbreak«, sagte Elaina, »dennoch verstehe ich dich nicht. An guten Tag wirkst du betrübt, da du dich an die schlechten erinnerst. Und an den schlechten Tagen wiegt dein Herz so schwer, dass es nicht einmal die Ketten zu halten vermögen, die du dir selbst auferlegt hast.«

»Wahrlich, Herrin, es sind schlechte Tage.«

»Und doch stand es nie besser um dich.«

»Wie meint Ihr das?«

»George hat es dir doch gesagt. Das Schicksal legt nicht länger sein Band um dich, William. Du bist nun ein freier Mensch. Du starbst und erfülltest damit das dir von der Magie der Worte auferlegte Schicksal. Du warst tot – und doch kehrtest du zurück. William Cornbreak wurde neu geboren. Das Schicksal, die Last der Welt auf den Schultern zu tragen, ist dir nicht länger auferlegt.

Die Geschichte der Magie der Worte ist zum Stillstand geraten. Etwas, das Gabriel nicht vorhergesehen hat. Sonaht ebenso wenig. Dem Feind ist dieser Umstand allerdings nicht verborgen geblieben. Er hat seinen Plan, die Magie der Worte zu vernichten, verworfen und einen neuen Plan geschmiedet.«

»Welchen Plan, Herrin? Was hat der Feind vor?«

»Ich weiß es nicht. Die Allmutter weiß es ebenso wenig. Niemand weiß es! Das Schicksal ist geschlagen. Das Ende der Geschichte steht nun offen. Du kannst es formen, William. Du bist der reinste von ihnen. Dein Herz schlägt lauter als alle anderen. Du kannst vollbringen, was niemand zu vollbringen vermag.

Ihr dachtet, Sonaht hätte bereits gesiegt. Edward bringt die Menschen in Sicherheit, Tiny sucht nach einer Antwort auf eine Frage, die nicht länger von Bedeutung ist, und Zac sucht nach einer Waffe für eine Schlacht, die nicht stattfinden wird. Alles hat sich verändert, weil du überlebt hast, als du eigentlich hättest sterben sollen. Deine Rückkehr aus dem Reich der Toten hat alles verändert. Ihr müsst die Chance ergreifen. Es ist ein dünnes Band, William, doch es kann euch aus dem Irrgarten der Dunkelheit leiten. Du kannst sie führen, zurück ins Licht!«

»Wie soll ich das tun, Herrin?«

»Du musst herausfinden, was Sonaht vorhat. Ekin ist Teil seines Plans. Mutter steht kurz davor, sich von Alba und ihren Kindern abzuwenden – ich kann es spüren. Du musst seinen Plan aufdecken und verhindern, dass er ihn in die Tat umsetzt. Du musst Sonaht besiegen, William.«

»Das haben wir so oft getan, aber es hat nichts geändert. Immerzu erhebt er sich von Neuem. Und jedes Mal ist er stärker als zuvor. In der westlichen Hauptstadt hätte er beinahe obsiegt. Ich kann ihn nicht besiegen, nicht noch einmal.«

»Du kannst es, William. Dies ist der letzte Kampf zwischen dir und ihm. Dieser Kampf wird alles entscheiden. Sonaht oder du. Nur einer von euch wird überleben und der andere wird nicht erneut wiederkehren.«

»Er hat …«, er brach ab.

»Er hat was, William?«, fragte Elaina. Sie schritt auf ihn zu und sah ihn aus gütigen Augen heraus an. »Was hat Sonaht getan?«

»Während unseres letzten Kampfes hat er mir die Dunkelheit geraubt. Darken ist nicht länger in mir. Doch war er es, der mir die Magie verlieh, die Sonaht zu besiegen in der Lage gewesen wäre.«

»Magie ist nicht die einzige Waffe, die dazu imstande ist, die Dunkelheit zu besiegen. Du benötigst sie nicht, William, du besitzt bereits alles, was du brauchst.«

»Ich war ein Krieger des Lichts und der Dunkelheit. Nur so gelang es mir, die Jünger der Dunkelheit zu besiegen und aus der Unterwelt zurückzukehren. Ich bin dazu geboren, die Armee des Lichts anzuführen. Wie kann ich das tun, wenn ich eine Seite meiner Macht verloren habe?«

»Du hörst nicht zu, William Cornbreak, dein Schicksal ist von dir genommen. Du musst nicht länger an der Spitze der Armee des Lichts kämpfen. Und du benötigst keine Magie, um Sonaht zu besiegen.«

»Was benötige ich dann?«

Elaina zeigte auf Williams Brust.

»Nur dein Herz, William, das ist alles.«

Elainas Geist löste sich langsam auf und die Kerzen erloschen. William stand noch einen kurzen Moment reglos da, die Augen geschlossen und im Geiste Elainas Worte wiederholend. Er benötigte nur sein Herz, um Sonaht zu besiegen. Was meinte sie damit?

Als er knarrend das Gittertor schloss und wieder auf die Beine kam, stand Pan direkt vor ihm. Über dem Waldrand erhob sich bereits eine blutrote Morgensonne, welche die dunklen Wolken am Himmel wie aus einem Gemälde entsprungen wirken ließ. Während im Osten eine Gewitterfront den Himmel für sich einnahm, konnte William im Westen den Rauch der zerstörten Hauptstadt aufsteigen sehen.

»Wir sollten keine Zeit mehr vergeuden«, sagte Pan.

»Du hast recht.«

»Was hast du dort drinnen gemacht?«

»Gebetet.« Pan musterte ihn forschend. Der Hirte wusste natürlich, dass etwas nicht stimmte. Aber wie es Williams Angewohnheit war, schwieg er darüber, was er von den Geistern erfahren hatte und auch darüber, was ihn in seinen Gedanken besorgte. Ob er es auch vor dem Schöpfer verbergen könnte?

