Die Magie der Worte - Manuel Rotter - E-Book

Die Magie der Worte E-Book

Manuel Rotter

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Beschreibung

Die Brüder Edward und Gabriel Deagen kämpfen gemeinsam mit ihrem Freund Alec auf den Straßen Londons um ihr Überleben. Als Edward in einem Buchladen der Fee Tiny und ihren Gefährten begegnet, die ihm erzählen, dass die Brüder Teil einer uralten Prophezeiung sind, machen sie sich auf in die magische Welt Alba. Dort hat der Mutzler die Kontrolle übernommen und droht, alles Leben im Multiversum zu vernichten. Um dies zu verhindern, schließen sich die Brüder dem Widerstand um den Waldhirten Pan an. Sie müssen das Buch der Worte finden, in dem die Geschichte aller Welten des Multiversums geschrieben steht. Gejagt von Darken, dem Diener des Mutzlers, suchen sie nach einer Lösung, den Sieg des Bösen aufzuhalten und die Geschichte im Buch der Worte zum Guten zu wenden.

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Inhalt

Eins: St. Peter's Waisenhaus

Zwei: Ein Gesicht zwischen Büchern

Drei: Über den Wolken

Vier: Pan

Fünf: Darken

Sechs: Eine Frage der Zeit

Sieben: Zweifel

Acht: Irrlichter

Neun: Das Herz der Dunkelheit

Zehn: Licht und Dunkelheit

Elf: Der Weltenbaum

Zwölf: Das zweite Gesicht

Dreizehn: Das Buch der Worte

Vierzehn: Die Stille vor dem Sturm

Fünfzehn: Die Schlacht um Alba

Sechzehn: Eine neue Welt

Epilog

Lina

EINS: ST. PETER'S WAISENHAUS

Wenn ich Euch jetzt Geschichten von fliegenden Drachen und edlen Rittern in Rüstungen erzählte, würdet Ihr sie mir wohl nicht glauben. Ja, Ihr würdet sogar so weit gehen, mich einen Narren und Lügner zu heißen. Aber wenn ich in all den Jahren, in denen ich durch die vielen Länder und Dimensionen gereist bin, eines gelernt habe, dann jene eine Wahrheit, dass an jeder Geschichte, sei sie noch so abwegig, etwas Wahres dran ist.

Ich habe viele Geschichten gehört und selbst erzählt. Viele von ihnen waren die Rede kaum wert und andere wiederum waren so seltsam eigenartig gewesen, dass ich sie selbst kaum glauben wollte. Geschichten von Elfen und Feen, Kobolden und Geistern. Es sind wundervolle Geschichten. Ich meine die abwegigen, die man kaum glauben kann. Weil sie uns auf eine bestimmte Art und Weise zeigen, wie das Leben sein könnte. In der Phantasie entdecken wir einen Pfad, der uns fortführt von unserem trägen Alltag, direkt hinein in eine Welt voller Wunder und Mythen, von denen wir tief in unserem Herzen hoffen, dass sie am Ende doch wahr sind.

Besonders viel Freude bereitet es mir, die lächelnden Gesichter der Kinder zu sehen, wenn ich ihnen von Drachen und Rittern erzähle, von heldenhaften Abenteurern und wagemutigen Helden, die sich, ohne zu zögern, in die gefährlichsten Situationen stürzen, um jene Menschen zu beschützen, die sie lieben. Es sind die besonderen Geschichten, von denen man einfach weiß, dass sie wahr sind. Jene Geschichten, die unsere Herzen schneller schlagen lassen, die wir nahezu vor unseren Augen zum Leben erwachen sehen, wenn die Worte gesprochen und die Zeilen geschrieben sind.

Lasst mich Euch also eine Geschichte erzählen, die genau das bei Euch bewirken wird. Sie wird Euch in Staunen versetzen und Ihr werdet mich anflehen, nie mit dem Erzählen aufzuhören, selbst wenn wir das Ende der Geschichte bereits erreicht haben.

Unsere Geschichte beginnt an einem regnerischen Herbsttag im Herzen Londons. Die Straßen waren geflutet und dünne Nebelschwaden krochen durch die engen Gassen und Winkel dieser wunderhaften Stadt, über deren Dächern bereits viele einzigartige Dinge geschehen waren. Es war ein Tag spät im Oktober, kurz bevor es kalt und verschneit wurde. Schnaubende Pferde zogen edle Kutschen über den Pflasterstein und Mütter zerrten ihre Kinder hinter sich her, darauf bedacht, nicht zu sehr nass zu werden. Die Kinder wehrten sich und jaulten, sie wollten doch nur noch eine halbe Stunde im Regen spielen. Ihre Kleider waren bereits so stark durchnässt, dass man die Krägen der Hemden grau vorfand.

Ein Laden nach dem anderen schloss seine Pforten. Der Bäcker drehte das Schild im Schaufenster um, er hatte nun den wohlverdienten Feierabend erreicht. Natürlich war dies nur eine Ausrede, um eine Stunde früher in seine Stammkneipe einzukehren. Dort wurden auch schon seit Stunden überschäumende Bierkrüge über die Theke geschoben und Männer riefen den Musikern zu, sie sollen doch endlich aufspielen.

Auch der Schneider an der nächsten Straßenecke zählte bereits die Sekunden bis vier Uhr. Dann könnte auch er schließen und sich zu seinem Bäckerfreund gesellen. Wie viele Stunden die beiden schon im Rausch der Freundschaft verbracht haben, kann ich kaum sagen, aber es waren viele durchzechte Nächte und noch längere Tage, da sie verschlafen in ihren Läden hockten und auf Kundschaft warteten.

Das liebe ich so sehr an dieser prächtigen Stadt. Egal, wie arm die Leute sind oder wie müde vom eifrigen Tagwerk, sie sind nie zu faul, um in ihre Kneipen einzukehren, zu jauchzen und zu frohlocken, zu jubeln und zu tanzen. Die Freude konnte man ihnen niemals aus ihren laut vor Glück schlagenden Herzen stehlen. Und Gott verdamme mich, wenn ich es wagen sollte, anders über sie zu berichten. Jawohl, der Bäcker und sein Freund, der Schneider, waren wahrhaftige Helden dieser Stadt.

Natürlich gab es auch traurige Momente. Wenn die Nächte einkehrten und die Schornsteine nicht zu qualmen aufhörten, wenn das Dröhnen der schlotternden Maschinen in den Fabriken die Stille durchbrach, während die jüngsten unter uns nach der langen Schulzeit zur Arbeit eintrafen, um ihren Familien den einen oder anderen Penny mehr im Monat zu leisten. Dies waren die traurigen Geschichten, von denen ich nicht gerne erzähle, die aber nichtsdestotrotz wahr sind.

Unsere Geschichte aber handelt fernab von diesen Fabriken, ein paar Straßenecken weiter. Vor der Auslage eines modrigen Buchladens stand Edward Deagen – alle nannten ihn stets nur Eddie – breitbeinig und vor dem Regen ungeschützt vor der Auslage und starrte in die Welt dahinter, in der sich meterhoch Regale erhoben, bestellt mit den dicksten und schönsten Büchern der Welt. Eddie liebte Bücher über alles, auch wenn er selbst nicht lesen konnte. Er war ein junger Knabe von gerade einmal zehn Jahren, der gemeinsam mit seinem älteren Bruder Gabriel im St. Peter's Waisenhaus lebte. Wenn ich behaupte, Eddie liebte Bücher mehr als sein eigenes Leben, es wäre noch maßlos untertrieben. Jawohl, Edward Deagen liebte Bücher, dies ließ sich nicht bestreiten. Allein der Geruch frischgedruckten Papiers bescherte ihm ein breites Lächeln am noch so kältesten Tag des Jahres.

Sein Bruder Gabriel war da ganz anders gestrickt. Er war sieben Jahre älter und arbeitete in einer Schuhfabrik auf der anderen Seite der Stadt. Er hatte nicht viel übrig für Bücher, erwähnte dies aber nie vor seinem jüngeren Bruder, da er wusste, wie wichtig sie Eddie waren. Gabriel aber mochte Geschichten. Geschichten aller Art. Er besaß sogar ein großes Talent, selbst welche zu erzählen. So hielt er es täglich. Abends vor dem Schlafengehen, wenn er Eddie ins Bett brachte und fest zudeckte, erzählte er dem kleinen Jungen sagenumwobene Geschichten von Rittern hoch zu Ross, die edle Ladys vor grässlichen Kreaturen und Hexen retteten. Gabriels Talent war dieser Tage selten geworden. Kaum noch jemand hatte etwas für gute Geschichten übrig. Eddie aber liebte die Geschichten seines Bruders. Er lauschte ihnen, merkte sich jedes Wort und prägte sie sich gut ein. Und wenn Gabriel zur Arbeit ging, erzählte Eddie die Geschichten weiter.

Hinter dem Fensterglas erblickte Eddie ein junges Mädchen, das Seite für Seite umschlug und seine Mutter anflehte, das Buch kaufen zu dürfen. Der Einband war mit goldenen Streifen durchzogen und der Titel in seltsam verzerrten Lettern gehalten. Eddie fragte sich, was wohl hinter dem Einband darauf wartete, gelesen zu werden.

