Die Magie der Zeitenwanderer - Matthias Kuhn - E-Book

Die Magie der Zeitenwanderer E-Book

Matthias Kuhn

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Beschreibung

Begleite Clara Clearwater auf einer außergewöhnlichen Reise in eine Welt, die jenseits unserer Zeit existiert. Als einsames Waisenkind hat Clara nie zu träumen gewagt, dass sich hinter der schlichten Fassade ihres Alltags ein Universum voller Geheimnisse und Magie verbirgt. Ein unerwarteter Zwischenfall katapultiert sie über die Schwelle der Realitäten nach Alba, einem Ort, an dem das Unmögliche Alltag ist und das Wunderbare zur Normalität wird. "Die Magie der Zeitenwanderer" ist mehr als eine Reise durch eine verzauberte Welt; es ist eine Entdeckungsreise nach Zugehörigkeit, Verständnis und dem eigenen Platz im Kosmos. Mit jedem Schritt auf ihrem Weg entfaltet Clara die Schichten ihrer geheimnisvollen Vergangenheit und stellt sich Herausforderungen, die an die Grenzen ihres Mutes und ihrer Entschlossenheit gehen. Auf ihrem Weg findet sie nicht nur Antworten, sondern auch unerwartete Freundschaften, die ihr helfen, die tiefe Einsamkeit ihrer Kindheit zu überwinden und die Kraft zu entdecken, die in echter Verbundenheit liegt. Wirst du Clara auf ihrer Suche nach Antworten folgen und herausfinden, ob sie den Schlüssel zu ihrer wahren Bestimmung entdecken kann?

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Die Erbin der Zeit

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

01

Im fahlen, schummerigen Licht des Klassenzimmers lehnte Clara Clearwater, ein Mädchen von fünfzehn zarten Sommern, gegen das kühle Fensterglas. Wie in Trance blickte sie hinaus in den sich ständig wandelnden Himmel, verloren in den sich verdichtenden Mustern der Wolken, die das letzte verbleibende Licht der Sonne zu verschlingen schienen.

Ihr langes, kastanienbraunes Haar, das in wilden Wellen über ihre Schultern fiel, bewegte sich sanft mit jedem ihrer Atemzüge. Ihre Augen, funkelnd in einem strahlenden Smaragdgrün, waren mal wieder tief in einem Tagtraum versunken.

Das Klassenzimmer, eine stille Hommage an vergangene Zeiten, war angefüllt mit dem Knarren antiquierter Holzbänke, die sich in peinlich genauer Ordnung aufreihten. An der Stirnseite des Raumes erhob sich eine stattliche, grüne Schiefertafel, die trotz ihres Alters eine würdevolle Ruhe ausstrahlte. Draußen kämpfte die Sonne einen oft vergeblichen Kampf gegen die Staubkörner, die sich beharrlich an die Fensterscheiben klammerten.

Doch obgleich die Luft schwanger war mit dem bittersüßen Duft unerfüllter Träume, bot dieses Zimmer für Clara eine Zuflucht, einen Hafen der Sicherheit in dem sonst so stürmischen Meer, das ihr Dasein bei den Gallins umtoste.

Mr. und Mrs. Gallin, Claras Pflegeeltern, verkörperten Härte und Unerbittlichkeit. Die beiden hatten insgesamt fünf Pflegekinder unter ihrer Obhut, doch Liebe oder Mitgefühl waren ihnen fremd. Ihre Motive waren rein finanzieller Natur – die Sozialleistungen, die mit der Betreuung der Kinder einhergingen, waren ihre einzige Antriebsfeder.

Clara führte unter dem Dach der Gallins ein Leben, das von Demütigung und harter Arbeit geprägt war. Mehr Dienerin als Tochter, war sie für die Reinigung der schmutzigen Wäsche, das Spülen des Geschirrs und das Instandhalten des Hauses verantwortlich, stets unter dem strengen Blick von Mrs. Gallin.

Die Pflegemutter war eine kräftige, kompakte Frau. Goldene Locken wirbelten ständig um ihr Gesicht und eine massive Brille thronte über ihrer krummen Nase. Jede ihrer Bewegungen, jeder Ausdruck war durchtränkt von Verachtung – insbesondere, wenn sie Clara ansah. Sie ließ keine Gelegenheit aus, sie zu demütigen und ihr ihre Wertlosigkeit vor Augen zu führen.

Mr. Gallin, ein hagerer Mann mit einem dünnen Bart, der sein spitzes Kinn umrahmte, war im Autohandel bekannt – und berüchtigt. Sein ewig verärgerter Gesichtsausdruck spiegelte die Unzufriedenheit und Gerissenheit wider, die er in seinem Geschäft an den Tag legte. Es war, als ob seine schmalen Lippen, die selten ein wahres Lächeln zeigten, perfekt darauf abgestimmt waren, Kunden minderwertige Autos zu verkaufen und dabei noch das letzte Wort zu behalten. Jenes höhnische Grinsen, das gelegentlich aufblitzte, war nicht etwa ein Zeichen von Frohsinn, sondern vielmehr ein Echo seiner Triumphgefühle, wenn er wieder einmal einen Käufer mit seinen überteuerten Kisten aus dem Laden lockte.

Über ihre leiblichen Eltern wusste Clara nichts. Alles, was sie wusste, war, dass sie vor fünfzehn Jahren, als Säugling im Clearwater Waisenhaus gelandet war. So kam sie auch zu ihrem Namen – Clearwater, eine Praxis, die für Kinder unbekannter Herkunft in diesem Waisenhaus üblich war.

In der Schule war Clara oft die letzte, die das Klassenzimmer verließ. Wann immer es ihr möglich war, zögerte sie den Moment hinaus, an dem sie nach Hause zurückkehren musste. Ob sie Hausaufgaben machte oder einfach nur die Zeit vertrieb, Clara schätzte die Stille und Geborgenheit des Klassenzimmers, Gefühle, die ihr im Hause Gallin verwehrt blieben. Jede Minute in der Schule war für sie eine willkommene Flucht vor der Kälte und dem Chaos ihres Zuhauses.

Doch trotz der Zuflucht, die die Schule ihr bot, fand Clara sich oft in Einsamkeit gehüllt, denn Freunde, die über das flüchtige Lächeln eines Klassenkameraden hinausgingen, blieben eine Wunschvorstellung.

Die Pausen, die Clara allein auf dem Schulhof verbrachte, waren gefüllt mit dem leisen Beobachten ihrer Umgebung. Oft verlor sie sich im Betrachten der anderen, in ihren Gesprächen und Lachern, und stellte sich vor, wie es wäre, Teil dieser Szenen zu sein. Wenn zufällig ein Lächeln oder ein Gruß ihren Weg kreuzte, keimte kurz das warme Gefühl von Zugehörigkeit in ihr auf, nur um ebenso schnell wieder zu erlöschen, als hätte es nie existiert.

Ihre Mitschüler wussten wenig mit Claras verschlossener und geheimnisvoller Art anzufangen, wodurch sie eher als Kuriosität, denn als potenzielle Freundin wahrgenommen wurde. Ihr Geist schien stets in einem Strudel von Gedanken gefangen, der sie immer weiter in ihre eigene Welt zog – eine Welt, die so fern und abgetrennt vom Alltag ihrer Altersgenossen lag, dass sie sich darin wie ein Alien fühlte, verirrt in einer Gesellschaft, deren Kodex sie nicht zu entschlüsseln vermochte.

Und doch, verborgen unter dieser Fassade der Distanz, brannte eine tiefe Sehnsucht in ihr. Ein stilles Verlangen nach Verbundenheit, nach einem Freund, der das stumme Flüstern ihrer Seele wahrnehmen konnte.

Es war, als ob ihr Körper auf dieses Wechselspiel von Nähe und Distanz reagierte, als ob die Isolation sich in physischen Schmerz verwandeln würde. Denn seit einigen Monaten schon quälte Clara ein stechender Kopfschmerz, der mit jedem Tag, den sie in dieser isolierten Stille verbrachte, an Intensität zu gewinnen schien. Die Schmerzen, so scharf und durchdringend, waren wie ein ständiger Begleiter geworden, der sie an ihre seelische Not erinnerte.

Doch trotz der Qualen bemühte sie sich, ihre Leiden vor den Gallins zu verbergen, getrieben von der Angst, in ihren Augen noch weiter an Wert zu verlieren. Aber wie ihre Sehnsucht nach Freundschaft und Akzeptanz, schwand auch der Schmerz nicht; er zerschnitt ihre Gedanken und machte jeden Versuch, eine Verbindung zu anderen aufzubauen, zu einer zermürbenden Anstrengung.

Es war später Nachmittag und Clara befand sich wieder einmal allein in ihrem Klassenzimmer. Draußen schob sich ein dichter Wolkenvorhang langsam vor die Sonne und die aufkommende Dunkelheit verbannte das Tageslicht, hüllte alles in einen düsteren Schleier. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihr aus. Es waren nicht die beginnenden Kopfschmerzen, die ihr sorgen bereiteten, sondern der drohende Sturm, der sich am fernen Horizont zusammenbraute.

Als sie gerade dabei war ihre Sachen zu packen, bereit das Klassenzimmer zu verlassen, schwang die Tür auf und Mrs. Tarrot, ihre Lehrerin, trat ein.

Mit ihren kurzen grauen Haaren, warmen, braunen Augen, umrahmt von einem Netz feiner Lachfältchen, war sie eine Frau mittleren Alters. Und sie gehörte zu den wenigen Menschen, bei denen Clara sich geborgen und verstanden fühlte.