»Kann ich dich etwas fragen, Pan?«

»Natürlich.«

»Ich war schon oft hier, aber erst jetzt fällt es mir auf. Weshalb besitzt die Dunkelheit an diesem Ort keine Macht?«

Pan sah sich um, dann sagte er: »Vor langer Zeit war dies ein einfaches Tal. Doch dann lernte Elaina einen Menschen lieben. Ihre Liebe erschuf den Zauber, der diesen heiligen Ort schützt. Es ist die Liebe, William, die der Dunkelheit die Macht raubt und dem Licht zum Sieg verhilft.«

Ich benötige nur mein Herz, hat sie gesagt, kam es William mit einem Mal in den Sinn. »Aber natürlich!«

»Was hat du, William?«

»Nichts, Pan, mir ist nur etwas eingefallen, das ich vergessen glaubte.«

»Nun gut. Bist du bereit?«

»Das bin ich.«

DREI:

ANGRIFF DER DUNKELHEIT

Die berittenen Boten wirbelten Staub auf, als sie in alle Himmelsrichtungen davoneilten. Lina stand an der Bugreling der Pollux. Ihr Unterleib schmerzte noch und Meister Pillar hatte ihr geraten, nicht aufzustehen, doch die ganze Zeit im Bett zu liegen, machte sie beinahe wahnsinnig. Die frische Luft hingegen fühlte sich gut an. An der Reling abgestützt, sog Lina die Luft in ihre Lungen und beobachtete das Geschehen an Land.

Nach ihrem Aufbruch aus der Hauptstadt waren sie die Küste entlang gen Norden gesegelt. Edward hatte beschlossen, an geeigneten Stellen an Land zu gehen, um die Dörfer und Städte zu evakuieren. Er war sich der Tatsache bewusst, dass sie dadurch Zeit verloren, doch es waren bereits zu viele Menschen gestorben.

Linas Blick fiel auf die Stadt Nefork. Sie war die größte Stadt im Nordwesten Albas, wenngleich kaum einen Bruchteil so groß wie die Hauptstadt. Hinter den steinernen Mauern lebten um die eintausend Seelen. Während die Evakuierung der kleinen Dörfer in Küstennähe rasch abgewickelt werden konnte, würde die Evakuierung Neforks wohl einen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Aus diesem Grund sandte Edward Boten aus, um die Dorfgemeinschaften, die weiter im Landesinneren lagen, vor dem Angriff der Dunkelheit zu warnen. Sie zu evakuieren würden sie niemals rechtzeitig schaffen. Zu schnell breitete sich die Dunkelheit in Alba aus. So gaben sie den Dorfbewohnern wenigstens eine Chance, sich in Sicherheit zu bringen. Womöglich würden sie die Hauptstadt der Amazonen sogar schneller erreichen.

»Ihr seid aufgestanden?«, hörte Lina die tadelnden Worte des Meisters aus Norok in ihrem Rücken. Sie blickte sich nicht um, senkte jedoch schuldbewusst den Kopf. »Darf ich mich zu Euch gesellen, Herrin?«

»Natürlich, Meister Pillar!«

Der Meister war fremd in diesem Land. Norok, seine Heimat, lag in einer anderen Dimension des Multiversums. Vor wenigen Monaten hatte Rabea – damals war sie noch die Eishexe – Alba angegriffen und einer ihrer Eiskrieger hatte Lina in das Land Norok entführt. William und Lavi waren ihr gefolgt, um Lina zu befreien. In Norok hatten sie Meister Pillar kennengelernt. Nach dem Sturz der Eishexe und nachdem Rabea wieder die Weise des Winters geworden war, hatte Meister Pillar seinen Herrn, König Henry, darum gebeten, mit Lina und den anderen nach Alba reisen zu dürfen, um dort die Magie zu erforschen.

Meister Pillar war ein Mann hohen Alters. Sein langer, weißer Bart wuchs ihm bis zum Gürtel und er ging gebückt, da sein Rücken krumm und seine Beine müde waren. Im Blick trug der Meister stets eine herzenswarme Güte, die an dunklen Tagen Hoffnung zu schenken vermochte. Die Kleidungsgewohnheiten in Norok unterschieden sich von jenen in Alba. Doch erinnerte die Robe des Meisters Lina an das Gewand eines albianischen Zauberers oder eines Priesters.

Pillar lehnte sich neben Lina an die Reling und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

»Was bedrückt Euch, Herrin?«, fragte er väterlich.

»Könnt Ihr Euch das nicht denken, Meister?«

»Eure Verletzung?«

Vor wenigen Tagen war Lina noch schwanger gewesen. Sie hatte erst spät davon erfahren und vor ihrer Entführung durch den Eiskrieger keine Möglichkeit mehr gehabt, William davon zu erzählen, dass sein größter Wunsch – ein Kind mit Lina zu bekommen – in Erfüllung gehen sollte. Als William es dann schließlich erfuhr, war er vor Begeisterung nicht mehr zu halten gewesen. Damals war Lina im dritten Monat schwanger gewesen. Die Zeit in Norok war rascher verstrichen und da die Helden von Alba dort lange festgesessen hatten, wuchs und gedieh das Kind in Linas Bauch schneller heran. Bei ihrer Rückkehr waren in Alba nur wenige Tage vergangen, doch Lina bereits im fünften Monat schwanger.

Während der Schlacht um die westliche Hauptstadt war das Kind bei einer Fehlgeburt gestorben und Meister Pillar hatte anschließend die schockierende Diagnose gestellt – Lina war nicht mehr dazu in der Lage, ein Kind zu gebären. Die Wunden der Fehlgeburt waren zu tief. Sie hatte es William vor ihrem Aufbruch nicht mehr sagen können. Er war fest davon überzeugt, Lina würde eines Tages sein Kind zur Welt bringen. Sie fürchtete sich davor, was er sagen oder tun könnte, wenn er die Wahrheit herausfände.