Die Mutter zögerte kurz und ließ die Hand in die Tasche gleiten, als wollte sie das nötige Geld zusammensuchen. Ihre Kleider waren abgetragen und wie Eddie sich wohl dachte, arbeitete sie in einem der höheren Haushalte, wusch Wäsche und säuberte Treppenhäuser. Eddie empfand Mitleid mit dem kleinen Mädchen. Wie auch er schien sie Bücher und die in ihnen verborgenen Geschichten zu lieben. Am liebsten wäre er in den Laden gestürmt und hätte die Mutter des Mädchens selbst darum angefleht, das Buch zu kaufen.

Als das Mädchen zu weinen begann, kniete sich seine Mutter zu ihm hinunter und nahm es in den Arm. Die Frau drehte das Buch in den Händen und nickte schließlich zustimmend. Die Mutter konnte es nicht sehen, wenn die Tochter weinte. Egal, wie viel es kostete, sie wollte das Mädchen glücklich sehen. Also kaufte die Frau das Buch, und als sie aus dem Laden kamen, blickte das Mädchen Eddie direkt in seine kastanienbraunen Augen. In den ihren loderte ein Feuer, das Eddie nur zu gut kannte. Er hatte es schon oft gesehen. Seinem Bruder Gabriel loderte dasselbe Feuer in den Augen, wenn er begann, Geschichten zu erzählen.

Die Herzen der Kinder sind so rein, dass es mich jedes Mal im tiefsten Winkel meines Herzens berührt. Sie tragen keine Sorgen in sich oder Furcht vor dem, was das Leben einem abverlangte, wenn man auch nur eine Sekunde unachtsam war. Sie glauben noch an die schönen Dinge dieser Welt. Während ein Erwachsener beim Wort Kobold schon die Nase rümpft und zum verbalen Gegenschlag ausholt, möchte ein Kind mehr über dieses fabelhafte Wesen erfahren und selbst nach ihm suchen. Die Herzen der Kinder sind rein wie Sternenglas. Nichts vermag ihre gute Laune zu trüben oder ihre unbezwingbare Überzeugung in der Luft zu zerschlagen.

»Da bist du ja!«

Eddie wirbelte herum. Gabriel stand zornig vor ihm und packte ihn an der Schulter.

»Ich habe schon überall nach dir gesucht. Du weißt, wir sollen bei diesem Wetter nicht draußen herumlaufen. Wenn die alte Berta uns erwischt, sind wir dran. Dann war's das für uns, Eddie. Die hängt uns oben am Dachboden zum Trocknen an einen rostigen Haken und macht ein Feuer unter uns, damit wir dann zum Abendessen auch schön gar sind! «

Die alte Berta war die Leiterin des Waisenhauses, in dem die Brüder lebten. In Wahrheit war sie gar keine üble Person. Natürlich musste man sich erst einmal an ihren bösen Blick und die herbe Art gewöhnen, aber wenn man sie erst einmal besser kannte, lernte man sie sogar zu schätzen, und manche auch zu lieben. Berta war sehr korpulent und ihr Gesicht war von grässlichen Warzen übersät und ihre Finger waren so dick, dass Eddie sie am Anfang immer für Würste gehalten hatte. Wenn die Kinder bei Regen draußen waren oder wenn es zu heiß war, dann konnte die alte Berta schon einmal wütend werden. Dann setzte es die eine oder andere Tracht Prügel. Das war einfach ihre Art. In Wirklichkeit machte sie sich aber nur Sorgen um die Kinder. Sie wollte nicht, dass sie krank wurden oder einen Hitzeschlag erlitten.

»Ich war gerade auf dem Heimweg«, meinte Eddie voller Reue, »da habe ich den Laden gesehen! «

Gabriel blickte durch das Schaufenster.

»Du und deine Bücher, Eddie. Komm jetzt, wir müssen heim!«

St. Peter's lag in White Chapel, nicht unweit von der ärmsten Straße Londons entfernt. Es war ein grässliches altes Gebäude, dessen marode Fassade bereits am Abbröckeln und dessen Dach so undicht war, dass es an regnerischen Tagen nasse Bettdecken und Polster zur Überraschung am Morgen gab. Das Haus beherbergte zwischen zwanzig und dreißig Kinder – es kam immer auf die Jahreszeit an. Gabriel war einer der ältesten Bewohner. In einem Jahr würde man ihn samt seinem Hab und Gut, welches nicht allzu umfangreich war, vor die Tür setzen, um Platz für das nächste Kind zu schaffen. Eddie fürchtete sich vor diesem Tag, da er dann allein unter der Fuchtel der alten Berta stände. Gabriel hatte einmal gemeint, er würde dann bereits genug Geld gespart haben, um Eddie mitzunehmen. Dann würden sie auf eine lange Reise gehen, die sie an die schönsten Orte der Welt führte. Eddie hoffte so sehr darauf, dies würde sich als wahr erweisen, auch wenn er wusste, dass es höchst unwahrscheinlich war. Niemand zuvor hatte je von zwei Waisenjungen gehört, die dazu gemacht waren, die Welt zu erobern.

Gabriel stoppte Eddie an der Brust und lugte durch das vom heißen Dampf der Küche beschlagene Fenster ins Haus hinein. Als er sich sicher sein konnte, dass die alte Berta sich nicht im Erdgeschoss aufhielt, schob er die Tür auf und ließ Eddie unter seinen Arm hindurch huschen. Dann folgte er ihm und führte ihn nach oben in die Schlafräume, wo sie sich hastig trockene Kleider überzogen und wieder nach unten gingen. Auf Gabriel wartete der Küchendienst und Eddie musste den Tisch decken.

Eine Stunde später trafen alle Bewohner, einschließlich der alten Berta, im Speisezimmer zusammen. An einer langen Tafel, die den gesamten Raum für sich beanspruchte, saßen sie aufrecht mit durchgestreckten Rücken und ernsten Mienen beisammen. Ihre Augen folgten den aus heißen Töpfen aufsteigenden Dunstschwaden, welche sich wie Schlangen in die Luft erhoben. Die alte Berta rümpfte die Nase und warf jedem von ihnen einen warnenden Blick zu, bevor sie in die Hände klatschte und Peter Wallick und Thomas Andrews anwies, die Teller zu füllen. Nachdem alle die winzigen Portionen erhalten hatten, schaufelten sie still den Eintopf in sich hinein.

»Nun, Kinder!«, zog Berta die Aufmerksamkeit auf sich, nachdem alle aufgegessen hatten. »Ich muss euch leider davon in Kenntnis setzen, dass unser überaus geschätzter Finanzier, Mr. Packet, heute verstorben ist. Da er keine Erben hat, wird sein Unternehmen veräußert. Ihr wisst, was ich damit sagen möchte?«

Alle schwiegen. Ausschließlich Gabriel war dazu in der Lage, das volle Ausmaß ihrer Worte zu begreifen. Wenn es niemanden mehr gab, der die Rechnungen des Waisenhauses beglich, würden sie sich schon bald keine Nahrungsmittel mehr leisten können, geschweige denn den hohen Mietpreis. Gabriel schluckte schwer bei dem Gedanken, dass St. Peter's in wenigen Monaten Geschichte sein würde. Ihm war es egal, aber Eddie brauchte ein Zuhause, auch wenn es dieses marode Waisenhaus war.

»Morgen werden alle, die bereits sechszehn sind, die Koffer packen. Ihr müsst uns leider verlassen!«

»Das können Sie nicht tun, Mrs. Mapcat!», Alec Heritage sprang auf und protestierte heftig. »Wo sollen wir denn hin?«

»Denkst du etwa, es wäre leicht für mich, euch das zu sagen, oder es würde mir auch nur im Entferntesten Freude bereiten, euch vor die Tür zu setzen? Die Nachricht von Mr. Packets Tod traf mich genauso schlimm wie euch. Dennoch haben wir keine Wahl. Den jüngsten unter euch zuliebe müsst ihr gehen.«

Alec schleuderte seinen Stuhl gegen die Wand und rauschte in Richtung Schlafzimmer davon. Die Treppe ächzte unter seiner Last und der laute Knall der zuschlagenden Tür ließ sie alle zusammenzucken.

»Mrs. Mapcat?«, Gabriel starrte auf seinen leeren Teller.

»Ja, Gabriel?«

»Alec hat recht!«, jetzt sah er auf und hielt ihrem alles vernichtenden Blick stand. »Wo sollen wir denn hin?«

»Es gibt genügend Obdachlosenheime in der Stadt, Gabriel«, in ihren Augen erkannte Gabriel Traurigkeit. Die folgenden Worte fielen der alten Frau offenkundig sehr schwer. »Dort könnt ihr fürs Erste unterkommen. Sucht euch Arbeit und schaut zu, dass ihr aus dem Dreck, den wir London nennen, rauskommt. Vielleicht schafft ihr es ja, ein besseres Leben zu bestreiten, als die anderen euch zutrauen. Ich kann euch jetzt nicht mehr helfen.« Nach einer kurzen und sehr stillen Pause fügte sie hinzu: »Und jetzt geht nach oben. Schlaft. Morgen wird ein langer Tag!«

In jedem Zimmer befanden sich bis zu acht Stockbetten. Gabriel und Eddie teilten sich eines – Eddie schlief oben. Die Zimmer befanden sich alles in allem in einem äußert schlechten Zustand. Dicke Risse zogen sich durch die Wände und die Fenster waren undicht, weswegen stets ein lautes Pfeifen zu hören war. Hie und da ruckelte das ganze Haus. Dann glaubten die Kinder, in der nächsten Sekunde unter den einstürzenden Trümmern begraben zu werden, ehe das Holz ein lautes Ächzen von sich gab und das Haus wieder ins Gleichgewicht fand.