»Clara«, rief Mrs. Tarrot überrascht und ihre Augen weiteten sich, »was machst du denn noch hier? Die Sonne geht bereits unter!«

Clara zuckte unwillkürlich zusammen, ihre Finger pressten sich fester in den Einband der Bücher, die sie wie einen Schutzschild an ihre Brust gepresst hielt. Ein überraschtes »Oh!« entwich ihren Lippen, bevor sie sich räusperte und den Blick zu Mrs. Tarrot hob. »Hallo, Mrs. Tarrot. Entschuldigen Sie, ich... ich war ganz vertieft in einige Aufgaben und habe dabei wohl die Zeit vergessen«, brachte sie mit einem unsicheren Lächeln heraus, während sie sich bemühte, ihre Fassung wiederzugewinnen.

Mrs. Tarrot trat einen behutsamen Schritt näher, ihre Augen, gefüllt mit einer warmen Sorge. »Du wirkst erschöpft, mein Kind. Geht es dir wirklich gut?«

Clara spürte, wie sich ihre Augenlider schwer anfühlten, ihr Blick flüchtig und unsicher zwischen den Tischen umherschweifte, bevor sie ihren Kopf leicht senkte, um den durchdringenden, doch liebevollen Blick von Mrs. Tarrot zu meiden.

»Ja, es geht mir gut, wirklich«, antwortete sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Es ist nur... mein Zuhause ist momentan ein wenig turbulent. Die Stille hier ist... tröstlich.«

Ein mitfühlender Ausdruck überzog Mrs. Tarrots Gesicht. »Ich verstehe dich, Clara. Aber du musst auch auf dich achten.« Sie wandte sich zum Fenster, wo die einst klare Sicht nun von drohenden, dunklen Wolken verschleiert war. »Und dieses Unwetter... Ich möchte nicht, dass du durch den Regen nach Hause laufen musst. Hast du überhaupt einen Schirm dabei?«

Clara folgte ihrem Blick zum Fenster, und ein Anflug von Sorge zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie die drohenden Wolken sah. »Ich glaube, ich habe ihn heute Morgen vergessen«, antwortete sie leise, ihre Stimme zögerlich.

Die Wahrheit war, dass sie keinen Schirm besaß. Bei ihren Pflegeeltern war ein Schirm ein Luxus, der Clara vorenthalten wurde. Einmal hatte sie vorsichtig danach gefragt und nur Hohn als Antwort erhalten. »Ein Schirm für dich? Wozu, fürchtest du dich vor ein bisschen Regen?«, hatte Mrs. Gallin gespottet. Seitdem hatte Clara es vermieden, überhaupt nach etwas zu fragen.

Mrs. Tarrot drehte sich wieder zu ihr um, ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Dann warte hier, liebes«, sagte sie und machte sich auf den Weg zu ihrem Schreibtisch. »Ich habe noch einen, den du mitnehmen kannst.«

Während sie suchte, fuhr sie fort, »Weißt du, Clara, manchmal sind es die Stürme, die uns zeigen, wie stark wir sind – und wie freundlich die Welt sein kann«.

Als sie mit dem Schirm zurückkehrte, streckte sie ihn Clara entgegen. Ihre Augen funkelten ermutigend. «Du bist nicht allein, auch wenn es manchmal so scheinen mag. Und ein bisschen Regen...« Sie zögerte, als würde sie nach den richtigen Worten suchen, »ein bisschen Regen bereitet die Welt für neues Wachstum vor«.

Clara nahm den Schirm entgegen, ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen – das erste echte Lächeln seit langem. »Danke, Mrs. Tarrot. Ich werde das im Hinterkopf behalten«.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, trat Clara in das Regenwetter hinaus und ein tiefer Atemzug füllte ihre Lungen. Starker Wind wehte durch die Straßen, wirbelte ihre langen braunen Haare wild durcheinander. Tief grollender Donner erfüllte die Luft, und Kälte kroch in ihre Knochen, ließ sie zittern. Mit einem festen Griff hielt Clara den aufgespannten Regenschirm über sich, während sie hastig über den nassen Asphalt eilte.

Ihr Heimatort Brighton war für sein launisches Wetter bekannt. Unwetter traten hier häufiger auf als anderswo im Land. So war es für Clara keine Seltenheit, ihren Heimweg im Regen anzutreten.

In Gedanken versunken, stellte sie sich vor, wie wunderbar es wäre, jetzt in ihrem Bett zu liegen und eines ihrer geliebten Bücher zu lesen, während der Regen sanft auf das Dach trommelte. Die Realität sah jedoch anders aus: Mit durchnässten Kleidern würde sie nach Hause kommen und sofort mit ihren Aufgaben beginnen müssen. Aufräumen, Wäsche bügeln, Geschirr spülen – alles Aufgaben, die sie nur widerwillig erledigte.

Der Regen prasselte erbarmungslos auf Clara nieder, als sie ihre Schritte beschleunigte, um nicht dem Zorn von Mrs. Gallin ausgeliefert zu sein.

Der Waldrand, zu dem sie gelangte, markierte den Beginn eines kiesigen Pfades, der sich in die undurchdringliche Dunkelheit des Waldes schlängelte. Der Wald, der sonst ein Zufluchtsort der Stille für sie war, eine Insel der Ruhe in ihrem stürmischen Leben, fühlte sich heute bedrohlich fremd an. Eine spürbare Unruhe lag in der Luft, und die Bäume, die sonst majestätisch und beruhigend wirkten, schwankten unheilvoll im Wind. Das Rascheln der Blätter klang unnatürlich laut, fast als würde die Natur selbst Alarm schlagen.

Mit jedem Schritt, den Clara auf dem Pfad unternahm, wuchs ihre Besorgnis. Die Wolken verdichteten sich, schienen jegliches Licht verschlingen zu wollen und hüllten die Welt in eine drückende Dunkelheit. Die Blätter flüsterten unruhig, und die Äste ächzten und knarrten im aufkommenden Sturmwind, als wollten sie sie warnen, weiterzugehen.

Angst kroch in Clara hoch, doch der Pfad durch den Wald war ihr einziger Weg nach Hause. Sie war sich der Gefahren bewusst, die drohten, sollten die Bäume dem Sturm nicht standhalten. Zögernd überlegte sie, ob es klüger wäre, umzukehren und in einem Café Schutz zu suchen, bis der Sturm vorüber war. Doch dann tauchte das höhnische Grinsen ihrer Pflegemutter wieder in ihrem Geist auf, die es genoss, sich Gemeinheiten für sie auszudenken und mit einem tiefen Atemzug setzte Clara ihren Weg fort, drang tiefer in die Dunkelheit vor, während der Regen in Strömen herabfiel.

Mit jedem Schritt, den Clara vorwärts tat, schien die Natur um sie herum lebendiger und bedrohlicher zu werden. Der Wind heulte nun wie ein wildes Tier, und die ersten Äste knackten bedrohlich über ihr. Die Atmosphäre im Wald verdichtete sich, wurde greifbar wie eine düstere Vorahnung. Clara beschleunigte ihre Schritte, trieb sich selbst an, schneller zu gehen, trotz der Dunkelheit, die sich wie ein Mantel um sie legte.

Dann hielt sie inne. Ihr Herz raste, und ein nagender Zweifel kroch in ihr hoch. War es töricht, weiterzugehen? Sie war ganz allein. Sollte ihr etwas passieren, wäre niemand da, der ihr helfen könnte. Der Gedanke ließ sie schaudern, und die Angst wuchs in ihr wie ein unaufhaltsames Feuer.

Gerade als Clara sich fragte, ob sie umkehren sollte, zuckte ein greller Blitz vom Himmel, gefolgt von einem donnernden Krachen. Der Regen prasselte unaufhörlich nieder und vermischte sich mit ihren Tränen der Furcht. Jeder Blitz, der den Himmel erhellte, offenbarte einen Moment lang die chaotische Wut des Unwetters, bevor die Dunkelheit erneut zuschnappte. Plötzlich entfesselte der Sturm seine ganze Kraft und übertraf alles, was sie bisher erlebt hatte. Es schien, als würde er die Welt aus den Angeln heben.

Ein heftiger Windstoß entriss ihr den Schirm, der in Sekundenschnelle in die Baumkronen katapultiert wurde. Mit rasendem Herzen stand Clara da, die vertraute Silhouette ihres Schirms verschwand in der Dunkelheit, und eine eisige Angst überkam sie, die sich in eine Welle von Panik verwandelte.

Sie spürte die prickelnde Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper und ihr Atem beschleunigte sich, während ihr Blick versuchte, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Wie geschmolzene Wachsskulpturen beugten sich die Bäume im Wind, ächzten und stöhnten, als ob sie jeden Augenblick dem Unwetter nachgeben könnten. Regentropfen fielen wie unerbittliche Peitschenhiebe auf ihr Gesicht, so dicht, dass sie es kaum wagte, ihre Augen zu öffnen.

Sie schluckte schwer und fühlte die kalte Nässe auf ihren Wangen. Der Lärm des Donners und das Grollen des Himmels erinnerten an die tobende Bestie einer uralten Legende, die aus den Tiefen der Atmosphäre auf sie hinabstieß. Jeder Donnerschlag ließ Schockwellen durch ihren Körper fahren, verursachte ein Zittern, das bis in ihre Seele reichte, und sie musste all ihre Kraft aufbieten, um die aufwallende Panik niederzukämpfen. Aufgeben war keine Option; sie musste den Weg nach Hause finden.

Durch den unerbittlichen Orkan hindurch, versuchte Clara, ihren zitternden Körper zu stabilisieren, doch der Boden unter ihr hatte sich in einen schlammigen Sumpf verwandelt, der keinen Halt mehr bot. Jeder ihrer Schritte, mühsamer als der letzte, schien sie nur tiefer in das durchnässte Erdreich zu ziehen, als versuchte das Land selbst, sie in seine Tiefe zu verschlingen.