»Sir William liebt Euch, Herrin«, sagte Pillar ihre Gedanken erahnend, »er liebt Euch mehr als alles andere auf der Welt.«

»Er wünschte sich immer ein Kind, Meister Pillar«, erwiderte Lina, »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr!«

»Und Ihr glaubt, er könnte Euch verlassen, weil Ihr dieses Kind nicht länger zu gebären in der Lage seid?«

»Ich denke, er würde den Schmerz nicht ertragen, wenn er das wahre Ausmaß seiner Entscheidung erfährt!«

»Haltet Ihr ihn für so schwach?« Lina zog Schweigen der bitteren Wahrheit vor. »Seht mich an, Herrin! Sir William ist für Euch in die Unterwelt hinabgestiegen. Der Feind hat Eure Seele geraubt, um ihn in die Falle zu locken. Er gab sein Leben freiwillig, um das Eure zu retten. Und selbst als er dort unten gefangen war, die Seele Eures ungeborenen Kindes an seiner Seite, entschied er sich dazu, in das Leben zurückzukehren. Versteht Ihr, was das bedeutet?

Sir William entschied sich gegen das Kind und für Euch, weil er es nicht ertragen konnte, Euren Tod zu verantworten. Er entschied sich dazu, seinen größten Wunsch zu begraben, um wieder bei Euch sein zu können. Sir William liebt Euch, Herrin – nur Euch. Ich weiß nicht viel über die Liebe, da sie mir in all den Jahren meines Lebens nicht vergönnt war, doch womöglich reicht Sir Williams Liebe für Euch aus, um sein gebrochenes Herz trotz des Verlustes zu heilen.«

Lina bebte. Sie hasste es, einem anderen Menschen gegenüber Gefühle zu zeigen. Doch Meister Pillar war an ihrer Seite gewesen und hatte ihr beigestanden, als sie das Kind verlor. Er war nicht von ihrer Seite gewichen und hatte William geschworen, über sie zu wachen. Meister Pillar wusste, wie tief die Liebe zwischen William und Lina wurzelte. So fiel es Lina leichter, ehrlich mit ihrem Schmerz umzugehen.

»Eure Worte spenden mir Trost, Meister Pillar. Ihr seid ein wahrer Freund.«

»Doch reicht es nicht aus, die Last der Schuld von Euren Schultern zu nehmen.«

»Noch nicht!«

»Wart Ihr schon einmal in dieser Stadt?«, fragte der Meister, um das Thema zu wechseln. Wenn es ihm nicht gelang, Linas Schuldgefühle und die Angst zu mindern, so doch vielleicht sie auf andere Gedanken zu bringen.

»Einmal, denke ich, vor vielen Jahren. Ich war noch eine junge Amazone und es herrschte Krieg im Norden. Die Menschen drängten die Waldvölker immer weiter zurück, sodass diese sich eines Tages zur Wehr setzten. Die Menschen riefen mein Volk um Hilfe und wir erhörten den Ruf. Es war eine blutige Schlacht – meine erste Schlacht.«

»Lavi erzählte mir, die Amazonen mischen sich für gewöhnlich nicht in die Angelegenheiten der Menschen ein.«

»So ist es auch. Doch das Reich der Menschen grenzt im Norden an das unsere. Hätten die Waldvölker den Nordwesten für sich gewonnen, hätten wir einen wichtigen Handelspartner verloren.«

»Wie war es?«

»Was meint Ihr, Meister Pillar?«

»Das erste Mal zu töten?«

Lina blickte ihn kurz an, dann wandte sie sich wieder dem Geschehen an Land zu. Mit den Nägeln pulte sie das getrocknete Salz aus dem Holz. Sie erinnerte sich ungern daran. Eine Amazone wurde nur zu einem Zweck großgezogen – Kampf. Dies bedeutete eine harte Kindheit, voller Schmerz und Entbehrungen. Linas Kindheit war noch dazu um einiges härter gewesen, da sie eine Angehörige des Königinnenhauses war. Sie war dazu geboren, eines Tages den Thron der Amazonen zu besteigen. Hätte sie sich vor Jahren nicht dazu entschieden, mit William zu leben, wäre sie jetzt statt ihrer Schwester Leonia Königin.

Bereits in frühen Jahren wurde sie an das harte Leben einer Amazone herangeführt. Man lehrte sie mit Speer, Schwert und Bogen umzugehen, Folter zu ertragen, ohne mit der Wimper zu zucken, und jedweden Gefühlen der Menschen abzuschwören. Mit zwölf Jahren schickte ihre Mutter, die Amazonenkönigin, Lina in die Schlacht gegen die Waldvölker – eine Erfahrung, die Lina geprägt hatte.

»Es war ein heißer Morgen«, erzählte sie Meister Pillar. »Die Waldvölker hatten sich am oberen Kamm stationiert. Sie waren über uns und ihre Pfeile zerschlugen unsere Allianz binnen weniger Minuten. Ich saß auf meinem Pferd, in den hinteren Kampfreihen, und wartete auf den Befehl, los zu galoppieren und meine Feinde zu töten. Dazu hatte man mich ausgebildet. Ich war eine perfekte Waffe.

Als die Armeen aufeinander zurasten, schlug mein Herz so heftig, dass ich mich übergeben wollte. Ich hörte die Rufe meiner Schwestern um mich herum und das Beben der Erde unter den Hufen der Pferde ließ mich für einen kurzen Moment die Augen schließen. Als ich sie wieder öffnete, schnitt mein Schwert durch Fleisch und Knochen. Der Kampf dauerte nicht lange an. Wir mähten die Waldvölker nieder. Im Nahkampf waren sie den Amazonen unterlegen.«

»Das ist schrecklich!«, sagte Meister Pillar.