Gabriel stand neben dem Bett und wartete, bis Eddie unter die Decke geschlüpft war. Dann zog er sie ein ganzes Stück weit enger um seinen Bruder, der sehr müde war und laut gähnte. Gabriel strich Eddie das stirnlange, dunkle Haar aus dem Gesicht und lächelte aufmunternd.

»Was hast du, Eddie?«

»Du wirst morgen weggehen, nicht?«, Eddie kämpfte gegen die Tränen an.

»Mir wird nichts anderes übrig bleiben«, meinte Gabriel.

»Dann komme ich mit!«, rief der Junge aus.

»Sei nicht töricht, Eddie. Die Straße ist kein Ort für einen kleinen Jungen wie dich. Du bleibst schön hier und passt auf, dass die alte Berta keinen Herzinfarkt erleidet.«

»Das ist ungerecht!«, jammerte Eddie trotzig.

»Das Leben ist selten gerecht, Eddie. Schon bald wirst du das selbst herausfinden. Die alte Berta meint es nicht böse. Hast du nicht gesehen, wie schwer es ihr fiel, uns davon zu berichten? Sie hat uns liebgewonnen und ist genauso traurig wie wir.«

»Wieso gibt uns der Staat dann kein Geld?«

»Weil der Staat selbst kein Geld besitzt. In dieser Welt geht es nur darum, wer mehr hat. Immer mehr und mehr, Eddie. Keiner kümmert sich mehr darum, ob kleine Kinder wie du genug zu essen haben. Die Reichen werden immer reicher, während die Armen ihre eigenen Hemden essen müssen, um nicht zu verhungern. Das ist traurig, aber so ist es nun einmal. Wenn du mich fragst, werden wir das auch nicht ändern können.«

»Weil wir arm sind?«, wollte Eddie wissen.

»Weil wir arm sind, Eddie. Das ist unser Los, das uns von Gott zugeteilt wurde. Eigentlich müssten unsere Eltern auf uns aufpassen, aber leider haben wir keine mehr.«

Ihre Mutter war kurz nach Eddies Geburt gestorben und ihr Vater ist nicht mehr aus dem Krieg heimgekehrt. Gabriel hatte allein für sie gesorgt, bevor St. Peter's ihr Zuhause wurde.

»Und wo wirst du hingehen, Gab?«

»Wer weiß?«, er fuhr den Holzrahmen des Stockbetts mit den Fingerspitzen nach. »Erinnerst du dich an die Geschichte von dem Jungen, der auszog, das Fürchten zu lernen?« Eddie nickte lachend. »Ich werde ebenso ausziehen, um das Leben zu lernen. Ich werde schon meinen Weg finden, Eddie. Wenn du alt genug bist, kommst du nach. Dann habe ich uns bereits ein großes Haus irgendwo am Strand gebaut und wir sind so reich, dass wir nie wieder arbeiten müssen. Du lernst Lesen und ich schreibe dir so viele Geschichten, wie du lesen kannst. Na, klingt das nicht gut? Abgemacht?«

»Dann komme ich also nach?«

»Sobald du alt genug bist, Eddie!«

»Wie alt?«

»Sagen wir, so alt wie ich, in Ordnung?«

»Dann also in vier Jahren?«

»Es sind sieben, Eddie. Ich bin sieben Jahre älter als du!«

»Dann also sieben, Gab. Versprochen?«

»Versprochen, Eddie. Wir sind doch Brüder!«

Am nächsten Morgen dann hatten sich alle Kinder vor dem Waisenhaus versammelt. Neben Gabriel mussten noch vier weitere Kinder gehen. Sie hatten die Sachen gepackt – das meiste davon passte in ein winziges Tragetuch – und verabschiedeten sich von den anderen. Die alte Berta stand mit verschränkten Armen an der Tür und überwachte das Geschehen mit ernster Miene.

Gabriel kniete sich zu Eddie hinab, der die Mütze weit ins Gesicht gezogen hielt. Die beiden umarmten sich, dann gesellte sich Gabriel zu den anderen Jungen. Alexander Heritage hielt Sara Malcom im Arm. Die beiden hatten sich sehr gerne und schworen bereits vor Jahren einander eines Tages zu heiraten. Nun würden sich ihre Wege fürs Erste einmal trennen, wenngleich Gabriel es nicht verstand. Sara war alt genug, um mit ihnen zu gehen. Wieso sie dennoch blieb, konnte er sich nicht erklären.

»In zwei Jahren komme ich dich holen, Sara«, versprach Alec und löste sich aus der Umarmung. Die beiden küssten einander, dann versammelten sich die drei Jungen in Gabriels Rücken.

»Passt auf euch auf, Jungs!«, rief ihnen die alte Berta zum Abschied nach, als sie bereits die Straße entlang liefen. Es war, als wäre die gesamte Stadt auf einmal ausgestorben. Die Fensterläden waren geschlossen und auf den Gehwegen tummelten sich gerade einmal ein paar Katzen und streunende Hunde. Weit und breit war keine einzige Kutsche zu sehen.

Kurz bevor sie am Ende der Straße abbogen, hörte Gabriel jemand seinen Namen rufen. Die Gruppe hielt abrupt an und Gabriel wandte sich um. Eddie kam ihnen entgegengelaufen, stolpernd und weinend. Er hatte einen kleinen Stock über die Schulter gelegt, an dessen Ende eine winzige Bandage befestigt war. Als er nah genug war, kniete sich Gabriel hin und fing seinen Bruder mit offenen Armen auf.

»Was machst du denn da, Eddie?«, fragte er.

Zwischen dem Schluchzen und dem Weinen konnte Gabriel kaum ein Wort verstehen. »Ich komme mit euch! Ich will nicht allein hierbleiben!«

»Was sagst du da, Eddie? Du kannst nicht mitkommen. Das ist zu gefährlich!«

»Das ist mir egal. Ich will auch ausziehen, das Fürchten zu lernen!«

Gabriel dachte einen Moment darüber nach. Er wusste, es hatte keinen Sinn, Eddie daran hindern zu wollen, wenn er es sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte. Eddie war ein furchtbar sturer Kerl. Das hatte er von ihrem Vater geerbt. Der konnte auch stundenlang um etwas flehen, bis man es ihm schließlich auch erlaubte. Außerdem würde die alte Berta mit der Zeit ohnehin mehr und mehr Kinder fortschicken müssen, wenn sie den Betrieb am Laufen erhalten wollte. Warum also sollte Gabriel Eddie nicht gleich mitnehmen?

»Du musst mir aber etwas versprechen, Eddie!«

»Ja?«

»Du bleibst immer an meiner Seite und gehst nicht allein fort. Alles klar? Hast du das verstanden? Die Stadt ist gefährlich!«

»Ich verspreche es dir, Gab! Ich gehe nicht fort!«

»Gut, dann kommst du also mit.«

»Und wo sollen wir jetzt hingehen?«, wollte Alec erfahren. »Wir können nirgendwo hin!«

»Wollen wir zusammenbleiben?«, meinte Gabriel.

»Ich gehe in den Norden«, sagte Peter Sanders. Er war ein Jahr jünger als Gabriel, aber um einiges größer. »In York soll es gute Arbeit geben. Da gehe ich hin und versuche mein Glück!«

»Und du, Andrew?«

Andrew hätte sowieso nächsten Monat gehen müssen, an seinem achtzehnten Geburtstag. Er hatte bestimmt schon einen Plan.

»Ich gehe nach Irland. Hab dort Verwandte in Cork. Entweder sie nehmen mich auf oder ich schmuggle mich auf ein Schiff, das nach Amerika fährt. Eines von beidem!«

»Und du, Alec?«, wollte Gabriel wissen.

»Ich bleibe fürs Erste bei euch, wenn dich das nicht stört, Gabriel«, meinte er unsicher. »Bis ich Arbeit gefunden habe!«

»Gut, zu dritt lebt es sich auch sicherer auf der Straße.«

Andrew und Peter machten sich auf den Weg. Die anderen warfen einen letzten Blick zurück auf St. Peter's, dann setzten sie sich ebenfalls in Bewegung.

»Und wo sollen wir hin?«, fragte Alec ein weiteres Mal.