Die Finsternis legte sich um sie wie ein erstickender Vorhang, der ihr jede Orientierung nahm. Ihre Hände zitterten heftig, als sie versuchte, sich einen Weg zu ertasten, während ihre durchnässte Kleidung an ihrem Leib klebte und Zweige und Laub in ihr Gesicht peitschten, als wären sie Geißeln eines unsichtbaren Henkers. Blitze durchschnitten in der Ferne die Dunkelheit, ihre silbernen Schneiden zerteilten den nächtlichen Himmel und warfen für Sekundenbruchteile ein gespenstisches Licht auf den finsteren Wald. Donnergrollen näherte sich, wuchs heran zu einem drohenden Crescendo, das die Luft zum Vibrieren brachte und Claras Herzschlag zu übertönen drohte.

Ohne Vorwarnung durchzuckte ein ohrenbetäubender Donnerschlag die Luft, und grelles Licht zerriss die Dunkelheit. Der Wald erstrahlte für einen Moment in übernatürlichem Weiß und Clara spürte, wie die elektrische Ladung durch die Luft tanzte, Sekunden bevor ein Blitz mit tödlicher Präzision in einen Baum neben ihr einschlug.

Ein markerschütternder Schrei entrang sich ihrer Kehle, als die unmittelbare Gefahr real wurde. Der stechende Geruch verbrannten Holzes durchschnitt die feuchte Luft und trieb sie, getrieben von Instinkt und Furcht, weiter voran. Ihr Herz schlug wie das eines in die Enge getriebenen Tieres, als Clara, die Augen von Regen und Tränen verschleiert, über eine verborgene Wurzel stolperte. Mit einem erstickten Aufschrei fiel sie zu Boden und der nasse Waldboden empfing sie mit gnadenloser Härte. Der Schlamm unter ihr verwandelte sich in einen kalten, feuchten Mantel, der sich über ihren Körper legte, während sie versuchte, die lähmende Panik zu überwinden, die in ihr hochkroch. Ihre Lungen kämpften um jeden Atemzug, doch der Gedanke an das Haus ihrer Pflegeeltern, gab ihr die Hoffnung auf Sicherheit und weckte in ihr eine fast übermenschliche Entschlossenheit.

Sie stemmte sich gegen die Erde, stand auf und drängte durch die peitschende Finsternis vorwärts. In diesem Augenblick riss eine Serie von Blitzen den Himmel auf, ihre grellen Zacken zogen ein schaurig-schönes Ballett aus Licht und Schatten über den Horizont und für einen atemlosen Moment war es, als ob der Tag aus den Fängen der Nacht entkommen wäre. Dann folgte der Donner - ein ohrenbetäubendes Krachen, das die Erde unter Claras Füßen erbeben ließ. Reflexartig ließ sie sich zu Boden fallen, die Arme schützend über ihrem Kopf verschränkt. Als sie vorsichtig ihren Blick hob, stockte ihr Atem.

Vor ihr bot sich ein Anblick von brutaler Schönheit: Ein uralter Baum, von einem gewaltigen Blitz in zwei Hälften gespalten, stand in Flammen. Glühende Funken stoben in alle Richtungen, während der Baum in einer gewaltigen Mischung aus Feuer und Rauch unaufhaltsam auf sie zuzuschlagen schien.

Claras Herz setzte einen Schlag aus. Eisige Panik ergriff sie, lähmte ihre Glieder und ließ ihre Gedanken rasen. Sollte dies wirklich das Ende sein? Ein Ende, das so plötzlich und gewaltsam auf sie zukam, dass sie kaum Zeit hatte, es zu begreifen? Ein Gefühl der Verzweiflung durchflutete sie, gemischt mit der kindlichen Hoffnung auf ein Wunder. Ihr Verstand weigerte sich, die unausweichliche Katastrophe zu akzeptieren, selbst als ihre Instinkte sie drängten, die Augen fest zu schließen und sich dem unvermeidlichen Schicksal zu ergeben.

Sie wartete auf den tödlichen Einschlag, den endgültigen Moment der Zerstörung. Doch der erwartete Aufprall kam nicht. Stattdessen breitete sich eine seltsame, fast greifbare Stille um sie herum aus.

Wider jede Vernunft dehnte sich der Moment des Aufpralls in eine Ewigkeit. Es gab keinen dumpfen Einschlag, kein katastrophales Zersplittern der Welt um sie herum. Der befürchtete Schmerz, der Tod, den sie erwartete, verlor sich in einem Augenblick, der die Grenzen der Zeit zu sprengen schien.

Zaghaft, als würde sie die Grundgesetze der Natur selbst herausfordern, öffnete Clara ihre Augen. Vor ihr entfaltete sich ein Szenario, das die Grenzen der Realität sprengte:

Der Baum, von der Wucht des Blitzschlags entflammt, schwebte wie eingefroren in der Luft, in einem zeitlosen Moment gefangen, der sich weigerte, voranzuschreiten. Der Regen, der zuvor noch in Strömen gefallen war, hatte sich in ein schillerndes Mosaik aus in der Luft schwebenden Tropfen verwandelt, die wie unzählige, glitzernde Kristalle um sie herum funkelten. Die Welt um sie herum schien in einem blassen, unwirklichen Licht zu erstrahlen, als ob die Zeit selbst den Atem angehalten hätte.

Ein Schleier der Surrealität umhüllte ihre Sinne, während sie versuchte, das Unfassbare zu begreifen. Ein wirrer Gedanke blitzte in ihrem Bewusstsein auf: War dies das Ende? Hatte sie eine Schwelle überschritten, die sie in einen Zwischenraum zwischen Realität und Unwirklichkeit führte?

Aber ihr rasendes Herz und das heftige Heben und Senken ihrer Brust in tiefer, ruckartiger Atmung verrieten ihr, dass sie lebendig war. Dies war nicht der Tod, sondern etwas Unerklärliches, Unglaubliches. Mit einer Mischung aus Furcht und Neugier erhob sie sich vorsichtig, den Baum, der nur wenige Zentimeter über ihr in der Luft schwebte, aufmerksam beobachtend.

Und dann, in einem Moment, der schicksalhaft erschien, als würde der Baum nur auf ihr Zeichen warten, setzte die Zeit mit einem jähen Ruck wieder ein. Der mächtige Stamm stürzte mit einem ohrenbetäubenden Krachen nur einen Hauch entfernt von ihr zu Boden, während der Regen wieder in Strömen zu fallen begann. Die Welt um Clara herum erwachte zu ihrem gewohnten Chaos, als wäre dieses kurze, surreale Innehalten nie geschehen.

Clara stand da, atemlos und überwältigt, ein Fels inmitten des Sturms aus Realität und Wunder, der um sie herumtobte.

Sie versuchte, das Unerklärliche zu begreifen, während die vertrauten, doch nun irgendwie fremd klingenden Geräusche der Natur sie umgaben. Das Rauschen des Windes mischte sich mit dem Knistern des Feuers, das nun gierig den zersplitterten Baumstamm verzehrte, und erfüllte die Luft mit einer Melodie, die zugleich vertraut und seltsam entrückt wirkte.

Obwohl die Welt um sie herum scheinbar zu ihrem gewohnten Rhythmus zurückkehrte, spürte Clara, dass in ihrem Inneren eine unbeschreibliche Veränderung stattgefunden hatte. Die quälenden Kopfschmerzen, die sie noch vor Kurzem geplagt hatten, waren wie weggewischt, ersetzt durch eine ungewohnte Leichtigkeit, als hätte sie eine unsichtbare Last abgeworfen, deren Existenz sie bis zu diesem Moment nicht einmal geahnt hatte.

Mit jedem tiefen Atemzug, den sie ein- und ausließ, fühlte sie, wie sich ihr Geist klärte und eine unerklärliche Energie in ihren Adern zu pulsieren begann. Es war, als würde sie von einer verborgenen, lebendigen Quelle gespeist – einer Kraft, die ihr bisher völlig unbekannt war.

Doch plötzlich zerriss ein markerschütternder, schriller Laut die Stille hinter ihr und riss Clara jäh aus ihren Gedanken. Ihr Herz setzte für einen schrecklichen Moment aus, als die bittere Erkenntnis in ihr aufstieg: Die Gefahr war noch längst nicht gebannt. Der Sturm tobte mit ungebändigter Wut um sie herum, und die Regentropfen peitschten ihr Gesicht wie tausende winziger, eisiger Nadeln, die sie unerbittlich an die raue, ungeschönte Realität erinnerten.

Mit erneuerter Dringlichkeit und einem Herz, das gegen ihre Brust hämmerte, setzte sie sich wieder in Bewegung. Sie hastete über den verworrenen Pfad, der sie aus dem bedrohlichen Dickicht des Waldes führen sollte. Trotz der bleiernen Schwere ihrer Glieder und ihrer wachsenden Erschöpfung beschleunigte sie ihre Schritte, angetrieben von der zwingenden Notwendigkeit, dem unheilvollen Schatten des Waldes zu entfliehen.

Langsam, fast als würde der Wald nur widerwillig seinen dichten Mantel lüften, begann sich die Umgebung aufzuhellen. Die dichten, überhängenden Zweige, die bisher den Pfad überschattet hatten, ließen nach und gaben den Blick frei. Die erdrückende Dunkelheit wich einem fahlen Schimmern. Zögerlich und schwach bahnten sich die Sonnenstrahlen ihren Weg durch die aufbrechende Wolkendecke, brachten ein schwaches, aber hoffnungsvolles Licht und zeichneten sanfte Muster auf den Waldweg.