»Manchmal träume ich davon. Nach der Schlacht kam Mutter zu mir und schenkte mir ihren Segen. Sie war stolz auf mich. Da erkannte ich den wahren Grund, weshalb Amazonen ihre Herzen vor jedweden Gefühlen versperren. Nicht, weil die Liebe einen schwächt, sondern weil der Schmerz zu groß ist, den das Wissen, unschuldiges Blut vergossen zu haben, mit sich bringt.«

»Verzeiht, Herrin, ich bin heute kein guter Gesprächspartner. Ich erinnere Euch immerzu an Eure schmerzhafte Vergangenheit.«

»Es ist nicht Eure Schuld, Meister Pillar, es ist das Blut, das durch meine Adern fließt. Ich bin eine Amazone. Und das bedeutet, Schmerz zu erleiden.«

Der Tag dauerte bereits zu lange an. Edward fühlte sich ausgelaugt und sein gesamter Leib schmerzte. Die Kopfschmerzen, welche seine Schläfen pochen ließen, waren jedoch am schlimmsten. Seit Stunden saßen sie bereits an diesem Tisch zusammen. Zwar hatten sie endlich zu einer Einigung gefunden, jedoch machte diese die Situation, in der sie sich befanden, nicht gerade besser.

Sie verfügten einfach nicht über die Zeit, die Menschen aus dem Landesinneren an die Küste zu transportieren, um sie auf die Schiffe zu bringen. Also hatte Edward beschlossen, Boten in die Dörfer zu schicken, um die Menschen zu warnen. Sie mussten einen eigenen Weg in die Hauptstadt der Amazonen finden. Es war riskant und Edward wusste darum Bescheid, dass viele der Dorfbewohner das Amazonenreich niemals erreichen würden, aber er hatte einfach keine andere Wahl. Er war der König und es war an ihm allein, diese Entscheidung zu treffen.

»Majestät?«, sagte Glorial, ein Ratsherr aus dem Adel. Er war ein stämmiger Mann mittleren Alters, der sich seine Sporen im letzten Großen Krieg verdient hatte – soweit dies überhaupt möglich war, blendete der Gedächtniszauber des Schöpfers schließlich weiterhin ihre Erinnerungen. Der Ratsherr trug edle Kleidung, die Stiefel waren blitzsauber geputzt. Das feine Haar trug er kurz und das kantige Gesicht verlieh ihm das Aussehen eines Königs. »Majestät, habt Ihr gehört, was ich sagte?«

»Verzeiht, Glorial, ich war gerade in Gedanken!«

»Majestät, ich sagte, der Rat wird sich hinter Euch stellen und diese Entscheidung mit Euch tragen. Wir haben keine andere Wahl.«

»Doch riskieren wir den Tod weiterer Menschen«, sagte Yonda, der Mann von den Feuerinseln. Kurz vor dem Aufbruch aus der westlichen Hauptstadt war Yonda mit einer Flotte von den Feuerinseln in Alba eingetroffen und hatte Edward die Unterstützung Yiros, des Königs der Feuerinseln, angeboten. So besaßen sie nun genügend Schiffe, um den Großteil der Menschen Albas in Sicherheit zu bringen.

»Weitaus mehr Menschen sind bereits gestorben, mein Herr Yonda«, entgegnete Glorial. »Ihr wisst nicht, was geschehen ist. Der Winterzauber und der Angriff des Feindes haben vielen Menschen, im Osten wie im Westen, das Leben gekostet.«

»Und Ihr wisst es besser?«, meinte Yonda. »Wo wart Ihr, als der Feind seinen Schatten über die Reiche Albas warf? Ihr habt Euch versteckt, an diesem sicheren Ort.«

»Ihr wagt es!«, Glorial schlug mit der Faust auf den Tisch.

»MyLords«, Edward hob die Hand, um den beiden Einhalt zu gebieten. »Es stimmt, keiner von Euch erblickte das Grauen, welches die Reiche befiel. Jedoch trifft niemanden daran die Schuld außer mir. Ich schickte den Rat fort, da Alba ohne ihn nicht handlungsfähig ist. Und ich beschloss, nicht sofort Hilfe bei seiner Majestät Yiro zu suchen. Ich allein trage die Schuld am Tod all jener, die ihre Leben ließen.«

»Du trägst sie nicht allein, Edward!«, sagte Rabea, die mit trüben Augen neben ihm saß. Die Weise hatte überhaupt erst den Winterzauber gewirkt, der die westliche Hauptstadt befallen hatte, und es war ihre Armee gewesen, die sie angegriffen hatte. Doch war sie damals nicht die Weise des Winters gewesen, sondern die Eishexe, die, geblendet von der Wut auf ihre Schwestern, nach Rache gierte. William hatte ihr Herz von der Kälte der Dunkelheit befreit und nun war sie wieder die Weise des Winters. »Wir alle haben Menschen verloren, die wir liebten.«

Edward hatte sie beinahe alle verloren. Rachel war zum Spielball des Feindes geworden, um William in die Unterwelt zu locken. Sie war unschuldig gewesen und dennoch hatte der Zauberer Thorne sie missbraucht, um Sonaht die Rückkehr nach Alba zu ermöglichen. Lavi, die Frau, die er ebenfalls so sehr liebte wie Rachel, gab ihr Leben im Kampf gegen den Feind, als sie versuchte, Edward zu beschützen. Sein Bruder Gabriel, von dem er erst vor wenigen Tagen erfahren hatte, nachdem Edward das Wasser der Erinnerung zu sich genommen und damit den Gedächtniszauber des Schöpfers gebrochen hatte, der ihn all seiner Erinnerungen an seinen Bruder beraubte, war im letzten Großen Krieg zum Schöpfer geworden, um Edward vor dem Tod zu bewahren. Gabriel hatte die alte Welt untergehen lassen, um eine neue Welt zu erschaffen. Es sollte eine bessere Welt sein, in der seine Freunde in Frieden leben konnten.

So viele Menschen, die er liebte, hatte Edward bereits verloren. Die Schuldgefühle fraßen ihn Stück für Stück auf. Er vermisste seinen Bruder, den er fünf Jahre lang vergessen hatte. Und er vermisste Lavi, die ihm eine gute Freundin gewesen war. Rachel aber, die Frau, die er über alles auf der Welt geliebt hatte, vermisste er am meisten.