»Weißt du, Alec, wenn Helden in Geschichten nicht wissen, wo sie mit der Suche beginnen sollen, rät ihnen ein weiser Zauberer oder eine Fee meist, sie sollen einfach ihrer Nase folgen.«

»Meine Nase riecht nur Dreck und Schmutz!«

»Dann folgen wir der Spur einfach bis zum Ursprung des Drecks. Dort sehen wir dann weiter! Vertrau einfach darauf, dass alles sich zum Guten wendet, Alec, dann hast du weniger Sorgen im Leben!«

ZWEI: EIN GESICHT ZWISCHEN BÜCHERN

Die ersten Stunden verbrachten sie damit, in der Stadt herumzuirren. Keiner von ihnen hatte sich je weit vom Waisenhaus entfernt. Gerade einmal die Schuhfabrik, in der Gabriel hin und wieder arbeitete, lag außerhalb des Bezirks. Alecs Stadtkenntnisse endeten bereits an der übernächsten Straßenecke, wo er freitags immer das Gemüse für die nächste Woche vom Markt besorgt hatte. Und bei Gott, der kleine Eddie war nie weiter als bis zum Buchladen vier Querstraßen vom Waisenhaus entfernt gekommen. Dort endete seine Welt – worüber er nicht traurig war, schließlich endete sie in einem Haus voller Bücher.

Also führte Gabriel sie an und wies die Gefährten bis zur Themse hinunter, wo sie die erste Nacht unter einer der vielen Brücken verbrachten, geschützt vor Regen und dem aufziehenden Unwetter, welches sich am darauffolgenden Morgen über die Stadt ergoss. Ein schrecklicher Sturm zog durch die engen Gassen und Winkel und lauter Donnerhall ließ die Leute auf der Straße jede vierte Sekunde in sich zusammenfahren.

Gabriel hatte die Idee, von der Straße aufgesammelte Zeitungsreste in einer Blechtonne anzuzünden. Das Feuer sollte sie in den kalten, vom Regen gezeichneten Nächten warm halten. Denn es war eine bitterkalte Jahreszeit. Obwohl das Feuer hoch loderte, mussten sie sich eng aneinanderschmiegen, um sich gegenseitig zu wärmen und die eisigen Nächte zu überstehen.

Eddie bebte am ganzen Leib. Die durchnässten Kleider ließen ihn frieren und obwohl Gabriel die Mütze des kleinen Jungen regelmäßig über dem Feuer trocknete, war sein Haar dennoch nass vom Wind gepeitschten Regen, der über sie herfiel wie Kanonenschüsse aus einer alten Büchse.

Am dritten Tag des Unwetters zog Gabriel seinen Bruder fest an sich und hüllte Eddie in seine von Motten zerfressene Jacke ein, um den Jungen zu wärmen. Der Arme war kalt und seine Haut bleich. Gabriel dachte sogar, an Eddies Stirn Fieber zu fühlen, und Eddie klagte auch über Schmerzen in der Brust und über Schnupfen, der ihn nachts nicht schlafen ließ.

Alec tat sein Bestes, um seinen Freunden beizustehen. In den Nächten wechselten sich die beiden älteren Jungen bei der Wache ab, um Eddie das volle Ausmaß an Schlaf zu ermöglichen. Alle drei Stunden wechselten sie einander ab und hielten Ausschau nach Gaunern oder hinterhältigen Banditen, die dieser Tage nicht gerade selten durch die Straßen Londons zogen. Die Stadt wurde immer ärmer. Zumindest jener Bevölkerungsanteil, der ehrlich sein Brot verdiente. Die guten Menschen, die nichts Böses im Sinne hatten und keine Dunkelheit im Herzen trugen. Die aber, die sich nur an ihnen bereichern wollten, die lebten glücklich und zufrieden in edlen Villen und Landhäusern. Ja, bei Gott, die Kluft zwischen Arm und Reich war recht groß und sie wurde immer größer, je mehr Tage im Westen vergingen.

»Du bist dran, Gabriel!«, Alec weckte ihn sanft mit einem Rütteln an der Schulter.

»Wie spät ist es?«, Gab rieb sich den Schlaf aus den Augen.

»Kurz nach zwei Uhr, wieso?«

»Mein Vater hat heute Geburtstag. Um diese Uhrzeit wurde er geboren«, erklärte Gabriel und machte es sich auf seinem Wachposten neben dem letzten Brückenpfeiler bequem – sofern ein Stahlgerüst im Rücken bequem sein konnte.

»Das wusste ich nicht«, Alec setzte sich noch einen Augenblick zu seinem Gefährten.

Der Regen hatte mittlerweile etwas an Kraft eingebüßt und reichte nur noch bis wenige Zoll vor ihre Füße, sodass sie halbwegs trocken blieben. Gabriel zog seine Jacke fester um die von der schweren Fabrikarbeit gestählte Brust und starrte in den von Blitzen erhellten Regenschauer hinaus.

»Kannst du dich an eure Eltern erinnern?«, wollte Alec wissen.

»Ja!«, meinte Gabriel nachdenklich. »Sehr gut sogar. Ich war sieben, als Eddie auf die Welt kam. Unsere Mutter war eine schöne Frau. Zumindest hat das mein Vater immer gesagt. Es hatte ähnliches Wetter wie heute als ich das Schreien meines Bruders zum ersten Mal hörte. Ich war so glücklich, endlich einen Bruder zu haben, dass ich vor Freude wild im Haus herumsprang und laute Hurrarufe von mir gab. Mein Vater zog mich damals am Kragen hoch und blickte mir grimmig in die Augen. Er hieß mich still zu sein, da Mutter nun Ruhe brauchte. Ein paar Tage später starb sie am Fieber.

Unser Vater begrub sie außerhalb der Stadt. Anschließend sorgte er sich gut um uns. Aber als er dann in den Krieg zog, kamen Eddie und ich ins Waisenhaus. Die alte Berta war damals noch schlechter drauf als heute, will ich dir sagen. Verdammt, konnte die einem den Hintern versohlen.

Ich verbrachte jeden Tag damit, am Fenster zu sitzen und auf die Straße hinaus zu starren. Ich wusste, der Weg nach Hause würde unseren Vater durch die Straße führen, an der auch St. Peter's liegt.«

»Aber er kam nie zurück!«, hauchte Alec traurig und enttäuscht aus, verbittert von der Grausamkeit des Schicksals, welches Gabriels Vater heimgesucht hatte. Zuerst verlor er seine geliebte Frau, dann auch noch seine Söhne, und am Ende sogar sein Leben.

»Nein! Ich weiß nicht, ob er gefallen ist oder aber einfach die Chance genutzt hat, die Last loszuwerden, die hier auf ihn wartete. Und wenn ich ehrlich bin, möchte ich das auch gar nicht wissen. Die Tatsache aber, dass ich darüber nachdenke und meinen Vater sogar dazu imstande denke, lässt mich einen tiefen Groll mir selbst gegenüber empfinden, Alec. Es ist ein tiefgründiger und wild brodelnder Hass.«

»Aber dich trifft doch keine Schuld, Gab. Euer Vater war ein guter Mensch, das hast du selbst gesagt, und ich denke nicht, dass er seine Kinder hätte im Stich gelassen. Wahrscheinlich ist er im Gefecht gefallen. Darauf solltest du sogar stolz sein, Gabriel. Er ist im Dienst für sein Land gestorben. Ein ehrenvoller Tod. Zumindest behauptet das die alte Berta ständig.«

»Was soll daran ehrenvoll sein?«, wollte Gabriel wütend erfahren. »Wie kann ich stolz darauf sein, wenn ich jeden Tag aufs Neue das Leid erblicken muss, dem Eddie ausgesetzt ist? Er wuchs ohne Eltern auf und jetzt sitzen wir auf der Straße. Wenn wir nicht bald ein neues Dach über den Kopf finden, stirbt er am Fieber, wie unsere Mutter!«

»Wir hatten keine andere Wahl, wir mussten gehen!«

»Das weiß ich«, Gabriel sah im direkt in die Augen. »Und ich mache der alten Berta auch keine Vorwürfe. Sie kann nichts dafür. Die Welt und das Schicksal sind daran schuld, dass wir gehen mussten. Dennoch verfluche ich Gott. Wie kann es ihn geben, wenn Kinder wie Eddie auf der Straße sitzen, Alec?«

»Da fragst du den falschen Mann.«

»Glaubst du nicht an Gott?«

»Wie könnte ich?«, Alec richtete sich die Mütze auf seinem Kopf zurecht. »Wie kann es ihn geben, wenn es so viel Unheil auf der Welt gibt?«

»Hast du je die Bibel gelesen?«, wollte Gabriel wissen. Alec verneinte. »Dort drinnen steht, dass die Menschen aus dem Paradies verbannt wurden, weil sie sündig waren und Gott enttäuscht haben. Das Leben hier auf der Erde soll eine Bestrafung für die Taten im Paradies sein.«

»Predigt Vater Thomas nicht immer von der Liebe Gottes und seiner Gnade?«

»Den Gott, von dem er am Sonntag predigt, gibt es nicht, Alec. Der Gott der Bibel hat jedes Mal versucht, die Menschen auszulöschen, wenn sie seinem Wunsch nicht entsprachen. Einmal wollte er sie von der Erde schwemmen, mit einer gigantischen Flutwelle wollte er uns alle töten, und ein anderes Mal schickte er den Tod, um die Kinder jener Männer zu töten, die sein Volk versklavten. Nein, Alec, wenn es einen Gott gibt, dann ist es ein Gott der Rache und der Vergeltung! Kein Gott, an den ich mich wenden möchte, wenn es mir an etwas fehlt.«

»Davon verstehe ich nichts. Und das ist auch gut so. Ich denke nicht, dass sich ein Mensch darüber den Kopf zerbrechen sollte.«

»Aber ist das nicht unser höchstes Gut? Unsere Gedanken und Gefühle?«

»Vermutlich. Aber es gibt Dinge, über die man nicht nachdenken sollte. Schon vergessen, was du vor ein paar Tagen zu mir gesagt hast? Ich soll darauf vertrauen, dass alles wieder gut wird, dann hätte ich weniger Sorgen.«

»Hätte nicht gedacht, dass du mir zuhören würdest!«

»Ich habe dir immer zugehört, Gabriel. Du warst der Klügste im Waisenhaus. Von dir konnten wir alle noch viel lernen. Sogar die alte Berta, will ich meinen.«

Sie saßen ein paar Minuten still nebeneinander und sahen dem Regen dabei zu, wie er mit der Themse verschmolz. Das plätschernde Geräusch wirkte beruhigend auf Gabriels aufgebrachten Verstand. Nach ein paar Sekunden ließ er sich gegen den Brückenpfeiler sinken und vergrub die Hände in seinen Jackentaschen.