Am Horizont, dort, wo die dichte Baumreihe endete und der Himmel sich öffnete, kam das Haus der Gallins in Sicht – ein von Wind und Wetter gezeichnetes Gebäude, dessen einst lebendige Farben nun verblasst waren und dessen Fenster wie dunkle, undurchdringliche Augen in die Welt blickten.

Trotz der abweisenden, fast düsteren Aura, die das alte Haus ausstrahlte, beschleunigte Clara ihre Schritte abermals. Normalerweise mied sie es, nach Hause zu kommen, doch heute bot der Anblick des Hauses eine vage Hoffnung auf Sicherheit, einen Zufluchtsort vor dem tosenden Wind und dem erbarmungslosen Regen.

Völlig durchfroren und mit Kleidern, die klamm und schwer an ihrem Körper klebten, erreichte Clara zitternd die Haustür. Ihre Hände waren vor Kälte und Erschöpfung so steif, dass sie Mühe hatte, die Klinke herunterzudrücken. Als sie das Haus betrat, schlug ihr eine Welle der stickigen, warmen Luft entgegen, die in scharfem Kontrast zu der kühlen, feuchten Außenluft stand.

»Clara, bist du das?« schnitt die quäkende Stimme ihrer Pflegemutter durch die Stille des Flurs, klangvoll vor Vorwurf und Ungeduld. »Mach die Tür zu, wir heizen hier nicht für die Nachbarschaft!« Ihre Worte waren eisig und ungeduldig, ohne die leiseste Spur von Wärme oder echtem Interesse an Claras Befinden.

Einen Moment lang stand Clara wie erstarrt in der Eingangshalle, schwer atmend und versuchte, ihre wirren Gedanken zu ordnen. Sie schälte sich mühsam aus ihrer durchnässten Jacke und spürte dabei den durchdringenden, kritischen Blick von Mrs. Gallin, die nun mit verschränkten Armen in den Flur trat.

»Was hast du denn angestellt?«, fragte Mrs. Gallin mit einem scharfen Unterton, während ihre Augen missbilligend auf die sich ausbreitende Pfütze unter Clara fielen. Das Wasser tropfte unaufhörlich von Claras durchnässter Kleidung und bildete einen kleinen, dunklen See auf dem Holzboden des Flurs.

»Sieh zu, dass du das wegmachst«, befahl sie barsch, ohne ein Anzeichen von Mitgefühl für Claras offensichtlich durchnässten und erschöpften Zustand.

Clara konnte nur stumm nicken, gefangen in den wirbelnden Ereignissen des Waldes, die in ihrem Kopf nachhallten. Sie kam sich vor, als wäre sie aus einer anderen Welt zurückgekehrt – einer Welt, in der die Gesetze der Natur umgekehrt schienen und das Unmögliche Wirklichkeit geworden war.

»Du bist zu spät. Der Müll muss noch raus, und die Küche räumt sich nicht von allein auf. Kümmere dich darum,« wies Mrs. Gallin sie mit einer Stimme an, die keinen Widerspruch duldete. Ihre Worte waren knapp und sachlich, und ohne ein weiteres Wort verschwand sie zurück ins Wohnzimmer. Dort ließ sie sich mit einem Seufzen der Erleichterung auf das abgewetzte Sofa fallen, ihre Aufmerksamkeit sofort wieder dem Fernsehprogramm zugewandt.

Mr. Gallin saß wie angewurzelt neben ihr, ganz in die flimmernden Bilder auf dem Bildschirm vertieft. »Wenn du in der Küche bist, hol mir doch gleich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank!« rief er, ohne seinen Blick auch nur für einen Moment vom Bildschirm abzuwenden.

Ein Gefühl der Vernachlässigung überkam Clara. Kein Wort der Sorge, keine Nachfrage nach ihrem Wohlbefinden. Eine bittersüße Mischung aus Resignation und leisem Trotz breitete sich in ihr aus. Sie mühte sich, ihre durchnässten Schuhe auszuziehen und schleppte sich dann die knarrende Treppe hinauf, hinauf zu ihrem einzigen Zufluchtsort in diesem Heim der Gleichgültigkeit – dem Dachboden. Dieser staubige, spärlich beleuchtete Ort mit nur einem kleinen Fenster war ihre kleine Welt, ein privates Refugium, das sie, anders als ihre jüngeren Pflegegeschwister, nicht teilen musste. Eines der wenigen Privilegien in ihrem Leben, das sie insgeheim schätzte.

Nachdem sie sich die nassen Kleider vom Leib gestreift und ihr Gesicht mit einem alten, abgenutzten Handtuch abgetrocknet hatte, fiel ihr Blick auf den kleinen, trüben Spiegel an der Wand. Sie hielt inne, ihr Spiegelbild betrachtend. Etwas an ihr hatte sich verändert. Ihre sonst deutlich sichtbaren Sommersprossen waren wie ausgelöscht, ihre Haut wirkte fast makellos, lediglich geziert von ein paar leichten Kratzern, die sie sich im Kampf gegen den Sturm zugezogen hatte. Auch ihre Augen schienen ihr fremd, das Grün leuchtete intensiver und lebendiger als je zuvor.

Vorsichtig hob sie ihre Hand und ließ die Fingerspitzen sanft über ihre Wange gleiten. Es war, als müsste sie sich selbst berühren, um die Realität ihrer eigenen Existenz zu bestätigen, um zu verstehen, dass sie noch dieselbe war – und doch irgendwie verändert.

»Clara!«, dröhnte ihr Name fordernd von unten herauf, durchdrungen von der strengen Stimme Mrs. Gallins. »Der Müll!«, schrie diese nachdrücklich. Clara seufzte tief, ihr Atem schwer vor Resignation. Für einen flüchtigen, verzweifelten Moment hegte sie den Gedanken, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn der Baum sie tatsächlich getroffen hätte. Doch mit einem inneren Rütteln schob sie diese düsteren Gedanken beiseite, zog sich rasch trockene Kleidung an und machte sich widerstrebend auf den Weg nach unten, in die Küche.

»Mann, das soll der schlimmste Sturm seit fünfzehn Jahren sein. Ich frage mich, ob mein Laden morgen überhaupt noch steht«, murmelte Mr. Gallin, während seine Augen den Nachrichten auf dem Fernseher folgten. »Clara, Liebes, denk an das Bier, meine Kehle ist schon ganz trocken.«

Clara biss sich auf die Unterlippe, während in ihr eine Flut von Frustration hochkochte. Sie kämpfte gegen die brodelnde Wut an und zwang sich zu einer mühsamen Ruhe. Mit einem genervten Seufzer trat sie an den Kühlschrank heran und griff nach einer der Dosen, die sie ihm, etwas zu schwungvoll, zuwarf.

»Hey, Fräulein, pass auf, was du machst! Wenn nur ein Spritzer von dem Zeug auf meine Klamotten kommt, ziehe ich dir die Reinigungskosten von deinem Taschengeld ab!«, rief er zornig, während er die Dose mit einem zischenden Geräusch öffnete.

Welches Geld?, dachte Clara bitter, schnappte sich den Müllbeutel aus dem Schrank und verließ die Küche, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Jeder Schritt, den sie von diesem Raum, von diesen Menschen wegging, erfüllte sie mit einem schwachen Gefühl der Befreiung. Es war ein winziger Akt der Rebellion, ein Hauch von Selbstbehauptung in ihrem sonst so eintönigen Alltag. Diese kleinen Momente des Widerstands, so unbedeutend sie auch scheinen mochten, waren für Clara lebenswichtig. Sie waren ihre Art, sich selbst nicht in der Rauheit und Gleichgültigkeit ihres Pflegezuhause zu verlieren.

Widerwillig schlüpfte sie wieder in ihre nasse Jacke und zog die klammen Schuhe an, entschlossen, das Haus erneut zu verlassen. Glücklicherweise hatte der Regen sich zu einem sanften Nieseln abgeschwächt, und die Tropfen fielen nun leicht und zögernd vom Himmel. Während sie um das Haus ging, um die Mülltonnen zu erreichen, bemerkte sie plötzlich eine flüchtige Bewegung an der Wand neben sich. Erschrocken machte sie einen hastigen Schritt zur Seite. Ein genauerer Blick ließ jedoch nichts Ungewöhnliches erkennen. »Es war bestimmt nur eine Ratte«, beruhigte sie sich und setzte ihren Weg fort.

Nachdem sie ihre Pflichten erfüllt und den nassen Fleck im Flur beseitigt hatte, ließ sie sich erschöpft auf ihr Bett fallen und starrte die alten Dachdielen über sich an. Ihre Gedanken kreisten unablässig um die Szene im Wald. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Hatte ihr Verstand ihr in der Panik einen Streich gespielt? Eine logische Erklärung dafür, dass die Zeit einfach so stehen geblieben war, schien ihr unmöglich.

Tief in ihrem Inneren wusste Clara, dass sie Zeugin eines unerklärlichen Ereignisses geworden war, etwas, das sich der Logik entzog. Während ihr Blick durch das kleine Fenster an der Wand schweifte und sie verzweifelt versuchte, die verworrenen Fäden ihrer Erinnerungen zu entwirren, zuckte sie plötzlich zusammen. Eine Bewegung in ihrem Augenwinkel ließ sie aufschrecken. Diesmal konnte es keine Ratte sein, dachte sie und sah sich hastig um.