»Wenn ich einen anderen Weg sähe, um die Dorfbewohner rechtzeitig an die Küste zu bringen, würde ich ihn bestreiten«, sagte Edward, »aber ich sehe ihn nicht. Und Ihr ebenso wenig, sonst hättet Ihr ihn mir bereits aufgezeigt. Ich weiß, dass viele das Amazonenreich nicht erreichen werden, aber ich bete zum Schöpfer, dass er sie auf ihrem Weg begleiten möge.«

»Wir sollten ebenfalls bald aufbrechen!«, riet Rabea. »Die Dunkelheit gewinnt an Stärke. Ich kann es spüren. Sie rückt näher.«

»Ich habe bereits Befehl gegeben, die Stadt zu evakuieren, Majestät«, sagte Glorial, »aber es wird einige Stunden dauern, bis alle Bewohner die Stadt verlassen und wir sie auf die Schiffe gebracht haben.«

»Ich werde bei ihnen sein. Sie sollen sehen, dass ihr König sie nicht vergessen hat!«

Leonia stieg über die Reling an Bord und überquerte das Schiff mit eiligen Schritten, auf dem Weg zur Kapitänskajüte, die ihre Schwester bewohnte. Amazonen hielten sich nicht gerne auf Schiffen auf. Ihre natürliche Umgebung war das Land. Auf dem Rücken eines Pferdes konnten sie Wunder vollbringen. An Bord eines Schiffes hingegen, der unkontrollierbaren Stimmung des Meeres ausgeliefert, fühlten sie sich jeglicher Kontrolle beraubt.

Die Kajüte lag in dunklen Schatten verborgen. Durch das schmutzige Glasfenster fielen nur wenige Sonnenstrahlen und die Kerzen, welche quer durch den Raum verteilt waren, spendeten nur mattes Licht, das kaum die vielen Ecken und Winkel des Raumes zu erhellen vermochte. Lina saß auf einem Hocker, das Schwert auf ihrem Schoss polierend. Sie sah nur kurz auf, als Leonia eintrat und die Tür hinter sich schloss, dann wandte sie sich wieder der Arbeit zu. Es war ihr deutlich anzusehen, wie gerne sie das Schwert erheben und auf alles in der Nähe einschlagen wollte. Leonia durchquerte den Raum und baute sich vor Lina auf.

»Was ist mit dir los, Schwester?«, verlangte sie zu erfahren. Lina reagierte nicht, strich fest und gleichzeitig bedacht über die Klinge. »Der alte Mann hat mir erzählt, dass er mit dir gesprochen hat.«

Lina hielt einen kurzen Augenblick inne. Ihre Augen blitzten unmerklich auf ob der plötzlich auftretenden Wut, die sie wegen Meister Pillars Verrat empfand. Sie hatte gedacht, im Vertrauen mit dem Meister sprechen zu können. In den letzten Monaten, die sie in Norok verbracht hatte, hatte sie ihn besser kennengelernt. Dass er gleich in der nächsten Sekunde zu Leonia laufen und ihr von dem Gespräch zwischen ihnen berichten würde, hatte sie nicht erwartet.

Andererseits war Leonia Linas Schwester – wenn auch nicht vom selben Blut. Blutsbande bedeuteten für Amazonen nicht viel. Eine Familie entstand im Kampf und durch die Aufnahme in eines der führenden Häuser. Leonia und Lina teilten zwar nicht dieselbe Mutter, so aber doch denselben Vater. Leonia war einige Jahre nach Lina zur Welt gekommen. Ilira, ihre Ziehmutter, hatte sie aufgenommen und großgezogen. So waren die beiden Schwestern Mitglieder des Königinnenhauses geworden. Starb die amtierende Königin, wählten die Amazonen im Rat eine neue Königin. Noch nie wurde eine Amazone erwählt, die nicht Mitglied des Königinnenhauses gewesen war. Lina hätte das Vorrecht besessen. Die Tatsache, dass sie ihr Volk bereits vor Jahren verließ, um mit William zusammen zu sein, hatte jedoch bewirkt, dass die Amazonen Leonia zur Königin bestimmten.

Meister Pillar wusste darum Bescheid. Und er wusste auch, dass Lina nicht vielen Menschen auf der Welt vertraute – William, Zac, Tiny und Leonia. Sie waren Linas Familie und ihnen vertraute sie bedingungslos. Meister Pillar hätte Leonia bestimmt nicht von dem Gespräch mit Lina erzählt, wenn er nicht mit Sicherheit gewusst hätte, dass es Lina schlecht ging und Leonia die einzige ihrer Vertrauten war, die greifbar war, um mit ihr darüber zu sprechen. So legte sich Linas Wut und sie hielt in der Arbeit am Schwert inne, um zu Leonia aufzusehen.

»Möchtest du dich setzen, Schwester?«, fragte Lina. Leonia zog einen Hocker heran und setzte sich ihrer Schwester gegenüber.

»Wie oft habe ich dir bereits gesagt, du sollst deinen Kummer nicht still ertragen? Ich bin hier, Lina. Du kannst dich mir immer anvertrauen.«

»Es gibt Dinge, über die ich mit dir nicht sprechen kann, Leonia.«

»Weil du anders über sie denkst als ich?«, Leonia nahm Lina das Schwert aus der Hand und betrachtete es prüfend.

»Wenn ich dir jetzt sage, dass ich William zu verlieren fürchte, weil ich nicht länger schwanger werden kann – würdest du es verstehen?«

Leonia stellte das Schwert gegen den Hocker und lehnte sich Lina entgegen.

»Ich würde sagen, ich verstehe, was du fühlst, wenngleich ich dieses Gefühl nicht nachempfinden kann, weil ich eine wahrhaftige Amazone bin, die derartige Gefühle nicht kennt. Ich würde sagen, ich weiß, wie es dir damit ergeht, weil ich dich kenne.

All die Jahre hast du deine Gefühle vor der Welt verborgen, weil du eine Amazone bist. Mutter hat uns gelehrt, was es bedeutet, Gefühle zu empfinden. Sie lehrte uns, Gefühle machten uns schwächer, würden uns ablenken im Kampf. Sie war eine große Amazone, jedoch blind gegenüber der Wahrheit. Ich aber erkenne sie.