»Vermisst du sie?«, fragte er schließlich.

»Sara?«, sein Atem wurde an der freien Luft sichtbar. »Ja, sehr!«

»Du liebst sie, oder?«

»Noch mehr, als ich beschreiben kann. Es gibt nicht ausreichend Worte, egal in welcher Sprache, die meine Gefühle zu ihr beschreiben könnten.«

»Und wenn du eine andere triffst, die du dann noch mehr liebst?«

»Das wird nicht geschehen!«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Ach, weißt du, manchmal trifft man einen Menschen und ist sich tief im Herzen einfach sicher, dass man jede Sekunde seines Lebens mit ihm verbringen möchte. So ist es auch bei Sara gewesen. Ich bin mir sicher, und ja, ich weiß es sogar, dass ich jeden Tag meines Lebens, bis zu meinem Tod, neben ihr aufwachen möchte.«

»Warum hast du sie dann nicht mitgenommen? Sie ist doch alt genug.«

»Warum wolltest du Eddie nicht mitnehmen?«

»Weil ich ihn beschützen wollte!«

»Und ich wollte Sara beschützen. Sie würde hier draußen nicht lange überleben. Für eine Frau, vor allem in ihrem Alter, ist es hier draußen nicht sicher. Wir hätten ihr Überleben nicht gewährleisten können. Und so habe ich selbst auch einen Grund zu überleben. In zwei Jahren dann gehe ich sie holen. Bis dahin kämpfe ich um mein eigenes Leben, und vielleicht bin ich dann der Mann, den sie verdient.«

»Nun, bis dahin hast du wenigstens genug Zeit, euch ein Haus zu suchen. Denn wenn du dann noch immer auf der Straße sitzt, Alec, wäre alles umsonst gewesen.«

»Ich vertraue einfach darauf, dass alles gut wird!«

Daraufhin lachten die beiden und waren für einen kurzen Moment sogar glücklich.

Noch vor Sonnenaufgang packten Alec und Gabriel die Sachen, rückten sich die Mützen fein säuberlich auf den Köpfen zurecht und marschierten in Richtung Schuhfabrik davon, in der Gabriel gelegentlich arbeitete, um sich den einen oder anderen Penny zu verdienen. Eddie blieb einstweilen in ihrem Lager und verschanzte sich hinter dem breiten Brückenpfeiler, um sicherzugehen, dass ihn niemand sehen konnte. Gott bewahre, hätte ihn am Ende noch ein Angestellter von der Fürsorge entdeckt und ihn sogleich in eines der vielen Kinderheime gesteckt, die sich teils noch in einem viel schlimmeren Zustand befanden als St. Peter's.

Gabriel wollte Alec Arbeit in der Fabrik beschaffen und für sich selbst ein paar Stunden mehr herausschlagen. Der Plan war, genug Geld zu verdienen, um sich eine kleine Unterkunft zu leisten, bevor der Winter zur Gänze über sie hereinbräche und Eddie am Ende wirklich noch Fieber bekäme und ernsthaft krank würde.

Die Fabrik bestand aus vier riesigen Gebäudekomplexen, aus denen hohe Schornsteine ragten, von denen dunkler Rauch aufstieg. Über den Fabriken Londons herrschte stets ein dichter Nebel. Die Sonne kam nur selten zum Vorschein und die Luft war stets stickig. In der Fabrik selbst war es noch schlimmer zu ertragen. Der Schweiß der Arbeiter und die Hitze der Maschinen machten einem das Atmen schwer. Alec hielt sich die Hand vor den Mund, um genügend Luft zu bekommen. Gabriel war diese Bedingungen bereits einigermaßen gewohnt. Meistens kam er an den Wochenenden her, nähte das Schuhwerk an die Sohlen oder brachte die Ausschüsse, welche nicht zu gebrauchen waren, hinter die Fabrik, wo sich mittlerweile ein gigantischer Abfallhaufen in die Höhe erstreckte.

Heute aber gingen sie auf direktem Weg zu Mr. Baltrow, der Vorarbeiter in der Fabrik war und mit dem Gabriel gut konnte. An manchen Tagen gab Mr. Baltrow ihm sogar ein paar Penny mehr, da er wusste, wie schwer Eddie und Gabriel es hatten. Mr. Baltrow war ein Mann höheren Alters, der stets eine weiße Schürze trug. Das graue Haar versteckte er unter einer dicken Mütze. Die dunklen Ringe unter den Augen hoben sich von der bleichen, faltigen, typisch britischen Haut ab. In den letzten Wochen wurde sein Gang zunehmend schlaksiger und heute stützte er sich sogar auf einen morschen Holzstock, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Ah, Gabriel, da bist du ja!«, rief er den beiden entgegen, blieb aber an Ort und Stelle bei einer defekten Maschine stehen. »Dachte bereits, du würdest nicht kommen!«

»Guten Morgen, Mr. Baltrow«, Gabriel war sehr höflich, da er wusste, dass er den alten Mann nicht verärgern sollte. »Hatte viel zu tun in den letzten Tagen.«

»Und wer ist das?«, Mr. Baltrow zeigte mit dem Stock direkt auf Alec, der sich hinter Gabriel versteckt hielt.

»Das ist Alec Heritage, Sir. Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht eine freie Stelle für ihn hätten? Nur ein paar Stunden. Er möchte sich ein wenig Geld verdienen, Sir.«

»Sieht nicht gerade stark aus, der Junge!«

»Er wirkt hager, hebt aber mehrere Dutzend Pfund, wenn es sein muss, Sir!«, versicherte Gabriel.

»Nun, Gabriel, ich konnte mich bis jetzt immer auf dich verlassen. Wenn du sagst, er sei der richtige Mann für die Arbeit, dann will ich das nicht leugnen. Er kann oben in der Lederabteilung anfangen. Micky ist gestern nicht gekommen und seine Frau kam heute vorbei und meinte, er sei wohl schwer erkrankt. Er kann Mickys Arbeit übernehmen.«

»Danke, Sir!«, Alec trat hinter Gabriel hervor. »Ich danke Ihnen aus vollstem Herzen, Mr. Baltrow, Sir!«

»Ja, ja, Junge, geh jetzt hoch und fang an zu arbeiten. Am Abend bekommst du dein Geld. Es ist nicht viel, aber es sollte für den Anfang reichen. Und wir, Gabriel, schauen zu, dass wir die Maschine hier wieder in Gang bekommen!«

In den darauffolgenden Wochen verbrachte Eddie viel Zeit damit, die Menschen zu beobachten, welche an seinem Brückenpfeiler vorüberkamen. Hinter sich das Rauschen der Themse und vor sich der stete Strom der Menschenmassen, saß Eddie mit dem Rücken gegen den harten Stahl gelehnt da und versuchte, die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben, indem er seine Brust rieb, als würde er sich selbst umarmen.

Noch nie zuvor war Eddie die Vielfalt unter den Menschen aufgefallen. Natürlich wusste er, dass jeder Mensch auf seine ganz spezielle Art und Weise nur einmal auf der Welt existierte. Jeder Mensch war einzigartig, und er dachte sich daran zu erinnern, dass Vater Thomas einmal gesagt hätte, jeder Mensch, vor allem aber das Leben, welches er führte, sei einzigartig und deshalb von Gott geschaffen. Im Leben, so sagte er, gelte es nunmehr, diese Einzigartigkeit zu erhalten.

Und wie Eddie die Menschen beobachtete, die an der Brücke vorbeieilten oder aber gemächlich schlenderten, erkannte er die Wahrheit hinter den Worten des Priesters. Sie alle besaßen eine ganz eigene Art zu gehen. Manche gingen ganz aufrecht und stolz, gehüllt in edle Kleider. Ihre Haut war sauber und unversehrt. Sie trugen hohe Zylinder, oder die weniger feinen Leute unter ihnen dicke Mützen, die jenen, die Gabriel oder auch er selbst trugen, nicht im Entferntesten ähnelten. Die Frauen trugen schönen Kopfschmuck, prächtige Hüte oder Kappen. Ihre Kleider waren in wundervollen Farben gehalten und die Schuhe glänzten, als würden sie noch in demselben Moment frisch poliert werden, da die Frauen die schmutzige Straße betraten.