Im tiefen Schatten neben ihrem Schrank begann sich etwas zu bewegen. Zuerst glaubte sie, dass ihr müder Geist ihr einen Streich spielte. Sie blinzelte, schüttelte leicht den Kopf und versuchte, ihre Augen auf das Flimmern zu fokussieren. Ihr Herz schlug schneller, als sie sich zwang, genauer hinzusehen. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Zwei Augen, dunkel und unheilvoll, starrten sie direkt an, als hätten sie eine eigene, bösartige Intelligenz. Clara hielt den Atem an, unfähig, ihren Blick abzuwenden. Die Augen waren nicht die einer Ratte oder eines anderen Tieres, das sie vielleicht erwartet hätte. Sie waren menschenähnlich, aber gleichzeitig etwas anderes, etwas Fremdes und Beängstigendes.

Mit einem durchdringenden Schrei der Angst sprang sie aus ihrem Bett, ihren Blick starr auf die düstere Stelle gerichtet. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, während sie sich in eine Ecke des Zimmers zurückzog, als ob der Abstand sie schützen könnte. Langsam und fast zögerlich begann sich aus den tiefen Schatten eine schemenhafte Gestalt zu lösen. Die Gestalt war düster und bedrohlich, eine Silhouette, die sich nur widerwillig aus der Dunkelheit schälte. Die Dunkelheit schien sich um sie zu winden und sie wie ein Mantel zu umhüllen.

Die Gestalt bewegte sich behutsam, als wäre sie untrennbar mit dem Schatten verbunden, aus dem sie kam. Ihre Augen, durchdringend und unverwandt, fixierten Clara mit einer Intensität, die die Luft im Zimmer erstarren ließ. Jede ihrer Bewegungen war vorsichtig und überlegt, als ob sie jeden Moment wieder in die Dunkelheit zurückkehren könnte. Was auch immer dieses Wesen war, Clara spürte instinktiv, dass sie nicht bleiben wollte, um es herauszufinden.

Mit einem letzten Blick auf die unheilvolle Gestalt, die sich nun vollständig aus dem Schatten gelöst hatte, riss sie ihre Zimmertür auf und stürzte hinaus, die Treppe hinunter. Jede Stufe, die sie hinabsprang, war getrieben von einem instinktiven, urtümlichen Drang zu fliehen. Als sie das Erdgeschoss erreichte, zögerte sie für einen Moment, geplagt von der Furcht, das unheimliche Wesen könnte ihr auf den Fersen sein. Ihr Atem kam in kurzen, hektischen Stößen, während sich ihre Gedanken überschlugen. Was war das, was sie da oben gesehen hatte? Eine bloße Halluzination, ein Schatten, der durch ihr erschöpftes Gehirn zum Leben erweckt worden war?

Mit zitternden Händen und einem Herzen, das gegen ihre Brust hämmerte, wagte sie es schließlich, einen vorsichtigen Blick über ihre Schulter zu werfen und ihr Blut gefror in ihren Adern, als sie sah, wie aus ihrem Zimmer langsam eine dunkle, schattenhafte Figur schritt. Das Wesen hatte keine erkennbaren Gesichtszüge, nur eine tiefdunkle, undurchdringliche Schwärze, die sich bedrohlich und unheilvoll bewegte.

Clara ließ einen durchdringenden, verzweifelten Schrei los, der durch das Haus hallte. Panik ergriff sie, und sie wirbelte herum, stolperte in den Flur, während ihr Atem rasselnd und keuchend aus ihrer Kehle brach.

»Was zum Teufel treibst du da, Mädchen? Kann hier keiner einen ruhigen Abend haben?« rief Mr. Gallin vom Wohnzimmer aus, seine Stimme durchzogen von Ärger. Doch bevor er seinen Satz beenden konnte, brach seine Stimme abrupt ab und ein unheimliches, fast übernatürliches Licht breitete sich aus, tauchte alles um Clara herum in eine triste, gespenstische Beleuchtung. Die Farben schienen aus der Umgebung zu weichen, als würde die Welt um sie herum in Grautöne getaucht.

Eine erdrückende Stille hüllte den Raum ein, so dicht und schwer, dass sie fast greifbar war. Es war, als hätte jemand die Geräusche der Welt abrupt abgeschaltet – jedes Flüstern, jedes Rauschen schien im selben Moment erstickt worden zu sein.

Mit zitternden Schritten erreichte Clara das Wohnzimmer, wo der Anblick ihrer Pflegeeltern ihr Herz für einen schrecklichen Moment aussetzen ließ.

Mr. und Mrs. Gallin saßen da, regungslos, ihre Gesichter bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, als wären sie hinter einem Schleier aus der Zeit gefallen, eingefangen in einem unheimlichen Zwischenzustand. Verwirrt und zutiefst erschrocken blickte Clara um sich. Das, was auch immer mit ihr im Wald geschehen war, schien sich jetzt zu wiederholen. Jeder Instinkt in ihr schrie nach Flucht und In Panik stürzte sie zur Wohnungstür, ihre einzige gedankliche Zuflucht in diesem Albtraum. Sie packte den Griff, doch er rührte sich nicht – es war, als wäre er zu Stein erstarrt.

Claras Atem beschleunigte sich, ihr Blick irrte fieberhaft umher, auf der Suche nach einem Ausweg, einer Erklärung für diese surreale, beängstigende Veränderung ihrer Welt. Die Wände des Hauses schienen sich um sie herum zu verdichten, als würden sie die Realität selbst verzerren. Sie fühlte sich gefangen in einem Albtraum, der keine Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie zu kennen schien.

Angst breitete sich in ihr aus wie ein rasendes Feuer, als das Wesen näherkam. »Was bist du? Was willst du von mir?« schrie sie, doch das Wesen blieb stumm und bewegte sich unerbittlich auf sie zu. Ihre Brust bebte, als wollte etwas von innen herausbrechen. Hilflos suchte sie nach einem Ausweg, gefangen in einem Netz aus Furcht und Verzweiflung.

Und dann, inmitten der erdrückenden Stille brach plötzlich ein Klang durch, der Claras gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein mysteriöses Pfeifen erfüllte die Luft, eine Melodie, die zugleich merkwürdig vertraut und doch ungreifbar erschien. Das Lied war einfach, aber einprägsam, und schien direkt aus dem Zimmer ihrer Geschwister am Ende des Flurs zu kommen.

Clara stand einen Moment lang unschlüssig da, unfähig zu entscheiden, was zu tun war. Doch die Vorstellung, nicht allein mit dieser angsteinflößenden Erscheinung zu sein, entfachte in ihr ein zartes Fünkchen Hoffnung. Mit all dem Mut, den sie aufbringen konnte, rannte sie los, vorbei an dem schattenhaften Wesen, in Richtung des Zimmers, aus dem die Melodie drang.

Als sie den Raum betrat, zersplitterte die flüchtige Hoffnung, die sie gehegt hatte, in einem einzigen, herzzerreißenden Augenblick. Ihre Geschwister waren dort, genauso wie ihre Pflegeeltern, in regungslosen, grotesken Posen erstarrt, ihre Gesichter verzerrt zu unheimlichen Fratzen. Die Melodie, die zuerst wie ein rettender Anker erschienen war, erklang klar und unheilvoll in der Stille, aber sie war allein – allein mit dem Wesen, das sich nun langsam umdrehte und bedrohlich auf sie zukam, direkt durch die Tür, ihren einzigen Ausweg.

Ein Gefühl der Panik wuchs in Clara, drohte sie zu verschlingen wie ein dunkles, unerbittliches Meer. Die Dunkelheit des Schattenwesens kam näher, unaufhaltsam, als würde sie sich durch die Luft selbst bewegen.

Eine eisige Kälte, so erbarmungslos und tief wie der Ozean, strömte von ihm aus, gleichsam Tentakeln, die nach ihr griffen. Von Angst übermannt, schloss sie die Augen, während ein kalter Schauder sie durchfuhr. Sie wartete, gefangen zwischen dem eindringlichen Nachhall der Melodie und der unvermeidlichen Kälte, die ihren Körper durchdringen würde.

Doch anstatt der frostigen Berührung, die sie erwartet hatte, fühlte sie plötzlich eine sanfte Wärme auf ihrer Haut, so behaglich und tröstend wie ein Sommerwind. Das Pfeifen wurde lauter, intensiver, als wäre die Quelle des Geräusches direkt vor ihr. Verwirrung und Furcht durchströmten sie gleichermaßen. Mit zögerndem Mut öffnete sie ihre Augen und stellte erschrocken fest, dass sie nicht mehr im Haus der Gallins war.

02

Clara befand sich inmitten einer lebendigen Umgebung, erfüllt von Farben und Klängen, und eine Leichtigkeit ergriff sie, als hätte sie die Schwere ihrer eigenen Existenz abgelegt. Unter ihr breitete sich das Deck eines kleinen Segelschiffes aus, das trotz seiner geringen Größe, in Pracht und Erhabenheit den Eindruck erweckte, als sei es für die Götter selbst erbaut worden. Die Masten strebten wie Wächter in den Himmel, gehüllt in Segel aus einem Stoff, der in der Sonne ein Feuerwerk aus funkelnden Lichtern entzündete, ähnlich den ersten Tautropfen eines Morgens im Frühling. Das dunkle Holz des Schiffsrumpfes absorbierte das Sonnenlicht und gab es zurück in einer Aura, die an die warme Glut von Bernstein erinnerte.

Clara verharrte, der Wind spielte sanft in ihrem Haar, und in diesem flüchtigen Moment der Stille traf sie die Erkenntnis wie ein Blitz: Das Schiff, auf dem sie stand, segelte nicht auf dem Meer, sondern glitt durch die Lüfte. Unter ihr breiteten sich Wolken aus, so dicht und flauschig, dass sie glaubte, sie könnte sie mit ausgestreckter Hand berühren.