Lina, die Angst schwächt dich nicht, sie macht dich stärker. Gerade weil du Gefühle empfindest, bist du die stärkste von uns. Die Gefühle, die dein Herz dermaßen mit Schmerz erfüllen, lassen dich umso erbitterter um William kämpfen. Sie unterscheiden dich von mir und den anderen Amazonen, aber sie machen dich auch besonders. Und jetzt frage ich dich, Schwester, denkst du wirklich, William würde dich deshalb verlassen?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Lina. Sie fühlte sich hoffnungslos verloren. »Er hat sich immer ein Kind gewünscht, all die Jahre, die ich ihn nun bereits kenne. Und er wünscht sich dieses Kind nur mit mir. Ich aber kann ihm seinen Wunsch nicht länger erfüllen, Leonia.«

»Lina, er hat die Seele des Kindes freiwillig gegen die deine getauscht!«

»Weil er glaubte, für immer bei unserer ungeborenen Tochter sein zu können.«

»Weil er glaubte, dich dadurch retten zu können!«, hielt Leonia entgegen. »William hat seinen Wunsch begraben, um dich zu retten, Lina. Lieber verlor er das Kind als dich. Und noch mehr: Du bist alles, das er für sein Glück benötigt. Seine Liebe zu dir hat ihn aus der Unterwelt wiederkehren lassen. Und jetzt blicke mir in die Augen und sage mir, dass er dich verlassen würde, wenn er es erfährt!«

Lina atmete tief ein. Etwas Ähnliches hatte auch Meister Pillar gesagt. Woran lag es, dass alle Williams Liebe zu Lina erkannten, nur sie selbst nicht? Lina schloss die Augen und ließ den Kopf hängen.

»Schwester, was ist nur los mit dir?«

»Ich weiß es nicht, Leonia.« Lina ließ sich in die Arme ihrer Schwester fallen, dann begann sie zu weinen. »Kann es sein, dass nicht William das Kind als Bedingung eurer Liebe ansieht, sondern du?« Lina schluchzte. »Du hast dir das Kind ebenso sehr gewünscht wie William, nicht wahr?«

Lina löste die Umarmung und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Doch schon in der nächsten Sekunde, mit einem tiefen Schluchzen, brach der nächste Tränenschwall los und flutete Linas wunderschönes Gesicht.

»Anfangs wollte ich kein Kind«, brachte sie stotternd hervor, »doch als ich es unter meinem Herzen trug, lernte ich es lieben. Ich wünschte so sehr, ich hätte es nicht verloren!«

»Lina, so zu empfinden ist menschlich!«, sagte Leonia, in der Hoffnung, ihr irgendwie über den Schmerz hinweghelfen zu können.

»Wir sind aber keine Menschen, sondern Amazonen.«

»Dennoch sind wir Menschen, auf eine gewisse Art, Lina.«

»William ist alles, das mir geblieben ist!«

Leonia zog Lina erneut in die Arme. »Ich bin dir ebenfalls geblieben, Schwester, und deine Freunde auch.«

Plötzlich geriet das Schiff ins Wanken und die Kajüte schien zu kippen. Dann fand das Schiff wieder zur Balance und Leonia und Lina blickten einander an.

»Was war das?«, fragte Leonia. Sie erhob sich von dem Hocker und ging zum Fenster, um hinauszusehen. Alles war ruhig. Dann war ein Dröhnen zu hören. Nun sprang auch Lina auf und begab sich, nach dem Schwert greifend, zum Fenster.

»Schwester, was geht dort draußen vor sich?«

»Ich weiß es nicht!«

Leonia war sofort an der Tür. Sie zog das Schwert und signalisierte Lina, in der Kajüte zu bleiben.

»Ich komme mit dir«, sagte Lina ernst.

»Du bist noch zu schwach. Bleib hier – das ist ein Befehl!«

»Du kannst mir nichts befehlen, Leonia, ich bin keine Amazone mehr!« Lina wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und marschierte, an Leonia vorbei, an Deck.

Die Schiffsbesatzung hatte sich an der Reling versammelt. Ihre Augen, schreckerstarrt aufgerissen, waren auf die Küste gerichtet, an der Panik ausbrach. Die Erde bebte und sogar der die Stadt Nefork umgebende Wald geriet in Schwingungen. Die hochgewachsenen Bäume bogen sich von einer Seite auf die andere. Vögel stiegen aus den Kronen auf und der Himmel begann sich zu verdunkeln.

Am Ufer wurden Rufe laut. Die Soldaten riefen einander Befehle zu. Reiter sattelten auf und begaben sich in rasendem Galopp in die Stadt, wo der König und der Adelsrat tagten. Ein Donnergrollen ließ die Erde umso heftiger beben. Wellen schlugen gegen das Schiff und Lina geriet ins Wanken. Leonia fasste sie noch rechtzeitig am Arm, sonst hätte das Kippen des Schiffes Lina zu Fall gebracht.

»Du solltest besser hineingehen, Lina!«, sagte Leonia in harschem Ton. Sie funkelten einander zornig an, als wollten sie sich an Entschlossenheit messen. Dann riss sich Lina von ihrer Schwester los und kämpfte sich durch die versammelten Männer an die Reling.

»Was geschieht da?«, fragte sie.

»Wir wissen es nicht, Herrin!«, sagte einer. »Das weiß nur der Schöpfer, Herrin!«, sagte ein anderer.

»Lina!«, hörte sie Leonia eindringlicher rufen, aber sie beachtete ihre Schwester nicht.

Dann schlug ein Blitz mitten im Wald ein und ließ die Zeit für einen kurzen Moment stillstehen. Nichts rührte sich. Lina konnte nur ihr eigenes Herz in der Brust schlagen hören, ansonsten war es mucksmäuschenstill.