Diese Leute fielen Eddie auf. Aber es gab auch andere unter ihnen. Leute wie Eddie selbst. Frauen und Männer, die sich diesen Prunk nicht leisten konnten, abgetragene Anzüge und löchrige Kleider trugen, die sie im kalten Winter kaum warm hielten. In ihnen erkannte Eddie seine eigene Zukunft, von der er wusste, dass sie bereits geschrieben stand. Mit diesen Menschen fühlte sich Eddie in seiner unschuldigen Seele verbunden.

Wenn seine Freunde abends dann von der Arbeit kamen, brieten sie ein wenig Fleisch und knabberten am harten Brot der letzten Woche, das die Bäcker wegwarfen, weil dafür kein Penny mehr zu holen war. Mit der Zeit genügte es Eddie nicht mehr, die Leute einfach nur zu beobachten. Er wollte einer von ihnen sein. Ein Junge, der durch die Stadt strömte.

Also machte er sich auf die Suche nach Dingen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er überquerte die Brücke über die Themse und befand sich plötzlich in einem anderen Bezirk, von dem er bis jetzt nur Geschichten gehört hatte. Mit jedem Tag kam er weiter und weiter, erkundete fremde Gassen und enge Winkel, sah Leute, die jenen, die er bereits kannte, so ähnlich waren wie ein Eichhörnchen einer wilden Bulldogge.

Eddie erkannte, dass die Waren, die auf den Märkten in den besseren Bezirken angeboten wurden, an Frische und Farbe alles übertrafen, das er kannte. Bald lernte er seine geringe Körpergröße auszunutzen und hier einen Apfel oder eine Birne zu stibitzen, dort ein Stück Brot oder Fleisch. Es fiel den Händlern, die so eifrig mit ihrem Tagwerk beschäftigt waren, kaum auf. Wenn er dann zu seinem Brückenpfeiler zurückkehrte, hatte er die Taschen voll mit wunderhaften Köstlichkeiten, die man nur noch zubereiten musste.

Auch wenn Gabriel zu Beginn von Eddies Entdeckungsreisen nicht begeistert war und ihn anwies, diese sofort zu unterlassen, lauschte er schon bald Eddies Berichten und schenkte ihm seine volle Aufmerksamkeit. So konnten sie mehr über die Stadt erfahren und es war eine schöne Ablenkung von der harten Arbeit in der Fabrik. Alec schlief die letzten Wochen stets früh ein, gleich nach dem Essen, und war am nächsten Morgen noch müder als am Abend zuvor. Die Arbeit schien ihm schwer zuzusetzen. Aber schon bald hätten sie genug Geld gespart, um sich eine kleine Wohnung zu mieten, dessen waren sie sich sicher, und das war jede Mühe wert. Es war das Einzige, das für Gabriel zählte. Er wollte seinem kleinen Bruder ein Dach über dem Kopf verschaffen.

Kurz vor dem Neujahrstag war es dann so weit. Sie saßen allesamt um ein warmes Feuer unter der Brücke versammelt und kramten jeden einzelnen Penny hervor, den sie in den Taschen finden konnten. Seit Wochen hatten sie nun schon jeden Penny gespart, der abzüglich der Nahrungskosten übrig geblieben war, und hatten das Geld in einem kleinen Säckchen aufbewahrt, das Eddie vom Markt hatte mitgehen lassen. Jeden Abend hielt der Junge den Beutel auf und sah dabei zu, wie seine Freunde das Geld hineinwarfen.

So war es auch heute. Eddie holte den Geldbeutel aus dem Versteck hinter dem Brückenpfeiler hervor, löste die Schnur, mit dem er ihn verschlossen hielt, und reichte den geöffneten Beutel seinen beiden Kameraden. Alec warf seinen Verdienst mit einem breiten Grinsen hinein. Als Gabriel an der Reihe war, sah er ernst drein und hielt einen kurzen Moment inne, bevor er das Geld aus seiner Handfläche fallen ließ. Am Ende aber hatte auch er ein breites Grinsen im Gesicht und rief laut vor Freude aus: »Es tut mir leid, Eddie, aber wir müssen unseren Pfeiler verlassen!«

Gleich am nächsten Tag waren sie auf dem Weg zu Mrs. Pomfrey, einer älteren Dame, der ein paar kleinere Wohnungen in der Stadt gehörten, die sie an die ärmsten der Armen um einen Spottpreis verlieh. Für gewöhnlich vermietete sie nicht an Kinder, aber als Gabriel meinte, er sei bereits achtzehn und er und Alec hätten auch Arbeit in der Schuhfabrik, gab sie schließlich nach, als Eddie so tat, als würde er weinen.

Am ersten Tag in der neuen Unterkunft machten sie ein Feuer im Ofen und brieten Speck und aßen frisches Brot, das sie von ihren Ersparnissen am Markt gekauft hatten. Seit langer Zeit hatten sie nicht mehr so gut gegessen – also hatten sich all die langen Wochen der Entbehrungen am Ende tatsächlich gelohnt.

Kurz vor Mitternacht, sie saßen noch immer vor dem Feuer, begann Gabriel damit, Geschichten zu erzählen. Mit gesenkter Stimme berichtete er von den Eroberungen des grimmigen Piraten Blackbeard, der sich in der Karibik eine goldene Nase erbeutete, ohne je eine Kugel abfeuern zu müssen. Gabriel meinte, er zünde Lunten an, die er in seinem langen, schwarzen Bart befestigte, und heule wie ein Wolf zum Mond. Wenn er dann mit der schwarzen Piratenflagge im frühen Morgennebel auftauche, hätten die Männer auf den feindlichen Schiffen solche Angst, dass sie sich freiwillig ergaben. Bei Gott, hatte Gabriel eine lebhafte Phantasie!

»Wo ist die Karibik?«, wollte Eddie aufgeregt erfahren.

»Auf der anderen Seite der Welt, Eddie!«, meinte Alec. »Dort ist es nie Winter!«

»Da will ich hin!«

»So weit können wir aber nicht schwimmen, Eddie«, sagte Gabriel. »Ein ganzer Ozean liegt zwischen Amerika und Europa.«

»Dann fahren wir eben mit einem Schiff«, jauchzte Eddie begeistert. »Ich wollte schon immer mit einem Schiff reisen!«

»Wenn wir noch ein paar Jahre sparen, Eddie, können wir das machen!«

»Versprichst du es, Gabriel?«

»Habe ich dir nicht versprochen, wir würden fremde Länder sehen, Eddie? London, diese Wohnung, das ist erst der Anfang einer langen Reise, die uns an wunderhafte Orte führen wird. Vielleicht müssen wir sogar mit sprechenden Bären und grässlichen Werwölfen kämpfen!«

Als der Schnee des Winters endlich zu schmelzen begann, hatte Eddie bereits alle verborgenen Winkel der Stadt erkundet und sich selbst eine umfangreiche Karte in seinem Kopf angelegt. Jetzt, da die Tage länger wurden und sie in einer richtigen Wohnung lebten, arbeiteten Gabriel und Alec länger und härter. Das war nötig, da sie damit begannen, sich wichtige Utensilien anzuschaffen. Eddie bekam ein eigenes Bett und Alec bestand auf einen neuen Ofen, in dem sie Feuer machen konnten, um sich nach einem langen Arbeitstag aufzuwärmen, ohne dass der rostige Stahl laut aufheulte. Diese Dinge wirkten zwar ganz normal, als besäße sie jeder Mensch der Welt, aber so war es keinesfalls. Sie waren auch sehr teuer. Und so war es unabdinglich, dass Gab und Alec jede Sekunde nutzten, um noch ein paar Penny mehr aus der Fabrik herauszuholen.

Gabriel störte das wenig. Er war harte Arbeit gewohnt und er schätzte sie sogar – so hatte er wenigstens etwas zu tun. Einfach nur herumzuliegen, wie Alec es oft tat, konnte er nicht ausstehen. Er fühlte sich dann nutzlos, meinte, es sei vergeudete Zeit, in der er etwas Nützlicheres anstellen könnte. Es kam Eddie so vor, als würde sich sein Bruder durch die Arbeit in der Fabrik zunehmend verändern. Er wirkte älter und stärker. Seine Muskeln hatten an Kraft gewonnen und sein strammer Nacken jagte Eddie immerzu Angst ein, wenn ein dunkler Schatten auf seinen Bruder fiel. Alec war da ganz anders. Er ging zwar zur Arbeit – und bei Gott, er tat sie auch gewissenhaft –, aber irgendwann hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, nur noch kurze und zielsichere Bewegungen zu machen, um sich nicht unnötig anstrengen zu müssen. Das unterschied ihn von Gabriel, und deswegen erschien er Eddie nicht ganz so verändert.

Und Eddie selbst fand nur noch wenig Gefallen daran, in der Stadt herumzulaufen und neue Entdeckungen zu machen. Das lag einerseits daran, dass er bereits die meisten Dinge entdeckt hatte, und andererseits daran, dass es ihm mittlerweile langweilig vorkam, immer an denselben Orten vorbeizukommen und dieselben Menschen zu beobachten, die immerzu dieselben Dinge taten. Sie standen morgens auf, machten sich für den Tag zurecht, gingen zur Arbeit und kehrten abends müde in die kalten Kammern zurück. Für Eddie keine besondere Sache, interessierte er sich doch viel mehr für abenteuerliche Geschichten und Heldentaten.