Ihre Gedanken jagten wild umher, ihr Verstand rebellierte gegen die Evidenz ihrer Sinne. Soeben noch gefangen in einem Albtraum, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien, war sie nun hier – an einem Ort, der jeder Logik trotzte. Fragen wirbelten durch ihren Kopf: Was hatte das alles zu bedeuten? und wie war sie an diesen wundersamen Ort gelangt? Warum sie? Warum jetzt?

Mit einer Mischung aus Faszination und vorsichtiger Skepsis betrachtete sie das Schiff genauer, wobei ein Teil von ihr immer noch darauf wartete aufzuwachen, feststellend, dass alles nur ein intensiver Traum war.

In ihren Gedanken verloren, bemerkte sie plötzlich eine Bewegung am anderen Ende des Decks. Sie folgte dem Schatten, der sich dort regte, und ihre Augen fanden einen Mann, dessen Pfeifen eine fast greifbare Melodie in die himmlische Stille webte. Es war dieselbe Melodie, die ihr zuvor schon begegnet war, sanft und doch eindringlich, die nun von diesem Mann auszugehen schien, der gerade dabei war, ein Tau zu befestigen.

Plötzlich stockte er in seiner Tätigkeit, hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Er war ein großer, kraftvoller Mann mit einem wilden Bart, der sein vernarbtes Gesicht wie ein Porträt einrahmte. Ein abgetragener, aber einst prächtiger grauer Mantel lag über seinen Schultern. Seine Augen besaßen eine Tiefe, die unaussprechlich war.

Zuerst schien er Clara nicht richtig wahrzunehmen, doch dann fixierte er sie unvermittelt. Ein Ausdruck des Erstaunens und Misstrauens huschte über sein markantes Gesicht. Das Tau, das er gerade festgebunden hatte, entglitt seinen Händen, und er schritt mit entschlossenen Schritten auf sie zu.

»Nicht auf meinem Schiff, Schattengänger!«, grollte seine tiefe Stimme, die sich wie ein Donner über das Deck ergoss. Plötzlich schoss eine lodernde Flamme aus seiner Hand empor, die er mit einem entschlossenen Schwung in Claras Richtung schleuderte.

Mit der Geschwindigkeit eines abgefeuerten Pfeils duckte sich Clara gerade noch rechtzeitig und die gewaltige Feuerkugel flitzte haarscharf über ihren Kopf hinweg, verschwand schließlich in den unendlichen Himmelsweiten.

Der Mann erstarrte, seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen wie zerknülltes Pergament, als er Clara genauer ins Auge fasste und sie mit einer Spur von Skepsis beäugte.

»Nanu, ein Kind? Wer bist du und wie zum Teufel bist du auf mein Schiff gekommen?«, fragte er mit einer rauen, misstrauischen Stimme. »Nur Schattengänger erscheinen aus dem Nichts«, fügte er mit einem forschenden Blick hinzu.

»Ich... ich kann es nicht erklären«, stotterte Clara, außer Atem. »Ich war gerade noch zu Hause. Da war dieses Wesen, ein dunkler Schatten. Und dann... hörte ich Ihr Pfeifen und plötzlich, als der Schatten mich zu ergreifen versuchte, war ich hier. Ich verstehe es selbst nicht...«

Der Mann musterte sie sorgfältig, und eine schwere Stille lastete kurzzeitig zwischen ihnen. Schließlich lockerte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig. »Ich verstehe«, antwortete er nachdenklich. »Du solltest wissen, auch wir sind auf der Flucht vor Schattengängern. Sie sind tückisch, eine ständige Bedrohung.«

»Ihr?«, fragte Clara verwirrt und blickte sich um. Außer dem Mann war niemand auf dem Schiff zu sehen.

Er lachte kurz. »Ja, ich und meine treue Silbermöwe hier«, sagte er und klopfte liebevoll gegen den Mast des Schiffes.

Clara nickte fast unbewusst, während sie versuchte, ihre Angst zu verbergen. »Okay...«, flüsterte sie leise. »Aber ich bin keine Schattengängerin. Mein Name ist Clara, und ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin oder was das alles bedeutet.«

Ihre Gedanken wirbelten wie ein Sturm in ihrem Kopf, ein chaotisches Durcheinander aus Emotionen und Erinnerungen, das sie zu erdrücken drohte. Die überwältigende Realität ihrer Situation nahm ihr fast den Atem. Die Bilder des Schattenwesens, das sie verfolgt hatte, drängten sich ungewollt in ihren Verstand. Sie dachte an das verstörende Bild ihrer Pflegegeschwister, gefangen in einem seltsamen Zustand. Ihre Knie gaben nach unter dem Gewicht der Erinnerungen und der aufsteigenden Angst.

Ein Schwindelgefühl erfasste sie plötzlich, ihr Blick verschwamm. Die aufgestaute Panik und die Flut an Emotionen, die sie zurückgehalten hatte, brachen hervor wie eine überwältigende Welle. Mit einem leisen Seufzer gab sie der Dunkelheit nach und sank bewusstlos auf die hölzernen Planken des Schiffdecks.

Clara erwachte nur langsam aus den Nebeln der Bewusstlosigkeit. Sie fühlte sich benommen und verwirrt, ohne zu wissen, wo sie war oder was passiert war. Sie lag in einem gemütlichen Bett, umgeben von weichen Kissen und warmen Decken. Die Wände, mit edlem Holz verkleidet, verbreiteten eine behagliche Wärme. An einer Seite des Zimmers stand ein eleganter Schreibtisch, auf dem eine brennende Kerze flackerte.

Mit einiger Mühe richtete sie sich auf und rieb sich die Augen, kämpfte darum, die verworrenen Fragmente der jüngsten Ereignisse in ihrem Kopf zu einem Bild zusammenzufügen. Alles erschien ihr wie ein Traum – das Schattenwesen, die Verzerrung der Zeit, das seltsame Schiff.

Als sie sich umschaute, realisierte sie, dass sie sich an einem Ort befand, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Fenster neben ihrem Bett zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Getrieben von Neugier spähte sie hinaus und ihr Herz setzte für einen Moment lang aus, als ihr klar wurde, dass dies alles kein bloßer Traum war. Sie befand sich hoch über den Wolken!

Der Anblick des Himmels, der sich in unermesslicher Bläue über die weiße Wolkendecke spannte, ließ sie für einen Augenblick ihre Angst vergessen und mit einem Gefühl des Staunens erfüllte sich ihr Herz.

Doch die Realität ihres Erwachens in dieser unbekannten Welt ließ sie nicht lange in Ruhe. Das Gefühl der Verwunderung wich langsam einer steigenden Unruhe. Langsam, als würde sie jeden nächsten Schritt überdenken, stieg sie aus dem Bett und näherte sich der Tür, die einen einladenden Spalt offenstand. Sie betrat den schmalen Flur, der die Stille mit dem Knarren alter Dielen durchbrach und mit jedem Schritt, der sie näher zum Deck führte, pochte ihr Herzschlag lauter in ihren Ohren, schnell und ungestüm, als wäre er bereit, aus ihrer Brust zu springen.

Als sie das Deck erreichte, umfing sie eine Brise frischer Luft, begleitet von einem atemberaubenden Anblick: Unter ihr breitete sich eine endlose, majestätische Wolkendecke aus. Über ihr wölbte sich der Himmel in einem Blau, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Das sanfte Rascheln der Segel harmonierte mit dem leisen Säuseln des Luftschiffs. Ehrfurcht erfüllte sie; trotz nachhallender Unsicherheit und Angst war die außergewöhnliche Atmosphäre dieses Ortes unbestreitbar. Es war, als wäre sie in eine andere Welt eingetaucht – ein Gefühl, ungreifbar und jenseits aller Rationalität.

Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit von einem Mann ergriffen, der selbstbewusst auf dem Deck stand und ihr ein freundliches Lächeln entgegenbrachte. Es war derselbe hünenhafte Mann mit dem buschigen Bart, dem sie schon begegnet war. Diesmal jedoch war sein Blick wärmer und einladender.

»Ah, du bist endlich wach«, begrüßte er Clara mit einem breiten Grinsen. Seine Stimme klang tief und mächtig. »Du hast beinahe einen ganzen Tag geschlafen. Ich bin erleichtert zu sehen, dass es dir besser geht.« Er trat näher und streckte seine imposante Hand aus. »Ich bin Halfdan, Kapitän der Silbermöwe.«

Mit einem vorsichtigen, aber aufrichtigen Lächeln ergriff Clara seine Hand. »Ich bin Clara«, antwortete sie leise. »Ich danke euch für eure Fürsorge. Könntet ihr mir vielleicht sagen, wo wir uns hier befinden?«

Halfdan nickte und bat sie, ihm zu folgen. »Gewiss, aber eins nach dem anderen. Du musst sicherlich hungrig sein«, stellte er fest und führte sie zu einem kleinen Tisch am Rande des Decks, auf dem frisches Brot und ein Krug mit klarem Wasser bereitstanden. »Hier, iss etwas. Du wirst deine Kräfte brauchen, um dich von deinem Abenteuer zu erholen.«

Zögerlich ließ Clara sich an dem Tisch nieder und begann zu essen. Das knusprige Brot und das erfrischende Wasser boten einen angenehmen Kontrast zu den Strapazen, die sie überstanden hatte. Doch während sie aß, konnte sie ihren Blick nicht von Halfdan abwenden. Mit seiner beeindruckenden Erscheinung war es offensichtlich, dass der Mann viele Abenteuer erlebt hatte.