Mit einem Mal begann der dichte Wald sich zu spalten. Keine Sekunde später schoss das Wild hervor und eilte auf das Ufer zu, denn dahinter tat sich die Erde zu einem großen Spalt auf, welcher alles herum zu verschlingen begann. Binnen weniger Sekunden erreichte der Spalt Nefork. Die Stadtmauer wurde entzweigerissen, als wäre sie aus Papier errichtet worden. Erneut wurden Rufe laut, die von flehendem Geschrei durchbrochen wurden.

Lina umfasste die Reling, als eine weitere Welle das Schiff schwanken ließ. Die Männer begannen sich an Deck zurückzuziehen, als könnten sie vor dem sich immer weiter auftuenden Spalt fliehen. Blitze schlugen überall an der Küste ein. Männer wurden von den Pferden geschleudert, Menschen liefen ziellos umher, wollten sich in Sicherheit bringen.

»Lina, verdammt!«, fluchte Leonia, als sie ihre Schwester endlich erreichte.

»Wir müssen ihnen helfen!«, rief Lina.

»Und wie?«

»Wir müssen sie auf die Schiffe holen«, Lina sah sich um. »Männer, bemannt die Boote.«

»Die Boote befinden sich allesamt an Land, Herrin«, kam sofort die Schreckensnachricht.

»Lina, wir können ihnen nicht helfen. Sie können nur Schutz suchen!«

Als Lina sich verzweifelt wieder der Küste zuwandte, sah sie, wie eine Gruppe Reiter das Stadttor verließ und auf die an der Küste versammelten Boote zusteuerte. Dahinter grub sich der Spalt durch die Erde immer weiter durch die Stadt, bis das Torhaus in sich zusammenbrach und die fliehenden Menschen unter sich begrub.

Die Reiter schlugen auf ihre Pferde ein, als gäbe es kein Halten mehr. Nun erkannte Lina, dass Edward an der Spitze der Formation ritt, gefolgt von Adligen und Angehörigen des Feuervolkes. Sie hatten die Boote beinahe erreicht, als ein Blitz in der Sammelstelle einschlug und die Boote in Stücke riss.

Die Pferde bäumten sich auf und warfen beinahe die Reiter ab. Edward gab den Befehl zu wenden und die Reiter folgten ihm. Ohne sich umzusehen, rasten sie über die Küste hinweg. Dort begann der Spalt bereits das Meer zu verschlingen.

»Setzt Segel!«

»Aber Herrin, der Kapitän ist noch an Land«, sagte einer der Offiziere.

»Was auch immer das ist, es kommt auf uns zu. Wollt ihr kampflos sterben?«, fuhr Lina den Mann an. Einige Männer nickten zustimmend und machten sich an die Arbeit.

Der Spalt erreichte die ersten Schiffe, als über Linas Kopf sich die Segel mit Wind zu füllen begannen. Einer der Offiziere übernahm das Ruder und drehte es so schnell er konnte, um das Schiff zu wenden. Ehe der Spalt auch die Pollux verschlang, gelang ihnen die Flucht. Die drei Schiffe dahinter wurden unter Wasser gezogen. Auf der anderen Seite des Spalts konnte Lina die Castor Segel setzen sehen. Auch ihr gelang die Flucht.

Dann beruhigte sich die Erde wieder und die Wolken, welche den Himmel in ein dunkles Schwarz verwandelt hatten, lösten sich auf. Beinahe war es so, als wäre überhaupt nichts geschehen. Doch an Land herrschte weiterhin Chaos.

»Das war Sonaht!«, keuchte Lina, sich an der Reling festhaltend.

»Wie kannst du dir da sicher sein?«

»Alba steht nicht länger auf unserer Seite.«

»Aber Lina, Sonaht könnte nie …«

»Er ist ein Gott, Leonia, seine Macht übersteigt alles, das wir uns vorstellen können. Er hat uns angegriffen und beinahe mit einem einzigen Schlag vernichtet.«

»Was sollen wir jetzt tun, Herrin?«, der oberste Offizier an Deck trat an die beiden heran.

Leonia sah sich um, dann suchte sie an Land nach Edward.

»Segelt so nah an die Küste heran, wie ihr könnt. Dann seht zu, dass ihr an Land kommt. Die Menschen an der Küste und jene in der Stadt benötigen unsere Hilfe. Macht euch an die Arbeit!«

»Wir müssen Edward in Sicherheit bringen«, meinte Lina, »er ist der König. Ohne ihn ist Alba nahezu handlungsunfähig.«

»Da stimme ich dir zu!«

Das Hauptsegel drehte und blähte sich im Wind. Das Schiff ruckelte kurz, als die Segel erneut Wind fassten und das Schiff zurück zur Küste trugen. Allzu nahe heran konnten sie nicht segeln, da das Wasser rasch seichter wurde. Aber sie durften keine Zeit verlieren. Die meisten Boote wurden von dem Blitz vernichtet und so wie Lina es einschätzte, die Hälfte der Schiffe von der Erde verschlungen. Sie mussten sich beeilen, sonst saßen sie in Nefork fest.

VIER:

RÜCKKEHR ZUR KATHEDRALE DES GLAUBENS

Im Wald war es düster. William verstand nicht, weshalb Pan sie nicht direkt zur Kathedrale brachte. Wahrscheinlich lag es daran, dass selbst dem Hirten des Waldes der Zutritt allein vom Schöpfer gewährt wurde. Und was William bereits wusste – es war nicht die Kathedrale des Glaubens, die die heilige Kraft der Schöpfung in sich trug, sondern der Weg zu ihr. Nach seiner Rückkehr aus Norok, war er den Weg gemeinsam mit Rabea gegangen. Damals war ihm der Wald ebenfalls düster erschienen und ihm war ein ähnlicher kalter Schauer über den Rücken gelaufen wie jetzt.