Deshalb blieb er auf seinem Weg in das Stadtinnere immer öfter am Buchladen vorne an der Ecke kleben, wo er früher immer vor der Auslage gestanden und hinein gestarrt hatte, in der Hoffnung, eines Tages selbst einen Fuß hineinsetzen zu können, eines der Bücher aus dem Regal zu ziehen, es aufzuschlagen und Wort für Wort zu lesen.

So stand er auch heute vor der geheimen Welt der Auslage und blickte durch das frischpolierte Glas hinein. Der Verkäufer, ein alter Mann mit grauem Schnauzbart, sortierte gerade die neue Lieferung und machte Kreuze an bestimmten Stellen seiner Liste, immer dann, wenn er ein passendes Buch aus einer der vielen Holzkisten gezogen und sich von der Korrektheit des Titels und des Autors überzeugt hatte.

Wie gerne wäre Eddie einfach hineingegangen und hätte sich ein Buch gekauft, das ihm Gabriel dann am Abend hätte vorlesen können? Oder wie gerne hätte er selbst eines dieser Bücher gelesen? Eddie stand breitbeinig nicht unweit von der Tür entfernt und focht einen inneren Kampf mit seinem Gewissen aus, in dem er versuchte, seine Beine davon zu überzeugen, die nötigen drei Schritte zu machen, die Tür zu öffnen und den herrlichen Duft frischgepressten Papiers in sich aufzunehmen. Natürlich wusste er, dass hineinzugehen dumm gewesen wäre. Der Verkäufer hätte ihn umgehend wieder hochkant hinausgeworfen. Einen Schmutzfink, wie Eddie einer war, wollte man nicht in seinem Laden haben. Am Ende hätte ihn noch eine ernsthaft zum Kauf überzeugte Kundschaft erblickt und sich noch am Türabsatz wieder zum Gehen gewandt.

Eddies Augen fielen auf den alten Mann hinter dem Verkaufstisch, der Liste und Stift beiseitelegte und durch einen engen Durchgang im hinteren Bereich des Ladens verschwand. Nun war seine Chance gekommen. Eine bessere Möglichkeit würde sich ihm wohl kaum je wieder bieten. Eddie schlug sich den Staub von der Jacke, machte die nötigen drei Schritte, legte die Hand an die Tür und schob sie nach innen auf. Ein winziges Glöckchen über dem Türrahmen gab ein leises Klingeln von sich, als Eddie die Tür wieder ins Schloss fallen ließ. Aus Angst, der Verkäufer könnte jeden Moment wieder in den Laden zurückkehren, angelockt von der Klingel, hastete er auf die Bücherregale zu und verschwand in einer Welt der Wunder.

Umgeben von einer schier grenzenlosen Anzahl an Büchern, drehte sich Eddie begeistert im Kreis. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Die Titel und Namen konnte er ohnehin nicht lesen, also schob er einfach die Rollleiter hin und her, stieg ab und zu hinauf, um sich ein Buch genauer anzusehen, und war vollends mit sich selbst zufrieden, wie er die Bücher herauszog, sie kurz begutachtete als wäre er ein Fachmann, und sie wieder zurück an ihre angestammten Positionen in den Regalen steckte.

Das tat er beinahe eine halbe Stunde lang, dann hörte er den alten Mann wieder in den Laden zurückkehren. Sofort ging Eddie in Deckung – hinter einem Stapel dicker Bücher – und hielt den Atem an, um sich nicht zu verraten. Der Mann kam direkt auf ihn zu, blieb vor dem Stapel stehen, sah sich kurz um, als hätte er etwas gehört, und verschwand dann wieder im Durchgang.

Eddie stieß erleichtert die Luft aus und ließ sich nach hinten fallen. Er krachte gegen ein Regal und stöhnte leise auf, als ein Buch sich löste und ihm auf den Kopf fiel. Sofort sammelte er es vom Boden auf und suchte nach dessen Platz im Regal. Dazu musste Eddie die Rollleiter heranziehen und auf die fünfte Stufe steigen. Er begutachtete das Buch und wollte es gerade in die Lücke schieben, als dort vor ihm ein winziges Gesicht auftauchte. Der Junge heulte auf und stürzte rücklings von der Leiter. Der Rücken schmerzte schlimm, als Eddie auf dem Bücherstapel am Boden landete.

»Ist er es?«, hörte er eine quickende Stimme flüstern.

»Bestimmt! Er muss es sein!«, meinte eine zweite Stimme.

Da wollte ihm der alte Mann doch wohl keinen Scherz spielen? Eddies Herz raste in der Brust und er fühlte, wie seine Hände vor Nervosität schweißig wurden. Die Bücher unter sich zur Seite schiebend, robbte er über den Boden und ging hinter einem Tisch im Zentrum des Ladens in Deckung.

»Was war das?«, sagte er bei sich und sah sich vorsichtig um.

»Hallo!« Direkt vor Eddies Gesicht tauchte eine handgroße Frau in einem smaragdgrün glänzenden Kleid auf. Aus ihrem Rücken ragten durchsichtige Flügel wie die von Libellen, die sich rasend schnell bewegten. In ihrer rechten Hand hielt sie einen winzigen spitzen Gegenstand, der helle Funken versprühte, und ihr Gesicht war dem eines Engels gleich. Die strahlenden laubgrünen Augen musterten Eddie, erfassten jede seiner hektischen Bewegung auf dem Rückzug in Richtung Ladentür.

Da griff ihn von hinten die Hand des Besitzers und zog Eddie auf die Beine.

»Was machst du hier, Junge?«, wollte der Mann wütend erfahren und zog ihn fest am Kragen. »Willst mich wohl bestehlen, was? Aber nicht mit mir!«

Der Mann schleifte Eddie die letzten Meter zur Tür, riss sie bimmelnd auf und schleuderte den Jungen auf die Straße hinaus, wo dieser hart aufschlug und gerade noch rechtzeitig vor einem sich auf ihn zubewegenden Kutschenrad zum Halten kam.

»Schau zu, dass du Land gewinnst, Junge!«, brüllte der alte Mann und ließ die Tür zu seinem Laden mit einem lauten Knall zufallen.

Eddie kam sofort wieder auf die Beine und eilte auf die Auslage zu. Seine Augen suchten im Ladeninneren nach der mit Flügeln flatternden grün leuchtenden Frau. Aber sie war verschwunden. Dort war nichts mehr zu sehen, außer dem alten Mann, der mit rot glühendem Gesicht die Bücher aufsammelte, welche Eddie bei seinem Sturz unter sich begraben hatte.

DREI: ÜBER DEN WOLKEN

Die Beine angezogen und sie mit den Armen umschlungen, saß Eddie in der Ecke neben dem winzigen Fenster, das auf die Straße hinaus zeigte. Aus Angst entdeckt zu werden, hatte er sich dazu entschlossen, den kleinen Ofen nicht anzufachen, um den Anschein zu erwecken, dass niemand da sei. Er wollte nicht, dass ihn dieses seltsame Wesen, das er im Buchladen gesehen hatte, hier entdeckte, vor allem nicht, solange er alleine war.

Eddie schauderte am ganzen Leib. So etwas Unglaubliches hatte er noch nie zuvor im Leben gesehen. Das Wesen, diese Frau, war einfach vor seinem Gesicht aufgetaucht. Und erst diese merkwürdigen Stimmen, die er zwischen den Büchern gehört hatte. Eddie wusste nicht, was er davon halten sollte. Auf jeden Fall hatte er Angst, dass diese Wesen etwas Böses im Schilde führten. Vielleicht wollten sie ihn sogar entführen und foltern oder gar noch schlimmer – töten!

Bei jedem Geräusch, das er hörte, fuhr Eddie in sich zusammen. Einmal war es das Pfeifen des Windes, das durch das hohle Gehäuse der Wohnung drang. Ein anders Mal war es das Quicken einer Maus, die auf der Suche nach etwas Essbaren an Eddie vorbei huschte, ehe sie in einem Loch in der Wand verschwand. Am meisten aber fürchtete er sich, wenn das Holz des Bodens laut knarrte, als würde jemand in der Dunkelheit auf Eddie zugehen. Jede Sekunde fürchtete er, der fliegenden Frau erneut in die glänzenden Augen blicken zu müssen.

Zwar hatte der Glanz ihrer Augen etwas ganz Besonderes an sich gehabt, ja sie waren sogar die schönsten, die Eddie je gesehen hatte, und sie strahlten auch etwas Beruhigendes, gar Wohltuendes aus, aber die Tatsache, dass diese Augen einer winzigen Frau mit Flügeln gehörten, ließ Eddie an seinem klaren Verstand zweifeln. Und was ein Mensch nicht in der Lage war zu verstehen, fürchtete er. So fürchtete sich auch Eddie, und er bebte am ganzen Leib. In der Hoffnung, sein Bruder und Alec würden bald heimkehren, zog er sich immer weiter in die dunkle Ecke zurück.