Halfdan betrachtete sie mit einem Ausdruck neugieriger Anteilnahme. Nach einem Moment des Schweigens durchbrach seine Frage die Stille, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte. »Was ist dir widerfahren, Clara? Wie bist du auf mein Schiff gekommen?«

Ein schwerer Knoten bildete sich in Claras Hals, während sie sich bemühte, ihre wirren Gedanken zu ordnen. Als sie zu sprechen begann, entfaltete ihre Stimme die Geschichte ihrer erschütternden Erlebnisse. Sie erzählte von dem verheerenden Wirbelsturm, der ihre Stadt heimsuchte, und von dem Baum, der urplötzlich auf sie gestürzt war, nur um im letzten Moment anzuhalten. Ihre Worte malten ein Bild von der surrealen Erfahrung, in der die Zeit stillzustehen schien, und ihren Pflegeeltern, die zu blassen, grotesken Schatten ihrer selbst wurden, eingefroren in einem zeitlosen Zustand.

Sie sprach von einer unheimlichen Gestalt, die sich aus dem Schatten ihrer Wand löste und menschliche Form annahm. »...und als ich dem Geräusch folgte, fand ich mich plötzlich hier wieder. Es klingt total verrückt,« schloss Clara ihre Schilderung.

Halfdans Gesicht, verdeckt von seinem wilden Bart, zeigte mit jeder Information, die Clara preisgab, einen neuen Ausdruck. Gedankenverloren fuhr seine Hand durch seinen Bart, sein Blick in die Ferne gerichtet. »Es klingt, als wärst du in der Schattenwelt gewesen,« murmelte er. »Aber das ist kaum vorstellbar. Nur die mächtigsten Schattenmagier können diese Welt betreten. Doch du... in deinem Alter... das ist nicht möglich.«

Clara blickte ihn fragend an. »Was meinst du mit ‚Schattenwelt‘? Und hast du ‚Magier‘ gesagt?«

Das Wort ‚Magier‘ weckte die Erinnerung an den Moment, als Halfdan auf rätselhafte Weise eine flammende Feuerkugel auf sie geschleudert hatte. Ein Schauer durchzog sie. War das wirklich geschehen? Hatte sie sich das nicht nur eingebildet?

Verwirrung zeichnete sich auf Claras Gesicht ab, während sie darüber nachdachte, wo sie sich befand und was all dies zu bedeuten hatte. Halfdan, der Claras ratlose Miene bemerkte, setzte sich ihr gegenüber.

»Die Schattenwelt«, begann er mit bedachter Stimme, »liegt jenseits des greifbaren Schleiers unserer Realität. Sie ist die Heimat der düsteren Gestalt, die dich heimgesucht hat. Für gewöhnlich ist es Magiern nicht gestattet, die Grenzen zu dieser Welt zu überschreiten. Doch Schattenmagier besitzen die Fähigkeit, durch dieses dunkle Reich zu reisen und sich in den Schatten unserer Welt zu verstecken.«

Er machte eine kurze Pause, seine Worte schwebten schwer im Raum. »Diese Magier sind Meister der Unsichtbarkeit, die ihre finsteren Ziele unbemerkt vorantreiben. Doch so mächtig sie auch sein mögen, der Preis dafür ist hoch. Jeder Aufenthalt in der Schattenwelt verdunkelt den Geist und leert die Seele. Am Ende verbleibt nur eine leere Hülle, ein blasses Echo ihrer einstigen Identität.«

Mit einem eindringlichen Blick unterstrich Halfdan die Schwere seiner Worte. »Es ist ein tragisches Schicksal, das Schattenmagier ereilt. Viele, die sich zu lange in der Dunkelheit verlieren, finden niemals den Weg zurück.«

Halfdan sah Clara tief in die Augen. »Deine Geschichte beunruhigt mich, Clara. Kinder, die die Schattenwelt betreten, darf es nicht geben.«

Von seinen Worten überwältigt, suchte Clara nach ihrem Gleichgewicht. »Aber ich bin keine Magierin«, entgegnete sie mit unsicheren und zögerlichen Worten. »Ich besitze keine besonderen Fähigkeiten. Wo ich herkomme gibt es keine Magie. Die bloße Vorstellung davon ist... absurd.«

Halfdan zog die Stirn in Falten. »Wie meinst du das? Du kommst nicht aus Alba? Woher dann?«, fragte er, sichtlich verwirrt.

Clara zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Was ist Alba?«

Überraschung zeigte sich auf Halfdans Gesicht. Nachdenklich strich er sich durch den Bart. »Die Weltenlehre«, murmelte er. »Ich habe von Theorien über verborgene Welten jenseits unseres Schleiers gehört, aber nie wirklich geglaubt, dass sie existieren könnten.«

Er sprach langsam und bedächtig, während er sie mit einem prüfenden Blick musterte. »Wenn das stimmt, was du sagst, dann ist deine Erfahrung noch geheimnisvoller, als ich angenommen hatte.«

Claras Herzschlag beschleunigte sich, als sie Halfdans Worte verarbeitete. »Andere Welten?«, wiederholte sie mit einem leisen Ton, der von einem Hauch der Erkenntnis durchdrungen war. Schon als sie erwachte, hatte sie geahnt, dass sie sich nicht mehr in der ihr bekannten Welt befand. Doch mit der neuen Gewissheit überschlugen sich ihre Gedanken. Sie sah sich um und erkannte die grundlegenden Unterschiede zu ihrer eigenen Welt: Die Farben strahlten in überwältigender Intensität, die Luft war erfrischend klar, und der Wind wehte mit einem unbekannten, fremdartigen Charakter.

Am Horizont zeigte sich plötzlich eine Insel, die wie durch Magie im Himmel zu schweben schien. Es wirkte, als wäre ein Stück Erde emporgehoben worden und Clara starrte zugleich fasziniert und erschrocken auf dieses atemberaubende Phänomen.

»Aber das... das ist unmöglich«, stammelte sie, den Blick fest auf die schwebende Insel gerichtet. In ihrem Inneren herrschte ein Sturm aus Zweifel und Faszination. Sie stand im Zwiespalt zwischen der rationalen Welt, die sie kannte, und dieser magischen Realität, die sich nun vor ihr entfaltete.

»Aber es ist wahr, oder? Ich sehe es mit meinen eigenen Augen. Ich bin wirklich in einer anderen Welt.« Ihre Stimme klang unsicher, fast so, als kämpfe sie gegen ihren eigenen Verstand, der hartnäckig versuchte, das Gesehene als Illusion abzutun.

»Nein, das kann nicht sein«, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu Halfdan. »Das muss ein Traum sein. Es ist einfach zu... unglaublich.« Sie rieb sich die Augen, als könnte sie damit die fantastische Szenerie auslöschen und in ihre vertraute Welt zurückkehren.

Halfdan beobachtete sie mit einem aufmerksamen Blick, erkannte die Verwirrung und den inneren Konflikt in ihren Augen. »Ich verstehe deine Verwirrung, Clara«, sagte er mit sanfter Stimme. »Es ist auch für mich kaum zu begreifen.«

Aber Clara hörte ihm kaum zu. In ihrem Kopf hallten die Gesetze der Physik und der Logik wider. Alles, was sie jemals gelernt und als wahr akzeptiert hatte, prallte nun gegen das unbestreitbare Bild der schwebenden Insel vor ihr.

»Das widerspricht allem, was ich kenne«, flüsterte sie. Tränen der Frustration und des Staunens sammelten sich in ihren Augen. Sie fühlte sich verloren und doch auf seltsame Weise geborgen in dieser neuen Welt, die ihre gesamte Überzeugung und ihr Wissen herausforderte.

Minuten verstrichen in schwerem Schweigen. Halfdan gab Clara den Raum, den sie brauchte, um das Unmögliche zu verarbeiten. Schließlich sank Claras Widerstand. Sie konnte die Wahrheit nicht länger leugnen, denn die Beweise lagen klar und lebendig vor ihren Augen. Die Mauern ihrer bisherigen Realität bröckelten, und mit zittrigen Fingern wischte sie die Tränen fort. »Ich bin wirklich hier, nicht wahr?«, sagte sie leise. Ihre Stimme war gebrochen, aber in ihren Augen glomm ein Funke der Akzeptanz.

Halfdan nickte und sein sanftes Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ich fürchte schon, Clara. Willkommen in Alba.«

Von der überwältigenden Schönheit und Einzigartigkeit ihrer neuen Umgebung gefangen, konnte Clara ihre Augen kaum von den Wundern Albas abwenden. »Es ist unglaublich«, hauchte sie ehrfürchtig. »Ich hätte niemals gedacht, dass so etwas existiert.«

Das Schiff, auf dem sie sich befanden, glitt mit majestätischer Anmut durch den himmelblauen Äther, getrieben von Segeln, die eine leichte, launische Brise prall füllte.

Claras Augen wanderten über das atemberaubende Panorama, das sich unter ihr erstreckte. Bilderbuchseen und Flüsse schlängelten sich wie diamantene Bänder durch das malerische Landschaftsgemälde. Dichte Wälder breiteten sich bis zum Horizont aus, und schroffe Gebirgsketten erinnerten an die Titanen alter Sagen, die am Rande der Welt verharrten.

In der Ferne meinte Clara, den silbrigen Schimmer einer Wasserfallkaskade zu erkennen, die sich wild und stürmisch ihren Weg durch die Felsen bahnte und als ihr Blick zum Himmel empor schweifte, entdeckte sie sonderbare Kreaturen, die elegant durch die Lüfte geleiteten. Einige besaßen lange, geschwungene Flügel, die von schimmernden Schuppen bedeckt waren und das Sonnenlicht in einem Spektrum von Farben reflektierten. Andere waren klein und wendig, leuchtend bunt und mit flauschigen, federähnlichen Schwänzen verziert. Sie beobachtete, den Mund offen vor Staunen, das Ballett dieser fantastischen Wesen am Himmel.