Pan ging still vor William her. Seit ihrer Ankunft am oberen Rand des Kraters hatten sie kein Wort mehr gewechselt. Die letzten Tage hatten allen Helden wie auch ihren Verbündeten zugesetzt. Selbst an einem so erhabenen Wesen wie Pan ging dies nicht spurlos vorüber. William fragte sich, worüber Pan wohl nachdachte. Die Schritte des Hirten waren träge und jedes Mal, wenn er einen Fuß vor den anderen setzte, verwurzelte er sich für einen kurzen, kaum wahrzunehmenden Augenblick mit dem heiligen Boden. Pans Atem ging schwer und William hatte das Gefühl, dass Pan von einer Art Krankheit befallen war. Seine ohnehin graue Haut, die das Antlitz eines alten Birkenbaumes besaß, wirkte matt und brüchig. William sah sich um. Wie Pan schien auch der Wald um ihn herum von einer Krankheit befallen zu sein.

Als sie die Richtung wechselten, schloss William zu Pan auf und ging ein Stückweit still neben dem Hirten her. Die Bäume begannen sich immer enger um sie zu schließen und mit jedem Schritt drang weniger Licht durch die hohen Kronen. Der Boden wurde weicher, weshalb Williams Stiefel tiefe Abdrücke hinterließen. Als er sich umwandte, verschwanden die Spuren zunehmend im Schatten des Waldes.

»Pan, was ist das?«, fragte er. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Williams Herz begann schneller zu schlagen und sein Atem wurde an der freien Luft sichtbar.

»Ich spüre es ebenfalls. Der Wald verändert sich. Er ist krank. Die Weise der Natur ist gefallen.«

»Du meinst, Serafina ist tot?«, er hielt abrupt an. Einige Schritte später hielt Pan ebenfalls an.

»Der Feind hat ihr die Magie geraubt. Die Weise ist nicht mehr!«

»Was bedeutet das«, wollte William erfahren. »Ich meine, für uns?«

Pan drehte sich ihm zu. Sein Gesicht wirkte ernst.

»Es bedeutet, dass die Dunkelheit selbst an einem heiligen Ort wie diesem erstarkt.«

»Du meinst, weil der Feind Serafinas Magie besitzt?«

»Das auch«, Pan bedeutete William weiterzugehen, »aber vor allem ist die Dunkelheit in diesem Wald seit jeher mächtig.«

»Ich dachte, das Tal sei der Schöpfung geweiht«, meinte William. Pan beschleunigte das Tempo, weshalb William alle Mühe hatte schrittzuhalten.

»An diesem Ort herrscht die Magie der Worte. Wie du ja weißt, besteht sie aus beiden Mächten der Symbiose. Deshalb existiert an diesem Ort sowohl die Dunkelheit als auch das Licht. Der Wald ist seit jeher düster, während die Kathedrale im Licht der Schöpfung erstrahlt. Erinnerst du dich an die letzte Schlacht um Alba vor fünf Jahren?«

»Natürlich!« William hatte als Darken die Armee der Dunkelheit angeführt. Es war ihnen gelungen, die Mauern der Kathedrale des Glaubens niederzureißen. Und beinahe hatte der Mutzler gesiegt. Allein Williams Liebe zu Lina hatte ihn von der Dunkelheit des Feindes befreit. Er hatte sich gegen den Mutzler gestellt und war gestorben. Durch Williams Opfer war Gabriel genug Zeit geschenkt gewesen, die Magie der Worte neu zu ordnen und eine neue Welt zu erschaffen, in der der Feind nicht länger existierte. Zumindest hatten sie das angenommen. Denn vor drei Monaten waren sie eines Besseren belehrt worden. Der Feind war nach Alba zurückkehrt und nun besaß er eine neue Gestalt. Er war mächtiger denn je zuvor. Hier im Wald vernahm William seine Macht sehr deutlich.

»Du hast die Dämonen aus den Bäumen gerufen. Sie verstecken sich hier, denn an diesem Ort fand die erste Schlacht zwischen dem Licht und der Dunkelheit statt. Hier hat alles begonnen. An diesem Ort hast du, William, den Feind zum ersten Mal besiegt. Deshalb ist die Dunkelheit im Wald zur Kathedrale so mächtig. Die Dämonen erstarken von Neuem. Sie warten auf den Ruf ihres Meisters. Schon bald werden sie sich erheben.«

»Ich spüre ihren Sog!«, William atmete schwer. Pan verlangsamte das Tempo ein wenig, als er es bemerkte, und ließ William wieder an Distanz aufholen.

»Du dachtest, Darken sei dir vom Feind genommen worden.«

»Du weißt es? Hast du mein Gespräch mit George belauscht?«

»Nein, ich lauschte nicht, doch war deine Stimme im gesamten Tal zu vernehmen. Ich hörte, was du sagtest. Aber Darken ist noch in dir. Zwar ist er sehr schwach, aber die Dunkelheit kann dir nicht genommen werden – nicht einmal vom Feind. Darken ist ein Teil von dir. Er wird sich erholen.

Die Dämonen spüren ihn ebenfalls, rufen nach ihm. Sie haben seine Macht nicht vergessen und sehnen sich nach seiner Führung. Sie sehnen sich nach dir, William.«

Er hielt die Luft an, wusste nicht, was er sagen sollte.

»Sorge dich nicht, William. Du bist weder gut noch böse. Das weißt du. Darken mag erneut erstarken, aber du stehst in Symbiose mit ihm. Nicht er entscheidet, wer du bist, sondern du allein.«

»Danke, Pan, für deine Worte. Dennoch mache ich mir Sorgen.«

»Die kommenden Tage werden lang. Womöglich sind es die letzten Tage eines freien Alba. Ich kann es nicht sagen. Du genauso wenig. Womöglich weiß es nicht einmal Gabriel. Aber er weiß mehr als wir. Deshalb müssen wir ein weiteres Mal mit ihm sprechen. Er hat etwas vor dir verborgen. Nun ist die Zeit gekommen, es dir zu offenbaren.«

»Er hat etwas vor mir verborgen?«, William blickte verwirrt drein. »Was meinst du damit?«

»Das muss dir der Schöpfer selbst verraten. Es steht mir nicht zu. Komm, William, es ist nicht mehr weit.«