Mit einem Mal war es, als würde sämtliches Licht, das vom Mond durch das Fenster geworfen wurde, aus dem Raum gesogen. Lange Schatten breiteten sich in dem winzigen Zimmer aus und Eddie konnte kaum noch die eigene Hand vor Augen sehen. Sämtliche Wärme schwand dahin und der Junge glaubte sich bereits tot, als er ein kurzes Funkeln vor sich in der Dunkelheit ausmachte. Es war kaum lange genug vorhanden, um überhaupt gesehen zu werden, aber Eddie war sich ganz sicher, dass ihn seine Augen in diesem Moment nicht täuschten.

Auf einmal, wie durch Zauberei, wurde ein Feuer im Ofen entfacht und warmes Licht breitete sich im Raum aus. Eddie erschrak derart, dass er laut aufheulte, quer über den Boden schoss und auf der anderen Seite in der nächsten Ecke sich zusammenrollte, in der Hoffnung, nicht noch in der nächsten Sekunde von einer Axt oder sonst einem schlimmen Mordwerkzeug erschlagen zu werden.

»Hallo!«, hörte er die Stimme der Frau, die ihn bereits im Buchladen begrüßt hatte.

Als könnte Eddie einfach so aus einem Traum aufwachen, schloss er die Augen und murmelte ein stilles Gebet vor sich hin, das sich für jeden anderen Anwesenden wohl wie stilles Winseln anhören musste.

»Schon gut, mein Junge, dir geschieht nichts«, versprach die Frau.

Eddie, erfüllt von der Wärme des frisch entfachten Feuers, hörte nicht einmal, was die Frau sagte. Er hoffte nur, dass dieser Albtraum bald vorüber wäre, und biss sich so fest auf die Unterlippe, dass er Blut schmeckte.

»Dir kann hier wirklich nichts geschehen.«

Da spürte Eddie eine Berührung an der Schulter und schoss in die Höhe. Die Fäuste zum Kampf erhoben, stellte er sich der Frau entgegen. Diese aber war kaum größer als eine seiner Fäuste und brachte ruckartig ein paar Zentimeter Distanz zwischen sich und den aufgebrachten Jungen.

»Was bist du?«, wollte Eddie aufgeregt erfahren. Er klang wie ein Junge, der sich aus lauter Angst gleich in die Hose machte. Natürlich versuchte er, die Nervosität hinunter zu spielen, aber Eddie war noch nie gut darin gewesen, seine Gefühle zu verbergen.

»Ich bin eine Fee«, erklärte die Frau.

»Eine Fee?«, Eddie schluckte schwer an dem Kloß in seinem Hals. Es half nichts. Er bebte am ganzen Leib und wäre ohnehin nicht dazu in der Lage gewesen, gegen eine Fee zu kämpfen. Wenn die Geschichten wahr waren, die ihm Gabriel über Feen erzählt hatte, verfügte die Frau vor ihm über mächtige Zauberkräfte, die sie ohne zu zögern gegen ihn einsetzen würde, sollte er auch nur die winzigste Bewegung wagen.

»Ja, so ist es. Eine Fee!«

»Wie die aus den Märchen?«, wollte Eddie erfahren.

Nun ließ er endgültig die Fäuste sinken und versuchte, sich ein wenig zu entspannen. Wollte die Fee ihn wirklich etwas anhaben, hätte sie bereits den Zauberstab geschwungen und Eddie in eine Kröte oder dergleichen verwandelt.

»Nun, ich weiß nicht, was du für Märchen kennst, Junge, aber ich bin eine echte Fee«, sagte die Frau.

»Und was willst du von mir?«

»Ich möchte nur mit dir sprechen. Über etwas sehr Wichtiges.«

In dieser Sekunde schwang sie den Zauberstab – Eddie fuhr in sich zusammen – und verwandelte sich in eine Frau in Menschengröße. Das brünette Haar war so lang, dass es ihr offen wohl bis zur Hüfte reichte, doch die Fee hatte es hochgesteckt, was den langen Hals umso mehr betonte. Die Augen schienen zu schimmern und strahlten eine wohltuende Wärme aus, wie sie Eddie noch nie zuvor verspürt hatte. Auf einmal fühlte er sich geborgen, ja sogar glücklich. Nun fiel ihm auch auf, dass der Zauberstab der Fee aus einem glasähnlichen Material gefertigt war. Wie ihre Augen glänzte der Stab smaragdgrün. Das lange Kleid lag eng an und betonte die einzigartige Figur der Fee. Sie war wahrlich die schönste Frau, die Eddie in seinem Leben bisher getroffen hatte.

»So, das ist ja gleich viel angenehmer«, meinte die Fee und begab sich zum Ofen hinüber, wo sie sich die Hände über dem warmen Feuer rieb, als wäre sie stundenlang durch die Kälte gelaufen. Eddie verweilte an Ort und Stelle.

»Hast du einen Namen, Fee?«, fragte er vorsichtig.

»Hat nicht jedes Lebewesen einen Namen, mein Junge?«, entgegnete die Fee. »Meiner ist Tiny! Wie lautet der deine?«

»Eddie!«

»Das ist ein schöner Name. Edward. Und weiter?«, sie umfasste den Zauberstab fester, als wollte sie Eddie mit einem Bann belegen.

»Deagen. Mein Name lautet Edward Deagen!«

»Nun, Edward Deagen, es ist mir eine aufrichtige Freude, dich kennenzulernen!«

Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung wirbelte Tiny herum und richtete den Zauberstab direkt auf Eddie. Dieser war nicht dazu imstande, sich zu rühren, und sah den Zauber nur noch auf sich zuschießen. Zu sterben bereit, schloss Eddie die Augen und richtete ein letztes Gebet an Gott.

Als er die Augen wieder aufschlug – es war nichts geschehen –, bemerkte er, dass der Zauber nicht ihm gegolten hatte, sondern einem weiteren eigenartigen Wesen, das auf seiner Schulter saß und gerade an seinem Ohr ziehen wollte. Es war beinahe genauso klein wie die Fee Tiny noch wenige Sekunden zuvor, wirkte jedoch nicht annähernd so menschlich. Aus einem winzigen Körper ragten endloslange Beine, die in Proportion zu den Armen jedoch winzig erschienen. Die langen, abstehenden Ohren wirkten auf Eddie wie riesige Löffel und die großen, dunklen Kulleraugen strahlten etwas herzhaft Nettes aus. Das Wesen war von oben bis unten von blauem Fell bedeckt, das sich am Kopf stark kräuselte und an der langen Hakennase buschig hervorragte.

»Keine Ärgernisse, Zic!«, warnte Tiny und löste den Bann um das Wesen.

»Ich wollte ihn doch nur kurz am Ohr ziehen, Tiny«, wehrte sich das blaue Fellknäuel. Eddie erkannte die Stimme. Das Wesen hatte im Buchladen zu ihm gesprochen.

»Zic, so etwas tut man nicht!«, Tiny wandte sich wieder dem Feuer zu.

»Und was bist du?«, fragte Eddie. Das Wesen ließ sich gemütlich auf Eddies rechter Schulter nieder und bohrte mit seinem langen Finger im Ohr. »Ein Kobold?«

»Ein Kobold?«, das Ding lachte laut auf, was wie ein lautes Quicken klang. »Dass ich nicht lache. Ich, ein Kobold? Ich bin ein Wichtel, Junge!«

»Ein Wichtel?«, hakte Eddie ungläubig nach und wischte das Wesen mit einer kurzen Bewegung von seiner Schulter.

»Jawohl, ein Wichtel!«, meinte Zic genervt. »Nicht annähernd ein Kobold.«

»Und doch mit einem verwand«, sagte eine weitere Stimme. Eddie konnte nicht ausmachen, woher sie kam.

»Da bist du ja, Zac. Ist draußen alles sicher?«, fragte Tiny, an eine Stelle neben dem Eingang gerichtet.

»So sicher wie es nur sein kann, Tiny«, antwortete die Stimme. »Da draußen rührt sich nichts.«

In dieser Sekunde tauchte an der Stelle, von der die Stimme kam, ein drittes Wesen auf. Es war in etwa Knie hoch gewachsen und trug einen breiten, runden Melonenhut am Kopf, unter dem lockiges Haar zum Vorschein kam. Das Wesen war wie ein Edelmann gekleidet, trug jedoch krumme Schuhe und hatte schmutzige Hände. Der wildwuchernde Bart wirkte bedrohlich auf Eddie.

»Kobold und Wichtel sind miteinander verwandt, Master Deagen«, erklärte das Wesen in lehrreichem Ton und gesellte sich zu Tiny ans Feuer.

»Und woher willst du das wissen?«, fragte Zic.

»Weil ich alles weiß, Zic, du Dummerchen. Und weil ich dein Cousin bin! Das spricht dafür. Schließlich bist du ein Wichtel und ich ein Kobold.«

»Sie sind ein Kobold?«, fragte Eddie.

»Du brauchst mich nicht zu siezen, Edward«, meinte der Kobold gelassen und rieb sich die Hände.

»Dann stehe ich hier im Raum mit einer Fee, einem Wichtel und einem Kobold?«, Eddie spürte, wie ihm schwindlig wurde.

»Klingt doch überhaupt nicht abwegig!«

Überhaupt nicht!