»Aber warum gerade ich?«, flüsterte sie leise, während die fremdartigen Eindrücke auf sie einprasselten. »Ich bin doch nichts Besonderes«, fügte sie hinzu und warf Halfdan einen fragenden Blick zu.

»Clara«, begann er mit einer sanften Stimme, »ich wünschte, ich könnte dir die Antworten geben, die du suchst. Aber ich stehe genauso ratlos da wie du. Doch ich kenne jemanden, der möglicherweise herausfinden kann, was mit dir geschehen ist. Sein Name ist Alastair Thorne.«

Nach einem Moment, in dem sie ihre Unsicherheit mit einem tiefen Atemzug besänftigte, hob sie ihren Blick, der nun von vorsichtiger Neugier erfüllt war. »Jemand, der mir helfen kann?«

Halfdan nickte. »Wenn jemand in der Lage ist, Licht ins Dunkel zu bringen, dann Alastair. Er ist ein Lichtmagier und Rektor von Eldridge. Sein Verständnis für das Schattenreich und die Weltenlehre ist unübertroffen.«

»Eldridge?«, erkundigte sich Clara interessiert.

»Die Akademie der Elemente«, antwortete Halfdan. »Ein Ort, an dem junge Menschen wie du die Künste der Magie erlernen.«

Clara zögerte, ihre Gedanken wirbelten wie Herbstlaub im Wind. Magie, ein Begriff, der bislang nur in Büchern existierte, war nun Teil ihrer Realität? Sie spürte eine Mischung aus Angst und Faszination, die sich in ihrem Inneren ausbreitete.

Halfdan verstummte plötzlich, sein Blick schweifte in die Ferne, als würden seine Gedanken an einen Ort wandern, den Clara nicht erreichen konnte. »Es gibt da nur eine Sache...«, murmelte er leise, fast nachdenklich.

Claras Stirn legte sich in Falten, ein stummer Ausdruck der Frage, während ihr Herz im Rhythmus ihrer gemischten Gefühle schlug.

Halfdan schien einen Moment zu zögern und zuckte dann mit den Schultern, als würde er einen unangenehmen Gedanken abschütteln wollen. »Es ist nichts«, sagte er schließlich, ein fast erzwungenes Lächeln auf seinen Lippen. »Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«

Clara fühlte sich für einen Moment im Dunkeln gelassen, ihre Gedanken kreisten um das, was Halfdan ungesagt ließ. Doch als sie darüber nachdachte, wer Alastair Thorne sein könnte, begann in der Tiefe ihrer Brust ein zartes Feuer der Hoffnung zu lodern. Jemand mit Antworten, jemand, der Licht in die Schatten bringen konnte – das war ein Hoffnungsschimmer in dem Netz aus Rätseln, das sie umgab.

»Wie gelange ich nach Eldridge?«, fragte sie, ihre Stimme erfüllt von neu entdecktem Verlangen nach Antworten.

Halfdan erkannte den entschlossenen Funken in ihren Augen und lächelte beruhigend. »Du musst zuerst zum Hafen von Alba. Von dort aus gibt es eine regelmäßige Fährverbindung, die Schüler und Lehrer zur Akademie bringt.« Er hielt kurz inne, überlegte, und fügte dann hinzu: »Weißt du was, ich werde dich zum Hafen begleiten, Clara. Das passt gut, denn ich muss dort sowieso hin.«

Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit erfüllte Clara bei Halfdans Angebot. Die Aussicht, nicht allein zu sein, gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. »Das ist sehr nett von dir, Halfdan. Ich bin dir für deine Hilfe sehr dankbar.«

Ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Der Hafen von Alba liegt auf einer Insel, nicht allzu weit von hier. Wenn uns der Wind günstig ist, sollten wir dort bei Sonnenuntergang ankommen.«

03

Die Sonnenstrahlen brachen durch das weite, azurblaue Himmelszelt, als Halfdan mit meisterhafter Präzision das kleine Luftschiff durch die schimmernden Wolken navigierte. Das Schiff, mit seinen aufgeblähten Segeln, schnitt flüssig durch die Windböen, während es stetig weiter aufwärts stieg.

Gefesselt von Faszination und Neugier, nahm Clara an einem liebevoll geschnitzten Tisch am hinteren Teil des Decks Platz, wo sich ihr ein spektakulärer Blick auf das sich unter ihr ausbreitende Panorama eröffnete. Der Tisch, geschnitzt aus dem Holz alter Eichen, trug die Erinnerungen vergangener Reisen. Eingeritzte Karten von unbekannten Ländern und geheimnisvolle Runen zeugten von den Abenteuern, die sich hier schon abgespielt haben mussten.

Von dieser Höhe aus schien die Welt wie ein Meisterwerk eines talentierten Malers zu sein: sattgrüne, schier endlose Wälder erstreckten sich bis zum Horizont, sanft gewellte Hügel glänzten im goldenen Sonnenlicht und schimmernde Flüsse schlängelten sich wie silberne Bänder durch das üppige Land.

Doch nicht nur das Landesinnere zog Clara in seinen Bann. Am fernen Horizont schwebten fliegende Inseln, wie von Zauberhand in der Luft gehalten. Sie kamen in allen erdenklichen Formen daher: Einige schienen dicht bewaldet zu sein, mit exotischen Bäumen mit blauen Blättern und Pflanzen, die aus der Ferne aussahen wie winzige Farbtupfer. Andere waren beeindruckende, kahle Felsformationen, die sich majestätisch aus den Wolken erhoben. Jede schien ein Mysterium, ein unbekanntes Abenteuer zu bergen.

Halfdans Erzählungen verliehen diesem Bild Leben. Mit jedem Wort, das aus seinem von der Seeluft gebräunten Gesicht kam, formten sich die Geschichten der Inseln zu lebendigen Bildern in Claras Kopf.

Seine Augen funkelten begeistert, während er mit einer Stimme voller Inbrunst von versteckten Kammern voller Schätze sprach, die er auf seinen Abenteuern gefunden hatte. Er beschrieb Wesen von faszinierender Schönheit: Kreaturen mit Augen, die im Schatten der Wälder funkeln wie Sterne, und mit Fellen, die im schwächsten Lichtschein glänzen, als wären sie von Mondstaub durchwebt.

Die Stunden vergingen unbemerkt, während die Sonne ihren Weg über den Himmel nahm und die Wolken in ein strahlendes Gold tauchte. Eine sanfte Brise spielte mit Claras braunem Haar und trug den frischen, salzigen Duft des Meeres zu ihr herauf, dessen weite Fläche sich nun tief unter ihnen ausdehnte.

Claras Gedanken über ihr Schicksal ruhten still in ihrem Herzen, doch das rhythmische Schaukeln des Schiffes und das sanfte Flüstern des Windes, der mit den Segeln tanzte, brachten ihr einen unerwarteten Frieden. In diesem Moment, schwebend zwischen Himmel und Meer, fand sie eine seltene Ruhe, ein unbeschwertes Dasein, das die Rätsel ihrer Existenz für eine Weile verblassen ließ.

Plötzlich wurde Clara von einer vertrauten Melodie aus ihren Gedanken gerissen. Sie lauschte, wie die sanften Töne über das Deck tanzten. Am Steuerrad stand Halfdan, vertieft in das Summen eines Liedes, das sie bereits in der Schattenwelt gehört hatte – jenes geheimnisvolle Lied, das sie zu ihm geführt hatte.

»Was summt Ihr da für ein Lied?«, erkundigte sich Clara, von Neugier getrieben.

Halfdan hielt inne und drehte sich mit einem warmen Lächeln zu ihr um. »Das ist das Lied des Zeitreisenden Schattenmagiers«, erklärte er.

»Ein Lied über einen Schattenmagier?« fragte Clara überrascht und Halfdan nickte nachdenklich: »Ja, es ist eine alte Ballade, die von einem Schattenmagier erzählt, der durch die Zeit reist, um seine große Liebe zu finden. Über Generationen hinweg wurde es in den Familien der Schattenmagier weitergegeben.«

Mit einer Spur von Sorge in ihrer Stimme fragte Clara: »Seid Ihr also selbst ein Schattenmagier?«

Halfdan antwortete mit einem herzlichen Lachen. »Nein, weit gefehlt. Aber mein alter Herr war einer.« Sein Blick schweifte kurz in die Ferne, als ob seine Gedanken mit den Wolken davonsegelten, bevor er fortfuhr: »Weißt du, Schattenmagier sind nicht per se böse. Sie werden es erst, wenn sie den Schatten nachgeben. Ein innerer Zwang entflammt in ihnen, zieht sie immer weiter in die Dunkelheit, bis sie sich selbst darin verlieren. Dieses Lied erinnert uns daran, dass auch in der Dunkelheit Liebe und Hoffnung existieren können.« Seine Stimme trug eine melancholische Note. Nach einem Moment schüttelte er den Kopf, lächelte wieder und sagte: »Ich hingegen bin ein Feuermagier.«

Als die Sonne langsam ihren Weg zum Horizont antrat, kam eine imposante Insel in Sicht, deren überwältigende Erscheinung Clara den Atem anhalten ließ. Im Gegensatz zu den schwebenden Eilanden, die sie bis dahin hinter sich gelassen hatten, ragte diese Insel empor, als wäre sie direkt aus dem Grund des Meeres emporgewachsen, getragen von monumentalen Felspfeilern, die an die ausgestreckten Arme urzeitlicher Gottheiten erinnerten. Diese steinernen Giganten dehnten sich aus den dunklen Tiefen des Ozeans, um die Insel emporzuheben, so dass sie majestätisch über den tanzenden Wellen thronte.

Die untergehende Sonne streute ihr letztes Gold über die